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Die Lehrer, der Krankenschwester und ein neues Pronomen. Sprachliche Gleichstellung im Schwedischen

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Abstract

Die nordischen Länder gelten als gesellschaftlich progressiv, nicht zuletzt auch bei der Gleichstellung der Geschlechter. Dies schlägt sich auch im schwedischen Sprachgebrauch nieder. Der Beitrag skizziert das, was heute als allgemein akzeptierte Sprachpraxis beschrieben werden kann. Entscheidend für deren Akzeptanz sind dabei vor allem grammatische Eigenschaften des Schwedischen, dessen Genus- und Pronomensystem sich hier entscheidend von dem des Deutschen unterscheidet. Thematisiert werden nach einer kurzen grammatischen Diskussion die heutige Verwendung von Berufsbezeichnungen und der Gebrauch des sexusneutralen Pronomens hen, das sich in den letzten Jahren in bestimmten Bereichen etabliert hat.
Forumsbeitrag für Muttersprache
Die Lehrer, der Krankenschwester und ein neues Pronomen.
Sprachliche Gleichstellung im Schwedischen
Steffen Höder (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel)
Skandinavien gilt landläufig als gerade in sozialen Fragen besonders fortschrittlich und wird
auch hierzulande häufig als gesellschaftspolitisches Vorbild bemüht. Tatsächlich präsentieren
sich die nordischen Länder gerade im Hinblick auf die Gleichstellung der Geschlechter (schwe-
disch jämställdhet) als betont progressiv. Als Beispiel mag eine Momentaufnahme aus Schweden
dienen: Hier definiert sich die aktuelle rot-grüne Regierung unter Ministerpräsident Stefan Löf-
ven als ‚feministische Regierung‘, in der Gleichstellung in allen gesellschaftlichen Bereichen
eine hohe Priorität genießt (Stand August 2019).1
So eine Positionierung repräsentiert natürlich auch das politische Programm einer Regierung
und wird auch in Schweden nicht von allen begrüßt. Sie reflektiert aber zugleich den traditionell
progressiven und stark egalitaristischen gesellschaftlichen Grundkonsens, der im schwedisch-
sprachigen Raum wie auch im übrigen Skandinavien weiterhin kulturell prägend ist, trotz jünge-
rer Entwicklungen, durch die auch hier rechtspopulistische Tendenzen an politischem und gesell-
schaftlichem Einfluss gewonnen haben. Dieser Grundkonsens geht historisch vor allem auf die
Rolle der Arbeiterbewegung und insbesondere dann sozialdemokratisch geführter Regierungen
ab den 1930er Jahren zurück, durch die im Laufe der Jahrzehnte der als nordisches Modell be-
kannte skandinavische Wohlfahrtsstaat entstanden ist, wenn auch mit unterschiedlichen Ausprä-
gungen in den jeweiligen Ländern. Früh standen dabei auch Aspekte der Gleichberechtigung und
Gleichstellung der Geschlechter auf der Agenda. Ein Meilenstein war bereits die Einführung des
gleichen Wahlrechts für Frauen und Männer (1906 in Finnland, 1919 in Schweden). Eine starke
frühe Frauenbewegung ebenso wie der spätere Feminismus haben jedoch im 20. und 21. Jahr-
hundert dazu geführt, dass die faktische Gleichstellung von Männern und Frauen in allen gesell-
schaftlichen Bereichen bereits früh deutlich weiter vorangeschritten war als in anderen
(west-)europäischen Ländern, wenngleich sie auch hier noch bei weitem nicht in allen Bereichen
vollständig erreicht ist.
1 www.regeringen.se/regeringens-politik/feministisk-regering (2. 8. 2019).
1
Der schwedische Sprachgebrauch reflektiert Fortschritt und Stellenwert der gesellschaftlichen
Gleichstellung in vielerlei Hinsicht. Die folgende Darstellung konzentriert sich dabei auf das,
was heute als in der Öffentlichkeit allgemein akzeptierte Sprachpraxis beschrieben werden kann.
Daneben gibt es auch im schwedischsprachigen Diskurs Kontroversen und Forderungen zu
sprachlicher Gleichstellung und diskriminierungsfreier Sprache, die über das bisher Übliche teils
weit hinausgehen; diese Aspekte stehen hier aber nicht im Vordergrund.
Problemdiskussion und Lösungsansätze zu geschlechtergerechter Sprache im Deutschen kreisen
ganz wesentlich um die Frage, ob und wie Inhaltswörter und grammatische Elemente ge-
schlechtsspezifisch gebraucht bzw. verstanden werden: Ist man als Feuerwehrmann zwingend
ein Mann? Sind von vielen Studenten manche auch weiblich? Fühlt sich der/die Angesprochene
von dem/der Sprecher*in in jedem Fall einbezogen oder eventuell auch ausgegrenzt? Diese Fra-
gen werden subjektiv verschieden beantwortet, und unter anderem ästhetische, ideologische, po-
litische und psychologische Aspekte spielen dabei eine Rolle. Letztlich sind es aber immer auch
sprachstrukturelle Fragen: Verweisen das Indefinitpronomen man oder das Suffix -mann in Be-
rufsbezeichnungen immer auf Männer? Gibt es ein generisches Maskulinum im Plural oder auch
im Singular? Sprengen Strategien des Genderns den Rahmen des orthographisch und gramma-
tisch Möglichen?
Viele dieser Fragen stellen sich für das Schwedische ganz anders dar als für das Deutsche,
und in vielen Fällen sind die sprachstrukturellen Ausgangsbedingungen für die Problemlösung
günstiger. Das liegt vor allem an einem grundsätzlich anderen Verhältnis zwischen den Kategori-
en Sexus und Genus. Beim Sexus handelt es sich um eine semantisch-konzeptuelle Kategorie, die
unabhängig von der Grammatik der jeweils behandelten Sprache in der entsprechenden Spre-
chergemeinschaft etabliert ist.2 Traditionell geht der schwedischsprachige Raum ebenso wie der
deutschsprachige von zwei Sexus aus (männlich vs. weiblich). Im Gegensatz dazu ist das Genus
eine rein sprachstrukturelle Kategorie, die in der Flexion und der Syntax nominaler Wortklassen
eine Rolle spielt, also z. B. bei Substantiven, Artikeln und Pronomina. Das Deutsche kennt drei
2 Ob der Sexus als gesellschaftlich etablierte Kategorie vordergründig biologisch (‚natürliches Geschlecht‘) oder
soziokulturell (‚Gender‘) verstanden wird, ist dabei zunächst einmal irrelevant, ebenso wie die Frage, ob Sexus
wie in traditionellen europäischen Gesellschaften als dichotome Kategorie verstanden wird oder ob mehr als
zwei Sexus etabliert sind.
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Genera (Maskulinum, Femininum, Neutrum), das Schwedische nur zwei (Utrum, Neutrum). Ent-
scheidend sind vor allem zwei Punkte:
1. Im Schwedischen gibt es keinen Zusammenhang zwischen Genus und Sexus. Vielmehr
sind, von wenigen Ausnahmen abgesehen, alle animaten Substantive vereinfacht ge-
sagt: alle Substantive, die auf Personen referieren – utral. Man ‚Mann‘ und kvinna ‚Frau‘
implizieren zwar verschiedene Sexus, weisen aber dasselbe Genus auf. Analog dazu ist
ein (utrales) Substantiv wie chef ‚Chef/Chefin‘ sexusneutral, d. h. kann auf alle Personen
in Chefposition referieren. Das (grammatische) Genus spielt für die Frage geschlechter-
gerechter Sprache also keinerlei Rolle; manches Problem stellt sich so gar nicht erst.
2. Die Pronominalisierung – also das Verweisen auf Substantive durch Personalpronomina –
folgt im Schwedischen zumindest im Singular einem komplexeren System als im Deut-
schen. Im Deutschen richtet sich die Wahl des Pronomens immer nach dem Genus des
Substantivs. Das gilt im Schwedischen nur bei inanimaten Substantiven (d. h. Substanti-
ven, die nicht auf Personen referieren): Auf das utrale dator ‚Computer‘ muss mit dem
utralen Pronomen den verwiesen werden, auf das neutrale hus ‚Haus‘ mit dem neutralen
Pronomen det. Bei animaten Substantiven funktioniert die Pronominalisierung ähnlich
wie im Englischen; hier richtet sich das Pronomen nach dem Sexus: Auf einen man
‚Mann‘ und einen männlichen chef ‚Chef‘ verweist das männliche Pronomen han, auf
eine kvinna ‚Frau‘ und eine weibliche chef ‚Chefin‘ das weibliche Pronomen hon.
Die heutige Sprachpraxis charakterisiert vor allem die weitestmögliche pragmatische Ausnut-
zung der grammatischen Rahmenbedingungen. Das zeigen beispielsweise die Berufsbezeichnun-
gen, die heute ganz überwiegend sexusneutral sind. Das gilt auch für Berufsbezeichnungen, die
mit ursprünglich spezifisch männlichen Suffixen gebildet sind und noch bis in die 1970er Jahre
überwiegend durch Suffixe oder Adjektive modifiziert werden mussten, um auf Frauen anwend-
bar zu sein. So waren früher ein lärare oder ein frisör Männer (‚Lehrer, Frisör‘); die weiblichen
Pendants hießen lärarinna oder frisörska. Heute werden dagegen die ursprünglich männlichen
Formen sexusneutral gebraucht, und der Sexus wird nur über die Pronominalisierung ausge-
drückt. Vordergründig ähnelt diese Verwendung einem generischen Maskulinum. Unsichtbar‘
werden dabei jedoch nicht die Frauen (dies ist etwa ein klassisches Argument feministischer
3
Sprachkritik gegen den Gebrauch maskuliner Formen im Deutschen), sondern vielmehr der Se-
xus als Kategorie. Entsprechend wird heute eher die in bestimmten Kontexten sowie auch in
historisierendem Sprachgebrauch – noch marginal vorkommende Verwendung spezifisch weibli-
cher Suffixe anstelle sexusneutraler Formen als potenziell diskriminierend wahrgenommen (etwa
bei skådespelerska ‚Schauspielerin‘ statt skådespelare ‚Schauspieler/in‘). In geringerem Ausmaß
finden sich heute auch sexusneutrale Berufsbezeichnungen, die auf ursprünglich explizit weibli-
che Formen zurückgehen, nämlich bei (ehemals) prototypischen Frauenberufen. Sjuksköterska
‚Krankenschwester‘ (wörtlich: Krankenpflegerin, mit einem explizit weiblichen Suffix) wird
heute für Männer wie Frauen gebraucht, ebenso barnmorska ‚Hebamme‘.
Eine Sondergruppe bilden Berufsbezeichnungen wie brandman ‚Feuerwehrmann/-frau‘ oder
fröken ‚Erzieher/in, Lehrer/in (umgangssprachlich)‘, die etymologisch transparent explizit
sexusspezifische Elemente enthalten, hier etwa man ‚Mann‘ und fröken ‚Fräulein‘. Auch in sol-
chen Fällen hat sich der sexusneutrale Gebrauch in der Praxis durchgesetzt, stößt aber auch auf
Kritik.
Eine besondere Entwicklung im Schwedischen betrifft das Pronomen hen, das auf animate Sub-
stantive verweist (wie han und hon), dabei aber sexusneutral ist (wie den und det). Hen füllt ge-
wissermaßen also eine Lücke im Pronominalsystem. Diese konstruierte Form geht letztlich auf
eine sprachkritische und sprachpflegerische Diskussion ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun-
derts zurück und ist lange als nicht durchsetzbar abgelehnt worden. Gerade in den letzten Jahren
hat sie sich jedoch tatsächlich in zwar geringem, aber doch nennenswertem Umfang im (zumeist
schriftlichen) Sprachgebrauch etabliert und auch Eingang in (quasi-)normative Wörterbücher ge-
funden.3 Verwendet wird hen zum einen, um auf Personen zu verweisen, ohne sie zwangsläufig
im Rahmen der traditionellen Geschlechterdichotomie zu kategorisieren (z. B. bei Transgen-
dern), zum anderen, wenn das Geschlecht von Personen irrelevant oder unbekannt ist (z. B. in
wissenschaftlichen und administrativen Zusammenhängen). Zwar wird hen weiterhin von der
Mehrheit nicht verwendet und von vielen abgelehnt, gerade die nahtlose Integration in das be-
reits vorhandene Pronominalsystem macht hen aber zu einer attraktiven Variante gegenüber sti-
3 Etwa Svenska Akademiens ordlista (https://svenska.se/saol/?id=1105387&pz=7; 2. 8. 2019).
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listisch unschönen Formen wie han eller hon ‚er oder sie‘, denna ‚diese/r‘ oder vederbörande
‚der/die Betreffende‘.
Insgesamt kann man festhalten, dass im Schwedischen – bei allen weiterhin geführten Debatten
über sprachliche Gleichstellung ein hohes Maß an Geschlechtergerechtigkeit bereits erreicht
und akzeptiert ist, begünstigt durch die sprachstrukturellen Rahmenbedingungen, die in vielen
Fällen Sexusneutralität ohne Weiteres ermöglichen, in anderen Fällen nur geringe Anpassungen
erfordern. Die Entwicklung von hen als sexusneutralem Pronomen erscheint vor diesem Hinter-
grund weniger als bahnbrechend progressive Pionierleistung und vielmehr als eine folgerichtige
Weiterentwicklung sprachlicher Strukturen.
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