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Für „ein unabhängiges visuelles Denken“. Zur Kunst- und Kultursoziologie des peruanisch-mexikanischen Theoretikers Juan Acha

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Abstract

Wie die Kunstproduktion mit der sie umgebenden Kultur verknüpft ist und wie sich beide gegenseitig beeinflussen, ist eine zentrale Fragestellung für die – nicht nur soziologisch motivierte – Kunst- und Kulturtheorie. Die Antworten des in Peru geborenen Kunstkritikers und Kulturtheoretikers Juan Acha (1916-1995) auf diese Frage machen sein Werk zu einem außerordentlichen Beitrag zu der disziplinübergreifenden Debatte um Kunstproduktion und Kultur, der im deutschsprachigen Raum bisher nicht wahrgenommen wurde. Denn Acha gibt diese Antworten vor dem Hintergrund einer präzisen Kenntnis globaler kunsttheoretischer Debatten einerseits und einer besonderen Berücksichtigung der lateinamerikanischen Situation andererseits, in der die kolonialen Grundlagen von Ökonomie und Kultur besonders betont werden. Die zentralen Thesen Achas einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu machen, ist das primäre Ziel dieses Textes. Der Aufsatz beansprucht darüber hinaus, über die Diskussion des Spannungsverhältnisses, das sich im Werke Acha auftut, die Relevanz seines Werkes für heutige Debatten aufzuzeigen: Es handelt sich um die Spannung zwischen einer empirisch-theoretischen Einsicht in die reproduktive Funktion von Kunst auf der einen Seite und die emanzipatorischen Hoffnungen, die auf künstlerische Praktiken zugleich und trotzdem gesetzt werden andererseits. Der Text geht in fünf Schritten vor: Erstens wird das grundlegende Plädoyer Achas für eine Soziologie der Kunst und der dabei zentrale Begriff des no-objetualismo vorgestellt. Zweitens wird die Besonderheit von Achas Ansatz gegenüber anderen, vergleichbaren theoretischen Herangehensweisen an die Kunst herausgestrichen, die in der Bedeutung liegt, die Acha dem Kolonialismus einräumt. Mit dessen analytischer Bedeutung geht die normative Hinwendung zu einer Redefinition der Kunst einher. Drittens wird Achas Fokus auf den ästhetischen Konsum nachgezeichnet und seine relationale Methode skizziert, um dann viertens näher auf das politische Engagement einzugehen. Fünftens wird der Einfluss von Achas Werkes auf andere TheoretikerInnen und auf die künstlerischen Bewegungen seiner Zeit skizziert.
PERIPHERIE Nr. 157/158, 40. Jg. 2020, https://doi.org/10.3224/peripherie.v40i1-2.10, S. 155-174
* Für hilfreiche Hinweise zur Überarbeitung des Beitrags gilt mein besonderer Dank den
anonymen Gutachter*innen und der PERIPHERIE-Redaktion. Darüber hinaus danke ich Maris
Bustamante dafür, dass sie mich mit dem Werk Juan Achas bekannt gemacht hat.
Jens Kastner
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“
Zur Kunst- und Kultursoziologie des peruanisch-
mexikanischen Theoretikers Juan Acha*
Keywords: sociology of art, cultural theory, aesthetic consumption, art and
politics, artistic movements
Schlagwörter: Kunstsoziologie, Kulturtheorie, ästhetischer Konsum, Kunst
und Politik, künstlerische Bewegungen
Wie die Kunstproduktion mit der sie umgebenden Kultur verknüpft ist und
wie sich beide gegenseitig beein ussen, ist eine zentrale Fragestellung
für die – nicht nur soziologisch motivierte – Kunst- und Kulturtheorie.
Auch den in Peru geborenen Kunstkritiker und Kulturtheoretiker Juan
Acha (1916-1995) hat diese Frage beschäftigt. Seine Antworten darauf
machen sein Werk zu einem außerordentlichen Beitrag in der disziplin-
übergreifenden Debatte um Kunstproduktion und Kultur, der im deutsch-
sprachigen Raum bisher nicht wahrgenommen wurde. Denn Acha gibt
diese Antworten vor dem Hintergrund einer präzisen Kenntnis globaler
kunsttheoretischer Debatten einerseits und einer besonderen Berücksichti-
gung der lateinamerikanischen Situation andererseits, in der die kolonialen
Grundlagen von Ökonomie und Kultur besonders betont werden. Die
zentralen Thesen Achas einem deutschsprachigen Publikum zugänglich zu
machen, ist das primäre Ziel dieses Textes. Der Aufsatz beansprucht darüber
hinaus, über die Diskussion des Spannungsverhältnisses, das sich im Werke
Acha auftut, die Relevanz seines Werkes für heutige Debatten aufzuzeigen:
Es handelt sich um die Spannung zwischen einer empirisch-theoretischen
Einsicht in die reproduktive Funktion von Kunst auf der einen Seite und die
emanzipatorischen Hoffnungen, die auf künstlerische Praktiken zugleich
und trotzdem gesetzt werden, andererseits.
156 Jens Kastner
Acha sah in der signi kativen Struktur, die künstlerische Arbeiten ausbilden,
eine Möglichkeit, mit Kunst in gesellschaftliche Auseinandersetzungen als
Ganze zu intervenieren: Indem sie neue Bedeutungen hervorbringen, so seine
Argumentation, greifen sie in die von Macht durchzogenen, sozialen Prozesse
der Bedeutungsgebung ein. Und über neue Bedeutungen – Interpretationen
von Welt – lassen sich schließlich auch die sozialen Verhältnisse insgesamt
transformieren. Diese aus politisch-emanzipatorischer Sicht hoffnungsvolle
Aussicht, die Welt mittels Kunst zu verändern, ist allerdings mit einem
analytischen Problem verknüpft. Denn die durch die signi kative Struktur
geschaffene Intervention in den Alltag, so einleuchtend sie zunächst scheint,
erweist sich, so meine These, als eines der ungelösten Schlüsselprobleme in
der Kunsttheorie Achas. Das Problem besteht darin, unvermittelt nebenein-
anderstehen zu lassen, was mehr als erklärungsbedürftig ist: Auf der einen
Seite interveniert Kunst als Teil der ästhetischen Kultur immer in die (auch
alltägliche) Kultur als ganze, auf der anderen Seite aber wird sie als System
beschrieben, das spezi sche Regeln und Gesetze ausbildet, die keinesfalls
ohne Weiteres bei nicht mit ihnen vertrauten Menschen Effekte zeitigen
können. Zudem werden die Effekte von Kunst nicht nur systemisch als vor-
aussetzungsreich, sondern auch historisch als geringer werdend beschrieben:
Mit dem Aufkommen der Kulturindustrie nimmt die Rolle der Kunst im
Hinblick auf die Gestaltung der allgemeinen Wahrnehmungsweisen ab. Wie
sich Voraussetzungsreichtum und Bedeutungsverlust mit der prinzipiellen
Interventionsfähigkeit vermitteln lassen, bleibt in den Schriften Achas offen.
Im Folgenden werde ich Achas kunst- und kulturtheoretischen Ansatz
nachzeichnen und plausibilisieren. Dafür rekapituliere ich zunächst die
zentralen theoretischen Einsätze seines Werkes. Das beginnt mit der systema-
tischen Bearbeitung kunsttheoretischer Fragestellungen in Monogra en wie
Arte y Sociedad: Latinoamerica. El producto artistico y su estructura (1981)
(Kunst und Gesellschaft: Lateinamerika. Das künstlerische Produkt und
seine Struktur), La apreciación artística y sus efectos (1988) (Die Kunst-
bewertung und ihre Effekte) oder Crítica del Arte. Teoría y práctica (1992)
(Kunstkritik. Theorie und Praxis) und endet schließlich noch lange nicht bei
seinem kunst- und kulturpolitischen Engagement seit den 1970er Jahren.
Dass allerdings die Ergebnisse seiner soziologischen Forschung nicht immer
mit den Ansprüchen seines politischen Engagements kompatibel waren,
macht vielleicht die größte Spannung in seinem Werk aus. Um diese These
zu veranschaulichen, dass es ein letztlich unvermitteltes Verhältnis zwischen
den analysierten Beharrungskräften, die Acha durch Kunstproduktion und
-konsum reproduziert sieht, und den normativ angestrebten Transforma-
tionswünschen gibt, gehe ich in fünf Schritten vor:
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 157
Erstens stelle ich das grundlegende Plädoyer Achas für eine Soziologie der
Kunst und den dabei zentralen Begriff des no-objetualismo vor. Zweitens
streiche ich die Besonderheit von Achas Ansatz gegenüber anderen, ver-
gleichbaren theoretischen Herangehensweisen an die Kunst heraus. Diese
Besonderheit liegt in der Bedeutung, die Acha dem Kolonialismus einräumt.1
Mit dessen analytischer Bedeutung geht die normative Hinwendung zu
einer Rede nition der Kunst einher. Drittens zeichne ich Achas Fokus auf
den ästhetischen Konsum nach und skizziere seine relationale Methode, um
dann viertens näher auf sein politisches Engagement einzugehen. Fünftens
umreiße ich den Ein uss von Achas Werk auf andere TheoretikerInnen und
auf die künstlerischen Bewegungen seiner Zeit. Während Acha die Unver-
mitteltheit zwischen reproduktiven und revolutionären Effekten, die der
Kunst auf das gesamte kulturelle Leben einer Gesellschaft zugeschrieben
werden, kaum thematisiert, möchte ich schließlich zuspitzen, dass – entge-
gen Achas Hoffnung auf die emanzipatorisch-transformatorische Kraft von
künstlerischen Praktiken – letztlich doch die „ästhetische Kultur“ als Ganze
das Objekt transformatorischer Bemühungen sein müsste.
1. Kunstsoziologie und no-objetualismo
Im kolumbianischen Medellín fand 1981 die „ Erste Lateinamerikanische
Konferenz Nicht-Objekthafter Kunst“ statt. Im Museo de Arte Moderno
hatten sich KünstlerInnen und KunsttheoretikerInnen aus vielen Ländern
Lateinamerikas versammelt, um über Theorie und Praxis zeitgenössischer
Kunst zu diskutieren. Es ging um die soziale Relevanz von Kunstpraktiken
nach dem Modernismus, jenseits von Wandmalerei im Stile des sozialisti-
schen Realismus auf der einen und Abstraktion auf der anderen Seite.
Wichtigster Protagonist dieser Veranstaltung war der Kunsttheoretiker Juan
Acha. In Peru geboren und aufgewachsen, hatte Acha in Deutschland Chemie
studiert und war in den 1950er und 1960er Jahren als Kunstkritiker in Lima
(Peru) tätig. Von 1971 bis zu seinem Tod lebte und arbeitete er in Mexiko.
Er gilt als einer der wichtigsten spanischsprachigen Kunsttheoretiker des
20. Jahrhunderts. Im deutschsprachigen Raum ist sein mehr als 20 Bücher
und zahlreiche Artikel umfassendes Werk so gut wie unbekannt.
1 Die Liste an theoretischen Ansätzen, die künstlerische Praktiken und politische Verhältnisse
miteinander in Beziehung setzen, ist selbstverständlich äußerst umfangreich. Die in diesem
Text zu Vergleichen herangezogenen Ansätze und AutorInnen stellen dementsprechend
in keinerlei Hinsicht eine repräsentative Auswahl dar. Sie sollen in erster Linie durch die
Hervorhebung von Unterschieden und Gemeinsamkeiten das Verständnis des Ansatzes von
Acha erleichtern.
158 Jens Kastner
Auf der Konferenz stellte er sein wohl wirkmächtigstes Konzept vor: den
no-objetualismo. Der kaum zu übersetzende Ausdruck bezeichnet künst-
lerische Praktiken, die nicht an Objekte gebunden sind. In seinem Vortrag
stellte Acha den no-objetualismo als Bruch mit der westlichen Kunstauffas-
sung seit der Renaissance dar, die sich mit der Abgrenzung vom Handwerk
etabliert hatte: Entscheidend für diese Auffassung von Kunst war bis ins
20. Jahrhundert hinein das individuelle Schöpfertum und das objekthafte
Werk. Von Marcel Duchamps ready mades über die konzeptuelle, auf Ideen
basierende Kunst der 1960er und 1970er Jahre zeichnet Acha die Entwick-
lung nicht-objekthafter Kunst in seinem Buch Arte y Sociedad: Latinoame-
rica. El producto artistico y su estructura nach. Auf mehr als 500 Seiten
beschreibt er darin systematisch die Entwicklung der modernen Kunst aus
einer Perspektive, die nicht die Objekte selbst, sondern die Produktion und
den Umgang mit Objekten in den Vordergrund stellt. Es geht ihm dabei
darum, eine „spezi sche Struktur“ (Acha 1981: 37)2 herauszuarbeiten, mit
der die visuellen Künste ihre Objekte produzieren und mit der sie rezipiert
werden – im Unterschied zu anderen Objekten, die von Menschen hergestellt
werden und mit denen sie konfrontiert sind.3
Der Begriff no-objetualismo umfasst dabei mehr als der des Konzeptua-
lismus oder der Konzeptkunst.4 Er richtet sich einerseits zwar auch gegen
die Fetischisierung von Objekten. Andererseits zielt er aber trotzdem auf
den Umgang mit Materialien, mit dem Bildhaften und verschiedenen
Wahrnehmungsformen (vgl. ebd.: 150). Der no-objetualismo ist keine
Stilrichtung, sondern beschreibt künstlerische Praktiken – Acha verwendet
2 Dieses und alle folgenden, im Original spanischen und englischen Zitate wurden vom Autor
übersetzt.
3 Die „artes visuales“ werden im Deutschen gemeinhin mit „bildenden Künsten“ übersetzt.
Obwohl sich Acha tatsächlich in erster Linie mit bildender Kunst beschäftigt und etwa Musik
völlig ausklammert, habe ich die wörtliche Übersetzung beibehalten und „arte visual“ mit
„visueller Kunst“ übersetzt, und zwar um die Verbindung zwischen „visueller Kunst“ und
„visueller Kultur“ sichtbar zu halten, die Acha so betont. Das Visuelle dieser visuellen Kultur
kann im Sinne der Visual Studies als auf die konkreten Objekte des Sehens ebenso bezogen
sein wie auf die allgemeinen „Praktiken des Sehens als Prozesse sinnlicher Wahrnehmung“
(Prinz & Reckwitz 2012: 176).
4 Acha grenzt den no-objetualismo vom Konzeptualismus ab, da dieser sich auf das Mentale
und Konzeptuelle beschränke und „infolgedessen das Material, das Perzeptuelle und das
Ikonische nicht anerkennt“ (Acha 1981: 150). Einen weiten Begriff von Konzeptualis-
mus, wie er etwa von Luis Camnitzer (2007) vertreten wird, zieht Acha nicht in Betracht.
Camnitzer hatte, ebenfalls vor dem Hintergrund der lateinamerikanischen Situation, den
(lateinamerikanischen) Konzeptualismus von der (US-amerikanisch geprägten) concept
art abgegrenzt und dessen politischen, auf Informations- und Kommunikationsverhältnisse
bezogenen Charakter betont. Konzeptualismus in diesem Sinne kommt dem no-objetualismo
durchaus sehr nahe (vgl. dazu auch Kastner 2019: 81ff).
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 159
„no-objetualismo“ auch im Plural –, in denen das Objekt keine besondere
Rolle spielt, in denen Konzepte, Räume und die darin angeordneten Mate-
rialien, körperliche Aktionen und/oder Licht-Installationen im Mittelpunkt
stehen. Die nicht-objekthafte Kunst erweitert letztlich auch die Ende der
1960er Jahre aufgekommene These von der Dematerialisierung der Kunst,
indem die Abkehr von den Objekten mit Duchamp historisch früher ange-
setzt wird.5
Nachdem er zunächst die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts anhand
von zahlreichen Beispielen bespricht, widmet er sich im zweiten Teil des
Buches der Frage der Struktur der künstlerischen Arbeit. Er unterscheidet
darin eine materielle, eine formale und eine signi kative Struktur des
Kunstwerks (mit jeweils verschiedenen Substrukturen). Bei der materiellen
Struktur geht es um die Materialverarbeitung und die Ober ächenbeschaffen-
heit und ihre Wahrnehmung durch die BetrachterInnen. Nicht ganz deutlich
wird, was das Strukturhafte der materiellen Struktur eigentlich ausmacht,
während die formalen und die signi kativen Strukturen insofern strukturell
sind, als sie Relationen beschreiben. Während die formale Struktur vor
allem die Relationen zwischen gestalterischen Aspekten künstlerischer
Arbeiten beschreibt, zielt die signi kative Struktur auf die Effekte jenseits
der Kunst selbst. Die bedeutungsgebenden Praktiken intervenieren so aus
der Kunst heraus auch in die sprachliche und kommunikative Sphäre des
Alltags. Laut Acha ist die „Praxis der Bedeutungsgebung“ (ebd.: 406)
(„la práctica de signi car“) die bis heute einzig konstante künstlerische
Struktur („estructura artístico-visual“). Diese Bedeutungsgebung kann sich
bewusst oder unbewusst vollziehen, verbalisiert oder nonverbal verlaufen
und sie entsteht dadurch, dass in der Produktion und Rezeption von Kunst
Beziehungen zu bereits bestehenden Bedeutungen hergestellt werden, die
Bedeutungsgebung impliziert das In-Beziehung-Setzen („signi car implica
relacionar“ [ebd.: 404]).
In La apreciación artística y sus efectos zeichnet Acha systematisch das
nach, was er die „ästhetische Kultur“ (Acha 1988: 50ff) nennt. Sie ist ein Teil
von Kultur insgesamt, in dem die Verschränkungen sinnlicher Wahrnehmung,
körperlicher Arbeit und kognitiver Fähigkeiten ausgebildet, geprägt und
ausgelebt werden. Die ästhetische Kultur setzt sich heute aus drei Teilberei-
chen zusammen, die Acha „spezialisierte, ästhetische Produktionssysteme“
5 Der Begriff der Dematerialisierung wird innerhalb der westlichen Kunstgeschichts-
schreibung meist der feministischen Kunstkritikerin Lucy R. Lippard zugeschrieben, die
ihn in einem gemeinsamen Aufsatz mit John Chandler 1968 benutzte (vgl. Chandler &
Lippard 1968; Lippard 1973). Im gleichen Jahr hatte allerdings auch der argentinischen
Kritiker Oscar Masotta (1968) den Begriff in einem Text mit dem Titel Después del Pop:
Nosotros desmaterializamos (Nach Pop dematerialisieren wir uns) gebraucht.
160 Jens Kastner
(ebd.: 69) nennt. Sie haben sich historisch nacheinander herausgebildet und
bestehen heute mit Überschneidungen nebeneinander: Handwerk, Kunst
und Design. Jeder dieser Teilbereiche ist durch „interne Gesetze“ (ebd.: 73)
geprägt und besitzt eine „relative Autonomie“ (ebd.: 73). Zugleich wandeln
sie sich aber auch mit den äußeren, sozioökonomischen Bedingungen.
Gegen essenzialistische und gegen metaphysische Erklärungen dessen,
was Kunst ist, setzt Acha voll und ganz auf eine soziologische Rekonstruktion
und auf „relationale De nitionen“ (ebd.: 64). Die Kunst sei nur vom Sozialen
aus zu denken und zu verstehen in den Beziehungen, in denen sie historisch
entstanden ist und in denen sie jeweils aktuell existiert. Auf der einen Seite
stehen die sozialen Bedingungen, die Acha in vier Schritten vom mythischen
Denken über die Entwicklung der Produktionsverhältnisse und die Entste-
hung der Trennung von Künsten, Wissenschaften und Technik bis zur Ent-
stehung von „Schönheit“ und anderer ästhetischer Kategorien nachzeichnet.
Mit der Trennung von Handwerk und Kunst entsteht in der Renaissance ein
eigengesetzliches Produktionssystem Kunst. Auf der anderen Seite stehen
dann die systemischen Bedingungen, die die Kunst prägen. Sie bestehen aus
drei Prozessen, die Acha generelle, generische und tendenzielle nennt und
die spezi sche Orientierungsmuster bei der Produktion anzeigen sollen.
Dazwischen, also zwischen soziokulturellen und systemischen Bedingungen
steht das Individuum, sowohl als Laie oder Laiin als auch als professionelle
Betrachterin oder professioneller Betrachter. Das Individuum ist nach Acha
ebenfalls keine unveränderliche Essenz, sondern das „soziale Individuum ist
Produkt, ProduzentIn und Teil der ästhetischen Kultur in ihrer Kollektivität“
(ebd.: 72). Es rezipiert Bestehendes und verändert es durch seine spezi sche
Verarbeitung auch wieder.
Der Gedanke an ein relativ eigenständiges System bei Acha ist keine
eigene Wortschöpfung und stammt auch nicht aus der Systemtheorie. Acha
bezieht sich dabei interessanter Weise immer wieder auf den sowjetischen
Ästhetik-Theoretiker Moissej Kagan (1921-2006). Dessen Vorlesungen zur
marxistisch-leninistischen Ästhetik (Kagan 1971) waren 1969 auf Deutsch
erschienen.6 Darin vertritt Kagan zwar einerseits die für den Leninismus
typische „Dialektik der Widerspiegelung“ (ebd.: 251), die Kunstwerke als
eine (nicht zuletzt eingreifende) Spiegelung von Wirklichkeit betrachtet und
die bereits von den Vertretern der Kritischen Theorie als reduktionistisch
bekämpft wurde. Andererseits plädiert er aber auch für „eine Struktur-
Systemanalyse der Kunst“ (ebd.: 652). Nur mit einer solchen Analyse
lasse sich die „relative Selbständigkeit der künstlerischen Entwicklung“
begreifen, ein Problem, wie Kagan am Ende seines Buches einräumt,
6 Acha bezieht sich auf eine deutschsprachige Au age von 1974.
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 161
mit dem sich „die marxistisch-leninistischen Ästhetiker noch zu wenig
[…] beschäftigt [haben]“ (ebd.: 531). Diese Beschäftigung liefert Acha
gewissermaßen nach und bricht damit auch deutlich mit dem Leninismus
in Ästhetik und Kunsttheorie. Ausführlich widmet sich Acha dem „sozio-
kulturellen Phänomen der Kunst“ (Acha 1981: 374) in seiner Eigenlogik,
die aus Beziehungen zwischen kollektiven gefühlsmäßigen (sensitivo),
sinnlichen (sensorial) und rationalen Elementen in Bezug auf spezi sche
Objekte und/oder Prozesse bestehen.
2. Kolonialismus und Redefi nition der Kunst
Mit der These von einem spezialisierten gesellschaftlichen Bereich von
Produktion und Rezeption unterscheidet sich Achas Ansatz zunächst nicht
wesentlich von ähnlichen sozial- und kulturtheoretischen Modellen wie
etwa von Pierre Bourdieus Feldtheorie, die ebenfalls den Abstand von der
Alltagswelt und die Entstehung der „Kunst als einer gesonderten Welt“
(Bourdieu 2001: 100) betont. Auch Jürgen Habermas’ Rede von der Heraus-
bildung von jeweils „abstrakten Geltungsaspekt[en]“ (Habermas 1990: 41)
innerhalb dessen, was er als Kultur auffasst, unterscheidet sich nicht prin-
zipiell von Achas Herangehensweise. Und selbst die Sichtweise des Philo-
sophen Jacques Rancière, der soziologische Herangehensweisen an Kunst
ansonsten strikt ablehnt7, scheint einiges mit Achas gemeinsam zu haben.
Beispielsweise spricht Rancière von einem „Gewebe an Institutionen, Prak-
tiken, Affektionsweisen und Denkschemata“, das es als vom Alltagsleben
relativ abgetrennter Bereich erst möglich macht,
„dass eine Form, ein Farbglanz, die Beschleunigung eines Rhythmus, eine
Stille zwischen Wörtern, eine Bewegung oder ein Flackern auf einer Ober äche
[…] mit der Vorstellung von künstlerischem Schaffen in Verbindung gebracht
werden“ (Rancière 2013: 12).
Der große Unterschied zu all diesen Ansätzen allerdings liegt darin, dass
Acha die Kolonialgeschichte und ihre Effekte auf die ästhetische Kultur in
den Blick nimmt. Schon die Unterscheidung in bildende Kunst, angewandte
Kunst und Kunsthandwerk sei ein Effekt der kapitalistischen Entwicklung
des Westens gewesen. Acha argumentiert, die „bürgerliche Überbewertung
der [bildenden] Kunst“, fuße demnach „auf der ideologischen Macht der
westlichen Kultur“ (Acha 1988: 228), abgesichert und reproduziert durch
7 Die Gegensätzlichkeiten zwischen philosophischen und soziologischen Herangehensweisen
an Kunst kommen paradigmatisch im Streit zwischen Rancière und Bourdieu zum Ausdruck,
vgl. Kastner 2012.
162 Jens Kastner
„institutionelle Kunstapparate“ wie Museen, Galerien, aber auch Kunstaka-
demien und Kunstmessen.
Ganz zu Beginn seiner Erläuterungen der ästhetischen Kultur stellt er fest,
dass man es diesbezüglich in Lateinamerika zweifelsohne mit einem Prozess
der „Okzidentalisierung“ (ebd.: 50) zu tun habe, der mit der fortschreitenden
Konsolidierung des Kapitalismus einhergegangen sei und eine zunehmende
Abhängigkeit zur Folge gehabt habe. Er nennt auch konkrete Effekte dieser
Verwestlichung: Die religiösen Rituale etwa hätten sich besonders gut durch
das westliche „Konzept der Außergewöhnlichkeit“ (ebd.: 57) in künstlerische
Rituale verwandeln können. Das Außergewöhnliche unterscheide schon
das Sakrale vom Profanen, und auf dieser Unterscheidung basiere auch die
Hierarchie in der Wertigkeit vom alltäglichen Handwerk und der außerge-
wöhnlichen Kunst. Die Festlichkeit und Außeralltäglichkeit der Kunst gehe
mit einer „Elitisierung der herrschenden Klasse und der KünstlerInnen“
(ebd.: 58) einher, die zugleich die Bewertungsmaßstäbe herausbilde, nach
denen sie zu beurteilen sei: Anstatt sie als Effekt der technischen Arbeitstei-
lung der kulturellen Arbeit und der erfahrenen Bildung zu beurteilen, werden
den KünstlerInnen übernatürliche Gaben zugeschrieben. Acha bezieht sich
an dieser Stelle auf Bourdieus Beschreibung der „charismatischen Ideologie“
(vgl. ebd.: 58).8
Für die von der feministischen Kunstgeschichte herausgestellte geschlech-
terpolitische Dimension der Trennung von Kunst und Handwerk hat Acha
allerdings überhaupt keinen Blick. In historischer Perspektive wiesen, um
nur ein Beispiel zu nennen, die linken Kunsthistorikerinnen Rozsika Parker
und Griselda Pollock 1981 darauf hin, dass „es eine wichtige Verbindung
zwischen der Hierarchie der Künste und der geschlechtlichen Kategorisierun-
gen in männlich-weiblich gibt“ (Parker & Pollock 1981: 51). Die Trennung
von bildender und dekorativer Kunst im 18. Jahrhundert geht demnach direkt
mit der Unterscheidung von männlichen und weiblichen Tätigkeiten einher.
Dass es mit der Unterscheidung von Kunst, Handwerk und Design zu einer
Hierarchisierung dieser Kategorien kommt, konstatiert schließlich auch
Acha, die Geschlechterdimension dieser Hierarchie sieht er allerdings nicht.
Mit Las Culturas Estéticas de América Latina (Re exiones) (Die ästhe-
tischen Kulturen Lateinamerikas) legt Acha 1993 eine historische Studie
vor, in der er die Übergänge und Veränderungsprozesse in den ästhetischen
Kulturen ausführlich beschreibt. Acha macht historisch vor allem drei
8 Als „charismatische Ideologie“ beschreibt Bourdieu die verbreitete Vorstellung, dass der
Zugang zu Kunstproduktion und -rezeption auf „Begabungen im Sinne von Naturanlagen“
(Bourdieu 1987: 57) beruht und nicht, wie es tatsächlich der Fall ist, auf Resultaten von
Lernprozessen und habitualisierten Verhaltensmustern.
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 163
soziopolitisch-ökonomische Einschnitte aus, die auch die ästhetischen Kul-
turen massiv beein ussten. Erstens nennt er die Ankunft der Spanier und die
Zeit des Kolonialismus, die erstmals die religiösen, ästhetischen Praktiken
aus dem Alltag ausgliederten. Der zweite Einschnitt ist die Zeit der Unab-
hängigkeit ab dem frühen 19. Jahrhundert, in der die Republiken entstehen
und die politische Idee des Nationalismus auch die ästhetischen Praktiken
stark tangiert. Dieser starke Ein uss des Nationalismus in den hegemonialen
kulturellen Bereichen dauert in verschiedenen Phasen bis in die Mitte des
20. Jahrhunderts und wird schließlich abgelöst durch neue technologische
und kulturelle Entwicklungen, die Acha mal als kulturindustriell und mal als
Nordamerikanisierung beschreibt. In all diesen Phasen existieren neben den
hegemonialen ästhetischen Kulturen die popularen Ästhetiken, die sich zwar
ebenfalls verändern, aber im Wesentlichen doch magisch-religiös orientiert
bleiben. Es geht Acha um eine Rekonstruktion der historischen ästhetischen
Kulturen, in denen u.a. auch ein modernes Kunstverständnis entstanden
ist. Es geht ihm aber nicht um die identitätspolitische Festschreibung von
Eigenheiten einer lateinamerikanischen Kunst.
Die theoretischen Implikationen dieses Anspruches werden vielleicht
in einem anderen Text von Acha noch deutlicher. Gemeinsam mit Adolfo
Colombres und Ticio Escorbar veröffentlichte er 1989 (2005) das Buch Hacia
Una Teoría Americana del Arte (Für eine amerikanische Kunsttheorie), in
dem der Aufsatz „ Hacia Un Pensamiento Visual Independiente“ („Für ein
unabhängiges, visuelles Denken“) erschien. Acha diskutiert auch hier die
Rolle der Kunst im kulturellen Wandel insgesamt. Kunst und das Denken
über Kunst in Lateinamerika exis tieren demnach in einer fundamentalen
Abhängigkeit. Acha bezieht sich dabei implizit auf die Grundlagen der
eher ökonomisch ausgerichteten Dependenztheorien, die die Entwicklung
der lateinamerikanischen Nationalökonomien als abhängig von Europa
beschrieben haben.9 Er, der in den Worten der Kunsthistorikerin Rita Eder
„immer im Dialog mit dem Begriff der Unterentwicklung und der Dritten
Welt“ (Eder 2016) gewesen sei, spricht in Ergänzung dieser postkolonia-
len politischen und ökonomischen Abhängigkeit von einem „kulturellen
Imperialismus“ (Acha 2005 [1989]: 56). Die mangelnde Unabhängigkeit
sei allerdings nicht nur ein von außen forcierter und gewaltsam aufrechter-
haltener Status, sondern sie lebe in den Denkweisen der Menschen selbst
fort. Sie existiere im Inneren der Subjekte und werde dort reproduziert. In
Übereinstimmung mit anderen anti- und postkolonialen TheoretikerInnen
9 Die dependenztheoretischen Ansätze umfassen ein relativ breites Spektrum ökonomischer,
politikwissenschaftlicher und soziologischer Analysen, vgl. zusammenfassend zuletzt Beigel
2015.
164 Jens Kastner
(von W.E.B. DuBois bis Frantz Fanon) schreibt Acha, „das Problem unserer
Kultur der Herrschaft liegt folglich in uns selbst und nicht bei den Herr-
schenden“ (ebd.: 56). Daher rührt auch das besondere – analytische wie
politische – Augenmerk, das Acha der Kunst zukommen lässt. Eine seiner
Arbeits- oder Ausgangshypothesen lautet: „Kunst ist vor allem eine Idee
(Konvention): die Idee, dass das künstlerische Bild unverhoffte Wirklich-
keiten und realisierbare Vorstellungen eröffnet, die in der Lage sind, neue
Ideen zu schaffen“ (ebd.: 54). Diese grundlegende Idee unterscheidet auch
die Beschäftigung mit Kunst und Kunsttheorie von jener mit anderen Prakti-
ken und wissenschaftlichen Disziplinen. Niemand käme auf den Gedanken,
eine lateinamerikanische Chemie oder eine lateinamerikanische Physik zu
fordern, warum also eine lateinamerikanische Kunst? Acha geht es nicht
um Stilentwicklung oder die identitätspolitische Festlegung nationaler
oder kontinentaler Kriterien für künstlerische Praxis. Eine „lateinamerika-
nische Kunst existiert nicht“ (ebd.: 69), stellt er klar, und sie soll auch nicht
geschaffen werden. Es geht um „kollektive Emp ndungsweisen“ (ebd.: 58)
(sensibilidad colectiva). In deren Genese und Formation sind künstlerische
Praktiken wesentlich mehr involviert als Chemie oder Physik, und deshalb
spielt die Kunst auch für kulturellen Wandel eine gesonderte Rolle. Acha
geht hinsichtlich dieser Bedeutung von Kunst und visueller Kultur sogar so
weit zu behaupten, es sei nicht möglich, „die Welt zu verändern, ohne die
Kunst zu verändern“ (ebd.: 57).
Neben den politischen Ansprüchen – dazu weiter unten mehr – beabsich-
tigt Acha aber vor allem eine theoretische Intervention. Er spricht von einer
„Rede nition der Kunst“ (ebd.: 53), ausgehend von den sozialen Realitäten
in Lateinamerika. Dabei geht es gerade nicht um identitätspolitische Aus-
richtungen, sondern darum, eine Entwicklung vom „Prinzip der Identität zu
einem der Diversität“ (ebd.: 61) in Rechnung zu stellen. Gemeint sind damit
zwei verschiedene, aber ineinandergreifende Entwicklungen: Zum einen
stellt Acha eine zunehmende Diversi zierung in den soziokulturellen Orien-
tierungen und Zugehörigkeiten fest. Zum anderen hat es auch im Bereich
der Kunst eine Pluralisierung und ein Nebeneinander von modernen und
anachronistischen, städtischen und ländlichen, alten und neuen, hochkultu-
rellen und popularen Produktionsweisen gegeben. Diese Pluralisierungen
schließen „Kon ikte und Hierarchisierungen“ (ebd.: 63) keinesfalls aus.
Pluralisierung bedeutet nicht Gleichwertigkeit. Aber Pluralisierung und
Diversi zierung gilt es Acha zufolge zu fördern.
Eine Rede nition der Kunst soll diese gegenüber den psychosozialen
Wirklichkeiten öffnen. Die kollektiven Emp ndungsweisen sollen erstens
als Motive für alltägliche Entscheidungen erkennbar werden. Zweitens soll
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 165
die soziale Umgebung als System von visuellen Sprachen benannt werden,
die die kollektiven Emp ndungsweisen informieren und formen. Kunst ist
immer Teil von visuellen Sprachen und insofern auch Teil der Ein ussfak-
toren auf kollektive Emp ndungsweisen. Damit ist sie bedeutungsvoll für
alltägliche wie auch für politische Entscheidungen. Die Rede nition der
Kunst soll schließlich von einer nicht-objektualistischen Haltung ausge-
hen, die sich darin bewährt, „jede Idee von Kunst als Abfolge von genialen
Objekten und exklusiven Behältern der künstlerischen Struktur zurückzu-
weisen“ (ebd.: 77). Die Beziehungen zwischen Produktion, Distribution
und Konsum sind stattdessen das Entscheidende an dem soziokulturellen
Phänomen, das jede Kunst ist.
Mit dem Dreischritt „Kunst“ – „System visueller Sprachen“ – „kol-
lektive Emp ndungsweisen“ lässt Acha in seinem oben (S. 163) genannten
Artikel allerdings eine Ebene aus, die ihm an anderer Stelle so bedeutsam
erschien: Die systemischen Prägungen und Funktionsweisen von Kunst, die
nach „internen Gesetzen“ funktionieren, spielen hier erstaunlicher Weise
keine Rolle mehr. Diese Auslassung trägt schließlich dazu bei, dass das
Spannungsverhältnis zwischen reproduktiven Aspekten von Kunst und den
emanzipatorischen Möglichkeiten, die sich ausgehend von ihrer Rede nition
ergeben, bei Acha nicht aufgehoben werden kann.
3. Ästhetischer Konsum und relationale Methode
Acha verbindet in seiner Analyse sehr unterschiedliche Traditionen von
Kunsttheorie und Ästhetik, indem er für eine „strukturalistische Methode“
(Acha 1981: 30) plädiert, die die „versteckte Logik der Soziofunktionali-
tät“ (ebd.) des Kunstwerks untersucht. Er nennt diese „versteckte Logik“
zugleich „ideologisch“. Damit verknüpft er also die relationale Methode
des Strukturalismus mit den Fragen nach Ideologie und Funktionalität aus
dem Marxismus.
Acha geht von einer ökonomischen Hegemonie aus, die auch Werte und
Einstellungsmuster prägt. Zugleich zeichnet er aber auch die strukturellen
Besonderheiten der Entwicklungen innerhalb der Kunst nach. Er untersucht
sowohl die Frage, auf welche ideellen und materiellen Grundlagen sich
ihre Produktion gründet, als auch die nach ihren kognitiven, sensorischen
und gefühlsmäßigen Rezeptionsweisen. Schließlich ist es grundsätzlich
erklärungsbedürftig, warum bestimmte Objekte als Kunst behandelt
und konsumiert werden und andere nicht. Es bedürfe einer „relationalen
Methode“ (ebd.: 459), schreibt er in Arte y Sociedad: Latinoamerica. El
producto artistico y su estructura, um die visuellen Künste als Totalität
166 Jens Kastner
und als soziokulturellen Prozess verstehen zu können. Diesen Anspruch
hat er auch in Las Culturas Estéticas de América Latina formuliert, wo er
von einer „methodologischen Erneuerung“ (Acha 1993: 14) spricht, die
relationistisch auszurichten sei.10
Die Untersuchung des Konsums spielt dabei eine zentrale Rolle. Dessen
Bedeutung stellt Acha auch in La apreciación artística y sus efectos heraus.
Darin unterscheidet er den Konsum von der Wahrnehmung. Es sei das eine,
„eine Sache zu sehen, zu berühren und zu genießen, und eine ganz andere,
sie zu konsumieren“ (Acha 1988: 120). Der Konsum sei eine Einverleibung,
eine sinnliche und kognitive Aneignung. Er vereine die gefühlsmäßigen,
sinnlichen und rationalen Formen der Wahrnehmung und gehe über sie
hinaus. Zugleich habe er seine gefühlsmäßigen, sinnlichen und theoretischen
Vorgehensweisen (operaciones), die sich unterschiedlich stark realisierten.
Der ästhetische Konsum könne prinzipiell alles zum Gegenstand haben
und er lasse sich auch von allen ausüben. Aber er werde nicht von allen
gleich praktiziert, sondern die Art des ästhetischen Konsums richte sich nach
Erfahrungen, Idealen und sensitiven Möglichkeiten. Die KonsumentInnen
als Individuen seien ebenso wie ihre Konsumtionsweisen sozial bedingt.
Acha unterteilt den ästhetischen Konsums ferner in drei Subformen, den
alltäglichen, den festlichen und den korrektiv-erneuernden.
Vom ästhetischen Konsum unterscheidet Acha den künstlerischen Kon-
sum. Beide hängen zwar insofern zusammen, als die Sinne sich um ästheti-
schen Konsum „von der Alltäglichkeit zum Außergewöhnlichen“ (ebd.: 88)
bewegen. Aber der künstlerische Konsum sei wesentlich exklusiver: Er lasse
sich nur von wenigen Menschen ausüben, die sich den in der westlichen
Kultur geschaffenen theoretischen Korpus der bildenden Künste angeeignet
haben, um Formen, Inhalte und kunsthistorische Bezüge analysieren und
beurteilen zu können. Mit Verweis auf Bourdieu hatte Acha darauf hingewie-
sen, dass der stark auf die herrschenden Klassen beschränkte Kunstkonsum
dazu beiträgt, auch „den Interessen der hegemonialen Klassen“ (ebd.: 242)
zu dienen. Er bezieht sich dabei auch auf empirische Untersuchungen und
weist etwa darauf hin, dass selbst die berühmteste bildende Kunst bloß von
vergleichsweise wenigen Menschen überhaupt gesehen werde. Mit Hin-
weis auf die Besucherzahlen einer vielbesuchten Picasso-Ausstellung in
Mexiko-Stadt 1983, die 460.000 der damals 15 Mio. EinwohnerInnen der
10 Hier geht es um den analytischen Aspekt der Relationalität, also darum, die Realität nicht
als Substanz, sondern – durchaus im Sinne Bourdieus (vgl. etwa Bourdieu 1998) – in den
Beziehungen zwischen Menschen im sozialen Raum zu untersuchen, und weniger um die
praktische Herstellung solcher Beziehungen, die Nicolas Bourriaud mit der Behauptung
einer „relationalen Ästhetik“ der Kunst nachgesagt hat (vgl. Bourriaud 2002).
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 167
Hauptstadt gesehen hatten (maximal 3 bis 6 Prozent der Gesamtbevölke-
rung des Landes) schreibt Acha, es sei in Bezug auf Kunst unpassend, „von
Popularität zu sprechen“ (ebd.: 243). Zwar ist Popularität selbstverständlich
nicht unbedingt ein Maßstab für Effektivität oder Wirkungsmacht von Kunst.
Weil ihre Rezeption aber voraussetzungsreich ist, werde das gemeinhin
vom Kunstwerk reproduzierte, bestehende „ideologische Konglomerat des
sozialen Bewusstseins“ (ebd.: 278) nur selten gestört.
Der Kunstkonsum sei darüber hinaus „seinem Wesen nach kommunikativ
(ebd.: 90), das heißt, er setzt Ideen, historisches Wissen und Bezüge zum/zur
Produzenten/Produzentin und zur Realität in Gang, um sie zu bereichern und
zu erweitern. Auch der Kunstkonsum bedient sich, wie der ästhetische Kon-
sum insgesamt, sensorischer, sensitiver und theoretischer Operationen, mit
dem Unterschied allerdings, dass die theoretischen Verfahren eine wesentlich
größere Rolle spielen. Der Kunstkonsum gehört schon allein deshalb der
Sphäre des Außergewöhnlichen an, weil er nur an spezi schen Orten und in
besonderen Momenten statt ndet.11 Nicht zuletzt aus diesem Grund werden
der Kunstkonsum und der ästhetische Konsum sozial unterschiedlich bewer-
tet. In der sozialen Wertung ist der Kunstkonsum dem allgemeinen ästhe-
tischen Konsum hierarchisch übergeordnet: „Kulturell gesehen“, schreibt
Acha (1988: 92), „ist der beste ästhetische Konsum der Kunstkonsum“. In
Bezug auf das Spannungsverhältnis zwischen Reproduktionsfunktion und
Transformationsmöglichkeit der Kunst fällt auf, dass Acha auch an dieser
Stelle keinen Hinweis darauf gibt, wieso oder inwiefern ausgerechnet dieser,
in der allgemeinen Bewertung als besonders hoch eingestufte Konsum zur
Egalisierung sozialer Verhältnisse beitragen könnte.
Beim Kunstkonsum, betont Acha in Crítica del Arte. Teoría y práctica,
gehe es nicht nur um die Wahrnehmung der Betrachtenden allein. Man müsse
auch ihre Erwartungen und Befähigungen einbeziehen, die, wie die künst-
lerischen Arbeiten selbst, nicht von dem sozialen Kontext zu lösen seien,
in dem sie entstehen. „Der Kunstkonsum geht weit über die Wahrnehmung
hinaus, weil er auch die Soziologie seiner Erwartungen und Möglichkeiten
sowie seiner Effekte beinhaltet.“ (Acha 1992: 55) Um den Prozess des
Kunstkonsums und seiner Effekte zu verstehen, bedürfe es also soziologi-
scher, nicht nur philosophischer Instrumente. Acha grenzt seine eigene, als
11 Hier lässt sich eine implizite Bezugnahme auf Raymond Williams erkennen, den Acha
an anderen Stellen zitiert. Williams hatte – ebenfalls aus einer soziologischen wie mate-
rialistischen Perspektive heraus – betont, dass sich für den Konsum von Kunst über die
Jahrhunderte ein „system of social signals“ (Williams 1995: 130) entwickelt habe. Dieses
Signalsystem lasse Kunst überhaupt erst als Kunst erkennbar werden. Und die wichtigsten
Signale sind eben die, die auch Acha hier erwähnt, nämlich Ort und Gelegenheit, also Räume
wie Galerien und Museen, Anlässe wie Ausstellungen und Aufführungen (vgl. ebd.: 131).
168 Jens Kastner
professionell bezeichnete Methode dabei von literarischen oder poetischen
Kunstkritiken im Stile Octavio Paz’ ab. Die poetische Kunstkritik eröffne
bzw. beschreite letztlich nur zwei mögliche Wege zur Kunst: Sie beschreibe
die Effekte der künstlerischen Arbeit auf den (kunstkritischen) Autor/die
Autorin selbst und sie widme sich den biogra schen und weltanschauli-
chen Intentionen des Produzenten/der Produzentin. Die professionelle,
soziologische Methode hingegen beinhalte vierzehn (!) Aspekte: Zu den
beiden genannten kommen noch Beschreibung und Analyse künstlerischer/
akademischer Normen, psychoanalytischer Aspekte der Persönlichkeit des
Produzenten/der Produzentin, seiner/ihrer sozialen Beziehungen, ideolo-
gischer Positionen, (kunst-)historischer Verortungen des Werkes, formaler
Kriterien (Komposition, Figuration, Farbgebung), verarbeiteter theoretischer
Aspekte, möglicher Effekte des Kunstkonsums, der Inhalte, der Ikonogra e,
der Ausstellungsweisen und schließlich der zu Grunde liegenden Philosophie
hinzu (vgl. Acha 1992: 134).
Acha plädiert für eine soziologische Kunstkritik und macht sich zugleich
für eine Betrachtung von Kunst in ihren Entstehungs- und Rezeptionskon-
texten stark, die er an anderer Stelle „Ästhetologie“ nennt. In naher Zukunft,
schrieb Juan Acha 1990,
„werden wir Kulturwissenschaften sehen, die sich in Ästhetologien verwandelt
haben – auch wenn der Begriff nicht sehr angenehm klingt. Sie werden zuerst
die kollektiven Ästhetiken untersuchen und dann gleichermaßen die Produkte
des Handwerks, der Künste und des Designs. Es gibt dann keinen legitimen
Grund mehr, sich nur auf die Künste zu beschränken.“ (Acha 2018: 9)
In diesem Sinne war Juan Acha selbst ein Ästhetologe. Denn er verstand
das Ästhetische sowohl als Spezi k des Schönen und seiner Genese in den
Künsten als auch als die Wahrnehmungsweisen schlechthin betreffende
Angelegenheit.
Auf beiden Gebieten, Kunst(-kritik) und Kultur im Sinne allgemeiner
Wahrnehmungsweisen, wollte Acha nicht nur beschreiben, sondern auch
intervenieren. Sowohl die Kunstkritik als spezi sches Schreiben zu einem
„spezialisierten Produktionssystem“ als auch die Ästhetologie als produk-
tionssystemübergreifende Kulturwissenschaft sind bei Acha mit normativen
Ansprüchen verknüpft. Auch wenn er die Ästhetologie als wissenschaftliche
Disziplin skizziert, so lässt Acha doch keinen Zweifel daran, dass es ihm
zudem um politische Ein ussnahme auf jene Emp ndungsweisen geht, die
es wissenschaftlich zu analysieren gilt. Diesen Anspruch bringt Acha vor
allem in den Jahren nach 1968 in vielen Zeitschriftenartikeln zum Ausdruck,
die er neben seinen Büchern publiziert.
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 169
4. Politische Perspektive
Ende der 1960er Jahre beginnt Acha, seine theoretische und kuratorische
Praxis verstärkt in einen linken politischen Kontext zu stellen. Die globalen
Proteste und Revolten von 1968 hatten dabei einen entscheidenden Ein uss.
In diesem Jahr besuchte Acha die documenta IV in Kassel, nahm an der
Konferenz der Association Internationale des Critiques d’Art (Internatio-
nale Vereinigung der KunstkritikerInnen) in Bordeaux teil und erlebte den
KünstlerInnen-Boykott der 33. Biennale von Venedig vor Ort. Die Proteste
waren einer der Auslöser für eine verstärkte Hinwendung zu aktivistischen
Kunstpraktiken und einem Kunstverständnis, das auf die sensorisch-menta-
len Aspekte soziopolitischer Veränderungen abzielt. In den sozialen Protesten
liegt also auch, wie Joaquín Barriendos betont, „Achas Beschäftigung mit
den no-objetualismos“ (Barriendos 2017: 154) begründet. Sie sind aber nicht
nur Auslöser für seine kunstsoziologische Perspektive, sondern auch Anlass
für eine Konturierung seiner politischen Haltung.
Eine zweite, biogra sche Erfahrung hat zur Politisierung zweifellos ebenso
beigetragen: Unter dem linken revolutionären Militärregime (1968-1975)
unter General Juan Velasco Alvarado wurde Acha 1969 gemeinsam mit
26 KünstlerInnen bei einer Party verhaftet und wegen angeblichen Dro-
genbesitzes und Beein ussung Minderjähriger für zehn Tage inhaftiert.
Auch wenn Acha mit den prinzipiellen Zielen der Regierung – Enteignung
der Großgrundbesitzer und Landreform, Verstaatlichung der Ölindustrie,
Bildungsreform – übereinstimmte, war dieser Gefängnisaufenthalt doch ein
einschneidendes Erlebnis. Barriendos hebt hervor, dass Acha sich dadurch
erstmals selbst als involviert in „eine historische Kette von Gräueltaten“
(Barriendos 2017: 152) erlebte und diese Erfahrung in eine verstärkte poli-
tische Positionierung umsetzte. Schließlich war sie auch Auslöser dafür, ins
Exil nach Mexiko zu gehen.
In einem Text mit dem heute etwas pathetisch wirkenden Titel „Revolutio-
näres Erwachen“ (Acha 2017b [1970]) diskutiert Acha 1970 verschiedene
Arbeiten zeitgenössischer Kunst. Sozioökonomische Unterentwicklung und
kulturelle Avantgarde, behauptet Acha, schlössen sich nicht gegenseitig aus.
Vielmehr erfordere die Unterentwicklung avantgardistische Praktiken – nicht
zuletzt als Warnung vor dem Entwicklungsparadigma selbst. Achas Vertrauen
in künstlerisch-avantgardistische Praktiken war groß: „Auf die eine oder
andere Art“, schließt der Text, „nehmen KünstlerInnen eine aktive Rolle in
unserem revolutionären Erwachen ein; sie beginnen, den Gedanken an die
Notwendigkeit einer kulturellen Revolution zu entwickeln und zu verbreiten“
(ebd.: 176). Acha begreift die zeitgenössischen künstlerischen Avantgarden
170 Jens Kastner
selbstverständlich als Teil eines emanzipatorischen, sozio-politischen Trans-
formationsprojektes, in das er auch als Theoretiker eingreifen will.
Im Zusammenhang mit der Beschreibung der Exklusivität von Kunst-
produktion und -rezeption hatte Acha, wie weiter oben gezeigt, darauf
hingewiesen, dass die künstlerischen Arbeiten die bestehenden hegemonia-
len Ideologien nur selten stören könnten (vgl. Acha 1988: 278). Im Zuge
der Revolten von 1968 scheint die Störung dieser Ideologien nun plötzlich
nicht nur möglich, sondern sogar selbstverständlich zu sein. „Für diese
KünstlerInnen“, schreibt Acha (2017a [1970]: 180) beispielsweise 1970
über die avantgardistische Szene in Lima, „gibt es so etwas wie Kunst oder
KünstlerInnen nicht, es gibt nur künstlerische Handlungen als Fähigkeit, die
Menschen generell eigen ist“. Kunst ist in dieser Beschreibung keine exklu-
sive Angelegenheit einiger Weniger mehr, und im nächsten Satz scheint die
Marx’sche Utopie einer freien Gesellschaft, in der es keine Maler mehr gebe,
sondern nur Menschen, die unter anderem auch malen, plötzlich zum Greifen
nahe: „In einer neuen Gesellschaft wird Kindern gelehrt werden, Kunst zu
machen, ohne zu wissen, was Kunst ist.“ (ebd.: 181) Den KünstlerInnen
wird damit letztlich die Fähigkeit zugesprochen, die seit der Renaissance
gewachsene Arbeitsteilung aufzuheben. Obwohl zuvor als exklusiv und elitär
beschrieben, wird das Produktionssystem Kunst damit zum Ausgangspunkt
einer soziopolitischen Umwälzung. Die euphorische Losung, „die künst-
lerische Revolution ist eine der Grundlagen der kulturellen Revolution“
(Acha 2017c [1975]: 188), die Acha in einem anderen Zeitschriftenbeitrag
ausruft, erscheint als selbstverständliche Dynamik.
5. Einfl uss und Effekte von Achas Werk
Im Frühjahr 2017 fand im Universitären Museum für Zeitgenössische Kunst
in Mexiko-Stadt eine Ausstellung zu Leben und Werk Juan Achas statt, die
den Titel „Despertar revolucionario“ („Revolutionäres Erwachen“) trug.12
Der Ausstellungstitel geht auf den oben erwähnten Artikel gleichen Titels
zurück und macht damit vor allem den politischen und weniger den theore-
tischen Ein uss Achas aufmerksam.
Innerhalb der zeitgenössischen Kunst in der Linken der 1970er und
1980er Jahre wurden die Thesen Achas viel diskutiert. Das betont etwa die
feministische Performancekünstlerin Maris Bustamante im Gespräch mit
12 „Juan Acha. Despertar revolucionario. En el marco del centenario de Juan Acha“. Museo Uni-
versitário Arte Contemporáneo, Mexiko-Stadt, 11.2.2017-28.5.2017, kuratiert von Joaquín
Barriendos, http://muac.unam.mx/expo-detalle-120-juan-acha.-despertar-revolucionario,
letzter Aufruf: 7.2.2020.
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 171
der Kunsthistorikerin Sol Henaro. Bustamante, in den späten 1970er Jahren
Mitglied des künstlerischen Kollektivs „No Grupo“, war 1981 auch bei der
oben erwähnten „Ersten Lateinamerikanische Konferenz Nicht-Objekthafter
Kunst“ (s.o. S. 157) dabei. 1983 war sie Mitbegründerin der feministischen
Performancekunst-Gruppe „Polvo de Gallina Negra“ („Pulver der Schwar-
zen Henne“). Im Rückblick hält sie Acha – neben dem marxistischen Kul-
turtheoretiker und Aktivisten Alberto Híjar Serrano – für den wichtigsten
Vermittler marxistischer Ideen im kulturellen Feld Mexikos nach 1968
(vgl. Bustamante & Henaro 2011: 148f). Auch der peruanische Kurator und
Kunsttheoretiker Miguel López hebt die Bedeutung Achas für die künstleri-
schen Bewegungen im Lateinamerika der 1960er und 1970er Jahre hervor.
López nennt ihn auch „einen leidenschaftlichen Anwalt des experimentellen
Geistes“ (López 2016). Als solcher habe er starken Ein uss auf die junge
Generation zeitgenössischer KünstlerInnen ausgeübt, aber auch Kritik vor
allem bei etablierten KunsthistorikerInnen wie Marta Traba (1930-1983)
geerntet. Während Traba ihn in ihrer Kunstgeschichte Lateinamerikas nicht
erwähnt (vgl. Traba 1994), tritt er in David Cravens vieldiskutiertem Buch
Art and Revolution in Latin America zumindest kurz als ebensolcher Anwalt
des künstlerischen Experiments auf, der die Entwicklung der Kunst in Kuba
nach der Revolution gutheißt (vgl. Craven 2002: 75).
Der Ein uss Achas beschränkte sich nicht auf junge KünstlerInnen in
Peru, sondern erstreckte sich auf solche in verschiedenen Ländern Latein-
amerikas. Hervorzuheben ist dabei sicherlich die Bewegung „Los Grupos“
im Mexiko der 1970er und frühen 1980er Jahre, der auch Bustamante mit
„No Grupo“ abgehörte (vgl. auch Muñoz 2011; Kastner 2019) und der Acha
als praktischer Förderer und theoretischer Mentor diente. Sein theoretisches
Werk ist heute allerdings nicht mehr sehr präsent, was angesichts der oben
dargestellten kunstsoziologischen Systematisierungen und auch angesichts
der Fülle von kulturtheoretischen Vorwegnahmen – hier insbesondere seine
Betonung der Bedeutung des Kolonialismus für die kulturellen Praktiken
und Strukturen – durchaus erstaunlich ist.13 Schließlich ist auch das zentrale
Dilemma, die Spannung zwischen Emanzipationsanspruch der Kunst und
ihrer Rekonstruktionsfunktion der bürgerlichen Gesellschaft nicht au ösen
zu können, weder ein historisch überholtes noch ein theoretisch gelöstes
13 Auch wenn der empirischen Wahrheit von Google Scholar sicherlich nicht mehr als Indizien-
wert zuzuschreiben ist und sie wenig Beweiskraft hat: Google Scholar zählt für Juan Acha
bloß 1.010 Zitationen. Zum Vergleich: Für den Kulturtheoretiker Néstor García Canclini
werden 21.900 Zitationen gezählt, wobei der Vergleich sicherlich hinkt, weil García Canclini
noch lebt und seine Werke nicht wie die von Acha vor der Verbreitung des Internet verfasst
wurden. Aber selbst für die 1983 verstorbene Kunsthistorikerin Marta Traba zählt Google
Scholar immerhin noch 3.120 Zitationen; Stand jeweils 26.8.2019.
172 Jens Kastner
Problem. Die Auseinandersetzung mit Achas Werk bietet also bis in die
Gegenwart hinein wichtige Anknüpfungspunkte.
6. Die unaufgelöste Spannung
zwischen Reproduktionsfunktion und
Transformationsmöglichkeit der Kunst
In den kunstkritischen Texten, in denen Acha die von den „68er Jahren“
beein ussten jungen KünstlerInnen bespricht und lobt, tritt die eingangs
erwähnte Spannung im Hinblick auf die kunstsoziologischen Thesen beson-
ders hervor. Um es noch einmal anders zu formulieren, bleiben schließlich in
Achas Werk zwei Aspekte unvermittelt nebeneinander stehen: auf der einen
Seite die Beschreibung des Produktionssystems Kunst, das aufgrund seiner
historischen Genese relativ eigenständig funktioniert und relativ vorausset-
zungsreich und elitistisch ist, auf der anderen Seite die Beschreibung der
Kunstaktivismen, die die Einschränkungen und die reproduktiven Elemente
dieses Produktionssystem doch vergleichsweise leicht zu überwinden schei-
nen.14 Die normative Hinwendung zur Kunst mit sozialtransformatorischem
Anspruch – wobei Acha hier durchaus nach wie vor formale Kriterien
ansetzt und alles andere als undifferenziert urteilt – führt letztlich dazu,
die tatsächliche Behäbigkeit und auch die Integrationsleistungen des zuvor
geschilderten Produktionssystems massiv zu unterschätzen. Auch wenn es
um und nach 1968 zweifellos vielversprechende Ansätze gab, das Kunstsys-
tem als solches zu überwinden (und, mit Marx gesprochen, die gesellschaft-
liche Arbeitsteilung aufzuheben), so ist das Kunstfeld doch alles andere als
zerstört worden. Auch der analytisch-strategische Hinweis, dass „es keinen
Weg gibt, die bürgerliche Kunst zu zerstören, außer den, sie zu praktizieren
und damit von innen zu unterminieren“ (Acha 2017c [1975]: 188), vermag
die fundamentale Spannung nicht aufzulösen.
Um diese Spannung zu lindern, müsste schließlich erst eine andere For-
derung Achas angegangen und umgesetzt gesetzt werden: In letzter Instanz,
beschrieb Acha seine eigene Arbeit als Kunstkritiker, gehe es darum, ein
„unabhängiges visuelles Denken“ (Acha 1992: 67) zu ermöglichen. Die For-
derung nach Unabhängigkeit war hier als Abgrenzung von einer elitistischen
Kunstbetrachtung gedacht. Sie muss zudem als Abkehr von einem Denken
gelesen werden, das Acha als Effekt der postkolonialen sozio-ökonomischen
Abhängigkeit der Länder Lateinamerikas betrachtete. Die Forderung ließe
14 Diese unaufgelöste Spannung zwischen emanzipatorischen Ansprüchen und der Ana-
lyse regressiver und reproduktiver Tendenzen gibt es letztlich auch bei Bourdieu (vgl.
Kastner 2017: 158; Heinich 2018: 187).
Für „ein unabhängiges visuelles Denken“ 173
sich aber auch verallgemeinern als eine, die gegen herrschende Blickregime
und Sehgewohnheiten aller Art gerichtet ist: Mit (dem Kunstsoziologen)
Acha wäre dann gegen (den kunstaktivismusaf nen) Acha zu formulieren,
dass erst die „ästhetische Kultur“ als Ganze anzugehen und umzuwälzen ist,
bevor eine neue Kunst entsteht, die keine Kunst mehr zu sein braucht – und
nicht umgekehrt.
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Anschrift des Autors:
Jens Kastner
j.kastner@akbild.ac.at
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Article
Full-text available
The article examines the conceptual origins of the dependency issue in Latin America and the formation of dependency theories in the 1960s, and focuses on the social and scientific environment in Chile. First, we identify the intellectual traditions and academic surroundings that provided the basis for the emergence of dependency theories. Second, we depict four working groups which dealt with different aspects of dependency, in order to highlight their institutional setting, as well as the main focus of their investigations. Finally, we conclude by assessing the contribution of dependency theories to Latin American social sciences. We hold that dependency theories have extended and deepened the comprehension of underdevelopment. However, these theories did not consider the problem of academic dependence, a problem which contributed to their own marginalisation. In order to reformulate the dependency paradigm, this omission has to be taken into account.
Book
Bourdieu in Question: New Directions in French Sociology of Art Series: International Studies in Sociology and Social Anthropology, Volume: 130 Volume Editors: Jeffrey A. Halley and Daglind E. Sonolet In Bourdieu in Question: New Directions in French Sociology of Art, Jeffrey A. Halley and Daglind E. Sonolet offer to English-speaking audiences an account of the very lively Francophone debates over Pierre Bourdieu’s work in the domain of the arts and culture, and present other directions and perspectives taken by major French researchers who extend or differ from his point of view, and who were marginalized by the Bourdieusian moment. Three generations of research are presented: contemporaries of Bourdieu, the next generation, and recent research. Themes include the art market and value, cultural politics, the reception of artworks, theory and the concept of the artwork, autonomy in art, ethnography and culture, and the critique of Bourdieu on literature. Contributors are: Howard S. Becker, Martine Burgos, Marie Buscatto, Jean-Louis Fabiani, Laurent Fleury, Florent Gaudez, Jeffrey A. Halley, Nathalie Heinich, Yvon Lamy, Jacques Leenhardt, Cécile Léonardi, Clara Lévy, Pierre-Michel Menger, Raymonde Moulin, Jean-Claude Passeron, Emmanuel Pedler, Bruno Péquignot, Alain Quemin, Cherry Schrecker, Daglind E. Sonolet.
Chapter
Pierre Bourdieu (1930–2002) beginnt seine wissenschaftliche Laufbahn mit ethnologischen Forschungsarbeiten zur sozialen Situation und den kulturellen Praktiken der Berber sowie des städtischen Proletariats in Algerien. Im weiteren wird er durch seine gemeinsam mit Claude Passeron verfasste Studie Les Héritiers (Paris 1964) international als Soziologe bekannt, der einen wichtigen Beitrag zur Analyse der Strukturen und Prozesse leistet, durch die soziale Ungleichheiten im Bildungssystem verfestigt und zugleich verschleiert werden (dt. veröffentlicht in Die Illusion der Chancengleichheit. Untersuchungen zur Soziologie des Bildungswesens am Beispiel Frankreichs, Stuttgart 1971).