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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern und ihre implizite Botschaft an die nachfolgende Generation

Authors:
Angela Moré
Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
und ihre implizite Botschaft an die nachfolgende Generation
Angesichts der immensen Verbrechen, die im systematischen Genozid
nicht nur von den hohen Vertretern des nationalsozialistischen Regimes
zu verantworten waren, sondern von mehreren Millionen Deutschen als
Tätern begangen und als Mitläufern geduldet bzw. gutgeheißen wurden,
bleibt stets ein Gefühl der Unzulänglichkeit, wenn der Versuch unter-
nommen wird, diese Verbrechen und diejenigen, die sie begangen haben,
verstehen zu wollen. Dennoch hat eine Vielzahl von Autorinnen und
Autoren die theoretische und emotionale Anstrengung unternommen,
das Unglaubliche, letztlich Unbegreifliche der systematischen Ermordung
von Millionen von Menschen in Worte zu fassen und dem Verstehen durch
sozio- und psychogenetische Analysen zugänglich zu machen. Wie sehr das
Erschrecken vor dem Ausmaß an möglicher menschlicher Destruktivität
seitdem unser Bild vom Menschen verändert und unser (Selbst-)Vertrauen
in das Menschsein erschüttert hat, zeigt sich nicht zuletzt in Umfang an
soziologischen, historischen, rechtsphilosophischen und psychologischen
bzw. psychoanalytischen Studien und Texten, die schon während der NS-
Diktatur außerhalb Deutschlands und seit den Nachkriegsjahren auch in
Deutschland entstanden. Von den Untersuchungen über den autoritären
Charakter des damals exilierten Frankfurter Instituts für Sozialforschung,
dem Milgram-Experiment, Erich Fromms Arbeit über die Anatomie der
menschlichen Destruktivität bis zu heutigen Arbeiten über die transgenera-
tionelle Fortwirkung der Verfolgung und Vernichtung in den Nachkommen
der Opfer, aber auch den Nachkommen der Täter reicht das weite Spektrum
der Forschungen. Sie alle hatten das Ziel, die Dimensionen des Grauens
erkennbar, benennbar und kontrollierbar oder gar beeinflussbar zu machen.
Gegenüber dem Ausmaß an Verbrechen – schon eines einzelnen ters
wie Adolf Eichmann – wirkt die »Verkleinerung« des Ungeheuerlichen
auf ein »menschliches« Maß, das heißt: das Eingeständnis, dass auch der
Täter ein einzelnes menschliches Wesen ist, irritierend, beängstigend,
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ernüchternd und provokant. Mit dem »Bruder Eichmann« befasst sich
Heinar Kipphardts Theaterstück1, und Albert Wucher (1961) stellt seinen
Dokumentarbericht über die Endlösung der Judenfrage unter den Titel
»Eichmanns gab es viele«.
Angesichts der Wahrnehmung des hinter Panzerglas geschützten Man-
nes, der starr, mechanisch, angestrengt abwägend und zwanghaft affektkon-
trolliert, aber auch ängstlich wirkte, provozierte die Prozessbeobachterin
Hannah Arendt (1990) die nach Jerusalem schauende Weltöffentlichkeit
mit der Konstatierung der »Banalität des Bösen«, als dort der Prozess
gegen einen der im Nationalsozialismus mächtigsten und fanatischsten
Antisemiten stattfand. Arendts Urteil ergab sich zweifellos auch aus der
Kluft zwischen der biederen Erscheinung des Angeklagten, der Kläglich-
keit seiner Selbstverkleinerung als bedeutungslosem Rädchen im Getriebe
der NS-Maschinerie, der bürokratischen Kleinkariertheit und Pedanterie
seines Denkens und Rechtfertigens einerseits und der Monstrosität seiner
Verbrechen und Schuld andererseits. Auch »Normal(ität)« ist eine der
verschiedenen etymologisch nachweisbaren Bedeutungsfacetten des Wortes
»banal«, leitet sich in dieser Bedeutung sprachgeschichtlich jedoch ab aus
dem gemeinsamen Besitz, dem Gemeinnützigen. Und Gemeinnützigkeit re-
klamierten die rassehygienischen NS-Ideologen paradoxerweise tatsächlich
für den Genozid an jüdischen und anderen als minderwertig bezeichneten
Bevölkerungsgruppen und für die im Euthanasieprogramm Ermordeten.
Zwar verwendeten die nationalsozialistischen Ideologen zahlreiche zynische
Sprachverdrehungen wie die Bezeichnung der Massenmorde als »Schäd-
lingsbekämpfung« oder als hygienische Maßnahme zur Gesundung des
»Volkskörpers«. Dennoch wurde Gemeinnützigkeit niemals als ein Attribut
des Bösen verstanden.
Das ›Banale‹ ist zudem mit einer weiteren aufschlussreichen etymolo-
gischen Bedeutung verbunden: dem Nichts-Sagenden. Wer die Bilder vom
Prozess gegen Eichmann in Jerusalem vor Augen hat, weiß: da stand oder
saß ein Mann im korrekt gebügelten Anzug, gab in pedantischer Manier
(vermeintlich) akkurat und langwierig Auskunft über sein Tun, emotionslos,
auf Korrektheit und Sachlichkeit achtend, die Rede gespickt von bürokrati-
schen und statistischen Details – als spreche er von abstrakt quantifizier-
baren Gütermengen. Aus seiner Sicht ging es in der Tat nicht um mehr als
Quantitäten. Ihrer Menschlichkeit beraubt, waren die Verfolgten nur noch
abstrakte Größenordnungen, die eine vielfache logistische Herausforderung
1 Ebd., S. 61.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
für einen Tötungsbürokraten darstellten, der zum Deportationsspezialisten
des Reichssicherheitshauptamtes aufgestiegen war. Dessen Hauptsorgen
bestanden darin, dass die Erfassung und Deportation der jüdischen Be-
wohner, die Zusammentreibung und Beschlagnahme ihrer Vermögen und
die Verteilung ihrer Wohnungen und Besitztümer funktionierten und die
von oben kommenden Vorgaben noch übertrafen. Trotz seiner akribischen
Ausführungen und der sich vor ihm auftürmenden Aktenberge blieb er
jedoch nichts-sagend, darum bemüht, von seinen inneren Antrieben und
Motiven nichts preis zu geben: seinem leidenschaftlichen antisemitischen
Fanatismus und seinem massiven karrieristischen Ehrgeiz, seiner narziss-
tischen Geltungssucht und seinem Verlangen nach Macht. Die Quantität
des von ihm mitverschuldeten Leidens berührte den – scheinbar – kalten
Bürokraten auch nachträglich nicht. Selbst zum Heucheln von Reue fühlte er
sich nicht im Stande. Stattdessen betonte Eichmann in seinem – zweifellos
auch strategisch eingesetzten – Selbstverkleinerungseifer unentwegt, nur
ein Rädchen im Getriebe gewesen zu sein, das funktionierte, indem es
Befehle von oben gewissenhaft und diszipliniert ausführte. Gelegentlich
aber bäumt sich seine Eitelkeit gegenüber der zur Schau gestellten Bedeu-
tungslosigkeit im NS-System auf und er beginnt weitschweifig, Details über
seine Beteiligung, seinen Idealismus und seine kreativen Initiativen bei
der Umsetzung der Befehle zum Besten. Als Trottel und nur willfähriges
Rädchen zu erscheinen, erträgt er nicht.2 Seine Verteidigungsstrategie be-
steht immer wieder aus einer »Mischung aus Weitschweifigkeit, Leugnen,
Täuschung und Teilgeständnissen«3, die ihn jedoch auch immer wieder in
einem schlechten Licht erscheinen ließen. Entsprechend vertritt Irmtrud
Wojak (2001) die Auffassung, dass Hannah Arendt bei der Beobachtung des
Prozesses und dieses Täters nicht in der Lage war, alle Facetten desselben zu
erkennen und den primär strategischen Stellenwert seiner eifrigen (Selbst)
Darstellungen unterschätzte. Dennoch scheint mir, dass Arendt – bewusst
oder erahnend – mit diesen beiden Bedeutungsfacetten von Banalität,
(dem Anschein) des Normalen und des (beabsichtigt) Nichtssagenden,
zwei wesentliche Aspekte der Tätertypologie Eichmanns trifft. Eine weitere
wichtige Nuance der Eichmänner benennt Albert Wucher, wenn er jene als
»gewissenhafte Werkzeuge der Gewissenlosigkeit« bezeichnet.4
2 Eichmann, zit. n. Wojak, ebd., S. 63.
3 Vgl. O. Kernberg (2000b): Persönlichkeitsentwicklung und Trauma – theoretische und
therapeutische Anmerkungen. In: O. Kernberg et al. (Hg.) (Fn. 3), S. 529.
4 Zit. n. Wojak (Fn. 20), S. 64.
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Die Zurückweisung von Schuld und Verantwortlichkeit bei Tätern hängt,
wie sich auch heutzutage regelmäßig beobachten lässt – man denke nur an
den Prozess gegen Slobodan Milosevič – zusammen mit einer Mischung
aus Rechtfertigungswunsch, Wunsch nach Aufrechterhaltung des Selbst-
wertgefühls und der Selbst- wie Fremdachtung. Darüber hinaus geht es
um die Beibehaltung bewährter Verleugnungs- und Abwehrmechanismen
und den Wunsch, sich die Loyalität von Anhängern und Verbündeten zu
sichern. Im Tiefsten bleiben sie in der Regel davon überzeugt, dass sie richtig
gehandelt hätten. Sofern die Täter jedoch nicht Strafverfolgung fürchten
müssen, bekennen sie sich zu ihren Haltungen weiterhin offen bzw. setzen
ihre Vernichtungsmission fort. Während des in Argentinien von dem ehe-
maligen SS-Offizier und späteren Südamerika-Korrespondente des Stern,
Willem Sassen, durchgeführten Interviews fühlte sich Eichmann offenbar
sicher genug, um offen seine Unzufriedenheit über sein Scheitern an der ihm
gestellten Aufgabe, die vollständige Vernichtung der europäischen Juden, zu
bekennen.5 Im Prozess gegen ihn behauptete er nicht nur, Juden geschützt
und gerettet zu haben, sondern verwies, eine unter den Angeklagten in
Nürnberg ebenfalls auftauchende Argumentationsfigur verwendend, die
Übereinstimmung von antisemitischen und pro-zionistischen Interessen.6
Während Sassens Anliegen primär darin bestand, den Holocaust leugnen
oder zumindest dessen Auswirkungen minimieren zu wollen, hatte Eich-
mann ein ganz anderes Interesse. Es ging ihm darum, sich mit den Gründen
seines »Scheiterns« an der »Endlösung« auseinander zu setzen – aus der
Perspektive eines antisemitisch Motivierten. Sein ebenso fanatisch antise-
mitischer Freund Alois Brunner, der in Syrien unter falschem Namen Asyl
fand, beriet Jahrzehnte lang den syrischen Geheimdienst bei der Bekämp-
fung Israels und war zeitlebens stolz darauf, dass er bei der Vernichtung
der Juden mitgewirkt hatte7. Aber auch bei rangniedrigen, unbekannten
Tätern findet man das reuelose Festhalten an den Vernichtungsabsichten
und ihren Legitimationen. So gestand in einem aktuellen Dokumentarfilm
ein französischer Milizionär und Nazi-Kollaborateur, wenn er noch mal
die Möglichkeit zu töten erhalte, sei er gleich wieder dabei8.
Der Sozialpsychologe Harald Welzer vertritt die Auffassung, das gesell-
schaftliche Normensystem und Rechtsverständnis des Nationalsozialismus
5 Ebd., Hervorhebung v. N. R.
6 Ebd., S.47.
7 Vgl. ebd., S.14.
8 Cesarani, a.a.O., S. 413.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
habe für die ter den gültigen und verbindlichen normalen Rechtsrahmen
dargestellt, in welchem die Anforderungen, Befehle und Normen ihnen als
alltäglich und normal erschienen seien.9 Unhinterfragt verwendet er damit
eine Argumentation, welche die Nazi-Täter nach 1945 zu ihrer eigenen
Entlastung vorgebracht hatten.10 Für die Unrichtigkeit dieser Auffassung
gibt es zahlreiche Belege, die zeigen, dass sich die Machthabenden ebenso
wie die Ausführenden sehr wohl darüber im Klaren waren, dass sie sich
jenseits der historisch gewachsenen rechtlichen und ethisch-moralischen
Kodizes der Zivilgesellschaft bewegten. Gerade darum bedurfte das natio-
nalsozialistische Regime einer scheinbaren Legitimation für diese Rechts-
beugungen, die abgeleitet wurden aus der ›kapitalistisch-bolschewistischen
Verschwörung des Weltjudentums‹ gegen das deutsche Reich. Als Eichmann
im Verhör durch Richter Halevi die Erbarmungslosigkeit im National-
sozialismus – und damit auch seine eigene – dadurch zu rechtfertigen
versucht, dass man während der NS-Ära in »einer Zeit […] von Staats wegen
legalisierter Verbrechen« gelebt habe, verweist ihn Halevi auf den Verstoß
gegen die damals bereits gültigen Völkerrechtskonventionen. Schon die
Formulierung Eichmanns impliziert aber, dass das Bewusstsein davon, dass
es sich um Verbrechen handelte, nicht verschwunden war. Nur konnten
sich die Täter angesichts der Legalisierung der Verbrechen sicher sein,
dafür im NS-Staat keiner Strafverfolgung ausgesetzt zu sein. Als sich die
Niederlage Deutschland gegen Kriegsende abzeichnete, spielte die Furcht
vor Vergeltung eine bedeutsame jedoch eine wachsende Rolle, die mas-
senpsychologische und propagandistisch geschickt genutzt wurde. Für die
Mehrheit der christlich sozialisierten AnhängerInnen und MitläuferInnen
des Regimes war deutlich, dass ihr Tun und Dulden nicht den »normalen«,
gesellschaftlich akzeptierten Standards sittlichen und ethischen Handelns
entsprach, vielmehr alle Kategorien derselben sprengte und verletzte. Auch
sie wussten, dass die Verfolgung, Ermordung und Beraubung der jüdischen
und anderer Mitmenschen einen Bruch mit der Zivilisation darstellte, des-
sen Bekanntwerden nicht ungesühnt bleiben würde. Darum bedurften die
Hauptverantwortlichen des Krieges, um nun die – freilich schon vorher
ausgegrenzte und diffamierte – jüdische Bevölkerung zum Hauptfeind
zu erklären und ihnen in lächerlich unglaubwürdiger Konstruktion die
9 H. Welzer, Verweilen beim Grauen. Essays zum wissenschaftlichen Umgang mit dem
Holocaust. Tübingen 1997; ders., Täter: Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder
werden. Frankfurt a. M. 2007.
10 Vgl. Cesarani, a.a.O., S. 421f.
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Kriegsschuld anzulasten. Darum auch begannen mit der Kriegswende 1942
viele Deutsche sich Sorgen zu machen, dass die Verbrechen später geahndet
werden könnten. Die Vorstellung von der negativen Wendung des Krieges
als Sühne für die begangenen Verbrechen tauchte schon zu dieser Zeit auf.
Goebbels setzte geradezu auf die bindende Kraft gemeinsamer Schuld.
Ihm schienen der begangene Bruch mit der Zivilisation und die kollektive
Schuldverstrickung so etwas wie eine Garantie dafür zu sein, dass es kein
Zurück mehr geben könne. In seinen Tagebüchern notiert er am 3. und
21. März 1943, dass man ohnehin alle Brücken hinter sich abgebrochen
habe.11 Die aufkeimende Bestrafungsangst ließ sich instrumentalisieren für
die weitere Radikalisierung der Vernichtung und des Krieges bis hin zur
wahnwitzigen Mobilmachung für den sog. »totalen Krieg« zu einem Zeit-
punkt, als die Chancenlosigkeit des Unterfangens nicht mehr zu übersehen
war. Hatte nicht Himmler in seiner Posener Rede gerade mit dem Hinweis
auf drohende Rache durch spätere Generationen die Ermordung auch von
jüdischen Frauen und Kindern legitimiert? Die paranoide Qualität der auf
die Verfolgten und Ermordeten projizierten Rachephantasien sollten die
Bereitschaft zur Vernichtung der Juden erhöhen und taten dies bei vielen
Tätern auch. Noch in dem Interview mit Sassen kommt Eichmann in seinen
Schlussausführungen auf dieses Phantasma zurück und versteht sie als Teil
seiner Motivierung:
»Und aus dieser Motivierung heraus müssen Sie verstehen, wenn ich
sage, wenn 10,3 Millionen dieser Gegner [der Juden; A.M.] getötet worden
wären, dann hätten wir unsere Aufgabe erfüllt. Nun es nicht so ist, werde ich
Ihnen sagen, dass das Leid und das Ungemach unsere noch nicht Geborenen
zu bestehen haben. Vielleicht werden sie uns verfluchen.«12
Wer nur seiner beruflichen Alltagspflicht nachgeht und überzeugt ist,
im Rahmen einer bestehenden Rechtsordnung adäquat zu handeln, hätte
keinen Grund, vernichtende Rachephantasien zu entwickeln.
Nicht selten wurde die Angst vor Rache oder aber rechtlicher Straf-
verfolgung abgewehrt durch das ebenfalls von vielen Tätern (auch in den
nachfolgenden Kriegsverbrecher-Prozessen) verwendete Argument der
Unglaubwürdigkeit der monströsen Taten. Dies dokumentiert eindrücklich
die von einem Auschwitz-Überlebenden in Erinnerung behaltene Aussage
11 Zit. n. Cesarani, a.a.O., S. 422.
12 Goebbels: Tagebücher Teil II, Bd. 7, S. 454 u. 603, zit. n. F. Bajohr, D. Pohl, Massenmord
und schlechtes Gewissen. Die deutsche Bevölkerung, die NS-Führung und der Holocaust.
Frankfurt a. M. 2008, S. 101.
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eines SS-Offiziers kurz vor der Befreiung des Konzentrationslagers: »Du
weißt, dass du das hier nicht überleben wirst, oder? Dafür werde ich schon
sorgen. Und falls du doch überlebst, wird dir kein Mensch glauben, niemand
wird glauben, was wir mit euch gemacht haben, niemand.«13
Die Unglaublichkeit der Taten wurde später von Angeklagten auch
als Entlastungsargument benutzt in Verbindung mit der Behauptung, sie
hätten von den Vorgängen nur einen kleinen Teil mitbekommen und von
den meisten Verbrechen nichts gewusst, diese aber auch, als sie davon
erfahren hätten, für nicht möglich gehalten. Ahlrich Meyer kommt zu dem
Schluss: »Paradoxerweise also erleichtert die Inkongruenz, die zwischen der
Dimension des Verbrechens und der eigenen Tatbeteiligung herrschte, die
Selbstentlastung der Täter«.14
Die Unfähigkeit zu trauern, die Alexander und Margarete Mitscher-
lichs bei den Deutschen nach Ende des zweiten Weltkriegs konstatierten15,
bestimmte auch schon die Nachkriegsgeneration des Ersten Weltkriegs.
Deren Unfähigkeit und Weigerung, die Verantwortung für den begonnenen
Krieg zu übernehmen und die »Schmach« über die erlittene Niederlage zu
integrieren, führte zur erneuten Aufladung mit Ressentiments, der Konst-
ruktion von Sündenböcken insbesondere bezogen auf das (Welt)Judentum
–, zur Gegenbesetzung durch Grandiositätsphantasien, Allmachts- und
Bemächtigungswünsche, auch manifestiert in immenser Habgier, Neid und
Hass. (Massen)psychotische Aspekte, Dissoziationen bis zur Doppelung des
Selbst, Verleugnung, projektive Abwehr und Identifikation, Gegenbesetzung
und Verkehrung ins Gegenteil sind psychische Mechanismen, die bei einem
großen Teil der Täter wirksam.16
Immer wieder kann man mit Erstaunen feststellen, dass die Täter selbst
ein Ahnung oder gar Bewusstheit von ihren psychischen Abwehrnot-
wendigkeiten hatten. So antwortet Eichmann während des Jerusalemer
Prozesses auf die Frage, ob er denn nie Gewissenskonflikte erlebt habe,
man könne das eher eine Gespaltenheit nennen, »und zwar eine bewusste
13 Zit. n. Wojak, a.a.O., S. 64.
14 Erinnerung von Sal de Liema, einem Mithäftling von Otto Frank, dem Vater Anne Franks,
interviewt in dem Film von Jon Blair: Anne Frank – Zeitzeugen erinnern sich. NDR
1998.
15 A. Meyer, Täter im Verhör. Die »Endlösung der Judenfrage« in Frankreich 1940–1944.
Darmstadt 2005, S. 353.
16 A. u. M. Mitscherlich, Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens.
Neuausg. München 1977.
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Gespaltenheit, wo man sich von der einen Seite auf die andere flüchtete«.17
Mit ähnlich verblüffender Deutlichkeit und Bewusstseinsnähe thematisierte
Hitler in einem Gespräch mit Rauschning den projektiven Charakter seines
Feindbildes: »Wir müssten ihn [den Juden; A.M.] erfinden, man braucht
einen sichtbaren Feind, nicht bloß einen unsichtbaren. Der Jude ist in
uns. Aber es ist leichter, ihn in leiblicher Gestalt zu bekämpfen als den
unsichtbaren Dämon«.18
Während der verschiedenen Prozesse in Nürnberg, Frankfurt am Main,
Ulm etc. bestritten die NS- Täter kollektiv ihre Schuld und Verantwortung
für die zahllosen Verbrechen. Die wenigen, die eine Mitverantwortung
und Mitschuld einräumten, taten dies sehr partiell. Gleichzeitig leugneten
sie ihr Wissen und ihre Verantwortung in anderen Bereichen mit dem
ersichtlichen Ziel, ihr Strafmaß zu mindern oder zumindest (wie im Falle
Speers) der Todesstrafe zu entgehen. Als zu Beginn der siebziger Jahre Erich
Goldhagen in der New Yorker Zeitschrift Midstream einen Beitrag mit dem
Titel »Albert Speer, Himmler and the Secret of the Final Solution« veröf-
fentlicht, wird Speer nach Aussagen von Joachim Fest äußerst unruhig und
aufgebracht und er vergewissert sich bei der Zentralstelle zur Aufklärung
von NS-Verbrechen in Ludwigsburg sowie beim Bundesarchiv in Koblenz,
dass ein dort vorliegendes Dokument, auf das sich Goldhagen bezog, sein
Strafmaß von zwanzig Jahren Haft. nicht erhöhen werde.19 Die entschei-
dende Frage, um die es ging, lautete: war Speer bei Himmlers Posener Rede
vom 6. Oktober 1943 zugegen, bei der jener die Endlösung verkündete?
Speer, einer der Hauptverantwortlichen für die Rüstungsindustrie und
Verwendung von Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus, behauptete, an
jenem Nachmittag, als Himmler sein Konzept der Endlösung vortrug und
rechtfertigte, nicht dabei gewesen zu sein. Diese Behauptung und damit
Leugnung des Wissens um die Vernichtungsziele des NS-Regimes gegen-
über den europäischen Juden bei einem höchstrangigen Vertreter desselben
erinnert an das die Nachkriegszeit dominierende Verleugnungsmuster der
Deutschen, die millionenfach beteuerten, von all dem »nichts gewusst«
17 Unter den frühen Untersuchungen hierzu sind v.a. die Arbeiten von Judith Kestenberg,
Wilhelm Niederland, Hans Keilson, Robert J. Lifton, Alexander und Margarete Mitscher-
lich sowie Ernst Simmel zu nennen.
18 Zit. n. Cesarani, a.a.O., S. 422.
19 H. Rauschning, Gespräche mit Hitler. Wien 1973, zit. n. G. Hardtmann, Die Schatten
der Vergangenheit. In: Bergmann, M.S. u.a. (Hg): Kinder der Opfer – Kinder der Täter.
Psychoanalyse und Holocaust. Frankfurt a. M., S. 261.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
zu haben.20 In einem nach seinem Tode an die Öffentlichkeit gelangten
Brief Albert Speers von 1971 bestätigt er der Witwe eines belgischen Wi-
derstandskämpfers jedoch: »Es besteht kein Zweifel: ich war zugegen, als
Himmler am 6. Oktober 1943 ankündigte, dass alle Juden umgebracht
werden würden«.21 Kellerhoff kommt zu dem Schluss, Speer sei einer der
»erfolgreichsten Lügner der deutschen Zeitgeschichte« gewesen.22
Verschiedene Untersuchungen belegen, dass Versuche, die immensen
Verbrechen im Nationalsozialismus zu tarnen, zu verschleiern, die Spuren
zu verwischen, bereits mit der Kriegswende 1942/43 einsetzten. Gleichzeitig
aber wurde die Vernichtung noch beschleunigt und intensiviert, damit
möglichst keine Zeugenschaft übrig bleibe. In jener Zeit wurden bereits jene
Rechtfertigungsstrategien und Lügen entwickelt, die die Nachkriegszeit ab
1945 bis in die siebziger Jahre prägten.23
In dem 1955 in Argentinien durchgeführten Sassen-Interview hatte der
später so »banale«, nichts-sagende Eichmann eine Menge zu sagen, hier
macht er ganz andere Aussagen, zeigt sich als ungebrochen fanatisch. Hier
bekennt er, dass ihn nichts reue, nur die Verfehlung seines Ziels, das aus
eigener Schwäche unvollendete Werk der Vernichtung der (europäischen)
Juden. Hätte Arendt diese (Ton)Dokumente gekannt, dann wäre ihr das
Böse mit Sicherheit nicht so banal, blass, unscheinbar, fast erbärmlich
erschienen. Ihre Interpretation beschrieb hingegen treffend das Verhalten
der Täter während der Prozesse, in welchen diese sich der Verantwort-
lichkeit und Strafe zu entziehen versuchten, indem sie sich als ahnungs-,
bedeutungs- und hilflos darstellten, als missbrauchte Befehlsempfänger
und Opfer übermächtiger Verhältnisse. Aber »erst als alles vorbei war,
verstanden sich die Weltanschauungskämpfer plötzlich nur noch als kleine
Rädchen im allmächtigen Apparat«.24 Wenn Täterforscher wie Welzer zu
dem Schluss kommen, Hannah Arendt ebenso wie Christopher Brow-
ning hätten in den Tätern »ganz normale Männer« nicht nur im Sinne der
20 Vgl. G. Thomas: Es besteht kein Zweifel, ich war zugegen. In: Frankfurter Allgemeine
Zeitung Nr. 59, 10. 3. 2007, S. 33.
21 Vgl. insbes. P. Longerich, »Davon haben wir nichts gewusst!« Die Deutschen und die
Judenverfolgung 1933-1945. München 2006 sowie H. Heer, Vom Verschwinden der Täter.
Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei. Berlin, 2. Aufl. 2006.
22 Zit. n. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. 3. 2007, S. 33.
23 S. F. Kellerhoff: Neuer Beleg für Speers Lügengebäude. Die Welt 11. 3. 2007, online-version:
http://www.welt.de/kultur/article756139/Neuer_Beleg_fuer_Speers_Luegengebaude.html
– Abruf: 22. 2. 2009.
24 Vgl. dazu z.B. F. Bajohr, D. Pohl, a.a.O.
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(statistischen) Durchschnittlichkeit und gewöhnlichen Funktionsfähigkeit
gesehen, sondern auch im Sinne einer psychisch reifen Persönlichkeit,
dann bedeutet dies die Banalisierung des Psychischen. Normal wird in
diesem Fall mit psychisch reif und gesund gleichgesetzt. Pathologie hin-
gegen beginnt in diesem Verständnis erst mit sozialer Auffälligkeit und
der klinischen Diagnostizierung einer Abweichung, die im Extrem eine
soziale Absonderung in Psychiatrien oder Vollzugsanstalten zur Folge hat.
Ein solches Verständnis von Psychopathologie beachtet weder den gesell-
schaftlichen Diskurs der Produktion von psychischer »Krankheit« noch die
Normalisierung funktionell verwertbarer Pathologien unter verschiedenen
gesellschaftlichen Interessenlagen25, insbesondere aber unter diktatorischen
Machtkonstellationen.
Aus der Studie Brownings wird jedoch deutlich: Vor der Verstrickung in
die Verbrechen des Nationalsozialismus hatten viele der Täter überwiegend
normale bürgerliche oder proletarische Existenzen geführt. Nach der Aus-
führung der verbrecherischen Befehle ging es nur noch darum, sich selbst,
aber auch nach außen hin diesen Anschein zu geben – den Anschein von
Normalität in der Zivilgesellschaft, in den Familien, vor ihren Frauen und
Kindern. Die Alpträume, die unkontrollierten Affekt- und Gewaltdurchbrü-
che, die Unstimmigkeiten in ihren biographischen Erzählungen, irritierende
körpersprachliche Botschaften verrieten eine andere, dunkle, verborgene
Seite, deren Entdeckung gefürchtet, deren Ansprechen tabuisiert war und
die sich in zahlreichen ungewollten wie unbewussten Übermittlungen
verriet. Aktuelle Forschungen zu transgenerationalen Übertragungsvor-
gängen belegen dies vielfach.26 Dabei agierten die Ehefrauen häufig als
Komplizinnen ihrer Männer, halfen ihnen, die Beteiligung an Verbrechen
zu verleugnen und zu verbergen. Letztlich wollten die Täter und Täterinnen
auch sich selbst das Bild des normalen Menschen suggerieren, sich von ihrer
»Anständigkeit« überzeugen. Zahlreiche Täter schrieben ihre Biographien
nicht nur um, sondern glaubten am Ende selbst an ihre Legenden. Nach
Mentzos handelt es sich bei dem Versuch einer Person, sich selbst von der
Richtigkeit ihrer Legende zu überzeugen, um ein wesentliches Kennzeichen
25 G. Bönisch, R. Leick,, K. Wiegrefe, Morden für das Vaterland. Der Spiegel. 11, 2008,
S. 57.
26 Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter
der Vernunft. Frankfurt a. M. 1969 sowie B. Schwaiger, Das Begehren des Gesetzes. Zur
Psychoanalyse jugendlicher Straftäter. Bielefeld 2009.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
eines hysterischen Modus der Konfliktlösung.27 Und doch spürten und
wussten viele, dass sie eine erschreckende, beschämende und das eigene
Selbstvertrauen untergrabende Erfahrung mit den destruktiven Seiten in
sich, mit ihrem Sadismus, ihrer Fähigkeit zur Unmenschlichkeit, ihrer
Mitleidlosigkeit, mit eigenen menschlichen Abgründen gemacht hatten. Im
hohen Alter trat bei vielen Tätern eine Art Beicht- und Geständniszwang
auf, von welchem SeelsorgerInnen und PfarrerInnen einiges zu berichten
wissen. Oder aber die TäterInnen flüchteten sich in demenzielles Ver-
gessen, während bei anderen ehemals Beteiligten die Aufrechterhaltung
einer angespannten Selbstkontrolle spürbar wurde, die aus einer Angst,
sich zu »verplappern«, gespeist schien, wie die Tochter eines ehemaligen
Nationalsozialisten im Interview meinte.28
Den älteren Mitgliedern des Polizei-Reservebataillons 101, deren Unter-
suchungsakten Christopher Browning analysierte, wurde vom zuständigen
Major Trapp gestattet, sich nicht an den Erschießungen zu beteiligen. Trapp
selbst hält sich fern von denselben und weint nach Aussagen einiger Ange-
höriger des Bataillons sogar bei dem ersten großen Massaker an den Juden
von Józefów, das unter seinem Kommando stattfindet. Aber obwohl er den
Befehl »nicht mag«, kann er nicht dagegen halten, Befehl ist Befehl.
Üblicherweise werden diejenigen, die bei Erschießungskommandos
nicht mitmachen wollen, als Drückeberger, Feiglinge, Weichlinge bezeich-
net, mit Verachtung gestraft und geschmäht.
Das im Nationalsozialismus stereotyp reproduzierte Menschenbild
verdichtet in Hitlers Ideal »zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl, schnell wie
Windhunde« – verdeutlicht die Verachtung menschlicher Empfindsamkeit
und Gefühle. Deren Wahrnehmung ist es, die – insbesondere im Schmerz
auf die Begrenztheit der physischen und psychischen Leidensfähigkeit und
damit auch auf unsere Endlichkeit verweist und die damit zugleich auch die
Grundlage für die Fähigkeit zur Ausbildung von Mit-Gefühl darstellt. Eben
diese Grundlage wurde in der Postulierung eines schmerzunempfindlichen,
verhärteten, quasi maschinell funktionierenden Menschen zerstört. Dieser
Prozess der allmählichen Dehumanisierung setzt Norbert Elias zufolge
bereits in der Wilhelminischen Zeit ein und erklärt sich aus dem gewalti-
27 Vgl. zusammenfassende Übersicht zu den div. Ansätzen in A. Moré, »Bis ins dritte und
vierte Glied«. Erklärungen und Mechanismen der transgenerationalen Übertragung.
Gruppenanalyse 17: 2007, S. 29-50.
28 S. Mentzos, Hysterie. Zur Psychodynamik unbewusster Inszenierungen. Frankfurt a. M.
1986.
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gen gesellschaftlichen Umbruch und der verspäteten Nationsbildung am
Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert.29
Für Eichmann stellen »menschliche Regungen«, welchen er unterlegen
sei, Schwächen dar, die es zu bekämpfen gilt, weil sie die rücksichtslose
Durchsetzung von Zielen behindern. Für sein »Scheitern« an seiner Auf-
gabe, die »Endlösung« der Judenfrage zu realisieren, macht er unter an-
derem das Auftreten »menschlicher Regung« verantwortlich. Sich selbst
anklagend beteuert er:
»Auch ich bin nicht frei gewesen davon, auch ich unterlag derselben
Schwäche, das weiß ich, auch ich bin schuld mit daran, dass die vielleicht
von irgendeiner Stelle vorgesehene oder mir vorgeschwebte Konzeption
der wirklichen, umfassenden Eliminierung nicht durchgeführt hat werden
können. … Als Entschuldigung mag dienen … einmal dass es mir an um-
fassendem Geist fehlte, als zweites mag dienen, dass es mir an der nötigen
physischen Härte fehlte, und als drittes mag gelten, dass sich selbst gegen
mein Wollen eine Legion von Leuten einfand, die selbst gegen dieses Wollen
wiederum anstanken …«30
Der Geist Eichmanns war also nicht wendig genug – wie Windhunde,
die Physis hatte nicht die Härte von Kruppstahl, das Wollen war nicht zäh
genug …, das nationalsozialistische Menschenbild, dem Eichmanns Ichideal
entspricht, war von ihm nicht erreicht worden. Dass er an dieser Stelle streng
mit sich ins Gericht geht, entspricht der erkennbaren Kluft zwischen sei-
nem von ihm wahrgenommenen Real-Ich und dem unerreichten Ichideal.
Bei starken narzisstischen Persönlichkeitsstörungen führt diese Kluft zu
Verbitterung und Sarkasmus gegen sich und andere.31
Diese Verachtung des Menschlichen der Regungen, Gefühle, Schwächen,
Zweifel und vor allem des Mitgefühls – prägen die nationalsozialistischen
Täter, die gelernt haben, gerade dies als Stärke zu bewundern. Die These von
der Normalität der Täter trägt dem nicht Rechnung, sondern leitet allein aus
der alltäglichen Funktionsfähigkeit deren psychische Gesundheit ab. Wenn
die Unauffälligkeit im Alltag sowie die Fähigkeit, Familien zu gründen,
Kinder groß zu ziehen und einer Arbeit nachzugehen, ein ausreichendes
29 A. Bauer, Späte Schatten: Geschichten aus Nazideutschland und ihre langen Spuren. In:
Bauer, A., Gröning, K. (Hg): Die späte Familie. Intergenerationenbeziehungen im hohen
Lebensalter. Gießen 2007, S. 94.
30 N. Elias, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und
20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 1989. Für den Hinweis auf diese Begründung bei Norbert
Elias danke ich Hans-Peter Waldhoff.
31 Aus dem Tonband-Transkript, zit. n. Wojak, a.a.O., S. 64.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
Kriterium wäre, um den Tatbestand der psychischen Normalität zu erfüllen,
dann träfe die Behauptung zu.32 Aber zu hinterfragen wäre auch, ob eine Ge-
sellschaft, in welcher sich spezifische Psychodynamiken entwickelt haben,
die auf massiver Abwehr, Verleugnung, Gegenbesetzung beruhen, die – wie
im Fall zahlreicher NS-Täter – mit Bedürfnissen nach Unterordnung und
Gehorsam (bis zur masochistischen Unterwerfung), mit Idealisierungs-
drang, Zwanghaftigkeit und Pedanterie, Verachtung und Gefühlskälte (bis
zum Sadismus), mit Fanatismus und Selbstbezogenheit einher gehen, diese
angesichts ihrer Ubiquität und politisch-gesellschaftlichen »Nützlichkeit«
als Störungen des psychischen Gleichgewichts erkannt werden können.
Die Behauptung einer »Normalität« solcher Verhaltensweisen ignoriert die
Problematik dieses Begriffs, der Einerseits stets ein soziokulturell geprägter
und damit konstruktivistisch zu hinterfragender ist und für den doch im
Kantischen Sinne des ethischen Imperativs einmal erreichte Maßstäbe
nicht mehr beliebig hintergehbar sind.33 Mit der zweifellos ebenfalls nor-
mativ entwickelten Vorstellung von psychischer »Normalität« im Sinne
moralischer Integrität, Reife, emotional-kognitiver Ausgeglichenheit und
fürsorglich-mitmenschlicher Verantwortungsfähigkeit hat dies wenig zu
tun. Bedingt durch eine seit Generationen tradierte Erziehung, die die
schwarze Pädagogik des Dritten Reiches vorwegnimmt und vorbereitet,
fehlt bei einem Großteil der Täter und Mitläufer des Nationalsozialismus
die Fähigkeit zu Mitgefühl, Empathie, Rücksichtnahme und Selbstreflexion.
In autoritären Gesellschaften werden vielmehr eben diese Fähigkeiten mehr
oder weniger stark diskriminiert und pathologisiert. In der nationalsozi-
alistischen Ideologie und ihrem Menschenbild wurden sie mit »jüdisch«
32 Vgl. zur Bedeutung narzisstischer Störungen bei Eichmann und anderen NS-Tätern den
Beitrag von Nele Reuleaux in diesem Band.
33 Selbst Tätern mit schweren pathologischen Störungen kann es über lange Zeit gelingen,
nach außen hin die Fassade der Normalität zu bewahren. Diese erfolgreich vorzutäuschen
stellt für die Täter häufig eine große Befriedigung dar, für die ein hoher Aufwand in Kauf
genommen wird. Aus psychopathologischer Sicht ist dieses Bedürfnis zu täuschen, Teil
der meist schweren psychopathologischen Verhaltensmuster (s. z.B. der Fall Fritzl). Da im
NS keine Gefahr der Bestrafung und Ausgrenzung drohte, fiel dieser psychische Aufwand
bei zahlreichen Tätern zumindest innerhalb der Konzentrationslager etc. häufig weg,
sie gaben unverhohlen ihren Mordwünschen nach (z.B. Amon Göth). Nach Kriegsende
bemühten sich hingegen all jene Täter des NS, die mit Strafverfolgung rechnen mussten,
als »normale« Bürger zu erscheinen. Wählten sie für ihr Exil dagegen Franco-Spanien
oder Argentinien, bekannten sie sich offen zu ihren Verbrechen, die sie allerdings als
»legitime Kriegshandlungen« und Heldentaten darstellten – wie auch Eichmann im
Sassen-Interview.
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gleichgesetzt und verachtet, waren Ausdruck rassisch/erblich bedingter
Minderwertigkeit und somit »auszurottende« Schwächen.
Sofern, wie nicht erst in konstruktivistischen Theorien begründet wird,
»Normalität« das Produkt eines gesellschaftlichen Konsenses ist34, fällt das
Normalitätskonstrukt menschlichen Seins, wie es die Nationalsozialisten
entwickelten, aus dem historisch gewachsenen Konsens der abendländischen
Tradition heraus bzw. steht diesem diametral entgegen. Nicht zuletzt darum
war »Normalität« in der nationalsozialistischen Ideologie unerwünscht
und teilweise verpönt. Vielmehr beanspruchten sie für sich den Nimbus
des Außergewöhnlichen und Auserwählten, des Übernatürlichen und der
Sonderrechte, wie sie nur »Herrenmenschen« zustehen. Die Besonderheit,
die Abweichung vom Normalen, das Außergewöhnliche diente ja nicht zu-
letzt der Rechtfertigung der Tabu- und Gesetzesbrüche, der Rechtfertigung
der Normverletzungen und Missachtung von Normalitätsstandards.
Bedingt durch massive Beeinträchtigungen in der subjektiven frühen
Entwicklung, hervorgerufen durch mangelnde Fürsorge, instabile Bindun-
gen, körperliche Züchtigungen und kriegs- und armutsbedingte Traumati-
sierungen über mehrere Generationen hinweg lässt sich in der deutschen
Durchschnittbevölkerung (einschließlich der höheren sozialen Schich-
ten) eine psychische Labilität und Strukturschwäche feststellen. Instabile
Überich-Strukturen wurden ersetzt durch Rigidität, Zwanghaftigkeit und
Perfektionismus, mangelnde Mentalisierungsfähigkeit wurde kompensiert
durch Gefühlspathos und romantisierende Emotionsklischees, fehlende
Selbstsicherheit, resultierend aus tiefer narzisstischer Verletzung und Ir-
ritation, weckte ein immenses Bedürfnis nach »guten Führerfiguren«, die
idealisiert und durch projektive Identifikation angeeignet werden konnte,
um innere Leerstellen zu füllen. Aggressionsbewältigung erfolgte durch
Spaltung, projektive Abwehr und Verschiebung auf Sündenböcke. Inzwi-
schen existieren zahlreiche detaillierte Studien über einzelne Anhänger
des NS-Regimes, deren Material sich auf Selbstdarstellungen in Briefen,
Dokumenten, Prozessen etc. stützt und auf die eigenen biographischen
Erfahrungen mit diesen Vätern und Müttern. Sie belegen die obigen An-
nahmen über das Selbstbild, Sozialverhalten, die emotionalen Expressionen,
34 Zur Komplexität des Normalitätsbegriffs vgl. J. Link, Versuch über den Normalismus. Wie
Normalität produziert wird. Opladen 1997 sowie T. Rolf, Normalität: ein philosophischer
Begriff. München 1999.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
Konfliktabwehr und Schuldverleugnung bzw. –verschiebung bei den tern
und Täterinnen.35
Diese psychische Labilität wurde vom nationalsozialistischen System
in geschickter Weise instrumentalisiert und für die Zwecke des Regimes
genutzt. Dass dies den führenden Propagandisten und Ideologen so gut
gelang, lag nicht an einem etwaigen tiefenpsychologischen Wissen, sondern
an der strukturellen Verwandtschaft hinsichtlich dieser psychischen Merk-
male. Nicht nur die Masse der TäterInnen und MitläuferInnen wies diese
Strukturmängel, narzisstische Irritiertheit, Zwanghaftigkeit und paranoide
Abwehrtendenzen auf, auch die hochrangigen Vertreter des Regimes zeigten
dieselben Schwächen.
Die Geschichte und Geschichten, die dahin führten, dass als normal
erscheinende Deutsche – und nicht wenige Akademiker unter ihnen – sich
in die Position selbstgerechter Herren über Leben und Tod versetzten, sich
als kalte Bürokraten oder aber hitzige Mörder und Sadisten gerierten, sich
am Leiden anderer erfreuten, auf Fotos in Gegenwart gedemütigter und
misshandelter Menschen amüsierten und ihre Opfer auslachten, angesichts
sich türmender Leichenberge gleichgültig daneben standen und plauderten,
behalten trotz aller bestehenden individual- wie sozialpsychologischen
Erklärungsansätze letztendlich eine Dimension des Rätselhaften, Unglaub-
lichen und Unfassbaren.
Diese Phänomene der erbarmungslosen Gleichgültigkeit oder Nieder-
tracht, verbunden mit eigenen Machtgelüsten und Ruhmsucht, die unbe-
herrschten Mordimpulse von Schergen wie Amon Göth, den fanatischen
Hass und Antisemitismus der vielen Eichmänner, die räuberische Habgier
von zahllosen Görings und vieles andere dieser Art mit dem Attribut »nor-
mal« zu versehen, ist nicht nur unzulänglich, sondern folgt der von den
Tätern angelegten Intention der Verharmlosung, Nivellierung, Verleugnung
und ist nur aus einer transgenerationell vermittelten Abwehrhaltung er-
klärbar. In einer differenzierten tiefenhermeneutischen Textanalyse pro-
blematisiert Harald Weilnböck die Argumentationsmuster der modernen
poststrukturalistischen Täterforschung, die neben der Lust am Polarisieren
und Provozieren vor allem auch Muster der Verschiebung von Schuld und
Verantwortung aufweist, die mit einer Ablehnung und Diffamierung von
Trauma-Therapie einher geht, d.h., die symbolische Repräsentation wie
35 Vgl. insbes. die Arbeiten von G. Canguilhem, Das Normale und das Pathologische.
Frankfurt a. M./Berlin/Wien 1977 und G. Devereux, Normal und anormal. Aufsätze zur
allgemeinen Ethnopsychiatrie. Frankfurt a. M. 1982.
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auch mentale Integration des Traumas diskreditiert.36 Nach Weilnböck
handelt es sich dabei »um antianalytische Impulse der Abwehr gegen psy-
chosoziales Durcharbeiten von persönlichen Verantwortlichkeiten und
Erfahrungen von Gewalt, Trauma und Konflikt; und es handelt sich um
Impulse der Täterdeckung«.37
Im Gegensatz zu diesen Tendenzen im poststrukturalistischen Den-
ken, welches nach Weilnböck »institutionellen und/oder interaktionellen
Dynamiken von Kontrolle, Macht und Exklusion verpflichtet ist«38, liegen
die Motive von Ute Althaus wie von Ute Scheub jeweils in der Suche nach
Wahrheit und Verstehbarkeit angesichts einer transgenerationell erworbe-
nen mentalen und kognitiven Irritation, die sich aus den widersprüchlichen
Botschaften ergibt und traumaverwandte Phänomene wie mentale Taubheit,
Scham- und Schuldgefühle und Lähmung des Denkens und der Hand-
lungsfähigkeit bewirkt. In einem Versuch, die Geschichte ihres Vaters als
einem glühenden Nationalsozialisten zu verstehen, der in seinem eifrigen
Fanatismus noch am letzten Kriegstag zum eigenhändigen Mörder wird,
geht Althaus39 den verschiedenen Quellen und Ursachen der Entwicklung
ihres Vaters nach. Nach dem Krieg streiten jedoch beide Eltern ihre Ver-
bindung zum und Begeisterung für den Nationalsozialismus vehement
ab. Wesentliche Gründe für die Gefühls- und Mitleidlosigkeit des Vaters,
seinen Fanatismus und Hang zur Selbstgerechtigkeit erkennt sie in einer von
Kälte, Leistungsdenken, Drill und Verachtung geprägten Erziehung. Dies
allein genügt nach Auffassung der Autorin jedoch nicht, die Entwicklung
des Vaters zum fanatischen und mörderisch-rücksichtslosen Nationalso-
zialisten zu erklären. Es kommen Ehrgeiz, Machtlust, idealisierender und
selbstverklärender Romantizismus und die Neigung zu selbstgerechter
Überhöhung der eigenen Person hinzu, die gepaart ist mit der Neigung,
Verantwortung für Negatives stets bei anderen zu suchen.
Kinder der Täter wuchsen, wie sie schreibt, in einer Welt von Lügen,
Tabus und Verschweigen auf. Die therapeutische Arbeit mit Kindern von
Tätern zeigt, dass sich die Abgrenzung von den Eltern mit der Wahrneh-
mung von als ichfremd empfundenen Täterintrojekten paart. Während die
Täter sich als uneinsichtig und moralisch schuldunfähig erwiesen, waren
36 H. Weilnböck, »Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben«. Trauma-
Ontologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen
Diskursen. Mittelweg 36, 16: 2007, S. 45.
37 Ebd., S. 43; Hervorh. A.M.
38 Ebd., S. 54f.
39 U. Althaus, a.a.O.
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Die psychologische Bedeutung der Schuldabwehr von NS-Tätern
die Kinder und sind die Enkel von diffusen Schuldgefühlen ohne reale
Schuld belastet40, bemühen sie sich um Wiedergutmachungen, schämen
sich der Eltern oder gar der eigenen Existenz, weil sie von solchen Eltern
abstammen, Mördern ihr Leben verdanken. Diese inneren Konflikte tau-
chen in zahlreichen psychoanalytischen Behandlungen auf oder zeigen sich
in sozial- oder tiefenpsychologischen Interviews41.
Oder aber die Scham wird vermieden, die Spur weiter verwischt, die Ver-
leugnung des Unerträglichen fortgesetzt – zumindest in bewusstseins nahen
Selbstrepräsentationen. In diesem Fall geben Interviews nicht schlichte
Narrative wieder, die scheinbar ungebrochen von einer Generation zur
nächsten weiter gegeben werden. Nur mit größter Naivität lässt sich dies
glauben. Sie zeigen vielmehr Reaktionsbildungen und Trauervermeidung
auf angesichts der Enttäuschung an den (groß)elterlichen Idealen und
Liebesobjekten, Schamabwehr, Erinnerungsvermeidung und Tabus. Die
Abwehrhaltung geht paradoxerweise mit einem hohen Maß an innerer
Verstricktheit einher sowie Versuchen der Abwehr durch Spaltung, Ver-
leugnung, Verkehrung ins Gegenteil etc. Auch, wenn diese Konflikte in
vielen Anteilen unbewusst bleiben, führen sie zu teilweise massiven Be-
schädigungen des Selbstwertgefühls, des Vertrauens und der psychischen
Integrität der Kinder und Enkel von TäterInnen. Zahlreiche Phänomene,
die wir oberflächlich primär soziokulturellen Veränderungen zuschreiben
wie z.B. der deutliche Rückgang der Geburtenraten, die Zunahme an Ex-
tremsportarten und Risikoverhalten, sind möglicherweise auch die Folge
solcher unverarbeiteter unbewusster Konflikte bei den Nachkommen von
NS-Tätern und –Täterinnen.
40 Aus klinischer Sicht macht Matthias Hirsch das Auseinanderklaffen von Verstrickung
in reale Schuld und die Fähigkeit zum Erleben von Schuldgefühlen anhand zahlreicher
Fallgeschichten nachvollziehbar. In diesen wird der Zusammenhang zwischen Ver-
leugnung eigener Schuld und der Delegation der Schuldverarbeitung an die nächste(n)
Generation(en) ersichtlich. Vgl. M. Hirsch, Schuld und Schuldgefühl. Zur Psychoanalyse
von Trauma und Introjekt. Göttingen 1997.
41 Vgl. z.B. G. Koch-Wagner, Gefühlserbschaften aus Kriegs- und Nazizeit. Aachen 2001.
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... z. B. Bar-On, 1996;Jokl, 1997;Rosenthal, 1997;Bergmann et al., 1995;Moré, 2011b). ...
... z. B. Jokl, 1997;Bergmann et al., 1995;Moré, 2011b). Bei rechtsextremen Jugendlichen spielt, soweit sich ihre Orientierung aus Identifikationen mit den (Groß-)Eltern herleitet, neben vielen anderen Aspekten die Schamab wehr eine besondere Rolle. ...
Frankfurter Allgemeine Zeitung v
  • Zit
Zit. n. Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 10. 3. 2007, S. 33.