Content uploaded by Andreas Krebs
Author content
All content in this area was uploaded by Andreas Krebs on Apr 05, 2021
Content may be subject to copyright.
Lk 17,20–24 Drittletzter Sonntag des Kirchenjahres 8.11.2015
Gottes Möglichkeit
Andreas Krebs
_____________________________________________________________
Worte und Taten
Unsere Worte werden, nicht zu Unrecht, an Taten gemessen. In den Kirchen ist vom „Reich Gottes‟
die Rede – oder in der Sprache des Evangelisten Matthäus: vom „Reich der Himmel‟ –, jenem
kommenden, der Macht menschlicher Reiche entzogenen Raum, in dem Gerechtigkeit und
Freundlichkeit herrschen. Diese „Herrschaft‟ ist jedoch von ganz anderer Art als das, was
Menschen als solche kennen und bezeichnen; als Reich Gottes setzt es eine Revolution voraus, die
das Untere nach oben kehrt: Herrinnen und Herren stürzen von ihren Thronen und aus ihren
Chefsesseln, die Niedrigen aber werden aufgerichtet und erhöht (Lk 1,52). „Der Himmel der
kommt, / das ist der kommende Herr, / wenn die Herren der Erde gegangen. // Der Himmel, der
kommt, / das ist die Welt ohne Leid, / wo Gewalttat und Elend besiegt sind‟ (Kurt Marti, EG 153,2–
3).
Die so sprechen und singen, müssen sich freilich fragen lassen: Wo handelt ihr denn danach? Wo
werden solche utopisch-eschatologischen Worte mit Leben gefüllt? Steht ihr nicht selbst unter dem
Regiment der Chefsessel? Wenn die Antwort enttäuschend ausfällt, hilft die Entschuldigung wenig,
es menschle eben überall, und in Kirche und Gemeinde gehe es jedenfalls nicht schlimmer zu als
anderswo. So reden Leute, die sich selbst noch das Enttäuschtsein abgewöhnt haben. Wer das Wort
vom Reich Gottes in den Mund nimmt, kann sich nicht mehr „anderswo‟ verorten. Das Reich
Gottes ist „mitten unter euch‟, „in dem Raum, der der Eure ist‟1 – so sagt Jesus zu denen, die
skeptisch nach dem Wo und Wann fragen. Und denen, die es voll Ungeduld mal hier, mal da, aber
wiederum stets anderswo vermuten, hält Jesus ein apokalyptisches Bild entgegen: Der
Menschensohn werde an seinem Tag wie ein „Blitz‟ erscheinen, der den Himmel von einem Ende
zum anderen erleuchtet. In beiden Fällen gibt es kein Von-sich-weg-Verweisen, keine Ausflucht,
keine Entschuldigung.
Muss aber nicht auch das Wort Gottes an seinen Taten gemessen werden? Der Tag sei schon
angebrochen, die Zeit erfüllt, das Reich Gottes nahe, verkündet Jesus; Gottes Wille regiere von nun
an auch auf Erden. Armen, Hungernden und Weinenden geschehe endlich Recht; Schmerz und Tod
seien überwunden. Dieses Reich Gottes ist so anders, so sehr „mehr als alles‟, dass Jesus nur in
Gleichnissen davon spricht. Doch deren Bilder sind dem gewöhnlichen Leben entnommen, das
dadurch transparent wird für den Vor-Schein des Neuen: die reife Ernte, die Rettung des Verlorenen,
das festliche Mahl. Nehmen wir an, das sei nicht schöne menschliche Erfindung, sondern Gottes
Wort – warum tut er nicht danach? Warum noch immer so viel Unterdrückung, Leid und Trauer?
Nimmt man Gott bei seinem Wort, gibt es auch für ihn kein Ausweichen, keine Entschuldigung.
Mitten unter uns und zugleich vom einen Ende des Himmels zum anderen soll seine Verheißung
sich als wahr erweisen.
1So die Übersetzung des „entós hymôn‟ bei François Bovon, Das Lukasevangelium (EKK III/3),
Zürich/Neukirchen-Vluyn 32001, 566.
Wann ist es so weit?
Wann also kommt das Reich Gottes? So fragen zu Beginn der Perikope die Pharisäer, die bei Lukas
als keineswegs feindliche (Lk 7,36; 11,37; 14,1), aber als kritische (11,53f.; 15,2) Gesprächspartner
Jesu auftreten, denen Jesus seinerseits keineswegs feindlich, aber kritisch gegenübertritt (Lk
11,39ff.; 16,15ff.). Vor diesem Hintergrund kann die Frage der Pharisäer nicht als „Falle‟ gedeutet
werden. Sie ist sachlich vollkommen berechtigt und beschäftigt ebenso die Jüngerinnen und Jünger
Jesu (19,11; 21,7; Apg 1,6), aber auch die Adressatinnen und Adressaten des lukanischen Textes.
Jesu Antwort an die Skeptischen
Weil die Frage Skeptisch-Distanzierte ebenso wie Jesus Nahestehende betrifft, wendet sich seine
Erwiderung an beide2. In einer ersten Antwort an die Pharisäer weist er die Vorstellung zurück, man
könne das Kommen des Gottesreichs anhand von „Beobachtung‟ (paratéresis) voraussagen. Gottes
heilschaffender Neubeginn ist aus historischer Entwicklung oder kosmischer Schau nicht zu
deduzieren. Denn was man dabei zu gewinnen hätte, wären allenfalls Verlängerungen der
Vergangenheit: programmatische Aussagen, Kausalitäten, Prognosen. Der Philosoph Jacques
Derrida spricht in diesem Zusammenhang von „nur möglichen‟ Möglichkeiten, die sicher und
gewiss, im Voraus zugänglich sind. Aus ihnen besteht die Welt der Pragmatikerinnen, die nichts
Neues jenseits des Menschlich-Allzumenschlichen erwarten. Dieser geschlossenen, aussichtslosen
Welt setzt Derrida die Hoffnung auf eine messianische „Ermöglichung der unmöglichen
Möglichkeit‟ entgegen, die „zugleich unentscheidbar und doch auch entschieden‟ sein muss: die
Hoffnung auf echte, unableitbare Zukunft3. Wo man „sieh hier‟ oder „sieh da‟ sagt und daraus
kluge Schlüsse zieht, hat man diese Zukunft unvermeidlich schon verfehlt. Wenn das Reich Gottes
kommt und es wirklich das Reich Gottes ist – dann als unerwartetes Ereignis.
Es schiene zunächst konsequent, würde Jesus seine Antwort an die Pharisäer mit den Worten
fortsetzen: Ihr habt das Reich Gottes nicht in euren Händen; es entzieht sich, ist ganz anders, als ihr
denkt. Umso überraschender, dass Jesus das Gegenteil sagt: Das Reich Gottes ist „entós hymôn‟,
„unter euch‟, schon vertraut, zum Greifen nahe! Die Vulgata übersetzte: „regnum Dei intra vos est‟,
„das Reich Gottes ist in euch‟, und Martin Luther: es ist „inwendig in euch‟; Adolf von Harnack
machte daraus: „Das Reich Gottes ist […] die Herrschaft des heiligen Gottes in den einzelnen
Herzen‟4. Zu Recht hat man darin eine Ausweichbewegung ins Innerliche erkannt5. Das
theologische Beharren auf dem „Äußeren‟, Weltzugewandten, Politischen der Reich-Gottes-
Erwartung ist aber seinerseits – in negativer Abgrenzung – von der Innerlichkeits-Tradition
abhängig und schlägt allzu leicht ins Programmatisch-Pragmatische des „nur Möglichen‟ um.
Tatsächlich dürfte „entós hymôn‟ weder ein Innen noch ein Außen, sondern jenen messianischen
Zwischen-Raum bezeichnen, der jederzeit aufbrechen kann, vor unseren Augen, wo immer die
2Die Bedeutung des Wechsels der Gesprächspartner zwischen V. 20–21 und V. 22ff. wird unterstrichen von Lukas
Bormann, Gerechtigkeit im „Zeitalter der Ungleichheit‟. Predigtmeditation zu Lk 17, 20–24, in: GPM 63 (2009),
475–480: 475f.
3Jacques Derrida, Politiques de l’amitié, Paris (Galilée) 1994, 46. vgl. ders., Politik der Freundschaft, übers. von S.
Lorenzer, Frankfurt a. M. 2000, 121.
4Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, Berlin 1950 (Auflage?), 34.
5Vielfach meint man, diese Ausweichbewegung bis in das apokryphe Spruchevangelium des Thomas
zurückverfolgen zu können. Vgl. Wilfried Eckey, Das Lukasevangelium. Unter Berücksichtigung seiner Parallelen,
Bd. 2, Neukirchen-Vluyn 2004, 739f. – Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die Feststellung Gershom
Scholems: „Was dem Christen als tiefere Auffassung einer Äußerlichen erschien, das erscheint dem Juden als
dessen Liquidation und als eine Flucht, die sich der Bewährung des messianischen Anspruchs innerhalb seiner
realsten Kategorien unter Bemühung einer nicht existierenden Innerlichkeit zu entziehen suchte‟: Gershom
Scholem, Zum Verständnis der messianischen Idee im Judentum, in: ders., Über einige Grundbegriffe des
Judentums, Frankfurt a. M. 1970, 121–167: 122.
erstarrte Wirklichkeit Risse bekommt und binäre Zuschreibungen wie innen-außen, hier-dort,
möglich-unmöglich zerbröseln, weil ein Unmöglich-Mögliches auf einmal möglich scheint.
Überraschend ist auch, dass der Zuspruch vom nahen Gottesreich ausgerechnet an die
Skeptikerinnen ergeht. Gerade bei ihnen also sollte man auf einiges gefasst sein!
Jesu Antwort an die Ungeduldigen
Keineswegs skeptisch, sondern voller Ungeduld erscheinen hingegen die Jüngerinnen, an die sich
Jesu zweite Antwort richtet. Zu ihnen spricht er von der apokalyptischen Menschensohn- und „Tag
Gottes‟-Erwartung, die durch sprachliche Parallelen in V. 21a und V. 23a (mit chiastisch
umgestelltem „hier‟, hôde, und „da‟, eikeî) eng mit der Gottesreich-Erwartung verknüpft wird: Das
eine Zukunftsbild erscheint als Kehrseite des anderen. Im Gegensatz zu den Pharisäern wird
allerdings gerade den Jüngern nicht die Vertrautheit, sondern die Andersheit des Kommenden
eingeschärft. Ihre Geduld, heißt es, wird noch hart auf die Probe gestellt. Es stehen Zeiten bevor, an
denen sie sich nichts sehnlicher wünschen werden, als die Erscheinung des Menschensohnes zu
erleben. Umso anfälliger werden sie für Versprechen sein, „da‟ oder „hier‟ sei sein Kommen
vorbestimmt. Dann aber machen sie den gleichen Fehler wie die Pharisäer – nämlich Ort und Zeit
des göttlichen Neuanfangs sicher wissen zu wollen und ihn damit auszuschließen –, wenn auch aus
entgegengesetztem Grund: nicht weil sie in beobachtender Distanz verbleiben, sondern weil sie
Gottes „Tag‟ herbeizuzwingen suchen, an dem die Gewalttäter endlich besiegt, die Bedrängten
gerettet sind und Gott über eine verwandelte, neugeschaffene Erde herrschen wird (Sach 14,9). Was
man herbeizwingt, wird aber niemals Gottes Werk und wird niemals neu sein. Es wird bloß auf
weitere „Tage‟ hinauslaufen, die man als „Tage des Menschensohns‟ ersehnt haben mag und die
dennoch enttäuschender All-tag bleiben: „ihr werdet ihn nicht sehen‟ (V. 22). Ganz anders der eine
Tag: „wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der
Menschensohn an seinem Tage sein‟ (V. 24). Dieser Tag ist nicht berechenbar, nicht machbar – er
bricht ein wie ein nächtlicher Dieb (Lk 12,39–40; Mt 24, 43–44; 1Thess 5,2).
Die christliche Tradition hat ausgesprochen, was Lukas nur andeutet (vgl. Lk 17,25): Jesus selbst ist
der Menschensohn; er ist das Reich Gottes in Person. Gegen die kirchliche Entschärfung der
Eschatologie ist aber festzuhalten, dass die endgültige Erfüllung der mit Jesus verbundenen
Hoffnung noch immer aussteht. Christinnen und Christen erwarten die „Parusie‟, das Kommen
Christi, in dem das, was Gott begonnen hat mit Jesu Leben, Tod und Auferweckung, einst vollendet
wird. So steht auch am Anfang jeder Strophe des Wochenlieds von Philipp Friedrich Hiller (EG
152) ein viermaliges „Wir warten dein‟, und in der dritten Strophe heißt es: „Wir warten dein; du
hast uns ja / das Herz schon hingenommen. / Du bist uns zwar im Geiste nah, / doch sollst du
sichtbar kommen‟.
Von dieser Erwartung her kann Friedrich-Wilhelm Marquardt schreiben: „Die Seinsweise Jesu von
Nazareth ist die eines ewig Kommenden‟. Die Welt des biblischen Menschen, so Marquardt weiter,
„ist voll von Potentialitäten Gottes, sie ist mitsamt jedem einzelnen Lebewesen eine einzige
Gelegenheit Gottes […] Und diese Potentialitäten Gottes werden als Hintergründigkeiten des
Daseins in der Welt erfahren: Immerzu kann – unerwartet – etwas passieren‟. Diese latente und
doch wirksame Kraft verbindet Marquardt mit der Offenbarung des Gottesnamens am brennenden
Dornbusch: „‚Ich werde bei euch sein, wann immer ich bei euch sein werde‛ (Ex 3,14): Im
Gottesnamen brauen sich solche Blitze zusammen, die dann von einer Gegend unter dem Himmel
zur anderen aufblitzen (Lk 17,24). So ist das Kommen als solches das Entscheidende, die
Verwandlung der Potentialitäten Gottes in Aktualität‟6.
6Friedrich-Wilhelm Marquardt, Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden. Eine Christologie, Bd. 2, München
1991, 321f.
Doch wo ist von diesem Kommen für uns etwas zu spüren? Haben die Skeptiker nicht Recht
bekommen? Kann man nicht verstehen, dass die Ungeduldigen enttäuscht sind?
Dein Reich komme
Die alttestamentliche Lesung und die Epistel des Sonntags können mit diesen Fragen als Ausdruck
der gegensätzlichen Pole von unverzagter Gewissheit und Ernüchterung gelesen werden. Der Text
aus dem Römerbrief (Röm 14,7–9) bezeichnet Christus, den Gestorbenen und Auferweckten, als
Sieger über alle Todesmächte (Röm 14,9). Der Hiob-Text hingegen (Hiob 14,1–6) beklagt die
Schwäche und Vergeblichkeit des menschlichen Daseins, das wie eine Blume welkt und wie ein
Schatten flieht. Wie kann man da Gerechtigkeit erwarten, ja wie kann Gott selbst da noch vom
Menschen Gerechtigkeit verlangen? Es wäre besser, Gott würde wegschauen und ließe den
Menschen sich hoffnungs- und illusionslos seiner Tage freuen (Hiob 14,6).
Manche mögen sich hier Hiob näher fühlen. Nicht wenige haben auch ganz damit aufgehört, einen
schöpferischen, gar einen neuschöpferischen Gott für möglich zu halten. Doch daneben gibt es
weiter eine Unruhe, die sich mit Gott- und Hoffnungslosigkeit nicht abfinden und nicht davon
lassen kann, sich nach Größeren, einem „Anderem‟ und „Mehr“ auszustrecken. Der
Religionsphilosoph Richard Kearney verbindet mit dieser Unruhe die Erwartung einer „Rückkehr
Gottes nach dem Verschwinden Gottes“, einer „neuen und überraschenden Göttlichkeit, die den
ganzen Weg zurückkommt, in einem Augenblick, in dem wir es nicht erwartet hätten. Ewigkeit in
der Epiphanie jedes Augenblicks. Wiederholend, zurückrufend, zurückkehrend, wieder und
wieder“7. Kearney bezeichnet diesen Gott auch als „Gott, der sein kann“8, eine Formel, die sowohl
das Prekäre als auch die eigentümliche Kraft einer illusionslosen und hoffnungsvollen Spiritualität
ausdrückt. Ein Gott, der sein kann, kann auch nicht sein: Das ist das unleugbare Risiko des
Glaubens. Seine Lebendigkeit verdankt er dem Dennoch, der Erfahrung und trotzigen Zuversicht,
dass Gott sein kann – als kreativer und verwandelnder Ermöglicher selbst des Unmöglichen.
Auf diesen Gott muss eine Rede vom „Reich Gottes‟ setzen, deren Hoffnung noch nicht müde ist.
Wer sich bei solcher Rede selbst beim Wort nimmt, ist auf eine eschatische Existenz verpflichtet,
die es wagt, nicht auf das laue Möglich-Mögliche, sondern auf Unmöglich-Mögliches zu setzen.
„Siehe, jetzt ist die Zeit der Gnade‟, heißt es im Wochenspruch, „jetzt ist der Tag des Heils‟ (2Kor
6,2b): Kein berechnendes Hinausschieben also ist verlangt, sondern wache, geistes-gegenwärtige
Erwartung. Und wer Gott beim Wort nimmt, wird nicht aufhören, von ihm einzufordern: „Dein
Reich komme‟. Erweise, „Gott, der sein kann‟, deine Wirklichkeit!
Prof. Dr. Andreas Krebs, geb. 1976, lehrt als Assistenzprofessor Christkatholische Theologie mit
Schwerpunkt Systematische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Bern.
Länggassstr. 51, CH – 3012 Bern
andreas.krebs@theol.unibe.ch
7Richard Kearney, Anatheism. Returning to God after God, New York 2010, 5.
8Richard Kearney, The God Who May Be. A Hermeneutics of Religion, Bloomington 2001.