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Tobias Neuburger
„Daß beide zwei
ganz verschiedene
Völker sind“
Zum Verhältnis von Antisemitismus
undAntiziganismus
Antiziganismus war in den postnazistischen Gesellschaften lange kein Thema, kein
Gegenstandöffentlicher Diskussionenoder wissenschaftlicher Forschung,Derseit eini‑
gen Jahren in Konjunkturenwiederkehrende Antisemitismus-Antiziganismus-Vergleich
dient der Herstellung von Evidenz. Bei aller Ignoranz gegenüber dem Fortleben des
Antisemitismus in Formdes Antizionismus, dass esAntisemitismusgibt-auchwennihn
deutsche Gerichtein jüngsten Urteilenletztlichfür abgeschafft erklärten! -war undist
common sense. DieEinsichtjedoch, dass esAntiziganismus gibt, eine Ideologie,die einer
eigenen Logik folgt, hat sich bis heute noch nicht durchgesetzt. Dass Sinti-undRoma‑
Bürgerrechtler in den politischen Kämpfen um die Anerkennung des anihren Eltern
undGroßelternverbrochenen Unrechts unterBezugnahmeaufdenAntisemitismus ar‑
gumentieren, dass auch sie „wie dieJuden“ vonden DeutschenundihrenHilfsvölkern
verfolgt, interniertundermordet wurden, ist nachvollziehbar. Dass jedoch regelmäßig
Wissenschaftler vonÄhnlichkeiten zwischen Juden- undZigeunerbildern aufParallelen
bis hinzur Identität schließen, ist esnicht.
Insbesondere innerhalb der Linken ist eine Tendenz beobachtbar, die Kritik des
Antisemitismus zu verdrängen und an ihre Stelle jene anderer Ressentiments zu set‑
zen. Diese Tendenz hat wohl damit zu tun, dass im Falle des Antisemitismus die pro‑
blematische Vorstellung vom ‚reinen Opfer‘ -anders als im Falle von Rassismus oder
Antiziganismus -nicht bewahrt werden kann: Bedingt durch die Existenz jüdischer
Staatlichkeit als Schutzmacht gegen die antisemitische Bedrohung, können dieJuden
nichtmehr als eines jener ‚subalternen‘ Subjekte figurieren, mitdenen sich die Linke
stets bevorzugt identifiziertund solidarisiert. .
DieKritikdes Antiziganismus muss daher zu ihrem eigenen Rechtkommen.Anstatt
obsessiv aufdierelativierendeFormel„wie die Juden“ hinauszulaufen,solltengerade die
Spezifikader Projektionenin den Blickgenommenwerden. Aus diesem Grundwerden
”
1Deniz Yücel: Antisemitismus? Istabgeschafft.In:taz.de.http//www.taz.de/!154889/(letzterZugriff: 29.09.2015).
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im FolgendenandreizentralenAspekten wesentliche UnterschiedevonAntisemitismus
undAntiziganismus diskutiert.DieBetrachtungfokussiert zwar nichtexplizit den natio‑
nalsozialistischen Genozid anRoma undSinti-doch gerade dieser istals Bezugspunkt
der Ausführungen stets im Bewusstseinzu halten.Dennder letzte Bezugspunkt einer
jeden Kritik des Antiziganismus ist das massenhafte Töten, die nicht nurversuchte,
sondern nahezu vollendete Vernichtung der Roma und Sinti.
Religiöse Wurzeln vonAntisemitismus undAntiziganismus
Zu Beginnder westeuropäischen Geschichte der Sintiim 15.Jahrhundert spieltenreli‑
giöse Aspekte in denvorherrschenden ‚Zigeunerbilderneinegewichtige Rolle.Bereits
zudieser Zeitwidmeten sich ChronistenundGeistliche der mysteriösen Herkunftund
Anwesenheit dieser Menschengruppe.ReligiöseErklärungsmuster versprachen hierbei
eine Antwort aufdiese ungeklärtenFragen: Die‚Zigeuner‘ seien Pilger aufeiner mehr‑
jährigen Bußfahrt durch die christliche Welt.
“Als mögliche Gründe für ihreBußfahrt kursieren seit der frühen Neuzeit unzählige
Legenden.?Verbr eitung fand hierzuBeginninsbesondere eine Konversionsgeschichte,
die behauptete, dass die ‚Zigeuner‘zunächst zum Christentum konvertierte Sarazenen
(das heißtMuslime) seien und schließlich wiederum -unterZwang -vom christlichen
Glaubenabgefallen wären. Diese Konversionsgeschichte wurde zudem häufigvonder
Legendeflankiert,die ‚Zigeuner‘ hättender HeiligenFamilieaufder Fluchtvor Herodes
in Ägypten die Herbergeverweigert.? Darüber hinaus dienten eine Reiheweiterer bib‑
lischer Geschichtenzur Plausibilisierungder Anwesenheit der ‚Zigeuner‘in Europa.So
wurde behauptet,einZigeunerschmied hättedie Nägelfür ChristiKreuzigunggefertigt
oder dass sie Abkömmlinge Kains seien, der von Gott aufGrund seines Brudermords
anAbel zu ewiger undruheloser Wanderschaft verurteilt wurde.
In Anbetracht der skizzierten, religiös begründeten Erklärungsversuche für die
Anwesenheit der ‚Zigeuner‘ in Europa sollte die folgende Feststellung des Historikers
Wolfgang Wippermann verwundern: „Die religiösen Bestandteile sowohl des
Antisemitismus wie des Antiziganismus weisen eine frappierende Ähnlichkeit auf,
die nichtzufällig sein kann, sondern daraufhindeutet,daß der jüngere Antiziganismus
nach dem Vorbild des älteren Antisemitismus konstruiert wurde.“ Sicherlich kön‑
nen Vorurteile von einer auf eine andere Gruppe übertragen werden. Aber wenn
2Siehe ausführlich hierzuInesKöhler-Zülch: Die 3Wilhelm Solms: Zigeunerbilder. Ein dunkles
HeiligeFamilie in Ägypten,die verweigerte Herberge Kapitelder deutschen Literaturgeschichte. Von der
und andere Geschichten von ‚Zigeunern‘,In:Daniel frühen Neuzeit bis zur Romantik. Würzburg 2008,
Strauss (Hg.): Die Sinti/Roma-Erzählkunst im Kon- $.22-23,
textEuropäischer Märchenkultur. Heidelberg 1992, 4Wolfgang Wippermann: „Auserwählte Opfer?“.
5. 35-84. Shoah und Porrajmos im Vergleich. Berlin2005,S.16.
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eszu Verschiebungen, Übertragungen und Transfers von stereotypen Bildern zwi‑
schen verschiedenen Objekten kommt, bedeutet das längst nicht zwangsläufig, dass
sie in einemwechselseitigen Fundierungsverhältnis stehen. DieUrsachen,Funktionen
und Konsequenzen mögen dennoch unterschiedliche sein und sind im Falle von
Antisemitismus und Antiziganismus -wie noch zu zeigen sein wird -durchaus ver‑
schieden. Selbst wenn wir auf einer symbolischen Ebene Gemeinsamkeiten oder
Strukturähnlichkeiten zwischen den religiösen Vorurteilen bezüglich Juden und
‚Zigeunern‘findenkönnen,übernehmen diese doch mitunterganz andere Funktionen
innerhalb des christlichen Bewusstseins.Diesbetontauch der Historiker GiladMargalit,
der unterstreicht,dass sich die Einstellungder christlichen Autoritäten unddes gemei‑
nenVolks im Heiligen Römischen Reich in Bezug auf Juden und ‚Zigeuner‘ erheblich
voneinander unterschied.
Sofällt dem Judentum innerhalb des christlichen Glaubens eingrundverschiedener
Status als jener der ‚Zigeuner‘ zu. Freud hat den christlichen Antijudaismus als einen
ödipalen Konfliktzwischen Vater- und Sohnesteligiongedeutet. Insbesondere beton‑
te er, „daß alle diese Völker, die sich heute imJudenhaß hervortun, erst in späthisto‑
tischen Zeiten Christen geworden sind, oft durch blutigen Zwang getrieben.“ Die
„schlecht getauften“” Christen, sokönnte esausgedrückt werden, werden denJuden
den Monotheismus nieverzeihen undexerzieren andiesen ihrenheimlichen Grollge‑
gen die eigene Religion.
Gänzlich anders verhält essich mit der Stellung des ‚Zigeuners‘ im christlichen
Bewusstsein. Die Sinti sind, wie wir aus urkundlichen Erwähnungen und Chroniken
des 15.Jahrhunderts wissen, als Christen in das HeiligeRömische Reicheingewandert
undwurden zunächst durchaus als solche -wenn auch als schlechte oder böse -aner‑
kannt.DieLegendenvonder verweigerten Herberge unddem Glaubensabfall situieren
sie im Grenzbereich des Christentums. Sie stehen nicht nurin einem Naheverhältnis,
sondern sind dem Christentum gar zugehörig. Als pilgernde Büßer repräsentieren
sie Apostasie und Häresie. SowohlJuden als auch ‚Zigeuner‘ sind somit kein bloßes
Symbol des Fremden.BeideFeindbildergehen, wie wir esanden religiösen Juden- und
‚Zigeunerbildern‘ erkennen können, nicht im Begriffder Xenophobie auf.
3GiladMargalit:TheImage ofthe Gypsyin German Werke. Chronologisch geordnet. Hrsg.v. Anna Freud,
Christendom.In:Patterns of Prejudice 2/1999, S.76, Bd. 16.FrankfurtamMain; London 1950, 8.198.
6Sigmund Freud: Der Mann Moses und die mo- 7Ebd.
notheistische Religion [1939].In:Ders.: Gesammelte
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Jüdische und ‚zigeunerische‘ Verschwörung?
Sowohl Antisemitismus als auch Antiziganismus umfassen bestimmte Formen einer
Verschwörungstheorie. Doch der projektive Charakter von jüdischer und ‚zigeune‑
tischer‘ Verschwörung könnte unterschiedlicher nicht sein -die ihnen jeweils zuge‑
schriebenen Gefahren sindvonanderer Qualität undReichweite.Der Antisemitismus
tritt als ideologisches Welterklärungsprogramm auf, der Jude figuriert hier als univer‑
sale Gefahr und bildet etwas wie die Inkarnation der Moderne.DerAntisemit halluzi‑
niert eine jüdische Verschwörung im Großen, in einem weltumspannenden Maßstab.
DerWahn der jüdischen Weltv erschwörung ist eine Rationalisierungder unverstande‑
nenPrinzipien kapitalistischer Vergesellschaftung: Der Jude erscheint als (Zwischen-)
Händler,Spekulant undabstraktes Prinzip einer durch Wert vermittelten Gesellschaft.
Auch der moderne Antiziganismus beinhaltet eine Art Verschwörungstheorie. Doch
im Gegensatz zum antisemitischen Welterklärungsprogramm verbleibt die ‚zigeuneri‑
sche‘ Verschwörung auf der Ebene von Alltag und Lebenswelt. Es ist keine abstrakte,
sondern eine Verschwörung ubiquitärer Kleinkriminalität, deren Proponenten nicht
als Verkörperung eines abstrakten Prinzips in Erscheinungtreten,sondern vielmehr als
allgegenwärtige, leibhafte Plage.
Anhand vonAusführungen des KriminalistenundSchriftstellers FriedrichChristian
Av£-Lallement in seinem einflussreichen Werk DasDeutsche Gaunerthum kann diese
Differenz,das sich unterscheidende Gefahrenpotential im Wahn jüdischer und ‚zigeu‑
nerischer‘ Verschwörung, expliziert werden: „Wenn auch die Zigeuner dem rationel‑
lenVerbrechen sogar den Namen verliehen haben, wenn gerade sie bei ihrem ersten
Auftreten in der ganzen Eigenthümlichkeit und Farbigkeit ihres besonderen Wesens
den scharfen Typus des verbrecherischen Vagantenthums abgaben, wenn sie auch mit
ihrer eigenthümlichen Schlauheit undKunstfertigkeit ... ein Gewerbe vomVerbrechen
machten,...soistdas Zigeunerwesen doch niemals auchnurentfernt in das bürgerliche
Verkehrsleben so tiefhineingedrungen,wie das christliche undjüdische Gaunerthum
dies vermocht hat.“‚Zigeuner‘tretenhier als Inbegriffdes kleinenBerufsverbrechers in
Erscheinung.Das „Zigeunerwesen“ konnte sich aber nicht,folgen wir denAusführungen
Ave-Lallements, in vergleichbarem Ausmaß in das polit-konomische System der bür‑
gerlichen Gesellschaft einschleichen. Sie bleiben,ganz im Gegensatz zum sich verklei‑
denden und maskierendenJuden, ein „scharfer Typus“. Der Vergleich der Bilder vom
Juden und‚Zigeuner‘ zeigt: lediglich in Bezug auferstere existiert die Vorstellung des
Einschleichensundder Mimikry.Eine vergleichbare Idee ‚zigeunerischer‘ Mimikry exis‑
tiert nicht. Hier wird greifbar, dass antisemitische und antiziganistische Projektionen
8FriedrichChristian BenedictAv&-Lallement: Das deutsche Gaunerthum in seiner social-politischen, literari‑
schen undlinguistischen Ausbildung zuseinem heutigen Bestande. Bd. 2.Leipzig 1858,$. 34.
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inverse Vorzeichen aufweisen. Gemäß dem Antiziganismus ist esnicht der ‚Zigeuner‘,
der die bürgerliche Gesellschaft infiltriert,sich in sie einschleicht, vielmehr wirkt sein
lüsterner,libidinöser und freiheitsliebender Lebensentwurf, esnichtzutun,anziehend
und verlockend. Anhand dieser Attraktion für das zivilisierte Subjekt wird deutlich,
auf welche Weise Antiziganismus eine Form romantischen Antikapitalismus ist. Der
‚Zigeuner‘und sein Lebensentwurfbesitzen Ansteckungsgefahr: „Männer undWeiber,
wer nurwill, finden in ihrer Gesellschaft bereitwillige Aufnahme. Der Zulauf ist stark;
dennwer seines Halses nichtsicher ist,findet beiihnenVerborgenheit und Schutzund
wem eingeordnetes Leben nichtbehagt,der kannunterden Zigeunern einLuderleben
führen, wie eresnurwünscht.“
Jüdische Mimikry,FeigheitundVerschlagenheit wurden im ethnographischen Dis‑
kurs des 19.Jahrhunderts mit‚zigeunerischem‘ Stolz undEitelkeitkontrastiert. Richard
Liebich,einflussreicherVerwaltungsbeamter, formulierte dieses Kontrastverhältnisfol‑
gendermaßen: „Der Jude schmiegt undbiegt sich,jaerverbirgt, verkriechtund verleug‑
netsich, sobald essein Vortheil erheischt oder die Nothgebietet. Der Zigeuner bleibt
in stolzem Selbstbewußtsein zu jeder Zeit, unter allen Verhältnissen, in Gutem und
Bösem immer derselbe. Unddieses Selbstbewußtsein findet auch äußerlich insofern
einen unterscheidendenAusdruck, als der Zigeuner stets von seiner ‚Nation‘,der Jude
dagegen nurvon ‚seinen Leuten‘ zusprechen pflegt.“!°Dem‚Zigeuner‘ wird zwar eine
gewisse Gerissenheit zugestanden, doch zurInfiltrationister aufgrund geistiger Indolenz
letztlichnichtin der Lage. Er tritt als durchaus konkretes Objekt in Erscheinung, der in‑
tellektuelle, selbstverleugnende undsich maskierendeJude wird demgegenüber als ein
entgegengesetztes, abstraktes Prinzipphantasiert,das Konkretes nurvortäuscht. Damit
hängt zusammen, dass der Antiziganismus stets amkonkreten Objekt ansetzt, während
die antisemitische Wahnvorstellung auch Ausdruck selbst ohne ein solches Objekt
finden kann. Esgibt keinen Antiziganismus ohne ‚Zigeuner‘ -beziehungsweise ohne
Menschen,die der Wahn für ‚Zigeuner‘hält.Dies ist ein zentraler Unterschied, der bei
den häufigenwissenschaftlichen Vergleichen vonAntisemitismus undAntiziganismus
allzu leichtfertigausgeblendet wird. Während die insinuierte Listund Hinterhältigkeit
des Juden zur Illusioneiner weltweiten Ve rsc hwö run g undheimlichen Herrschaft ver‑
dichtet wird, verhält essich im Falle der ‚Zigeuner‘anders. Sie werden als eine eher all‑
tägliche undunmittelbare Bedrohungimaginiert,wobei das Bedrohliche,aber auch das
Faszinierende selbst daher kommt, dass sie gerade im Alltag und in den unmittelbaren
Beziehungen als immer zugleich außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft miteinander
Vereinte gedacht werden.
9Theodor Tetz n er: Geschichte der Zigeuner. Ihre 10 RichardLLiebich:Die Zigeuner in ihremWesen und
Herkunft,NaturundArt.Weimar 1835,$.30, ihreSprache.Leipzig 1863, 8. 18.
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Antisemitismus, Antiziganismus undTriebökonomie
Die Disparität des ‚Zigeuners‘ als konkretes Objekt und des Juden als ein abstraktes
Prinzip hängt damit zusammen, dass die jeweiligen Projektionen im Triebhaushalt un‑
terschiedliche Funktionen übernehmen. Dies kann insbesondere anhand der durch
die ethnographische Literatur beziehungsweise „Lsiganologie“ des 19.Jahrhunderts
kolportiertenJuden- und Zigeunerbilder nachgezeichnet werden. Gerade sie aber
witd von der heutigen Antiziganismusforschung häufigdazu benutzt, Analogien und
Gemeinsamkeiten von Antisemitismus und Antiziganismus zu betonen. Tatsächlich
wurde im 19.Jahrhundert in den dubiosen wissenschaftlichen Abhandlungen nicht
selten eine vergleichende DarstellungvonJuden und‚Zigeunern‘zum Ausgangspunkt
genommen.Hierbeiwurden zwar durchaus ÜbereinstimmungenundGemeinsamkeiten
verhandelt undpostuliert,doch letztlichenden die Vergleiche stets in der conc/usio, dass
die Unterschiede die Gemeinsamkeiten bei weitem übertreffen.
In seiner populärwissenschaftlichenDarstellung der Geschichte der Zigeuner von 1835
macht Theodor Tetzner einen solchen Vergleich. Bei seiner Zurückweisung einer aus
dem späten 17.Jahrhundert stammenden Legende, die ‚Zigeuner‘ seien verwilderte
Juden", behandelt er insbesondere am Gegenstand des osteuropäischen Judentums
auffällige Gemeinsamkeiten.Er fragt: „Schon das Aeußere beiderNationenzeigt in vie‑
lenStücken eine auffallende Uebereinstimmung.Man sehe nur das glänzend schwarze
Haar unddie glänzend schwarzen Augen; sind sie nicht beidem Zigeuner wie bei dem
Juden zu finden?“2
NachdemerPhysiognomieundäußeres Erscheinungsbild von Juden und‚Zigeunern‘
verglichen hat,fasst er zusammen, dass sie in dieser Hinsichtvollkommen identischsei‑
en. Bedeutend hervorstechendere Übereinstimmung entdeckt Tetzner zudem in der
Gegenüberstellung alltäglicher Gewohnheiten. Beide, so führt er aus, ziehen esvor,
im Dreck zu leben,zeichnen sich durch ausgesprochene Unreinheit aus und seien die
handfeste Verkörperung des Landstreicher-undVagabundentums. Zudem wäreJuden
wie ‚Zigeunern’einegrenzenlose,quasi tierische Liebezu ihrenKinderneigen. Überall
diese geteilten Charaktereigenschaften hinaus betont Tetzner eine gemeinsame geis‑
tige Kapazität: „Ammeisten aber zeigt sich in geistiger Hinsicht eine Harmonie zwi‑
schen beiden Völkern, die in Erstaunenversetzt. Beide sind, beigutenAnlagen, voller
ListundRänke; beide nehmen esmitder Ehrlichkeit nicht sogenau. ... Scheu vor aller
ernstenArbeit istebenfalls ein Charakterzug beider Nationen.“3
Doch solche Vergleiche, die gar „eine Harmonie zwischen beiden Völkern“ fest‑
stellen, enden, sobald sich der Fokus vom osteuropäischen, ländlichenJuden auf das
11 Johann ChristophWagenseil:BuchvonderMeister- 12 Theodor Tetzn er: Geschichte der Zigeuner (wie
Singer HoldseligenKunst[1697]. Göppingen 1975. Anm. 9),$. 58.
13 Ebd.S.59-60.
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städtische Judentum verschiebt. Dannargumentiert Te t z n e r, dass die Korrelationjüdi‑
scher und‚zigeunerischer‘Eigenschaftenzufällig ist und lediglicheiner oberflächlichen
Betrachtungstandhält.WennTetzner den ‚städtischenJuden‘ zum Thema macht,istes
mitden Homologien ein für alle Malvorbei: „Wirreden hier natürlich nicht vonden‑
jenigen Juden, welche in größeren Städten wohnen und hier zum Theil im Luxus den
Ton angeben, sondernvondem eigentlichen Schacherjuden oder nochbesser vondem
Judenpöbel,wie er sich in den vonAbrahams Samen reichlichgesegneten Ländern,wie
in PolenundGalizien, findet.“ Sokommt selbst dieser manisch aufdas Gemeinsame
vonJuden und ‚Zigeunern’ zielende Autor, der Schuldirektor Theodor Tetzner, zu
dem Schluss, dass es„auch mitder vermeintlichen Aehnlichkeit zwischen Juden und
Zigeunern nicht fort willunddaß beide nur ...in zufälligen, aber nicht in wesentlichen
Dingen, eine gewisse Uebereinstimmungmiteinander haben“.
Der Jude erscheint imWah n des Antisemitenzur selben Zeitals rückschrittlich und
fortschrittlich, er firmiert als Verkörperung von Archaik undModerne zugleich. Der
antisemitische Komplex leitet sich sowohl aus dem Esals auch aus dem Über-Ich ab.
Ihmliegt das Motiv vonTriebhaftigkeit undidealem Triebverzicht zugrunde. Soexis‑
tiert neben dem erwähnten archaischen Bilddes ‚Ostjuden‘ ebenfalls die Imago von
den zivilisierten,zur Sublimationfähigen Juden, die sie dem Antisemitengerade soge‑
fährlich erscheinen lässt.
DenAntisemitismus weist zentral die Verschiebung väterlicher Autorität auf die
Juden aus, Antiziganismus hingegen die einfache Verschiebung verweigerter und
verdrängter Triebe. Das projektive Bildvon den ‚Zigeunern’ staffiert sie als parasitä‑
res Fossil, als wären sie quasi noch eine charismatische Gemeinschaft im Sinne Max
Webers!®, die zugleich sowohl patriarchale als auch matriarchale Züge aufweist undin
der die gemeinschaftliche Bande aufunmittelbarem Zwang und direkter körperlicher
Gewaltanwendungberuht.Derhierinzum Ausdruck kommende ‚Gemeinschaftsneid‘
dürfte eine,wenn nicht die zentrale Triebfeder des Antiziganismus sein undweist die‑
sen im Gegensatz zumAntisemitismus als eine einfache, romantizistische,unmittelbar
regressive Herrschaftskritik aus.
Gemeinschaftsneid prägt auch den weitverbreiteten Hass der sekundären Volks‑
gemeinschaft aufdie Muslime: Wenn aber die Muslime um die politische Schlagkraft
ihrer Gemeinschaft und den darin ausgelebten und fanatischen Hass auf die Juden
beneidet werden, den die einheimische sich öffentlich verbieten muss,’ liegt das un‑
mittelbar Regressive antiziganistischer Projektionin einer Art Inzestneid.Aufdas Bild
‑
14 Ebd.S.59. 17 Siehe hierzu Gerhard Scheit: Gemeinschaftsneid
15 Ebd.S.61. und Strafbedürfnis. Diezwei Formen des postnazisti‑
16 Max Weber: Die Wirtschaftsethik der Welt- schen Bewusstseins. In:Bahamas 61/2011,S.17-22.
religionen[1915-1919].In:Ders.:GesammelteAufsätze
zurReligionssoziologie.Bd.1.Tübingen 1986,$. 270 ‑
275.
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von den ‚Zigeunern‘ wird eine Familien- und Clangemeinschaft projiziert, in der es
keinInzesttabugäbe, also jenes Tabu, das der Antisemit zusammen mitder väterlichen
Autorität aufdas Bildvon den Juden verschiebt, das zugleich wahnhaft für den abs‑
trakten Tauschwert steht. Die‚Zigeuner‘ erscheinen gerade hierzu als komplementä‑
rer,gar diametraler Gegenentwurf:Zusammen zeugen sie vonder innerenundreniten‑
tenAbwehr dessen, was die Herrschaftsform ausmacht, deren letztgültiger Zweck das
Akquirieren vonSurplus, „die rastlose Bewegung des Gewinnens“!® ist.
18 KarlMarx: Das Kapital.KritikderpolitischenÖkonomie,ErsterBand,DerProduktionsprozeßdes Kapitals.
Marx-Engels-Werke.Bd.23. Berlin 1962,S.169,
sans phrase
Heft7,Herbst 2015
Thorsten Fuchshuber: Meister der Rackets.Die Russische Föderation unterWladimir Putin
Gerhard Scheit: Der blinde Fleck der Kritischen Theorie und der Primat der Außenpolitik
Renate Göllner: Hexenwahn und Feminismus. Über die Dialektik feministischer Aufklärung
Nikolai Schreiter: Antiziganismus und die Bettelmafia als pathische Projektion
Tobias Neuburger: Zum Verhältnis von Antisemitismus und Antiziganismus
Ljiljana Radonic: Vom Vergessen zum Porajmos, dem ‚Roma-Holocaust
Manfred Dahlmann: Kapital, Geld und Wert
Hans-Georg Backhaus: Georg Simmels Philosophie des Geldes
Günther Anders: Über Rilke und die deutsche Ideologie (Aus dem Nachlass)
Markus Bitterolf: Einguter Europäer -Heidegger 1936 in Rom
Georges-Arthur Goldschmidt: Über Heideggerund der Mythos der nr mn ee are an:
schen Weltverschu OFUNE