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Hans Heinz Holz und der ontologische
Widerspruch
Martin Küpper
Problemgeschichtlicher Hintergrund dialektisch-mate-
rialistischer Ontologie
Die Frage, unter welchem Gesichtspunkt wir Philosophiegeschichte betreiben,
stellte Ernst Bloch seinen Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philo-
sophie voran. Er wies auf die ungeheure Ansammlung von sich widerspre-
chenden Ansichten, die sich darin zeige, „dass der Nächste schon wieder das
Gegenteil von dem sagt, was sein Vorgänger gesagt hatte“ (Bloch 1985, 26).
Aber diese Aufeinanderfolge bliebe in ihrer gesamten Breite konfus und jedem
Bildungswert entzogen. Und wäre diese unendliche „Serie von Irrtümern“
nicht gleichsam „die stärkste Widerlegung der Philosophie“ (ebd., 27)? Phi-
losophie wäre demnach nicht mehr als eine Geschichte des Widersprechens.
Auch wenn Bloch diese Ansicht zur Geschichte der Philosophie ablehnt,
seinen Studierenden davon abrät, Philosophiegeschichte derart formalistisch-
nihilistisch zu verengen, ist daraus zumindest eine methodische Lehre zu
ziehen: Eigenen und einigen vorhergehenden (oder zeitgenössischen) Auf-
fassungen ist zu widersprechen. Dies ist die augenscheinliche Eigenschaft,
die jedem Philosophierenden „als Erbe und Anleitung in die Wiege gelegt
ist“ (Zimmer 2008, 143). Diese Eigentümlichkeit der Philosophen zeigt sich
bereits am Anfang der abendländischen Philosophiegeschichte, als die Elea-
ten Heraklit direkt widersprachen, wie Bloch ausführt: „Heraklit sagt: Alles
ist Bewegung, das Wesen der Welt ist Feuer. Und Parmenides und Zenon,
die Stifter der eleatischen Schule, sagen: Alles ist Stillstand, die Bewegung
ist Schein“ (Bloch 1985, 26). Gemäß dem Identitätsgebot, demzufolge einer
Aussage nicht zugleich zwei gegenteilige Prädikationen zugeordnet werden
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können, müsse der Philosophierende sich vom Problem abwenden, da sich
keine Form der Wahrheit nden ließe. Wahrheit wäre in beiden Fällen keine
Frage der rationalen Begründung und Überprüfbarkeit. Er könne sich einer-
seits unumwunden einer der beiden Aussagen zuordnen und so Schule bilden
oder Apologetik betreiben. Andererseits könne der Widerspruch den Philo-
sophen in tiefen Zweifel über die Möglichkeit und Sinnhaftigkeit jeglichen
Philosophierens treiben. Doch noch nie sind die Philosophen in Agonie über
den Widerspruch verschiedener Aussagen verfallen. Die Aporien treiben die
Nachfolgenden zur nächsten Etappe, denn „das Denken geht in echt dialek-
tischer Weise weiter, man hört die klugen Einwände der Eleaten, und daran
reibt sich etwas und schraubt sich immer weiter in die Höhe“ (ebd., 27). Bloch
verschiebt die Perspektive vom ewigen Selbstwiderspruch der Philosophie hin
zu einer ständigen Auseinandersetzung mit Problemgehalten des Denkens, in
der verschiedene Philosophen zu verschiedenen Zeiten Lösungen vorschlagen,
„die nicht unabhängig voneinander bestehen, sondern sich als Modikationen,
Vertiefungen, Erweiterungen und Widerlegungen auseinander entwickeln und
zuein ander in Beziehung stehen“ (Holz 2005, 23).
Für die Aktualität des Philosophierens bedeutet dies, dass grundlegende
Problemgehalte immer wieder neu befragt werden (müssen) und abhängig
vom Standort des philosophierenden Subjekts in der Welt bestimmt werden.
Insofern scheint es, dass jede Philosophie – ihres theoretischen Geschichts-
bestands nach – an einen idealistischen Ausgangspunkt gebunden ist und sich
nur bewusstseinsimmanent fundieren kann. Die Philosophiegeschichte wird
dann immerhin als „ein Werkzeug im Arbeitsprozess, ein Organon, die Welt zu
verstehen, ein Organon, sich viele Abwege und Irrtümer zu ersparen“ (Bloch
1985, 27f.), verstanden. In diesem Sinne begreift bereits Hegel vergangene
Philosopheme als konstitutiv für jegliche aktuelle Philosophie:
„Die Vernunft ist nur eine; es gibt keine zweite, übermenschliche
Vernunft. Die Philosophie ist die Vernunft, die sich in der Weise des
Denkens erfasst, zum Bewusstsein bringt, so dass sie sich Gegenstand
wird oder weiß in der Form des Gedankens. Dies Produzieren, dass sie
von sich weiß, ist ebenso auch nur eins – nur ein und dasselbe Den-
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ken. Daher gibt es schlechterdings auch nur eine Philosophie (…). Die
Geschichte der Philosophie betrachtet, nur eine Handlung, die aber in
verschiedene Stufen abgeteilt ist (…). Der Fortgang der Philosophie ist
notwendig. Jede Philosophie musste notwendig zu der Zeit erscheinen,
als sie erschien; jede Philosophie ist so zur rechten Zeit erschienen,
keine hat ihre Zeit übersprungen, sondern sie haben alle den Geist ihrer
Zeit denkend erfasst.“ (Hegel 1959, 146)
An diesen Bemerkungen werden mehrere Aspekte deutlich. Grundgehalt jedes
Philosophierens ist immer derselbe, nämlich die Frage nach dem Verhältnis
von Denken und Sein. Philosophie wendet sich nicht dem Denken als reinem
Gegenstand seiner Betrachtungen zu, sondern begründet im Denken – und
hierin besteht ihre reexive Spezität – das Verhältnis des Denkens zu den
Tatsachen, die Inhalt und Gegenstand desselben sind. Insofern kann sie in
Nähe empirischer und mathematischer Forschung gerückt oder mit univer-
salistischem und agnostischem Gestus betrieben werden, das sich in jeweils
besonderen historischen Formen ausdrückt. Verschiedene Philosophien sind
daher aufeinander beziehbar, können über andere interpretiert und kommen-
tiert werden, sodass sich zwischen augenscheinlich verschiedenen Systemen
und Auffassungen mitunter Äquivalenzen aufzeigen lassen1, da sie trotz im-
menser Unterschiede eine mögliche Weise des Welt- und Selbstverhältnisses
darstellen. Hierin liegt die Grundidee der philosophia perennis – als Einheit
verschiedener historisch aufgetretener Philosophien –, die vom Standort aktu-
ellen Philosophierens kein „anderes Denken im Sinn [hat, sondern] das Andere
des Denkens“ (HAV3, 350)2. Philosophie ist daher nicht abschließbar, kann
auch ohne ihren spezischen historischen Hintergrund weiterhin bedeutsam
sein, insofern sie Modell und Konstruktion von Totalität ist, die sich auf un-
tergeordnete ahistorische Strukturen der Wissenschaft3 beziehen lässt.
1 Hierin besteht die Zielstellung jedweder philosophiehistorischen Komparatistik.
2 Holz, Hans Heinz: Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie. 3 Bde. Berlin: Aurora 2011 (im
Folgenden zit. HAV)
3 Historische Momente dieser wissenschaftlichen Strukturen „existieren nicht anders, als dass sie
die ahistorischen Strukturen als untergeordnetes Moment enthalten“ (Zelený 1990, 86). Gegen
eine mögliche Übertreibung des Historischen macht Ernst Bloch zudem geltend, „dass alle (…)
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Indem das Philosophieren aber an gesellschaftlich-historische Situationen
geknüpft ist, in denen Probleme auftauchen, für die Lösungen versuchswei-
se formuliert werden müssen, ist jede vergangene Philosophie vor allem
hinsichtlich ihrer Motivationen und Lösungsvorschläge einmalig. Hieraus
ergibt sich die Aufgabe, die Singularität geistesgeschichtlicher Situationen
mit den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit in Beziehung zu setzen.
Innerhalb der systematischen Auseinandersetzung mit Philosophiegeschichte
können somit Philosophien hinsichtlich ihrer Grenzen und Potentiale, ihrer
progressiven und regressiven Momente analysiert und interpretiert werden.4
In dieser Aufgabenstellung ist der Durchbruch des bewusstseinsimmanenten
Fundierungszusammenhangs von Denken und Wirklichkeit bereits angelegt.
Durch die Zuordnung der Philosopheme zu den gesellschaftlichen Zuständen
wird der „dialektisch-materialistische Blick“ (Bloch 1985, 28) auf Philo-
sophiegeschichte eingefordert. Demnach soll eine Systematik historischer
Entwicklungen entwickelt werden, die Vermittlungsprozesse der Philosophie
und ihrer Konkretionen in bestimmten historischen Gesellschaftsformati-
onen herausarbeitet.
Wenn der Materialismus aber nicht nur eine Systematik eines besonderen
Gegenstandsbereichs (hier: der historisch-gesellschaftlichen Entwicklung)
herausarbeiten möchte, muss dieser einen Begriff vom Ganzen der Wirk-
lichkeit erarbeiten, der die Gänze aller materiellen Verhältnisse umfasst. Für
dialektisch-materialistische Philosophie ergibt sich hiernach ein besonderer
Begründungsanspruch, denn die herausgestellte „Priorität materieller Ver-
hältnisse [muss] vom Primat des Denkens“ (Zimmer 2013, 139)5 aufgezeigt
werden. Das vom Denken Unterschiedene (oder die materiellen Dinge und
Verhältnisse) soll in praktischer Reexion vom kategorialen Denken wirk-
lich widergespiegelt werden, um schließlich strukturell präzise Zuordnungen
materiale Erkenntnis oder Selbsterkenntnis im Objekt ihren Start im Urteil und Begriff hat, als wel-
che die gesamte materiale Genesis (…) der Wahrheit und Wirklichkeit, zunächst in der partialen
Sphäre der Richtigkeit vorzubilden“ (Bloch 2001, 37) ist.
4 Der Philosophie kann daher eine gewisse Beliebigkeit in der Wahl ihrer Bezugnahme nicht abge-
sprochen werden. Walter Benjamin wies auf diese Besonderheit hin, die er als politisch motiviertes
Heraussprengen aus dem „Kontinuum der Geschichte“ bezeichnete (vgl. BGS1, 701).
5 Vgl. auch Zimmer 2001, 44ff.
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zwischen Begriffsstrukturen und wirklicher Welt vornehmen zu können.
Somit ist das Programm der Grundlegung einer materialistischen Dialektik
vorformuliert, die der Anlage nach nicht erkenntnistheoretisches Paradigma
des abbildenden Erkennens objektiver Realität, sondern Ontologie, d.h. Struk-
turmodell von Seinsverhältnissen ist.
Anmerkungen zum Ausgangspunkt des Gesamtwerks
von Holz
Diese Problemlage materialistisch-dialektischer Philosophie aufgreifend,
versucht Hans Heinz Holz ein philosophisches Fundament für eine materi-
alistische Dialektik zu begründen. Holz widmet sich der Aufgabe, den von
Bloch geforderten dialektisch-materialistischen Blick systematisch zu konsti-
tuieren und hierfür aus der reichen Historie der Philosophie und der Kunst zu
schöpfen. In seinen Opus Magni, dem systematisch angelegten Weltentwurf
und Reexion (2005), der fünfbändigen Problemgeschichte der Dialektik
(2011), der dreibändigen Theorie der bildenden Künste (1996/1997) und sei-
ner Kategorienlehre Aufhebung und Verwirklichung der Philosophie (2011),
schlägt Holz mit der Widerspiegelungstheorie ein kategoriales Modell vor,
das jener Grundlegung materialistischer Dialektik dienen soll, von der Ernst
Bloch als von einem Desiderat gesprochen hat. Holz‘ philosophisches Werk
kann daher auf drei Ebenen erfasst werden, die einander überlagern: (1) Sich
der historischen Ordnung der Philosopheme erinnernd, versucht er, (2) ihre
Problembestände und Lösungsvorschläge systematisch zu rekonstruieren.
Ihre Erforschung nutzt der sachhaltigen, aktualisierbaren Erkenntnis und (3)
der kategorialen Gewinnung der Widerspiegelungstheorie. Auf der Ebene
des Philosophiehistorischen bedeutet dies für Holz, den Idealismus nicht im
planen Sinne zu negieren, ihn nicht als Ideologie oder logische Spitzndigkeit
zu denunzieren, sondern sich unter Bezugnahme auf die gesamte Metaphysik-
geschichte (über die abendländischen Kulturräume hinweg) am spekulativen
Gehalt der gesamten Dialektik zu orientieren. Die wesentliche Darstellungs-
weise seines Philosophierens ist daher die des umfassenden Kommentars, den
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er im Modus der Jetztzeitlichkeit6 betreibt. Spekulative Dialektik ist für ihn
die „Theorie innerweltlicher Gegensätze und ihrer Einheit“ (HPD1, 13)7 und
zwar als modellhafte Konstruktion von Totalität. Holz begreift spekulatives
Philosophieren als ein Vermögen, das vom Denken Unterschiedene, die Ge-
gensätze und Widersprüche zu übergreifen und in einem einheitlichen Begriff
von Sache und Welt zusammenzuführen, ohne dem idealistischen Schein zu
erliegen, die Wirklichkeit aus dem Denken zu begründen.8 Ohne diesen metho-
disch-systematischen Schlüssel lese sich die fünfbändige Problemgeschichte
der Dialektik zunächst wie eine ideengeschichtliche Abfolge von Gedanken,
die sich manchmal widersprechen, ergänzen oder neue Gebiete erschließen.
Doch unter der Perspektive des ontologischen Charakters der Dialektik er-
scheinen die entwickelten Begriffsstrukturen nicht nur als Ideen, sondern
auch als ideeller Ausdruck relativ stabiler Denkformen in Gestalt historischer
Rationalitätstypen (vgl. Zelený 1990), in denen gedacht und gehandelt wurde
und in denen die sich durchziehenden, das Denken bedingenden Seinsstruk-
turen begreifbar werden. Die systematischen „Kongurationen dialektischen
Denkens“ können, konstatiert Holz, „nur in der Einheit mit seiner Geschichte
bestehen und begriffen werden“ (HPD1, 13).
Materialistische Dialektik als Transformation des
formallogischen Widerspruchsbegriffs
Springpunkt der Architektur materialistischer Dialektik ist daher ein katego-
riales Verständnis des Widerspruchs und der Einheit, das den problemgehalt-
6 Dieser methodische Begriff der Geschichtsphilosophie wurde ursprünglich von Walter Benjamin
geprgtunddurchHolzausgearbeitet.DasbewussteReektierenvergangenerTheorienundMo-
dellesowieihreModikationund Einbindunginaktuelle politischeLagenkannzu„Paradigmata
eigenen Verhaltens und Denkens“ (Holz 2005, 24f.) werden. Siehe dazu umfassender und auch
bezüglich Holz’ Leben: Szalkiewicz 2013.
7 Holz, Hans Heinz: Dialektik. Problemgeschichte von der Antike bis zur Gegenwart. 5 Bde. Darm-
stadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2011 (im Folgenden zit. HPD)
8 Die Bestimmung, was spekulative Philosophie überhaupt sein kann, ist vor allem an Hegel orientiert,
stößt sich jedoch von ihm ab, insofern dieser vornehmlich eine Dialektik des Begriffs entwickelt:
„Das spekulative Denken besteht nur darin, dass das Denken den Widerspruch und in ihm sich
selbst festhält“ (HW6, 76).
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lichen Hintergrund spekulativ-materialistischen Denkens ernst nimmt und
zum Konstituens ihres Fortgangs macht.
Die ontologische Auffassung des dialektischen Widerspruchs gründet in
der These, dass der reale Widerspruch Modus des Seins ist. Bewegung, Ver-
änderung und Entwicklung alles Seienden vollziehen sich in untrennbarer
Einheit und Gegensätzlichkeit seiner Bestimmungen. Es mutet daher zunächst
wie die Quadratur des Kreises an, wenn dialektisch-materialistische Philo-
sophie beansprucht, den rationalen Zusammenhang ihrer Aussagen über die
widersprüchliche Wirklichkeit logisch widerspruchsfrei darzustellen. Denn
materialistische Dialektik bindet sich an das wissenschaftliche Gebot der
Widerspruchslosigkeit, in dem eine spezische formallogische Auffassung
des Widerspruchs regiert: Jeder Widerspruch umfasst mindestens zwei Seiten.
Ein Widerspruch besteht dann, wenn die Pole einer gebildeten Relation mitei-
nander identisch sind, folglich jedes dieser Enden als gleich mit dem anderen
gesetzt wird. Tritt innerhalb einer Theorie solch ein Widerspruch respektive
eine Tautologie auf, könnte jede beliebige Bestimmung innerhalb dieser
Theorie – bei Verlust ihres Problemlösungsvermögens – als richtig deklariert
werden. Jegliche Unterscheidung verschiedener Identischer verliert dann ihren
funktionalen Wert bzw. ihre orientierende Funktion. Abhängig vom architek-
tonischen Punkt des Widerspruchs ist die Theorie dann mehr oder weniger
inkonsistent.9 Darin eingewickelt ist die Grundnorm des Denkens, derzufolge
jede Bestimmung im Verlaufe ihrer theoretischen Darstellung hinsichtlich ihres
zugeschriebenen Bedeutungsgehalts weitestgehend konstant bleibt. Sollte eine
Theorie Richtigkeit10 beanspruchen, muss sie Widerspruchslosigkeit anstreben
und Identität wahren.
Der Satz der Identität, vom verbotenen Widerspruch und vom ausgeschlos-
senen Dritten bildet daher die Axiomatik jedweder Theorie über einen allge-
9 Noch keine Theorie erreichte vollständige Konsistenz. Die Vermutung liegt nahe, dass hierfür die
Differenz zwischen der Form der Theorie und der Veränderung des Abgebildeten sowie der per-
spektivische Standort, von dem aus die Theorie gebildet wird, verantwortlich ist.
10 Die Richtigkeit einer Theorie sichert letztlich den Anspruch auf Wahrheit „Es ist eben nur ein richtiges,
sofern das Denken des Richtigen dem Denken des Wahren voranläuft, sofern mit anderen Worten
die formalen Grundbestimmtheiten der Beziehung des Meinens auf sich [d.h.: die Identitätsform]
keimende materiale Bestimmtheiten sind, und daher formale Regeln.“ (Bloch 2001, 34).
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meinen Gegenstandsbereich. Wenn dialektisch-materialistische Philosophie
jedoch einen Begriff vom Ganzen bilden will, der den realen Widerspruch und
die Einheit umfasst, muss sie eine begrifiche Form nden, die es ihr erlaubt,
logisch widerspruchsfrei mit realen Widersprüchen umzugehen. Holz sah die-
se Problematik für eine mögliche Grundlegung dialektisch-materialistischen
Philosophierens:
„Es ist leicht einzusehen, dass die Frage nach der kategorialen Form
von Widersprüchen sich immer nur von den gegenständlichen Gehalten
des Wissens her stellt und angehen lässt. Denn alles Wissen vom All-
gemeinen entsteht zunächst einmal aus der Feststellung widerspruchs-
freier Gemeinsamkeiten zwischen mehreren Einzelnen und unterstellt
sich dem Satz vom verbotenen Widerspruch; sonst gäbe es gar kein
Wissen.“ (Holz 2005, 3)
Die Axiome der formalen Logik bieten die Grundlage jeder beschreib- und
wiederholbaren Erfahrung innerhalb der um uns seienden mannigfaltigen
Wirklichkeit identischer, verschiedener und sich verändernder Gegenstände
und Verhältnisse.11 Unsere Bildung von Identitäten ist daher ideelle Konsti-
tuierung relativ identischer (= nicht-identischer im Verlaufe der Zeit) Ge-
genstände und Verhältnisse, deren gemeinsame, theoretische Fassung die
vorübergehende praktische Übereinkunft zwischen Menschen hinsichtlich
eines gemeinten Gegenstandsbereichs ermöglicht. Dies ist nicht im Sinne
einer Abbildtheorie zu verstehen, sondern orientiert sich an Marx, der „im
Gegensatz zu Feuerbach, der die Sinnlichkeit als seinsgebend dem Denken
vorschaltete, (…) an die Stelle der Apperzeption die gegenständliche Tätig-
keit“ (Holz 2005, 367) setzte.
11 „Jene zwei ersten Prinzipien, das eine: Identische Sätze sind wahr und solche, die einen Wider-
spruch implizieren, sind falsch, und das andere: dass Verschiedenes von mir aufgefasst wird, sind
so beschaffen, dass von ihnen bewiesen werden kann, dass es unmöglich ist, sie zu beweisen.“
(Leibniz 1903, 183) Übersetzung nach HPD3, 396. Hierin angedeutet ist eine Dialektik, die nicht
ausschließlich vom Begriff entwickelt wird, sondern zugleich über die Erfahrung zu einem Begriff
des Widerspruchs gelangt. Vgl. Zimmer 2008, 156f.
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Nun verweist für Holz darüber hinaus die Möglichkeit des logischen auf
den realen, sachhaltigen Widerspruch. Elemente des Ganzen der Wirklichkeit
können zueinander derart im Widerspruch stehen, dass sie hinsichtlich ihrer
möglichen Existenz miteinander unvereinbar sind. Wenn das Ganze alles
Wirkliche und Mögliche umschließt, so bestehen Widersprüche als reale Be-
standteile der Wirklichkeit. Dialektik muss daher den Widerspruch zwischen
innerweltlicher Erfahrung und logischer Konsistenz im Denken des Ganzen
mitdenken.12 Sie wird somit zur Theorie von Veränderung, Zeit und Tätigkeit,
die den realen Widerspruch von den gegenständlichen Gehalten des Wissens
her systematisch erfasst.
Problemgehalt und -geschichte des Widerspruchs-
begriffs für eine materialistische Dialektik
Die Bestimmung, welche Rolle formaler Logik der materialistischen Dialek-
tik zukommt, besagt unterdessen noch nichts über das Verhältnis zwischen
Denken und Wirklichkeit. Holz knüpft diesbezüglich an die von Platons Par-
menides herausgestellte Unumgänglichkeit des Denkens, den Widerspruch
mitdenken zu müssen: Das Eine ist nicht denkbar, ohne zugleich das Andere
zu denken. Das weist auf die Tatsache hin, dass eine (besondere) Identität nur
bestimmt werden kann, indem sie von anderen besonderen Identitäten unter-
schieden, aber relational gedacht wird: So kann das Proletariat nicht ohne die
Bourgeoisie und diese nicht ohne jenes gedacht werden, insofern beide durch
ihr – sie unterscheidendes – Verhältnis zu den Produktionsmitteln konstituiert
werden. Zudem verweist solche Bestimmung nicht auf die verschiedenen,
möglichen Gesichtspunkte, unter denen sich ein Gegenstand oder Verhältnis
zeigen lässt: Als Gebrauchsgegenstand ist ein Auto eine Einheit, eine Vielheit
hingegen als Ansammlung von verschiedenen Bauteilen. Dieser vermeintliche
Widerspruch kann im Rahmen der formal-klassikatorischen Logik gelöst
12 Aufgrund der strukturellen „Inkongruenz zwischen den notwendigen (apriorischen) Formbestim-
mungen des [wissenschaftlichen] Denkens und dem faktischen Charakter des Seienden“ fällt die
Ausbildung der Dialektik historisch mit dem Beginn der Philosophie zusammen (vgl. HPD3, 22).
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werden, wie Parmenides seinem Gesprächspartner Sokrates darzulegen ver-
sucht. Platon lässt es jedoch hierbei nicht bewenden. Vielmehr fordert er im
Parmenides eine andere Auffassung vom Widerspruch: „Wenn jemand jenes
wahrhaft so zu nennende Eins selber als Vieles und ebenso jene wahrhafte
Vielheit als Eins aufwiese, das allerdings würde mich wundernehmen. (...)
Wenn jemand darzutun vermöchte, dass die Gattungs- und Artbegriffe oder
Ideen selbst die ihnen geradeswegs entgegengesetzten Beschaffenheiten und
Zustände in sich aufnähmen und an sich trügen, so würde das verwunderns-
wert sein“ (129 b6-c3). Holz sieht hier den Übergang zu einer möglichen
Begriffsdialektik, die den Widerspruch nicht zwischen Verschiedenem (auch:
Begriffen) situiert, sondern im Begriff. In der Bestimmung einer Sache wird
dessen Einheit zugleich als Vielheit gedacht – wenngleich das Eine formal
vom Vielen unterschieden ist – indem „das, Eine, Ganze, Zusammenhängende‘
(…) vor dem bestimmenden Denken wieder in eine Menge (…) Einzelner“
(HPD3, 22) zerfällt. Dergestalt wird jeder mögliche Begriff vom Einen pro-
blematisiert, da jedes prädizierende, begriffsbildende Denken bei Bestimmung
eines Einen die vorgebliche Einheit mindestens fragwürdig, wenn nicht sogar
obsolet macht. Will ein Begriff vom Einen dennoch Bestand haben, muss das
bestimmte Eine mit seinem Anderen (Vielheit) zusammen oder als „Selbigkeit
[des Einen] im Anderssein“ (ebd.) gedacht werden. Jeder bestimmte Begriff
ist daher in sich widersprüchlich, insofern das Eine nicht ohne sein Anderes
zu denken ist: Der Begriff Welt als Ganzes aller Seienden impliziert zugleich
einen Begriff von Teilen des Ganzen. Welt ist daher als kontinuierliche Re-
lationsstruktur von verschiedenen Seienden zu denken. Holz dazu: „Allein
Welt könnte das Prädikat vollständig erhalten, d.h. alle wirkliche und mög-
liche Realität umfassen (Die Vollständigkeit ist im Begriff Welt enthalten,
ohne dieses Prädikat wäre Welt nicht Welt)“ (HPD3, 397). Das Eine bleibt
demgemäß mit sich identisch als Eines, das Eines des Vielen ist. Jede ideelle
Konstituierung des Identischen enthält daher zugleich sein Nicht-Identisches.
Platon entwickelt den Begriff des Widerspruchs (und Hegel wird ihm darin
folgen) aus der Reexion des Begriffs, die den Widerspruch „phänomenolo-
gisch in [den] Kategorien des Bewusstseins“ (Zimmer 2008, 156) verankert
und diese nicht aus der Struktur der Wirklichkeit gewinnt.
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Nun hebt aber materialistische Dialektik hervor, dass der Widerspruch
nicht nur abstrakt-allgemeines Prinzip des Denkens ist und aus der logischen
Begriffsform entwickelt werden kann, sondern als materielle Seinsweise aller
Seinsformen den Denkprozessen vorausgeht.13 Will sie also das Verhältnis
der tätigen Begriffsbildung zur Wirklichkeit von den gegenständlichen Ge-
halten des Wissens herkommend systematisieren, muss die Begriffsstruktur
des Widerspruchs der Struktur des Gemeinten entsprechen, also eine Äqui-
valenzstruktur bilden.
Zelený weist darauf hin (vgl. Zelený 2001, 150), dass Aristoteles in An-
lehnung an Platon diese Äquivalenz mithilfe ontologischer Aussagen in den
Kategorien andeutet:
„Auch was unter die Verneinung und Bejahung fällt, ist keine Vernei-
nung und Bejahung. Denn die Bejahung ist eine bejahende Rede und die
Verneinung eine verneinende Rede, was aber unter die Bejahung und
die Verneinung fällt, ist keine Rede. Doch gilt auch von ihm, dass es
sich wie Bejahung und Verneinung gegenübersteht. Denn auch hier ist
die Weise des Gegensatzes dieselbe: wie die Bejahung oder Verneinung,
etwa der Satz: er sitzt, dem anderen Satz, er sitzt nicht, gegenübersteht,
so steht sich auch die durch beide Sätze bezeichnete Sache, das Sitzen
dem Nichtsitzen gegenüber“ (12 b8–16).
Aristoteles unterscheidet zwar per denitionem zwischen Denken und Sein,
setzt jedoch ihre jeweiligen internen Relationsstrukturen, d.h. den logischen
und den realen Widerspruch, isomorph. Der logische Widerspruch innerhalb
der Sprache vollzieht sich für ihn in demselben Modus wie in der außersprach-
lichen Wirklichkeit, insofern einer Tatsache oder einem Sachverhalt im sel-
ben Augenblick nicht dieselbe Eigenschaft zukommen und nicht zukommen
kann. An dieser Bestimmung treten mehrere Aspekte des Verhältnisses des
Denkens zum Sein hervor. Aristoteles setzt voraus, dass das Sein vom Denken
13 Hierin drückt sich zugleich die Ansicht aus, dass das Denken nicht außerhalb oder gegenüber der
Wirklichkeit steht. Vielmehr wird das Denken als eine ausnehmend besondere Seinsform neben
anderen, zu denen es in wechselwirkender Relation steht, gedeutet. Vgl. Zelený 2001, 150ff.
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der Möglichkeit nach richtig erfasst werden kann. Infolgedessen wird beides
in ein äquivalentes Relationsverhältnis gesetzt, das hier hinsichtlich seiner
expliziten Struktur (Prävalenz einzelner Relata) jedoch unbestimmt und of-
fen für Interpretation ist.14 Für Aristoteles ist das, was für die Rede Gebot ist,
gleichzeitig Strukturmoment der Wirklichkeit, d.h. die widerspruchsfreie Rede
entspricht der widerspruchsfreien Realität. Diese Form der Äquivalenz kann
jedoch nur unter der Voraussetzung der Zeitlosigkeit des selben Augenblicks
aufrechterhalten werden. Alleinig im zeitlosen Augenblick kommt einem Ge-
genstand eine Eigenschaft ohne ihr Gegenteil zu. Das besagt schließlich, dass
wir formallogisch Identisches aus der mannigfaltigen, sich verändernden Wirk-
lichkeit heben, um diese denken und schließlich mit ihr praktisch umgehen zu
können (vgl. Zimmer 2008, 157). Die formale Äquivalenz verweist aber auf
die Inkongruenz zwischen Denken und Wirklichkeit, denn diese bestehe „nicht
aus logischen Atomen (wenn wir auch in bestimmten Denkvorgängen um der
Präzision willen solche herausprä parieren müssen), sondern aus komplexen
Gebilden, die der Veränderung in der Zeit unterliegen, sobald ihre Bestandteile
sich in Bewegung benden“ (Holz 2005, 104). In welchem Deutungssinne
kann die aristotelische Äquivalenzbestimmung für eine materialistische Di-
alektik folglich grundlegend sein, obwohl sie die Widerspruchsfreiheit der
außersprachlichen Welt postuliert? Für eine materialistische Dialektik ist die
ontologische Formulierung Aristoteles‘ vom Satz des Widerspruchs nur dann
konstitutiv, wenn unter der identischen Eigenschaft des Gegenstands „auch
die Eigenschaft der Bewegung in untrennbarer Einheit und Gegensätzlichkeit
der gegensätzlichen Bestimmungen verstanden werden kann“ (Zelený 2001,
157f.).
Da für Holz die Bildung von Widersprüchen im Denken auf Widersprüche
in der Wirklichkeit verweist, muss diese aristotelische Äquivalenzvorausset-
zung des zeitlosen Augenblicks, die von gegenwärtiger, zeitlicher Erfahrung
absieht, kritisiert werden. Bewegung von Seienden kann in der Tat nur raum-
zeitlich bestimmt werden (vgl. Holz 1975, 189f.). Vorrang erhält hierbei der
14 Aristoteles stellt die Frage nach dem Verhältnis von Sein und Denken, ohne sie prioritär zu entschei-
den oder gar begründet zu beantworten. Zur Deutungsvielfalt in der Geschichte der europäischen
Philosophie (vgl. Zelený 2001, 158ff.).
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Raum vor der Zeit, insofern Zeitbeziehungen nur aus Raumbeziehungen de-
duziert werden können.15 Die von Aristoteles zunächst postulierte Zeitlosigkeit
des Augenblicks beschreibt daher keinen speziellen Modus der Zeit, sondern
kann sich nur im Raum darstellen, und zwar dergestalt, dass die identischen
Dinge in ihm bereits vordergründig und simultan als Totalität der Verschieden-
heit situiert16 und strukturiert sind. Die Aufhebung der Zeitlosigkeit muss daher
über die Modalisierung des räumlich Seienden vollzogen werden und auf ein
Sein-Können verweisen. Was jetzt noch nicht ist, ist in Zukunft möglich, und
was jetzt ist, war einst möglich.17 Die sprachliche Angabe eines Früher und
Später kann beispielsweise durch die Veränderung eines Sitzortes dargestellt
(vgl. Holz 1975, 189ff.) und somit die aristotelische, formale Äquivalenz vom
Satz des Widerspruchs mit der Realität insofern aufgehoben werden, dass diese
als Voraussetzung für „das richtige Erfassen der in Natur, Gesellschaft und
im Denken objektiv existierenden dialektischen Widersprüche“ (Zelený 2001,
158) bestehen bleibt. Durch den Verweis auf die Kategorie der Möglichkeit
zeigt sich einerseits die Schranke des Satzes vom Widerspruch: Der Wider-
spruch wird zum Strukturmoment der Wirklichkeit, denn „die Welt im ganzen,
die per denitionem nicht nur alles Wirkliche, sondern auch alles Mögliche
umfasst, kann gar nicht anders als in sich widerstreitig gedacht werden, weil
in der Menge aller Möglichkeiten eben auch die einander kontradiktorischen
enthalten sind“ (Holz 2005, 4). Der Satz des Widerspruchs kann demgemäß
nur im zeitlosen Augenblick Geltung beanspruchen. Andererseits umfassen
Bewegung und Veränderung die Dimensionen des möglichen Ortswechsels
und möglicher Entwicklungsprozesse. Ein dialektisch-materialistisches Ver-
ständnis vom Widerspruch muss daher beide Dimensionen des Raumzeitlichen
zu miteinander vermittelten Horizonten seiner Konzeption erklären.
Holz sieht, dass diese systematischen Anforderungen an eine materia-
listische Dialektik in der Physik des Aristoteles präformiert werden. In der
Analytik der Bewegung und Veränderung nutzt Aristoteles die begrifiche
15 Über die Notwendigkeit der Vorrangigkeit des Raumes und die architektonischen Konsequenzen
für eine materialistische Dialektik siehe Zimmer 2002.
16 Die Mannigfaltigkeit des Seienden ist unmittelbare Erfahrungsgegebenheit. Siehe Fußnote 11.
17 Zeit erscheint in den Modi Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
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Struktur des Widerspruchs – wie sie Platon unter Rückgriff der Vorsokratiker
Heraklit und Parmenides entwickelte – um die Widerspruchsstruktur des Seins
zu explizieren. Zunächst postuliert Aristoteles den Prozess, die Bewegung
und die Veränderung als die Weisen jedweden materiellen Seins, ohne die
„Natur“ im aristotelischen Verständnis gar nicht zu denken wäre.18 Von dieser
vorläug als wahr angenommenen Bestimmung ausgehend sind Bewegung
und Veränderung der qualitative sowie quantitative Wechsel einer Seinsform
von einem früheren in einen anderen, späteren Zustand. Folglich ist das Später
nichtidentisch mit dem Vorher, sodass „zwei aufeinanderfolgende Orte oder
Zustände diskret zu denken“ (HPD3, 23f.) sind. Wenn jedoch Veränderung als
Übergang von einem Ort oder Zustand zu einem anderen bestimmt werden soll,
muss sie in einer identisch bleibenden Kontinuität gedacht werden,19 denn es
sind „doch Seinsformen desselben Seienden, das hier als Verschiedenes sich
zeigt, sonst könnte nicht von Veränderung, sondern nur von Verschiedenheit
gesprochen werden“ (ebd., 24). Bewegung und Veränderung sind demzufolge
nur derart zu denken, dass Eines im Verlaufe der Zeit dasselbe und zugleich
später ein anderes als vorher ist. Das Identische muss an sich selbst bereits
nichtidentisch sein.
Das wirft jedoch die Frage auf, wann eine Seinsform in eine andere über-
geht. Offenbar kann nur in der Retrospektive die Verschiedenheit zwischen
zwei Zuständen festgestellt werden, deren Veränderungsverlauf die Zeit ist.
Vo n d e r Ve r s c h i e d e n h e i t a u s g e h e n d , k a n n d e r Ü b e r g a n g z w i s c h e n d e m Vorhe r
und dem Später nur während eines Moments innerhalb der kontinuierlichen
Zeit ausndig gemacht werden. Mit dieser Vorstellung sind jedoch zwei Pro-
bleme verbunden: Veränderung käme dem Seienden hiernach äußerlich und
spontan, doch nicht als seine Seinsweise zu. Zudem stünde die Zeit außerhalb
der Veränderung still und wäre somit als diskret zu beschreiben. Veränderung
18 „So gewiss nun die Natur ein Prinzip von Prozess und Veränderung ist und unsere Untersu-
chung ebendiese Natur zu ihrem Gegenstand hat, ist eine Klärung des Wesens des Prozesses
unumgänglich. Solang wir keinen Begriff vom Prozess haben, ist auch ein Begriff von der Natur
unmöglich“ (200 B 12 – 16).
19 „Wie die Bewegung eine Kette voneinander verschiedener Stadien darstellt, so ist auch die Zeit
eine Kette voneinander verschiedener Abschnitte – im simultanen Querschnitt allerdings ist die
Zeit in ihrer ganzen Breite jeweils identisch eine“ (219B 16 – 19).
143
wird von Aristoteles jedoch als kontinuierlicher Prozess identiziert, was zur
Folge hat, dass der Übergang in jedem Augenblick stattndend gedacht werden
muss, d.h. eine Seinsform ist in jedem Moment identisch und nichtidentisch
mit sich selbst.20
Aristoteles setzt mittels der Kategorie des zeitlosen Jetzt Identität und
Nichtidentität in eine Gleichheitsbeziehung. In Bezug auf die in den Katego-
rien geäußerte Auffassung, dass der Augenblick keinen Widerspruch enthalte
(und enthalten darf), modiziert Aristoteles diese Problematik im Umfeld
naturphilosophischer Erwägungen in der Physik. Er versucht, die sinnlich
wahrnehmbare Veränderung und somit den Übergang zu begründen, der mit-
hilfe der von ihm systematisierten Mittel der formalen Logik nicht denkbar ist.
Die Modi der Zeit (Vergangenheit und Zukunft) gelten für Aristoteles im
Jetzt nicht. Es ist Integral der Zeit, was für Bewegung und Veränderung be-
deutet, dass diese dort nicht sind:
„Erleben wir also nur ein einziges Jetzt und entweder keine Abfolge von
Bewegungsphasen oder auch den Jetztpunkt nicht als den identischen
Punkt zwischen einer früheren und einer späteren Prozessphase, dann
haben wir nicht den Eindruck, es sei Zeit verstrichen, weil wir dann
auch nicht den Eindruck haben können, es sei ein Prozess vor sich
gegangen.“ (219A 30-35)
Das Jetzt erscheint daher als Zeitlosigkeit, deren sinnliche Erfahrbarkeit ver-
borgen bleibt. Dem Jetzt kann sich nur approximativ, durch Reexion21 und
durch Darstellung in Raumkategorien genähert werden. „Der Jetztpunkt“, heißt
es zusammenfassend bei Aristoteles, „als bloßes Substrat betrachtet, bleibt
stets der nämliche und nur seiner Bestimmtheit nach gibt es da Verschieden-
heit“ (219B 19 – 21). Auch wenn jedes einzelne Jetzt zeitlos ist, hat sich in
jedem folgenden Jetzt kontinuierlich die Anordnung im Raum geändert. Die
20 „Das Bewegte zugleich noch am einen und schon am anderen Ort, das sich Entwickelnde zugleich
noch in einem und schon in einem anderen Zustand angetroffen wird“ (ebd., 23).
21 Dieses Herausreißen aus dem Kontinuum der Zeit im Sinne einer Beobachtungsanordnung ist
für die formale Logik sowie die Naturwissenschaften fundamental und zugleich die Schnittstelle
zwischen Ontologie und Logik. Vgl. 218A.
144
Bewegung und Veränderung geschieht daher nicht an einem beliebigen Punkt
im Kontinuum, sondern in jedem Augenblick (Jetztpunkt) vollzieht sich der
jeweils spezische Übergang einer Seinsform in eine andere.22
Die naturphilosophischen Ausführungen Aristoteles‘ zur Bewegung und
Veränderung rekonstruiert Holz als einen ersten Versuch Platons, anders ge-
forderte Auffassung vom Widerspruch zu begründen. So sieht Holz in den
Ausführungen Aristoteles‘ über die Prozessformen der Natur, die sich vom sy-
stematischen Problem der Identität und des Widerspruchs entfalten, erstmalig
die Problem- und Systemstruktur einer Theorie der Dialektik vorgezeichnet:
„Einheit der Gegensätze, Vorrang der Möglichkeit vor der Wirklichkeit, Be-
wegtheit der Materie, Wechselwirkung samt Einheit von Aktivität und Pas-
sivität“ (HPD3, 26). Die darin ausgeführten Problemlagen bleiben bis in die
Gegenwart dialektischen Denkens bestimmende Momente und werden durch
die in der weiteren Philosophiegeschichte sich entwickelnde Problematik des
Verhältnisses (und somit auch der Vermittlung) von Endlichkeit/Unendlich-
keit, Denken/äußere Wirklichkeit sowie Alt/Neu ergänzt. Diese Problemge-
halte bilden den miteinander verzahnten Problem- und Systembestand einer
spekulativen Logik, der für Holz in verschiedenen historischen Knotenlinien
und von zahlreichen Seitenarmen23 durchzogen über Parmenides, Platon, Ari-
stoteles, Cusanus, Leibniz, Hegel zu Marx und Engels führt.24
22 „Das Jetzt bedeutet Teilung – und deshalb nicht Teil – und Einheit der Zeit in einem und kann inso-
fern als punktuelle Einheit von Identität und Nicht-Identität, als der punktuelle Widerspruch selbst
verstanden werden“ (Zimmer 2002, o.S.).
23 Dass ein beachtlicher Teil der Seitenarme noch gar nicht ausgeführt, sondern lediglich die Ver-
bindungen zu den Knotenpunkten nachvollzogen sind, stellt Holz dem Beginn seiner Problemge-
schichte der Dialektik voran: „Sie konnte nicht anders als aus einem Guss sein – und das heißt,
dass mancherlei Teilstücke und Entwicklungsstränge ausgelassen werden mussten (…). Was man
als Knotenpunkte auswählt, ist, bei aller Bemühung um historisches Gleichmaß ein persönlicher
Entscheid. Das ist die Grenze einer Darstellung aus einer Hand, aber auch die Chance zu durch-
gängiger Konsistenz“ (ebd., 12).
24 Holz denkt Systematik und Philosophiegeschichte intensiv hinsichtlich der Problematik und extensiv
in Bezug auf ihre Systemformen. Die folgende Einteilung Holz’ muss als begründeter Vorschlag
verstanden werden und nicht als konstatierter Endpunkt der Dialektik: „Grundlegend und unverzicht-
bar für die Axiomatik [eines spekulativen Modells der Konstruktion des Gesamtzusammenhangs,
der da Welt ist], die mir vorschwebt und für das, was Dieter Henrich den Grund und Gang des
spekulativenDenkens genannthat, –denitivseinmüssteundsichin systematischerOrdnung
ergäbe, sind: 1. Der Satz des Parmenides: (…) dasselbige nämlich sind Denken wie auch das
Sein. 2. Der Satz Hegels: Das Wahre ist das Ganze. 3. Der Satz des Cusanus: (…) das Ganze
scheint in allen Teilen wider. 4. Der Satz von Leibniz: (…) alles Mögliche treibt über sich hinaus zu
existieren. Einen Schritt über die Systematik hinaus führt 5. Der Satz von Marx: Der Hauptmangel
145
Differenzierungen in der dialektisch-materialistischen
Kategorie des Widerspruchs
Die systematisch-grundlegende Denkgur der Dialektik, die historisch aus der
Widerspruchsproblematik entsprang, ist das übergreifende Allgemeine25 oder
die Identität von Identität und Nichtidentität. Im Unterschied zur formal-klas-
sikatorischen Logik, deren oberste Gattung (das Allgemeine) sich ihre Be-
sonderungen unterordnet, umfasst eine dialektisch strukturierte Gattung zwei
Arten: Das Allgemeine ist Allgemeines seiner selbst und seines Gegenteils,
des Besonderen. Das hier am Beispiel der Rekonstruktion des aristotelischen
Widerspruchsbegriffs von Holz vorscheinende spekulative Begriffssystem
entwickelt er in dem Sinne weiter, dass die Kategorien aus den Gehalten des
Wissens gewonnen, auf diese zurückprojiziert werden können. Außersprach-
liche Wirklichkeit und Begriffswelt stehen folglich in einem Spiegelverhältnis
zueinander. „[Materialistische] Dialektik erscheint dann als ein System von
allgemeinsten Denk- und Wirklichkeitsstrukturen“ (HPD3, 29) mit dessen
Hilfe die Struktur und Genese des realen Widerspruchs begrifich gefasst
werden kann: Die Identität des Seienden wird einerseits durch die Nichtiden-
tität des Ortes und Zustands konstituiert. Der Widerspruch ist somit nicht nur
Bewegung und Veränderung, sondern auch Struktur der einheitlich ganzen
Wirklichkeit. Andererseits wird die Veränderung des Seienden intrinsisch be-
gründbar, insofern Seiendes nur im Modus des Selbstwiderspruchs ist, wird
und vergeht. Wirklichkeit wird in seiner Widerspruchsstruktur und -genese
demzufolge aus sich heraus begründbar, und der Widerspruch ist dann real
existierende Seinsweise, Korrelat gegenwärtiger Erfahrungsgegebenheit. Für
Holz ergibt sich der Widerspruch daher als durchgängige, immanente Struktur
des materiellen Seienden. Die spekulative, materialistische Dialektik, wie Holz
alles bisherigen Materialismus ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur unter der
Form des Objekts oder der Anschauung gefasst wird; nicht aber als sinnlich menschliche Tätigkeit,
Praxis; nicht subjektiv“ (HAV3, 215).
25DieseDenkgurwurdepointiertzuerstvonHegelgefasst:„DasAllgemeineistdaherdiefreieMacht;
es ist es selbst und greift über sein Anderes über; aber nicht als ein Gewaltsames, sondern das
vielmehr in demselben ruhig und bei sich selbst ist (…), denn es ist ein Verhalten seiner zu dem
Unterschiedenen nur als zu sich selbst; in demselben ist es zu sich selbst zurückgekehrt“ (HW6,
277).
146
sie entfaltet, erhält somit eine wirklichkeitserschließende Funktion, indem sie
die systematische, begrifiche Erfassung der Erfahrung von Bewegung und
Ve r än d e r u n g m ö gl i c h m a c h t u n d d ie S tr u k t u re n de r W i r k li c h k e it a uf s c h l üs s e l t .
Nun könnte gemutmaßt werden, dass sich hinter diesen Überlegungen
von Holz spitzndige Logizismen benden, die, sobald in höchst abstrakter
Weise gefasst, die Wirklichkeit in ein logisches Korsett zwängen und jede
individuelle Erfahrung zum Ausdruck abstrakter, objektiver Determiniertheit
degenerieren, daher die Findung und historisch-systematische Aufarbeitung di-
alektischer Denkguren praktisch gegenstandslose Arrangements des Denkens
sind und den revolutionären Impuls materialistischer Dialektik neutralisieren.
Es geht Holz jedoch nicht um die Bestimmung der Dialektik als heuri-
stische Begriffsdialektik, Logik der Zeitlichkeit, gesellschaftlicher Entwick-
lung oder selbstregulativer Prozesse. Vielmehr soll durch die Erforschung
des systematischen Ausgangspunkts der Dialektik ein hypothetischer Erweis
erbracht werden, dass der Widerspruch als umfassende Seinsstruktur darge-
stellt werden kann. Hier gründet zugleich der Anspruch, dass Begriffe minde-
stens partiell wirkliche Verhältnisse repräsentieren. Das Verhältnis zwischen
Real- und Begriffsdialektik versucht Holz deshalb als Widerspiegelung zu
bestimmen. Strukturanalytisch präzisiert bedeutet dies: Will das Denken sich
als materielles Sein begreifen, so nimmt es als Selbstunterschied die Gestalt
des doppelten, nicht symmetrischen Reexionsverhältnisses an. Die materielle
Vielheit des Seienden wird demzufolge vom Denken reexiv erfasst, und zwar
als Reexion in das Reektierte und in umgekehrter Richtung Reexion in
sich zurück, sodass sich folglich das Denken als besonderes, innerweltliches
Seiendes aufschließt.
Hier knüpft Holz nicht nur an die abendländische Tradition der Dialektik,
sondern gleichwohl an die chinesische Kultur- und Philosophiegeschichte und
die Überlegungen Maos zum Widerspruch an. Die Parallelen beider Traditi-
onen sieht Holz in der Verfasstheit der chinesischen Sprache, die als Dialek-
tikum26 die Bedeutung der Begriffe nicht festsetzt, sondern den natürlichen
26 In einem aufgezeichneten Gespräch mit Bloch beschreibt Holz Sprache als Dialektikum (vgl. Mar-
kun 2010, 32).
147
und historischen Spielraum eines Bedeutungshorizonts lediglich konturiert
und offen hält (vgl. HAV2, 237). Im Buch der Wandlungen (I-Jing) – einem
Zeichensystem mit metaphorischen Deutungsmustern zur Kontinuität und
den Eigenschaften von Veränderungen, dessen überlieferte Anfänge bis ins
2. Jahrtausend v. u. Z. reichen – , erfuhr diese Bedeutungsoffenheit ihre erste
formalisierte Systematik. Daraus ergeben sich für Holz zwei aufeinander be-
ziehbare Blickrichtungen, die Mao vereint. Zum einen ist das darin geformte
kosmologische „Weltbild (…) die Voraussetzung aller späteren chinesischen
Philosophie bis in die Gegenwart“ (ebd., 241). Zum anderen entspricht die
europäische Tradition in Bezug auf Hegel der chinesischen insofern, als der
Widerspruch hier als Ausdruck für Prozess, Bewegung und Veränderung nicht
zwischen Verschiedenen, sondern als Selbstunterschied verstanden wird.27
In Maos Abhandlung Über den Widerspruch wird diese Zusammenführung
für Holz besonders deutlich. Mao greift hier auf Lenins Exzerpte zu Hegels
Wissenschaft der Logik und die Vorlesungen über die Geschichte der Philo-
sophie zurück, die den systematischen Ausgangspunkt der materialistischen
Dialektik markieren:
„Das Gesetz des Widerspruchs, der den Dingen innewohnt, oder das
Gesetz der Einheit der Gegensätze, ist das fundamentalste Gesetz der
materialistischen Dialektik. Lenin sagt: ,Im eigentlichen Sinne ist die
Dialektik die Erforschung des Widerspruchs im Wesen der Gegenstände
selbst‘.“ (Mao 1976, 27)
Neben der Hervorhebung des Widerspruchs für die Konstituierung einer ma-
terialistischen Dialektik bestimmt Mao zudem, worauf sich diese Bestimmung
bezieht: „Das Gesetz des den Dingen innewohnenden Widerspruchs oder das
Gesetz der Einheit der Gegensätze ist das Grundgesetz der Natur und der
Gesellschaft und folglich auch des Denkens“ (ebd., 81). Der Widerspruch
wird von Mao ontologisch als die Existenzweise allen Seins bestimmt. „Der
27 Zur Funktionsweise der Zeichentafeln im I-Jing, die hier nicht nachvollzogen werden können: Ebd.,
237ff.; Holz 2001, 63ff.
148
Widerspruch“, schlussfolgert Holz „ist der Welt immanent, er ist Prinzip
(…), dialektisches Wesen des Seins, das das Nichtsein übergreift“ (HAV2,
240). Ein Seiendes, das nicht widersprüchlich ist, kann es nicht geben. Es ist
immer ein Werden im Verlaufe der Zeit und als solches immer Nichtidentität
des identischen Seins. Die hiermit postulierte Universalität der Nichtiden-
tität, mutmaßt Holz, könnte jedoch voreilig als metaphysische Anschauung
interpretiert werden, der gemäß „an die Stelle eines logisch-rationalen ein
alogisch-irrationales Seinsverständnis treten“ (ebd., 247) könne, die Denken
und Sein einander äußerlich fasst. Ein solcher Grad metaphysischer Abstrakt-
heit zerschneide dann das – von materialistischer Dialektik letztlich intendierte
– Band zwischen politischer Praxis und wissenschaftlicher Analyse, und zwar
dergestalt, dass Wissenschaft und Politik zur absoluten Selbstbezüglichkeit zu
verkümmern drohen. Die Kategorie des Widerspruchs erhält daher bei Mao
einen gestaffelten Sinn. Als solch Allgemeines ist der Widerspruch zugleich
immer ein jeweils besonderer (vgl. Mao 1976, 44). Daraus ließe sich folgern,
dass dieser zum einen Existenzform allen Seins ist und zum anderen jedem
bestimmten Sein in spezischer Form innewohnt: „Und dieser Satz gilt dann
und nur dann, wenn die Welt gedacht wird als ein Allgemeines, das sich in
Besonderungen entfaltet, als eine Einheit, die sich als eine Vielheit darstellt“
(HAV2, 248). Auf der Grundlage des identischen, aber prozessierenden Seins
trete dessen widersprüchliche Verfasstheit augenscheinlich „erst auf der Stufe
der Besonderungen zutage“ (ebd.), da nur die unterschiedene Vielheit und
nicht Welt als Einheit derart gedacht werden kann, dass sie gleichzeitig so
sei und nicht so sei.
In den Bestimmungen Maos ist die Ansicht eingewickelt, dass Wider-
spruchsdenken neben einer heterogenen zeitlichen auch einer räumlichen Vor-
stellung bedarf, d.h. die Vielheit des Einheitlichen aus mehreren, zueinander
in Relationen stehenden Schichten besteht, deren Strukturelemente veränder-
lich sind, sich nicht-linear verändern und aufeinander einwirken: „Die Welt
im ganzen, die das ist, was sie ist“ (ebd., 249), ändert beständig ihre Struktur
und ist dementsprechend kein festes, in sich ruhendes Sein, äußerlich der
Vielheit. Und als Sein ist sie dennoch Sein, insofern mit sich identisch, „und
doch immer in Veränderung und Bewegung begriffen“ (ebd.). Die konkrete
149
Widerspruchsstruktur der Wirklichkeit erschöpft sich daher nicht im allge-
meinen Postulat abstrakter Bestimmungen oder kann gar intuitiv durchblickt
werden. Die Exemplizierung ihrer Entwicklungs- und Relationsgrade ist
vielmehr beständige Aufforderung wissenschaftlicher Forschung.
Holz sieht in Maos Ausführungen die Einführung von Widerspruchsgraden,
die sich in ihrer Wirksamkeit innerhalb verschiedener Relationsgefüge unter-
scheiden und ein methodisches Werkzeug zur Analyse konkret-historischer
Situationen darstellen:
„[Diese Widerspruchskonzeption] erweist sich als ein Glied im Auf-
bau eines streng logischen Gefüges von Kategorien. Sofern nämlich
in einem universellen und wechselseitigen Bedingungszusammenhang
jeder partikuläre Sachverhalt zugleich in einer Hinsicht als Gattung
anderer Sachverhalte und in anderer Hinsicht als deren Art fungieren
kann.“ (Ebd.)
So gehört in der Schichtung der Gesellschaft ein individueller Mensch durch-
aus mehreren Körperschaften wie z.B. Vereinen, religiösen Gemeinschaften
oder Gewerkschaften an, in denen das Verhältnis zu anderen Individuen spe-
zisch normiert ist. Darüber hinaus sind die gleichen Einzelmenschen Glieder
übergeordneter Zusammenhänge, wie z.B. Staaten oder Klassen, die in spe-
zischen Verhältnisstrukturen zu sich und zu Gliedern anderer stehen. Die
subsumierten Beziehungsstrukturen werden von den höheren aufgenommen
und ihrerseits von den niederen beeinusst. Daraus ergibt sich ein komplexes
Bild von Wechselwirkungszusammenhängen, in denen bestimmte Momente
dominanter sind als andere (vgl. Holz 1983, 22f.). In dieser Weise ist beispiels-
weise der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit als Hauptwiderspruch
jedweder kapitalistischen Gesellschaft maßgebend gegenüber der Struktur
von hieraus bedingten Widersprüchen innerhalb der Kapitalfraktionen (auch
über Staatengrenzen hinweg). In der Mikrostruktur der Kategorie Widerspruch
fügt Mao mit der Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch
demzufolge eine weitere Ebene hinzu:
150
„Die Seiten eines jeden Widerspruchs entwickeln sich ungleichmäßig.
Zuweilen scheint es, dass zwischen ihnen ein Gleichgewicht besteht;
doch dieses ist nur vorübergehend und relativ, während die ungleich-
mäßige Entwicklung das Grundlegende bleibt. Von den beiden Seiten
des Widerspruchs ist die eine unweigerlich die hauptsächliche, die
andere die sekundäre Seite. Die hauptsächliche Seite ist jene, die im
Widerspruch die führende Rolle spielt. Der Charakter eines Dinges wird
im wesentlichen durch die Hauptseite des Widerspruchs bestimmt, die
eine dominierende Stellung einnimmt.“ (Mao 1976, 61)
Diese Einteilung ist in mehrerlei Hinsicht von Bedeutung. Untergeordnete
Aspekte eines Widerspruchs können zum bestimmenden Moment werden
und somit den Charakter des widersprüchlichen Sachverhalts insgesamt ver-
ändern. So können Knechte innerhalb des Herr-Knecht-Verhältnisses all-
mählich Macht erlangen und die über sie ausgeübte Herrschaft beenden. Die
vormaligen Knechte sind dann die Herren über ihre ehemaligen Herren, die
nun Knechte sind. Ferner kann ein Widerspruch und mit ihm der Sachverhalt
oder das Ding untergehen. Verschwindet eine Seite des Widerspruchs, löst sich
der Sachverhalt oder das Ding auf. Der bestimmte Prozess kommt dann zum
Ende. Aus dem Ende eines Widerspruchs wird ein neuer entstehen, da dieser
als Art einer Gattung mit anderen Arten der Gattung in Widerspruch geraten,
durch seine Entwicklung innerhalb der Gattung mit ihr inkompatibel werden
und so möglicherweise eine neue Gattung hervorbringen kann. Nehmen die
einstigen Herren die Selbstbefreiung der Knechte und darauf aufbauende
Ordnung an, können sie unter Anerkennung der ehedem Geknechteten als
gleichberechtigte Glieder in diese Gesellschaft eintreten. Dort entstehen dann
neue Widersprüche, und zwar dergestalt, dass in dieser allgemeinen Assozia-
tion freier Menschen die Interessen Einzelner sich voneinander unterscheiden
respektive im Widerspruch zueinander stehen. Der Widerspruch als Modus des
Seins ist daher die dauerhafte Existenz von immer wieder neu entstehenden
Widersprüchen innerhalb der Wirklichkeit:
151
„Die unendliche Totalität, in der alle Möglichkeiten je schon angelegt
(…) sind, erweist sich hinsichtlich ihrer Aktualisierung als ein ge-
schichtlicher Prozess dauernder Wandlungen, in denen Wesenheiten
auftauchen und verschwinden, ineinander übergehen und sich ver-
ändern und eine unendliche Menge transitorischer Verwirklichungen
entsteht.“ (HAV2, 253)
Daraus ergibt sich, dass Politik und Wissenschaft in Einheit Tendenzanalyse
der zukünftigen Entwicklungen betreiben müssen – allerdings derart, dass
die Mehrschichtigkeit der Welt- und Selbstverhältnisse, in denen Menschen
stehen, angesichts zukünftiger Entwicklung weitläugen politischen Hand-
lungsspielraum ermöglichen soll. Fortschritt wird daher nicht als monokau-
sal gedacht, wobei Zustand B automatisch der bessere gegenüber Zustand
A wäre. Eher ist der Fortlauf der Entwicklung aufgrund der mannigfaltigen
möglichen Weltgehalte unendlich offen und in seiner Wertigkeit und Bedeu-
tung zunächst unbestimmt, sodass die kollektiv handelnden Menschen den
ermöglichten, besseren Entwicklungsraum, dessen Grundlage die Erkenntnis
ist, aus dem Bestehenden immer wieder in praxi heraus prozessieren müssen.
Diese Vorstellung von Zukunft kann in diesem Sinne kein heilsgeschichtlich
harmonisches Paradies kennen.
Holz entfaltet mit seinen facettenreichen Ausführungen zur Struktur und
Genese des Widerspruchs ein umfassendes Strukturmodell, das zugleich die
regionalen Ebenen des Widerspruchs innerhalb der Wirklichkeit aufschlüsselt
und zueinander ins Verhältnis setzt. Der Widerspruch ist demgemäß nicht
nur logisch im Denken und sollte von diesem möglichst gemieden werden,
sondern ist im ontologischen Sinne Bestimmung des Seins und kann durch
materialistisch-spekulative Philosophie denkbar gemacht werden.
Holz versucht indessen deutlich zu machen, dass wir das Widersprüchliche
mithilfe materialistisch-spekulativer Philosophie nicht ausschließlich retro-
spektiv nachvollziehen können – gewissermaßen vor dem Widersprüchlichen
stehend. Vielmehr entfaltet Holz eine materialistische Dialektik der Präsenz,
dernach wir vom widersprüchlichen Sein übergriffen werden, sodass wir uns
152
originär und präsentisch inmitten der Widerspruchsstrukturen benden und
ihrer spezischen Wirkungsweisen ausgesetzt sind. Materialistische Dialektik
wird als doppelte Reexion demgemäß zur Theorie gegenwärtiger materieller
Verhältnisse und intendiert, ihren wirklichen Zusammenhang begrifich zu
erschließen. Das ist die eine Seite der Reexion. Theorie und Praxis werden
indes nicht mehr als Verschiedene aufgefasst, sondern als unterschiedene Arten
innerhalb einer materialistisch-dialektischen Ontologie – wie Holz sie vor-
schlägt. Das Übergreifen der Theorie über die Praxis ist der logische Aspekt.
In seiner Umkehrung wird der ontische Aspekt beschrieben (vgl. HAV3, 346).
Dialektisch-materialistisches Philosophieren als Kristallisationspunkt und Ein-
heit der doppelten Reexion berät daher nicht mehr nur erkenntnisgesättigt das
Handeln, sondern – und das ist die zweite Seite der Reexion – instituiert es.
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