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Potentiale und Herausforderungen in der
Zusammenarbeit zwischen RE und UX
Beobachtungen aus einer empirischen Studie
Gerald Heller1, Hartmut Schmitt2, Carsten Schlipf3, Oliver Karras4, Anne Hess5
1 Berater und Trainer, 2 HK Business Solutions GmbH, 3 Micro Focus Deutschland, 4 Leibniz Universität Hannover,
5 Fraunhofer IESE, Kaiserslautern
Kontext
Als User Experience (kurz: UX) werden die Wahrneh-
mungen und Reaktionen eines Benutzers bezeichnet, die sich
aus der (erwarteten) Benutzung eines interaktiven Systems
ergeben. Diese Wahrnehmungen und Reaktionen – die u. a.
die Emotionen, Vorlieben und Verhaltensweisen der Benut-
zer vor, während und nach der Benutzung des interaktiven
Systems umfassen [1] – korrespondieren sehr stark mit den
Anforderungen der Benutzer, den sog. User Requirements.
Der im Jahr 2017 gegründete GI Arbeitskreis „Require-
ments Engineering und User Experience“ (AK REUX) rich-
tet sich an Vertreter aus Industrie und Wissenschaft, die an
einer stärkeren Integration von RE und UX interessiert sind
[3]. Bislang werden diese Disziplinen in der Industrie meist
von unterschiedlichen Stakeholdern bzw. Rollen praktiziert.
Da Techniken und Praktiken beider Disziplinen jedoch eng
miteinander verzahnt sind, untersucht der Arbeitskreis, wie
ein besseres gemeinsames Verständnis von RE und UX ent-
wickelt werden kann und wie Synergien genutzt werden
können. Der Arbeitskreis möchte durch gezielte Aktivitäten
und Diskussionen Impulse für die weitere Forschung liefern
und Praktikern konkrete Tipps an die Hand geben, um aktu-
ellen Herausforderungen aus der Praxis zu begegnen.
Im Kontext dieser Zielsetzungen hat der AK REUX von
Dezember 2018 bis April 2019 eine Onlinestudie unter UX-
Professionals durchgeführt, welche sich mit dem Thema
„User Experience: Zusammenarbeit im Unternehmen“
befasste. Dabei wurde insbesondere untersucht, wie
Praktiker aus dem UX-Bereich mit ihrem beruflichen
Umfeld und ihren Kollegen interagieren und welche
Schnittstellen, Konflikte und Synergien es hierbei gibt.
Aufbau der Studie
Die Online-Umfrage bestand aus sieben inhaltlichen The-
menblöcken mit insgesamt 50 Fragen: Neben allgemeinen
Angaben zum Unternehmen der Teilnehmer wurden Infor-
mationen zu den typischen Projekten des Unternehmens im
Bereich Software- und Systementwicklung, zur Art des Ent-
wicklungsprozesses und zur Größe und geografischen Ver-
teilung von Projektteams abgefragt. Schwerpunkt eines wei-
teren Fragenblocks waren die konkreten UX-Aktivitäten und
-Prozesse, also z. B. welche Techniken und Möglichkeiten
die Teilnehmer zur Erhebung von Anforderungen nutzen
und zu welchem Zeitpunkt sie üblicherweise als UX-Spezi-
alisten zum Projekt hinzugezogen werden. Die beiden an-
schließenden Blöcke beschäftigten sich mit den verschiede-
nen Anforderungsquellen (z. B. Business Analyst, Product
Owner, Nutzer, Marketing, Support) bzw. mit der Abstim-
mung des UX-Designs mit den Stakeholdern. Im abschlie-
ßenden Teil der Untersuchung drückten die Teilnehmer ih-
ren Grad der Zustimmung zu insgesamt 12 vorformulierten
Hypothesen aus, z. B. „ich bin aktiv an der Erhebung und
Definition von Anforderungen beteiligt“, „ich habe ausrei-
chenden direkten Kundenkontakt“ (bzw. Zugang zu den
Endbenutzern), „meine Vorschläge/Entscheidungen im Hin-
blick auf UX Design werden meist akzeptiert“ und „zu Be-
ginn eines neuen Projekts habe ich ausreichend Zeit für User
Research“.
Teilnehmer der Studie
Die öffentliche Studie (http://bit.ly/ux_zusammenarbeit)
wurde im deutschsprachigen Raum über verschiedene Ka-
näle beworben. Bis Anfang April 2019 nahmen insgesamt
120 Teilnehmer teil, von denen 56 % in Unternehmen mit
500 oder mehr Mitarbeitern tätig sind.
Etwa die Hälfte der Teilnehmer ordnete sich der IT-Bran-
che zu, die andere Hälfte wird durch verschiedene Branchen
repräsentiert, bei denen die Automobilindustrie mit 11 %
den vorderen Platz einnimmt. Im Hinblick auf Entwick-
lungsprozesse wenden 39 % der 120 Teilnehmer rein agile
Prozesse an und 40 % agil-hybride Prozesse. 11 % der Teil-
nehmer nutzen eine sequentielle, 6 % eine iterative Vorge-
hensweise.
Unsere Beobachtungen
Aus der Analyse der Daten konnten einige interessante
Beobachtungen gewonnen werden, die für die zukünftige
Arbeit des AK REUX spannende Fragestellungen aufwer-
fen. So brachte beispielsweise die Datenanalyse zu den An-
forderungsquellen hervor, dass UX-Professionals Anforde-
rungen am häufigsten von Personen mit der Rolle „Product
Owner“ erhalten (66 %). Die „Nutzer“ des Produktes folgen
an zweiter Stelle mit 56 %, gefolgt von den „Kunden“ mit
54 %. 51 % der Teilnehmer erhalten häufig Anforderungen
von „Produktmanagern“. Am anderen Ende der Skala fällt
auf, dass Anforderungen nie (45 %) oder eher selten (12 %)
vom Requirements Engineer geliefert werden (siehe Abb. 1).
Weiterhin konnten wir aus der Analyse der Korrelation
von Rolle und Unternehmensgröße feststellen: Je größer ein
Unternehmen ist, desto häufiger kommen Anforderungen
vom Business-Analysten, je kleiner ein Unternehmen ist,
desto häufiger kommen Anforderungen vom Projektleiter.
Auch die Analyse der Hypothesen brachte interessante
Beobachtungen hervor:
● 67 % stimmen zu / voll zu, dass sie aktiv an der Erhe-
bung und Definition von Anforderungen beteiligt sind.
● 46 % stimmen überhaupt nicht / teilweise nicht zu, dass
von anderen Projektbeteiligten ausreichend Anforde-
rungen geliefert werden.
● Bei der Frage, ob genug Ergebnisse aus User Research
vorliegen, um damit eigene Entscheidungen fundiert zu
begründen, ergibt sich ein gemischtes Bild (von 19 %
„stimme überhaupt nicht zu“ bis 11 % „stimme voll
zu“).
● Lediglich 34 % stimmen zu / voll zu, dass sie ausrei-
chenden direkten Kundenkontakt für ihre Arbeit haben.
● Lediglich 32 % stimmen zu / voll zu, dass sie ausrei-
chenden Zugang zu den Endbenutzern haben.
Fazit
Aus Sicht des Arbeitskreises lässt die Analyse der Um-
fragedaten darauf schließen, dass sich durch eine intensivere
Zusammenarbeit der Disziplinen RE und UX ein erhebliches
Optimierungspotential ergeben könnte. So zeigte die Studie
etwa ein wesentliches Defizit darin auf, dass andere Projekt-
beteiligte aus Sicht der UX-Professionals nicht in ausrei-
chendem Umfang Anforderungen liefern. Noch nicht einmal
die Hälfte der Befragten gab an, dass sie Anforderungen von
Personen mit der Rolle „Requirements Engineer“ erhält, also
von demjenigen, der per definitionem für das Erheben, Ab-
stimmen und Dokumentieren von Anforderungen verant-
wortlich ist. Für diese Beobachtung bieten sich mehrere In-
terpretationen an, die jedoch mit der vorliegenden Studie
nicht validiert werden konnten. Eine mögliche Erklärung ist,
dass die Rolle des Requirements Engineers in den Unterneh-
men der meisten Befragten nicht existiert. Oder der Requi-
rements Engineer arbeitet eng mit dem Product Owner zu-
sammen, über den der UX-Professional schließlich die An-
forderungen erhält.
Zudem zeigte sich, dass die UX-Professionals den Zu-
gang zu Kunden und Endnutzern noch nicht als ausreichend
einschätzen. Die zur Verfügung stehende Zeit, insbesondere
für Aufgaben im Bereich User Research, wird ebenfalls
nicht als ausreichend empfunden.
In einem nächsten Schritt sollen die Ergebnisse der quan-
titativen Studie nun durch qualitative Untersuchungen er-
gänzt werden. Zu diesem Zweck planen wir die Durchfüh-
rung von Fallstudien, die illustrieren, wie die Zusammenar-
beit von UX-Professionals mit Kollegen im konkreten In-
dustriekontext funktioniert – oder auch nicht. Die in diesem
Beitrag vorgestellten Ergebnisse der Studie sowie aktuelle
Informationen zur Fallstudie (Zielsetzungen bzw. Aufruf zur
Teilnahme) können der Webseite des AK entnommen wer-
den [3].
Referenzen
[1] UXQB e.V.: CPUX‐F Curriculum und Glossar.
https://uxqb.org/wp-content/uploads/documents/CPUX-
F_DE_Curriculum-und-Glossar.pdf
[2] Heller, G., Schlipf, C., Karras, O., Schmitt, H. & Heß, A.,
(2019). Wie interagieren UX-Professionals mit ihrem Umfeld
und ihren Kollegen? In: Mensch und Computer 2019 – Usabi-
lity Professionals. DOI: 10.18420/muc2019-up-0280
[3] Webseite des GI Arbeitskreises „Requirements Engineering
und User Experience“ https://ak-reux.gi.
Abbildung 1: Requirements Engineer als Anforderungsquelle