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Future Imaginaries

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Abstract

I've started translating this thesis into English. You can find it here: https://garden.johanneskleske.com/master-s-thesis-future-imaginaries Von der Zukunftsforschung über die Philosophie und Soziologie bis zur Anthropologie beschäftigen sich zahlreiche Disziplinen mit dem Verständnis der Gesellschaft von der Zukunft und dies auf unterschiedlichsten Ebenen. So existieren Konzepte wie z. B. Social Imaginaries, um gesellschaftliche Erwartungen zu beschreiben. Noch werden diese aber kaum genutzt, um zum einen die unbewussten Zukunftserwartungen sichtbar und kritisierbar zu machen und so zum anderen die Möglichkeit zu schaffen, alternative Zukunftsbilder zu entwickeln, die jenseits der bisherigen Zukunftserwartungen liegen. Diese Arbeit will einen Begriff für die spezifischen Zukunftserwartungen in der Gesellschaft etablieren: Future Imaginaries. Dieser Begriff wird bereits vereinzelt verwendet, allerdings ohne genauer theoretisiert worden zu sein. Um sich einer ersten Beschreibung von Future Imaginaries anzunähern, werden die Konzepte von Zukunft (Future) aus der Zukunftsforschung und kollektiven Erwartungen (Imaginaries) aus der Soziologie und Anthropologie zusammengeführt. Das Ziel ist, einen theoriegeleiteten Entwurf für die Betrachtung von gesellschaftlichen Zukunftserwartungen aus der Perspektive der Zukunftsforschung zu entwickeln, auf dem ein methodischer Umgang mit diesen aufgebaut werden kann.
Freie Universität Berlin
Institut Futur
Future Imaginaries
Masterarbeit
zur Erlangung des Grades eines Master of Arts (M.A.)
im weiterbildenden Masterstudiengang Zukunftsforschung
am Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie
der Freien Universität Berlin
Vorgelegt
von Johannes Kleske
E-Mail johannes@kleske.de
1. Prüfer Prof. Dr. Armin Grunwald
2. Prüfer Sascha Dannenberg
Ort/Datum Berlin, den 06.01.2020
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................. 1
1.1 Ziel ............................................................................................. 2
1.2 Vorgehensweise ......................................................................... 2
1.3 Forschungsfragen ...................................................................... 3
1.4 Kritische Zukunftsforschung als Betrachtungswinkel .............. 3
1.5 Situierung des Forschenden ....................................................... 5
2. Beobachtungen zu Zukünften und Imaginaries ................................... 7
2.1 Zukünfte .................................................................................... 7
2.1.1 Gegenwärtige Zukünfte bei Grunwald ................................ 7
2.1.2 The Image of the Future bei Fred Polak .............................. 12
2.1.3 Zukunftsbilder bei Inayatullah ............................................ 16
2.2 Imaginaries ................................................................................ 22
2.2.1 Frühe Ansätze für Imaginaries ............................................ 23
2.2.2 Social Imaginaries bei Taylor .............................................. 24
2.2.3 Imaginaries aus anthropologischer Perspektive .................. 29
2.3 Vergleichbare Ansätze .............................................................. 33
2.3.1 Future Imaginaries bei Cook ............................................... 33
2.3.2 Fictional Expectations bei Beckert ...................................... 34
2.3.3 Sociotechnical Imaginaries bei Jasanoff ............................. 37
2.3.4 Imaginaries bei Lockton und Candy ................................... 40
2.3.5 Future Imaginaries bei Goode und Godhe .......................... 43
3. Annäherung an Future Imaginaries ...................................................... 47
3.1 Beobachtungen aus der Betrachtung von Zukünften und
Imaginaries ....................................................................................... 47
3.2 Eingrenzung von Future Imaginaries ........................................ 49
3.2.1 Merkmale von Future Imaginaries ...................................... 50
3.2.2 Bestandteile von Future Imaginaries ................................... 53
3.2.3 Rollen von Future Imaginaries ............................................ 55
3.3 Abgrenzung ............................................................................... 57
3.3.1 Metaphern ............................................................................ 57
3.3.2 Mythen ................................................................................. 58
3.3.3 Common Sense .................................................................... 60
3.3.4 Vision .................................................................................. 61
3.3.5 Leitbild ................................................................................ 62
3.3.6 Megatrends .......................................................................... 63
3.3.7 Kollektives Gedächtnis ........................................................ 64
3.4 Konzeptionelle Herausforderungen und Inkonsistenzen ........... 65
3.4.1 Die Vagheit der Future Imaginaries .................................... 66
3.4.2 Unterscheidung zwischen Imaginaries und Future
Imaginaries ................................................................................ 67
3.4.3 Mindestgruppengröße für (Future) Imaginaries .................. 67
3.4.4 Wirkung der Performativität auf die Future
Imaginaries ................................................................................ 68
4. Ausblick: Anwendung ......................................................................... 70
4.1 Hilfsmittel für die Betrachtung von Future Imaginaries ........... 70
4.2 Künstliche Intelligenz und Future Imaginaries ......................... 72
4.2.1 KI und Science-Fiction ........................................................ 73
4.2.2 Vergleich nationaler KI-Strategien ..................................... 76
4.2.3 KI, Future Imaginaries und die Zukunftsforschung ............ 78
5. Fazit ...................................................................................................... 80
Literaturverzeichnis ................................................................................. 83
Abkürzungen
CFS Critical Futures Studies
CLA Causal Layered Analysis
ITAS Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse
KI Künstliche Intelligenz
STS Science and Technology Studies oder Science, Technology and
Society Studies
TA Technology Assessment (deutsch: Technikfolgenabschätzung)
1
1. Einleitung
Was bestimmt den Rahmen vorstellbarer Zukünfte in der Gesellschaft? Wer schon
einmal einen Szenarioprozess mit verschiedenen Teilnehmergruppen – z. B. zu
Themen wie Digitalisierung oder Klimawandel durchgeführt hat, stellt häufig fest,
dass sich die grundlegenden Vorstellungen von Zukünften zu diesen Themen ähneln,
was sich insbesondere in der Auswahl der Schlüsselfaktoren oder Megatrends zeigt.
Dies weist daraufhin, dass es kollektive Zukunftserwartungen zu spezifischen The-
men gibt, welche über den Rahmen von einzelnen Individuen und Gruppen (wie
Teams oder Organisationen) hinaus existieren bis hin zur gesellschaftlichen und glo-
balen Ebene.
Das besondere Merkmal ist, dass diese Zukunftserwartungen nicht reflektiert sind.
Wenn man Teilnehmer eines Szenarioprozess fragt, warum sie spezifische Me-
gatrends ausgewählt haben, können sie meist keine klare Antwort geben, die über
eine Begründung „weil das alle sagen“ hinausgeht. Es ist eine konstituierende Eigen-
schaft dieser Zukunftserwartungen, dass sie für so selbstverständlich und offensicht-
lich gehalten werden, dass man sie nicht mehr hinterfragt.
Diese fehlende Reflexion ist überraschend und hat direkte Auswirkungen auf das
Ergebnis, da die Auswahl der Megatrends und Schlüsselfaktoren in einem Szenari-
oprozess eine elementare Rolle spielt und maßgeblich die Vielfalt der resultierenden
Szenarien beeinflusst.
Auch weit über die Entwicklung von Zukunftsbildern in der Zukunftsforschung hin-
aus, prägen diese unbewussten, weil für selbstverständlich angenommenen Zu-
kunftserwartungen die Gesellschaft. Sie bestimmen, wo investiert und geforscht, wer
gewählt und wem zugehört wird. Sie prägen Entscheidungen und bestimmen Verhal-
tensweisen.
Von der Zukunftsforschung über die Philosophie und Soziologie bis zur Anthropolo-
gie beschäftigen sich zahlreiche Disziplinen mit dem Verständnis der Gesellschaft
von der Zukunft und dies auf unterschiedlichsten Ebenen. So existieren Konzepte
wie z. B. Social Imaginaries, um gesellschaftliche Erwartungen zu beschreiben.
2
Noch werden diese aber kaum genutzt, um zum einen die unbewussten Zukunftser-
wartungen sichtbar und kritisierbar zu machen und so zum anderen die Möglichkeit
zu schaffen, alternative Zukunftsbilder zu entwickeln, die jenseits der bisherigen
Zukunftserwartungen liegen.
1.1 Ziel
Diese Arbeit will einen Begriff für die spezifischen Zukunftserwartungen in der Ge-
sellschaft etablieren: Future Imaginaries. Dieser Begriff wird bereits vereinzelt ver-
wendet, allerdings ohne genauer theoretisiert worden zu sein.
Um sich einer ersten Beschreibung von Future Imaginaries anzunähern, werden die
Konzepte von Zukunft (Future) aus der Zukunftsforschung und kollektiven Erwar-
tungen (Imaginaries) aus der Soziologie und Anthropologie zusammengeführt.
Das Ziel ist, einen theoriegeleiteten Entwurf für die Betrachtung von gesellschaftli-
chen Zukunftserwartungen aus der Perspektive der Zukunftsforschung zu entwickeln,
auf dem ein methodischer Umgang mit diesen aufgebaut werden kann.
1.2 Vorgehensweise
Im ersten Schritt werden die Konzepte von Zukunftsbildern in der Zukunftsfor-
schung und Imaginaries in der Soziologie und Anthropologie mittels einer Literatur-
analyse getrennt betrachtet und ihr Verständnis von gesellschaftlichen Zukunftser-
wartungen untersucht. Zudem werden vergleichbare Ansätze zu bzw. bereits beste-
hende Verwendungen von Future Imaginaries analysiert.
Der erste Schritt liefert das Material, das im zweiten Schritt kombiniert wird, um die
Idee der Future Imaginaries zu entwerfen und ihre Merkmale und Bestandteile sowie
mögliche Inkonsistenzen zu beschreiben. Zudem wird überprüft, welchen Bezug sie
zu bestehenden Begriffen haben, die ebenfalls im Kontext gesellschaftlicher Zu-
kunftsvorstellungen eine Rolle spielen.
Im letzten Schritt werden verschiedene Ansätze für die Konzeption von Methoden
auf der Basis von Future Imaginaries skizziert und am Beispiel der künstlichen Intel-
ligenz kurz veranschaulicht.
3
1.3 Forschungsfragen
- Welche Betrachtungsweisen zur Beschreibung von kollektiven Zukunftsvor-
stellungen gibt es in der Zukunftsforschung und der Soziologie sowie Anth-
ropologie?
- Welche vergleichbaren Ansätze zu Future Imaginaries gibt es schon und was
lässt sich von ihnen für die theoretische Annäherung an Future Imaginaries
lernen?
- Wie lassen sich das Zukunftsverständnis der Zukunftsforschung und das
Konzept der Imaginaries aus der Soziologie und Anthropologie zu einem Be-
griffskonzept der Future Imaginaries zusammenführen?
- Wo ordnen sich Future Imaginaries gegenüber bestehenden Begriffen und
Konzepten ein, die sich ebenfalls mit Zukunftsvorstellungen und -
erwartungen in der Gesellschaft beschäftigen?
- Was könnten Startpunkte zur Entwicklung von methodischen Konzepten sein,
um Future Imaginary zu identifizieren und zu untersuchen?
1.4 Kritische Zukunftsforschung als Betrachtungswinkel
Das Feld der Zukunftsforschung beschreibt „die wissenschaftliche Befassung mit
möglichen, wünschbaren und wahrscheinlichen Zukunftsentwicklungen“ (Kreibich
2006, S. 3). Während sich die Mehrheit der Zukunftsforschung auf die Erstellung
von neuen Zukunftsbildern mittels wissenschaftlicher Methoden (z. B. Szenarien)
konzentrierte, gab es seit Ende der Siebzigerjahre immer wieder Bemühungen, auch
bestehende Zukunftsbilder zu untersuchen. Zu den prägendsten Vordenkern einer
kritischen Zukunftsforschung gehört Sohail Inayatullah (vgl. Kapitel 2.1.3). Beein-
flusst vom Poststrukturalismus, hat er in seinem grundlegenden Artikel zu De-
construction and Reconstructing the Future‘ (1990) darauf hingewiesen, dass jeder
zukunftserforschenden Tätigkeit epistemologische Annahmen zugrunde liegen: zeit-
liche, wirtschaftliche, politische, ideologisch-kulturelle und sprachliche. Diese An-
nahmen bleiben aber auch in der Zukunftsforschung meist unreflektiert. Sie werden
nicht hinterfragt und beeinflussen so unsichtbar die Ergebnisse.
4
Genau hier setzt die kritische Zukunftsforschung an und dekonstruiert Zukunftsbilder
als gegenwärtige Zukünfte (s. Kapitel 2.1.2). Diese geben weniger Aufschluss über
Begebenheiten in der Zukunft als über die Wünsche, Interessen, Bedürfnisse und
Vorstellungen, die in der Gegenwart präsent sind und sich in den Zukunftsbildern
ausdrücken.
Das Ziel der kritischen Zukunftsforschung ist nach Inayatullah durch die Historisie-
rung und Dekonstruktion von Zukünften oder wie er es bezeichnet: „to undefine
the future“ (Inayatullah 2004, S. 12) – neue epistemologische Räume zu schaffen, in
denen alternative Zukünfte entstehen können. (vgl. Inayatullah 1998a)
Zusammengefasst die zwei Ziele der kritischen Zukunftsforschung:
1. Ein besseres Verständnis der Gegenwart aus den Zukunftsbildern der Gesell-
schaft
2. Die „Öffnung der Zukunft“ über die Erweiterung des Raums plausibler Zu-
künfte und der Entwicklung alternativer Zukünfte.
In ihrem Neuentwurf der „Critical Future Studies“ (CFS) stellen Goode und Godhe
(2017) den „futural public sphere“ die öffentliche Debatte über die Zukunft in
den Mittelpunkt der Betrachtung. Dadurch verschieben sie den Fokus: weg von ein-
zelnen Zukunftsbildern in beliebigen Kontexten, hin zu einer ganzheitlicheren Wahr-
nehmung der konstituierenden Zukunftsvorstellungen im gesellschaftlichen Kontext
(ausführlich betrachtet in Kapitel 2.3.5).
Davon ausgehend, definieren sie die kritische Zukunftsforschung wie folgt:
„CFS investigates the scope and constraints within public culture for imagin-
ing and debating different potential futures. It interrogates imagined futures
founded often surreptitiously upon values and assumptions from the past
and present, as well as those representing a departure from current social
trajectories.“ (Goode und Godhe 2017, S. 108)
Wie Inayatullah wollen sie es aber nicht bei der reinen Dekonstruktion der Zukunfts-
vorstellungen belassen, sondern fordern einen „reconstructive turn“ (ebd., S. 114),
um den öffentlichen Diskurs durch alternative Zukünfte zu bereichern.
5
Aus dieser Perspektive betrachtet diese Arbeit die gesellschaftlichen Zukunftserwar-
tungen.
1.5 Situierung des Forschenden
In Anlehnung an Donna Haraways ‚Situated Knowledge. The Science Question in
Feminism and the Privilege of Partial Perspectives.‘ (1988), in der sie die Wissens-
produktion als politisch, verkörpert, partikular und lokal bezeichnet, folgt hier eine
subjektive Beschreibung einiger biografischer Daten und Selbsteinschätzungen der
Perspektive des Autors, um den Betrachtungswinkel dieser Arbeit zu situieren.
Der Autor ist in Deutschland als Kind einer Arbeiterfamilie geboren und hat die
deutsche Nationalität. Zum Zeitpunkt der Einreichung dieser Arbeit ist er 41 Jahre
alt. 2006 hat er sein Diplom in Media System Design an der Fachhochschule Darm-
stadt gemacht. Der Studiengang vereinte die Grundlagen von Design, Informatik und
Marketing mit dem Ziel, die Herangehensweisen aller drei Disziplinen zu vermitteln.
Diese Interdisziplinarität zieht sich wie ein roter Faden durch das Interesse und die
Arbeit des Autors. Im Anschluss an das Studium arbeitete er in einer großen Digi-
talmarketing-Agentur und baute dort den Social-Media-Bereich auf. Seit 2010 ist er
einer der geschäftsführenden Gesellschafter der Third Wave GmbH mit Sitz in Ber-
lin. In dieser Funktion hat der Autor viele Kunden in Deutschland aus zahlreichen
Branchen und mit unterschiedlichen Unternehmensgrößen – insbesondere zu The-
men der digitalen Transformation – beraten.
In den letzten Jahren kamen immer mehr Themen und Projekte der Trend- und Zu-
kunftsforschung dazu. Schließlich entschied sich der Autor 2017 neben der Arbeit als
Geschäftsführer das Masterstudium der Zukunftsforschung an der FU Berlin aufzu-
nehmen, um die praktischen Erfahrungen aus der Kundenarbeit durch einen theoreti-
schen, wissenschaftlichen Unterbau im Bereich Zukunftsforschung zu ergänzen. Das
Masterstudium soll mit dieser Masterarbeit abgeschlossen werden.
Die Herangehensweise des Autors ist geprägt von vielen Jahren der Trendforschung
(in der Wirtschaft, nicht der Wissenschaft). Während dieser Zeit hat er zahlreiche
Bereiche (Disziplinen, Branchen, Themen) kontinuierlich auf Mustern untersucht,
um neue Trends und Entwicklungen, vorwiegend an der Schnittmenge von Techno-
logie und Gesellschaft, zu identifizieren. Dieses Vorgehen gepaart mit einer inter-
6
und transdisziplinaren Denkweise ist stilprägend für diese Masterarbeit, die einen
weiten Bogen von der Zukunftsforschung über verschiedene Bereiche der Soziologie
bis zur Anthropologie, spannt. Den inhaltlichen Interessensschwerpunkt während des
Masterstudiums hat der Autor auf das Feld der kritischen Zukunftsforschung gelegt.
Der Autor hat keine Vorerfahrungen mit sozialwissenschaftlichem Arbeiten außer-
halb des Masterstudiums.
7
2. Beobachtungen zu Zukünften und Imaginaries
2.1 Zukünfte
Dieses Kapitel untersucht verschiedene Konzepte und Definitionen von Zukunft,
Zukunftsbildern und Zukunftswissen aus dem Kontext der Zukunftsforschung auf
ihre Relevanz für die Betrachtung von gesellschaftlichen Zukunftserwartungen.
Unter diesem Gesichtspunkt wurden Texte von Fred Polak, Armin Grunwald und
Sohail Inayatullah ausgewählt.
2.1.1 Gegenwärtige Zukünfte bei Grunwald
Zu den Schwerpunkten von Armin Grunwalds Arbeit gehört die Theorie der Tech-
nikfolgenabschätzung, die nie ausschließlich an der Technik an sich interessiert war,
sondern von Anfang an die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Fol-
gen bewusst mit einbezogen hat (Paschen 1999, 77f). Durch dieses Agieren an der
Schnittstelle zwischen Zukunft, Technik und Gesellschaft bietet Grunwald auch im-
mer wieder wertvolle Anregungen für die Zukunftsforschung.
In seinem Artikel ‚Wovon ist die Zukunftsforschung eine Wissenschaft?‘ (2009) hat
er viele Grundlagen für den wissenschaftlichen Umgang und die Diskussion von Zu-
kunftsaussagen beschrieben, die auch für die Herangehensweise dieser Arbeit maß-
geblich waren.
Gegenwärtige Zukünfte
Dieser Artikel beschreibt, dass das fundamentale Verständnis von Zukunft nur
sprachlich zugänglich ist und sich auf keine sonstige Art und Weise beobachten lässt.
Wir können unsere Vorstellungen von der Zukunft formulieren, haben aber keinen
anderen Zugriff auf sie. Dabei hat sich als hilfreich erwiesen, zwischen gegenwärti-
gen Zukünften und zukünftigen Gegenwarten zu differenzieren. Letztere lassen sich
laut Grunwald als ein Gedankenexperiment beschreiben, bei dem man sich einen
zukünftigen Zeitpunkt vorstellt. Wie der Begriff der gegenwärtigen Zukünfte aber
8
verdeutlicht, passiert diese Vorstellung immer in der Gegenwart („Immanenz der
Gegenwart“ (ebd., S. 26)):
„Zukunft als Reflexionsbegriff über „Mögliches“ ist etwas je Gegenwärtiges
und verändert sich mit den Veränderungen der Gegenwart.“ (ebd., S. 27)
Das heißt, insbesondere für die Zukunftsforschung als Wissenschaft – die ihre Arbeit
auch unter dem Kriterium der Falsifizierbarkeit erledigen muss kommt nur die Be-
trachtung der gegenwärtigen Zukünfte infrage. (vgl. ebd., S. 26)
Die Relevanz der Unterscheidung zwischen zukünftigen Gegenwarten und gegen-
rtigen Zukünften spielt nicht nur für das Selbstverständnis der Zukunftsforschung
eine entscheidende Rolle, sondern auch bei der Untersuchung von gesellschaftlichen
Zukunftsdebatten.
„Dort sind Zukünfte (z. B. Prognosen, Szenarien oder Visionen) komplexe
Konstrukte aus Wissensbestandteilen, Ad-hoc-Annahmen, Relevanzeinschät-
zungen etc. Sie stützen sich nur zum Teil auf Wissen, nehmen häufig an, dass
gegenwärtiges Wissen in die Zukunft extrapoliert werden darf, und beruhen
vielfach auf mehr oder weniger gut begründeten Annahmen über Randbedin-
gungen. Nicht durch Wissen gestützte Anteile werden durch Plausibilitätsan-
nahmen und normative Festlegungen (über Wertvorstellungen oder nach
ganz konkreten Interessenlagen) ergänzt oder kompensiert.“ (ebd., S. 27)
Dies ist das Verständnis von Zukünften, welches dieser Arbeit zugrunde liegt. Zu-
künfte sind demnach sprachlich ausgedrückte Zukunftsvorstellungen in der Gegen-
wart, die sich aus Wissen und Annahmen zusammensetzen, für die auch normative
Aspekte wie Werte und Wünsche eine Rolle spielen.
Die Zukunftsforschung beschäftigt sich somit laut Grunwald nicht mit der Frage, ob
eine Zukunftsaussage in der Zukunft tatsächlich eintrifft, sondern warum welches
Wissen und welche Annahmen in einer gegenwärtigen Zukunft ausgewählt wurden,
um diese Zukunftsaussage plausibel zu machen („Geltung“). (vgl. ebd., S. 28)
9
Bestandteile von Zukünften
Dazu gilt es, die Bestandteile der Zukünfte genauer zu beschreiben. Grunwald unter-
scheidet bei der erkenntnistheoretischen Untersuchung zwischen verschiedenen Wis-
sensbestandteilen und Prämissen, die in die Zukünfte eingeflossen sind.
- Gegenwärtiges Wissen, das nach anerkannten (z. B. disziplinären)
Kriterien als Wissen erwiesen ist […];
- Einschätzungen zukünftiger Entwicklungen, die kein gegenwärtiges
Wissen darstellen, sich aber durch gegenwärtiges Wissen begründen
lassen […];
- Ceteris-paribus-Bedingungen: es werden bestimmte Kontinuitäten, ein
„business as usual“ in bestimmten Hinsichten oder die Abwesenheit
disruptiver Veränderungen als Rahmen angenommen […];
- Ad-hoc-Annahmen, die nicht durch Wissen begründet sind, sondern
die „gesetzt“ werden […]“ (ebd., S. 31)
Wurden die verschiedenen Bestandteile einer Zukunft identifiziert, lassen sie sich
nach „diskursiven Maßstäben unter Geltungsaspekten“ untersuchen und mit anderen
Zukünften vergleichen. (vgl. ebd., S. 32)
Hermeneutische Orientierung durch gegenwärtige Zukünfte
Das Ziel der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Zukünften auf Basis dieses Ver-
ständnisses ist es, verschiedenen Adressaten in der Gesellschaft – von der Wirtschaft
über die Politik bis zur Zivilgesellschaft Orientierung im Umgang mit divergieren-
den Zukünften für deren Entscheidungsfindung zu bieten. (vgl. ebd., S. 30)
In einem Artikel von 2015 stellt Grunwald aufgrund der zunehmenden Divergenz der
Zukünfte die Möglichkeit der Orientierung durch die Betrachtung von Zukünften
infrage:
„Die Divergenz der Zukünfte spiegelt die Pluralität der Gegenwart, und diese
ist nicht nur eine Pluralität der Werte, sondern auch eine der wissenschaftli-
chen wie der außerwissenschaftlichen Meinungen über epistemisch nicht
klassifizierbare Zukunftsbilder. Damit erzählen Zukünfte, wenn prognostische
10
oder szenarische Orientierungen nicht gelingen, ausschließlich etwas über
uns heute.“ (Grunwald 2015, S. 68)
Grunwald entwickelt unter anderem auf Basis dieser Beobachtung das Konzept einer
hermeneutischen Technikfolgenabschätzung, die aus den Bestandteilen von Technik-
zukünften Erkenntnisse über „gesellschaftliche Praktiken, unterschwellige Sorgen,
implizite Hoffnungen und Befürchtungen“ (ebd., S. 68) ableiten will. Ziel ist es, Zu-
kunftsdebatten in der Gesellschaft offener, transparenter und bewusster zu machen.
(Soziotechnische) Zukünfte in der Gesellschaft
Im März 2016 kamen in Karlsruhe die führenden Denker und Praktiker der Technik-
folgenabschätzung (Technology Assessment = TA) im deutschsprachigen Raum für
einen Workshop am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse
(ITAS) mit dem Titel ‚Die Gegenwart technischer Zukünfte Theoretische und me-
thodische Herausforderungen der Technikfolgenabschätzung‘ zusammen; unter
ihnen auch Grunwald. Ihr Ziel war es, eine gemeinsame Antwort zu formulieren auf
den zunehmenden Bedarf an Orientierungswissen in Gesellschaft und Politik. (vgl.
Lösch et al. 2016)
Gemeinsam suchten sie nach einer Herangehensweise für eine „Expansion von weit-
reichenden Zukunftsdiskursen“ in der Öffentlichkeit, welche die „große Transforma-
tionen wie z. B. Energiewende, Maßnahmen gegen den Klimawandel, Big Data,
usw.“ umfasst (ebd., S. 5). Dazu definierten sie den Arbeitsbegriff der sozio-
technischen Zukünfte, der die enge Verbindung von technischen Entwicklungen und
sozialen Veränderungen ausdrückt (vgl. ebd., S. 5). Unter dem Begriff sammeln sie
eine Vielzahl von Zukunftsvorstellungen auf unterschiedlichen Ebenen. Hier tauchen
auch die Sociotechnical Imaginaries (vgl. Kapitel 2.3.3) auf (vgl. Lösch et al. 2016,
S. 7).
In der Dokumentation des Workshops sind zahlreiche Überlegungen enthalten, die
auch für die kritische Betrachtung von Zukünften im Allgemeinen relevant sind. Au-
ßerdem finden sich verschiedene Hinweise auf Zukünfte, die in ihrer Beschreibung
einem möglichen Verständnis von Future Imaginaries dienlich sind.
11
Die Notwendigkeit, sich kritisch mit soziotechnischen Zukünften auseinanderzuset-
zen, wird damit begründet, dass sie davor bewahren soll…
„… die von einer dominierenden soziotechnischen Zukunft prognostizierten
künftigen Veränderungen als alleinig aussichtsreiche Zukunftsoptionen zu be-
trachten.“ (Lösch et al. 2016, S. 9)
Diese Aussage war einer der Impulsgeber für diese Arbeit, da sie sowohl eine mögli-
che Beschreibung für ein Future Imaginary liefert (vgl. Kapitel 3.2.1), als auch den
Zweck der Auseinandersetzung mit ebendieser beschreibt.
Dieser Zweck wird ergänzt durch das „explizit-machen“ von Motiven, Interessen,
Vorstellungen und Erwartungen, welche in die Zukünfte eingeflossen sind. Das
macht sie bewusst und verhandelbar. (vgl. Lösch et al. 2016, S. 9)
Als weiteres gilt es, die Wirkmächtigkeit der Zukünfte innerhalb der Kommunikati-
onsprozesse zwischen den verschiedenen Akteuren in der Gesellschaft zu untersu-
chen. Dies erlaubt, „die Hintergründe gesellschaftlicher Kontroversen zu verstehen,
deren implizite Grundannahmen analysierbar und kritisierbar zu machen“, sowie
„Erkenntnisse über gegenwärtige gesellschaftliche Machtkonstellationen im jeweils
untersuchten Innovations- oder Transformationskontext [zu] gewinnen.“ (ebd., S. 9)
Um die Wirkmächtigkeit von (soziotechnischen) Zukünften zu untersuchen, wurde
ein Modell mit zwei analytischen Dimensionen entwickelt. Die eine Dimension be-
trachtet den Ausdruck der Gesellschaft in den Zukünften, die andere wiederum die
Wirkung der Zukünfte in der Gesellschaft:
„Die erste analytische Dimension konzentriert sich darauf, herauszufinden,
welche gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände in einer soziotechnischen
Zukunft ausgedrückt werden und auf welche Weise daraus Annahmen über
wünschenswerte oder zu vermeidende, als realisierbar oder auch unerreich-
bar angesehene Zukunftsoptionen abgeleitet werden. Die zweite analytische
Dimension fokussiert dagegen darauf, Wirkungen (sowie die Performativität)
einer soziotechnischen Zukunft in ihrem jeweiligen gesellschaftlichen Kontext
zu erfassen.“ (ebd., S. 11)
Die erste Dimension beschreibt die Herangehensweise in der hermeneutischen TA
und der kritischen Zukunftsforschung.
12
Bereits sechzig Jahre zuvor hat sich Fred Polak mit der zweiten Dimension, der um-
fassenden Wirkmächtigkeit von Zukünften in der Gesellschaft, beschäftigt und sie
anhand verschiedener historischer Beispiele aufgezeigt.
2.1.2 The Image of the Future bei Fred Polak
Der niederländische Soziologe Fred Polak war Mitte des 20. Jahrhunderts einer der
wichtigsten Impulsgeber für die europäische Zukunftsforschung. Fragt man aller-
dings heute in den entsprechenden Kreisen nach seinem Namen, scheint er weit-
gehend vergessen. Nur wenige Forscher haben sich in den letzten Jahrzehnten mit
seinem Werk auseinandergesetzt. Unter ihnen ist Ruud van der Helm hervorzuheben,
der sich in ‚The future according to Frederik Lodewijk Polak: finding the roots of
contemporary futures studies‘ (2005) mit dem Werk von Polak beschäftigt.
Seine Schlüsselarbeit ‚The Image of the Future‘ veröffentlichte Polak 1955 auf Nie-
derländisch in zwei Bänden, bevor Elise Boulding diese 1961 übersetzte und dann
1973 noch mal in einer gekürzten Version veröffentlichte. ‚The Image of the Future‘
untersucht gesellschaftliche Zukunftsbilder in der Geschichte und ihren Einfluss auf
die kulturelle Entwicklung.
The Pull of the Future
Polaks Ausgangsthese in ‚The Image of the Future‘ ist die Fähigkeit des Menschen
mental in zwei Welten zu leben: der erlebten Gegenwart („the self“) und der Vorstel-
lung von der Zukunft („the Other“), dem Zukunftsbild.
„All of man's thinking involves a conscious process of dividing his percep-
tions, feelings, and responses, and sorting them into categories on the time-
continuum. His mental capacity to categorize and reorder reality within the
self (present reality) and in relation to perceptions of the not-self (the Other)
enable him to be a citizen of two worlds: the present and the imagined. Out of
this antithesis the future is born.“ (Polak 1973, S. 1)
Aber der Mensch lebt nicht nur mit diesem Dualismus, denn aus der Dynamik zwi-
schen diesen beiden Welten entsteht die Zukunft. Der Mensch kann aus Polaks Sicht
die Wahrnehmung der Gegenwart durch die Zukunftsvorstellung neu justieren und
dementsprechend sein Handeln ändern:
13
„Man's dualism is thus the indispensable prerequisite to the movement of
events in time, and to the dynamics of historical change.(ebd., S. 1)
Für Polak sind aber nicht alle Mitglieder einer Gesellschaft gleichermaßen an diesem
Prozess beteiligt. Vielmehr sieht er die Fähigkeit zum Empfangen (englisch: recepti-
on) von Bildern und Vorstellungen in Träumen, Visionen und sonstigen „imaginary
encounters with the Other“ (ebd., S. 2) nur bei Eliten. Um die Zukunftsbilder dann an
die Masse zu senden (englisch: broadcasting), müssen sie nach Polak übersetzt wer-
den. Hier spielen Legenden, Mythen und die Kunst eine große Rolle. (vgl. ebd., S. 2)
Selbst die Vergangenheit kann zu einer Zukunftsvorstellung werden, wenn sie als
unerreichbare Idealvorstellung imaginiert wird:
„The aching nostalgia for the time of unspoiled beginnings represents a kind
of vision of the future—an image of unattainability.“ (ebd., S. 4)
Nichtsdestotrotz sieht Polak den entscheidenden Bezugspunkt des Other in der Zu-
kunft. Denn die Zukunft ist die große Unbekannte. Und das Unbekannte zu erfor-
schen ergibt sich für Polak aus dem Urinstinkt des Menschen zu überleben und sich
fortzupflanzen.
„This spiritual overstepping of the boundaries of the unknown is the source of
all human creativity; crossing frontiers is both man's heritage and man's
task, and the image of the future is his propelling power.“ (ebd., S. 5)
Van der Helm fasst die Erkenntnisse Polaks wie folgt zusammen:
„… the present and past are no longer the predecessors of an unknown fu-
ture, but on the contrary, the future is to a large extent the shaping source of
the present and the past. The future pulls past and present as a magnet to-
wards its realisation. The essence of man, therefore, has to be found in his
ability to continuously renew his images of the future, which will push culture
to move forward.“ (van der Helm 2005, S. 512)
Hierin liegt das zu seiner Zeit revolutionäre Rollenverständnis von Zukunftsbildern.
Das vorherrschende Verständnis ist bis heute, dass die Zukunft sich aus der Vergan-
genheit und der Gegenwart formt (vgl. Verschraegen und Vandermoere 2017, S. 2).
Das ist die Grundlage für Prognosen genauso wie für Szenarien und die meisten an-
deren Methoden für den Umgang mit einer offenen Zukunft.
14
Polak propagiert aber ein umgekehrtes Verständnis. In diesem sind die Zukunftsbil-
der die gestaltende Kraft. Sie ziehen („pull“) die Gegenwart in die Zukunft.
Es gilt festzuhalten, dass Polak dieses Zukunftsverständnis nicht aus empirischen
Untersuchungen abgeleitet, sondern sich vorwiegend (geschichts-)philosophisch er-
arbeitet hat. Außerdem fokussiert er sich in ‚The Image of the Future‘ auf Zukunfts-
bilder in der Gesellschaft:
„We do not discuss private images of the future, but only shared public ones,
not because there is a difference in the operational principles involved, but
because we are primarily concerned with the Iarger social and cultural pro-
cesses.“ (Polak 1973, S. 14)
Polak beschreibt verschiedene Eigenschaften und Aspekte von Zukunftsbildern, die
er insbesondere aus der historischen Analyse ableitet.
Der Ausgangspunkt für Zukunftsbilder sind die Werte, die ihnen zugrunde liegen.
„Awareness of ideal values is the first step in the conscious creation of imag-
es of the future and therefore in the conscious creation of culture, for a value
is by definition that which guides toward a "valued" future. The image of the
future reflects and reinforces these values.“ (ebd., S. 10)
Dementsprechend drücken die Zukunftsbilder nicht nur diese idealen Werte einer
Gesellschaft aus, sie verstärken sie auch jedes Mal, wenn sie wiederholt vermittelt
werden (Performativität). Entscheidend ist für Polak dabei, dass die Natur der Zu-
kunftsbilder nicht im Rationalen, sondern vom allem im Emotionalen liegt. Das gibt
ihnen ihre Macht, die Gesellschaft zu verändern:
„The force that drives the image of the future is only in part rational and in-
tellectual; a much larger part is emotional, aesthetic, and spiritual.“ (ebd.,
S. 13)
Der performative Aspekt von Zukunftsbildern sorgt für ihre „Selbst-Eliminierung“.
Die Veränderung, die sie in der Gesellschaft bewirken, verändert die Werte sowie
ihre Dialektik und sorgt so für die Weiterentwicklung und Neuentstehung von Zu-
kunftsbildern. (vgl. ebd., S. 14)
15
Von dieser Prämisse aus untersucht Polak im weiteren Verlauf von ‚The Image of the
Future‘ verschiedene Zeitepochen auf ihre Dynamik zwischen den vorherrschenden
Zukunftsbildern und der kulturellen Veränderung.
Für sein Verständnis von Zukunftsbildern führt er gleich zu Beginn zwei typische
Beispiele an, die bis heute nachhaltig prägen: die „Auferstehung Israels“ im Alten
Testament und „das Reich des Himmels“, welches von Jesus verkündet wurde. Diese
Betrachtung führt er durch verschiedene Epochen bis ins 20. Jahrhundert fort und
kommt zu folgendem Fazit:
„The rise and fall of images of the future precedes or accompanies the rise
and fall of cultures. As long as a society’s image is positive and flourishing,
the flower of culture is in full bloom. Once the image begins to decay and lose
its vitality, however, the culture does not long survive.“ (ebd., S. 19)
Polak leitet als Soziologe aus dieser These eine Notwendigkeit für eine Soziologie
der Zukunft ab, in deren Fokus die Frage steht, wie das Zusammenspiel von Zu-
kunftsbildern und Gesellschaft über die Zeit funktioniert, wenn dieses aus seiner
Sicht zum Auf- und Abstieg von Kulturen führt.
„Stated in sociological terms, the problems are these: what is the relationship
between fundamental changes in the social structure and changes in the
reigning images of the future? Is there interaction between images of the fu-
ture and the future itself?“ (ebd., S. 23)
Insbesondere in der ersten Frage lassen sich Parallelen zu dem Analyse-Modell der
ITAS-Workshop-Teilnehmer über die Wirkungsrichtungen zwischen Gesellschaft
und Zukünften erkennen (vgl. Kapitel 2.1.1):
„… we must examine and be as fully aware as possible of the influence on so-
ciety of those images of the future already existing in the minds of political
planners, scientists, and professional practitioners in every field.“ (Polak
1973, S. 15)
Diese Aufforderung lässt sich als grundlegende Forschungsaufgabe einer kritischen
Zukunftsforschung lesen (vgl. Kapitel 1.4), die bestehende Zukunftsbilder und ihre
Wirkung in der Gesellschaft analysiert.
16
‚The Image of the Future‘ ist geprägt von Polaks Kritik an der Kultur seiner Zeit.
Seine Hauptmotivation sich mit der Rolle der Zukunftsbilder zu beschäftigen ist der
Mangel an positiven Zukunftsbildern, den er der Gesellschaft diagnostiziert. Immer
wieder schreibt er von einer „culture-crisis“ (Polak 1973, S. 22) oder lokalisiert ein
Vakuum, wo vorher die Zukunftsbilder waren (vgl. ebd., S. 183). Dadurch lässt sich
bei ihm die Tendenz feststellen, Belege für seine Thesen selektiv zu suchen, statt Für
und Wider abzuwägen. Dennis R. Morgan weist daraufhin, dass…
„…the image of the future, as a vibrant, dynamic force pulling society for-
ward, is truly a modern-born phenomenon, whose utopian nature forms a
dialectical relationship within the idea of progress.“ (Morgan 2015, S. 109)
Insofern lassen sich Polaks Betrachtung der Zukunftsbilder und ihrer Wirkung in der
antiken und mittelalterlichen Geschichte eher als ideologisch geprägt einstufen (ebd.,
S. 108). ‚The Image of the Future‘ ist somit in erster Linie als modernes „manifest
for active cultural politics“ (van der Helm 2005, S. 513) zu verstehen.
2.1.3 Zukunftsbilder bei Inayatullah
Sohail Inayatullah der erste „UNESCO Chair in Futures Studies“ hat mit mehr
als 300 verfassten Fachartikeln und Kapitel für Publikationen sowie 20 eignen Bü-
cher einen nachhaltigen Einfluss auf die Zukunftsforschung und dabei insbesondere
auf die kritische Zukunftsforschung. In seinen Veröffentlichungen finden sich ver-
schiedene Aspekte, die das Verständnis von Zukünften im Kontext von Gesellschaft
für diese Arbeit erweitern.
Ergänzende Zukunftskonzepte
Inayatullah hat verschiedene spezifische Konzepte von Zukünften formuliert (vgl.
Inayatullah 2008), um die Rollen, die Zukünfte in Organisationen und der Gesell-
schaft spielen können, differenzierter betrachten zu können.
Dazu gehören die „used futures“ oder gebrauchten Zukünfte. Inayatullah benutzt die
Metapher für Zukunftsbilder, die übernommen werden, obwohl sie eigentlich schon
veraltet sind. Er erklärt das am Beispiel vieler asiatischer Städte, die in ihrer Stadt-
planung dem Vorbild vieler westlicher Städte vor vielen Jahren folgen. Die Folgen
eines unkoordinierten Wachstums ohne Rücksicht auf die Lebensqualität sind heute
17
an vielen Stellen im Westen sichtbar. Trotzdem folgen viele asiatische Städte dieser
„used future“. (vgl. ebd., S. 5)
Ein weiteres Konzept ist das der „disowned futures“ oder verleugneten Zukünfte: „It
is the self disowned, the future pushed away, that comes back to haunt us“ (ebd.,
S. 5). Es ist häufig der eigene Erfolg, der dafür sorgt, dass blinde Flecken entstehen
bzw. Zukünfte bewusst ausgeblendet werden, weil sie nicht mehr zum eigenen
Selbstverständnis passen. (vgl. ebd., S. 5)
Das dritte Konzept, das Inayatullah formuliert, ist das der „alternative futures“ oder
alternativen Zukünfte, mit der er nicht nur auf die vielfältigen gegenwärtigen Zu-
künfte anspielt (s. Kapitel 2.1.1). Ihm geht es dabei vor allem um den psychologi-
schen Faktor, wenn man sich ganz auf eine erwartete Zukunft ausrichtet bzw. glaubt,
dass nur eine Zukunft möglich ist und dann einen „Future Shock“ erlebt, wenn diese
Zukunft nicht eintrifft. (vgl. Inayatullah 2008, S. 5)
„Alternative futures thinking reminds us that while we cannot predict a par-
ticular future always accurately, by focusing on a range of alternatives, we
can better prepare for uncertainty, indeed, to some extent embrace uncertain-
ty.“ (ebd., S. 6)
Diese drei Konzepte vertiefen das Verständnis davon, wie mit Zukünften umgegan-
gen wird bzw. welche Wirkungen sie haben können. Deswegen sind sie auch für das
Betrachten von kollektiven Zukunftserwartungen in der Gesellschaft und deren Wir-
kung relevant.
Drei epistemologische Dimensionen der Zukünftebetrachtung
Inayatullah beschreibt drei, später vier
1
, Forschungsdimensionen innerhalb der Zu-
kunftsforschung, die er jeweils mit epistemologischen Positionen verknüpft (vgl.
Inayatullah 1990; Inayatullah 2013):
1. Die prädiktive (empirische) Dimension beschäftigt sich damit, die Zukunft zu
prognostizieren.
1
Die vierte Dimension: Anticipatory Action Learning Die Verknüpfung von partizipativem Action
Research und Action Learning mit Zukunftsforschung. (Inayatullah 2002)
18
2. Die kulturelle (interpretative) Dimension beschäftigt sich mit den Bedeutun-
gen, die Daten zugeschrieben werden und den damit verbundenen kulturellen
Verknüpfungen.
3. Die kritische (post-strukturelle) Dimension beschäftigt sich damit, was in der
jeweiligen Version der Zukunft nicht vorkommt.
Die prädiktive Dimension ist nach wie vor die vorherrschende Herangehensweise,
auf der die meiste angewandte Zukunftsforschungsarbeit für Politik und Wirtschaft
basiert. Diese baut nicht nur auf der Annahme auf, dass die Welt weitgehend deter-
miniert ist und die Zukunft somit prognostiziert werden kann, sie führt auch dazu,
dass Experten privilegiert werden. Die Zukunft wird dann so konstruiert, dass sie von
Experten monopolisiert werden kann. (vgl. Inayatullah 1990, S. 120)
Die Adressaten in Politik und Wirtschaft haben häufig eine Symbiose mit der Zu-
kunftsforschung entwickelt, in der die Adressaten meist nur eine Bestätigung ihrer
„preunderstandings of past, present and future(ebd., S. 120) erwarten, welche die
Zukunftsforschung mit Hilfe prädiktiver Methoden liefert und dafür weiter beauftragt
wird. Das führt zu einer Verfestigung von erwarteten Zukünften.
Die kulturelle Dimension wiederum ist für diese Arbeit relevant, weil sich in ihr vie-
le Querverbindungen zur Soziologie und Anthropologie (vgl. Kapitel 2.2) zeigen. Sie
schaut bewusst auf den kulturellen Kontext von Zukünften und hinterfragt, welche
Vorstellungen und Werte in sie eingeflossen sind und wie Bedeutung entsteht:
„The assumption in this thinking is that there is no one way to constitute the
real, the future; by examining how different groups see the real, we can learn
from their efforts and see ourselves anew. We can then see the limits to our
own future thinkings. We can then see our own peculiarities, instead of insist-
ing that they are universals. We thus see that the real is culturally bound, and
that our notion of the category ‘the future’ as well as the contents of the fu-
ture are bound by and intelligible in various cultural contexts. The future then
becomes subjectivized, now located within phenomenological and hermeneu-
tic traditions.“ (Inayatullah 1990, S. 123)
19
Die kritische Dimension und mit ihr der Entwurf einer kritischen Zukunftsforschung
sowie den daraus abgeleiteten Methoden sind vermutlich der wirkmächtigste Beitrag
Inayatullahs zum Kanon der Zukunftsforschung.
Wie bereits in Kapitel 1.4 angeführt, ist Inayatullahs Kernthese, dass jedem Zu-
kunftsbild epistemologische Annahmen zugrunde liegen. Genau hier setzt seine kriti-
sche Dimension an. Statt neue Zukünfte zu entwickeln, untersucht er zuerst Begriffe
und unausgesprochenen Annahmen in Zukunftsprognosen auf ihre verborgenen Ent-
stehungsgeschichten und Wertestrukturen. Durch die Historisierung und Dekonstruk-
tion von Zukünften erschafft die kritische Zukunftsforschung „new epistemological
spaces that enable the formation of alternative futures“ (Inayatullah 1990, S. 115).
Dazu bedient sich Inayatullah bei den Poststrukturalisten, welche die Wirklichkeit als
soziales Konstrukt verstehen, das insbesondere über die Sprache konstituiert wird.
Aus ihrer Sicht existieren für unterschiedlichen Regime individuelle Wahrheiten, die
definieren, wie wir aus Sprache unsere Welt kreieren. (vgl. Inayatullah 1998a)
Das wiederum ermöglicht Inayatullah Zukünfte mit einem „poststrukturellen Werk-
zeugkasten“ zu untersuchen und zu befragen: (Inayatullah 1999, S. 2)
- Dekonstruktion: Das Zerlegen einer Zukunft in ihre sichtbaren und unsichtba-
ren Komponenten. Beispiel: Wer kommt in dieser Zukunft nicht vor?
- Genealogie: Die historische Entwicklung eines Begriffs durch verschiedene
Diskurse. Beispiel: Welche Diskurse konstituieren erfolgreich die Gegen-
wart?
- Distanz: Ein Kernbegriff des Poststrukturalismus, der ermöglicht, vom Zu-
kunftsbild ausgehend die Gegenwart zu hinterfragen. Beispiel: Welche Sze-
narien machen die Gegenwart besonders?
- Alternative Vergangenheiten und Zukünfte: Inayatullah betrachtet neben den
Zukünften auch die Vergangenheit, um ebenfalls die Gegenwart zu hinterfra-
gen. Beispiel: Welche Interpretation der Vergangenheit wird hervorgehoben?
- Wissen neu ordnen: Inayatullah legt besonderen Wert auf Erkenntnisse durch
Analyse, z. B. wie in unterschiedlichen Zivilisationen Wissen strukturiert
wird. Beispiel: Welche Zukunftsmetaphern funktionieren nur in westlichen
Ländern?
20
Wie zu erkennen ist, geht es bei diesen fünf kritischen Perspektiven letztendlich da-
rum, die Gegenwart zu untersuchen und die Diskurse zu identifizieren, welche die
Gegenwart zu dem gemacht haben, was sie ist. Das passiert explizit mit Hilfe der
Zukunftsbilder:
„Scenarios become not forecasts but images of the possible that critique the
present, that make it remarkable, thus allowing other futures to emerge.“
(Inayatullah 1999, S. 3)
Der poststrukturelle Werkzeugkasten dürfte potenziell auch hilfreich bei der Identifi-
kation und Analyse von Future Imaginaries sein, ermöglichen die Frageformate doch
unbewusste Aspekte sichtbar zu machen (vgl. Kapitel 4.1).
Imaginaries bei Inayatullah
Obwohl Inayatullah Imaginaries als Konzept nicht explizit erwähnt, lassen sich bei
ihm an verschiedenen Punkten Ansätze beobachten, die in die Richtung von grundle-
genden gesellschaftlichen Zukunftserwartungen weisen.
So zitiert er bereits 1990 einen Artikel von Donald Michael und Walter Truett An-
derson (1987), die den Begriff „Stories“ vorschlagen…
„…as a a simple and common-sense way to talk about the human urge to
create order in life, to assemble the events of individual existence within the
framework of some larger structure of meaning and purpose.“ (ebd., S. 109)
Diese Beschreibung hat große Überschneidungen mit Taylors Definition von Social
Imaginaries (s. Kapitel 2.2.2), drei Jahre bevor er sie veröffentlichen sollte.
Michael und Anderson liefern zu ihrem Vorschlag auch gleich noch eine Erklärung,
was ein Szenario und eine „Story“ unterscheidet.
„A story is not […] the same thing as a scenario. Futurists may create all
kinds of scenarios in a playful exploratory way with no need to make any per-
sonal commitment to one or the other; a scenario becomes a story when one
begins to believe it.“ (Michael und Anderson 1987, S. 110)
Damit bieten sie einen Ansatz, wie man Zukunftsbilder und Zukunftserwartungen
unterscheiden kann und wie sie miteinander verbunden sind.
21
In Inayatullahs Denken lassen sich die Spuren des „Stories“-Ansatzes weiterverfol-
gen.
„These images and stories at the macrolevel include the story of progress and
rationality, of the rise and fall of man, of the transformation and the end of
history, of the return to the Mother and the Earth, to mention a few. Images
are more specific and tend to be derived from current social movements, cur-
rent technologies, and various theories of social change, while stories are
more sensitive to unconscious processes, to myths.“ (Inayatullah 1990,
S. 124)
So kann man in seinen direkten Erkenntnissen aus dem Artikel von Michael und An-
derson die ersten Zutaten für seine in der Zukunftsforschung populäre Methode der
Causal Layered Analysis (CLA) finden.
Kernidee der CLA ist, der Zukunftsforschung neben der horizontalen Betrachtung
mehrerer Zukünfte nebeneinander eine vertikale Dimension hinzuzufügen, die Zu-
kunftsbilder über verschiedene „Level“ in die Tiefe analysiert: (Inayatullah 1998a,
S. 820)
- Das erste Level ist die Litanei die offizielle öffentliche Beschreibung eines
Themas bzw. all das, was typischerweise in den Nachrichten berichtet wird.
- Das zweite Level betrachtet den gesellschaftlichen Kontext sowie die wirt-
schaftlichen, kulturellen, politischen und geschichtlichen Faktoren, welche
die Litanei erklären könnten. Hier sind vor allem technische und akademische
Sichtweisen zu finden.
- Das dritte Level beschäftigt sich mit dem Diskurs oder Weltbild, der oder das
einem Thema zugrunde liegt. Es untersucht die tieferliegenden Strukturen in
Sprache, Kultur und Gesellschaft.
- Das vierte Level schließlich begibt sich auf die Ebene der Mythen und Meta-
phern. Hier geht es um meist unbewusste Narrativen und Archetypen, die
eher auf einem Bauchgefühl fußen als auf rationalen Konzepten.
Es sind besonders die unteren Level, die bereits in seinen oben zitierten Überlegun-
gen zu „Images“ und „Stories“ erkennbar sind.
22
Zehn Jahre später inkludiert Inayatullah die CLA in eine Theorie des Zukunftsden-
kens, die auf sechs Säulen aufbaut, welche jeweils mit bestimmten Methoden ver-
bunden sind. Damit bilden die Säulen einen Prozess ab, der z.B. in Workshops ver-
wendet werden kann. (vgl. Inayatullah 2008)
Die CLA ist dabei mit der vierten Säule „deepening the future“ verknüpft. Aber be-
reits in der ersten Säule „mapping the future“ greift er die Makrosicht von Mi-
chael und Anderson auf. Die entsprechende Methode zu dieser Säule nennt er The
Futures Triangle‘, in der unter anderem der „pull of the future“ untersucht wird. In-
ayatullah bezieht sich nicht explizit auf Polak (vgl. Kapitel 2.1.2). Aber die Be-
schreibung („The image of the future pulls us forward.“) erinnert doch stark an ihn.
(vgl. Inayatullah 2008, S. 7)
Inayatullah selbst identifiziert fünf archetypische Zukunftsbilder auf einem globalen
Makrolevel: (vgl. ebd., S. 7)
1. Evolution und Fortschritt – Technologie, Humanismus, Rationalität
2. Kollapse – Fundamentalismus, Klimanotstand, Tribalismus
3. Gaia – Mensch und Natur im Einklang
4. Globalismus – Weltgesellschaft
5. Zurück in die Zukunft – Rückkehr zu einfacheren Zeiten
In dieser Liste kann man den Einfluss der Makrohistoriker erkennen, mit denen sich
Inayatullah ausführlich beschäftigt hat (1998b). Hier taucht auch der Name Fred Po-
lak auf, allerdings ohne den Bezug zum „pull of the future“. (ebd., S. 391)
Es bleibt festzuhalten, dass sich bei Inayatullah bereits ab den frühsten Publikationen
ein Interesse an großen gesellschaftlichen Zukunftserwartungen findet, die seine Ar-
beit bis heute beeinflusst haben.
2.2 Imaginaries
Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den wichtigsten Vordenker*innen, die den Be-
griff der Imaginaries geprägt haben und identifiziert dabei insbesondere die Merk-
male und Eigenschaften von Imaginaries.
23
2.2.1 Frühe Ansätze für Imaginaries
Die Idee des gesellschaftlichen Imaginaries lässt sich bis zu Voltaires „l'esprit du
temps“ zurückverfolgen, mit der er 1751 die Aufklärung feierte. Ihm folgte unter
anderem Hegel mit dem „Weltgeist“. (vgl. James 2019, S. 35-36)
Mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der Zeitgeist dann zunehmend durch das
Imaginary als Konzept ersetzt, um etwas zu beschreiben, dass „invented or not real,
something projected into the future, imagined beyond itself“ war. Ziel war es, den
Ort zu bestimmen, von dem aus die Vorstellungen projiziert wurden. (vgl. ebd.,
S. 37)
Jacques Lacan
Jacques Lacan war 1949 einer der ersten, der eine Theorie des Imaginaries entwi-
ckelte, indem er als Psychoanalytiker das Imaginary als das betrachtet, was einen
zum Menschen macht. Er verordnet die Entstehung des Imaginaries in der Kind-
heitsphase, in der sich das Kind im Spiegel als Person wahrnimmt. (vgl. James 2019,
S. 37)
„Lacan’s own simple definition is that the imaginary is a fantasy paradig-
matically, one formed by the preverbal child“ (Strauss 2006, S. 327)
Später relativiert er seine Theorie und ordnet das Imaginary in einer Dreierkonstella-
tion mit der Symbolik und der Wirklichkeit an, um die menschliche Psyche zu be-
schreiben. (vgl. James 2019, S. 38)
Cornelius Castoriadis
Cornelius Castoriadis (1975) stellt sich bewusst gegen Lacans Fokus auf das Psycho-
analytische, bleibt in seinem Anspruch für das Imaginary aber ähnlich grundlegend:
Das Imaginary macht den Menschen nicht zum Menschen, sondern die Gesellschaft
zur Gesellschaft. Jede Gesellschaft definiert sich über das von ihr entwickelte Social
Imaginary. Bei Castoriadis sind Social Imaginaries Bedeutungssysteme, die einer
Gesellschaft helfen, gemeinsam die Realität zu interpretieren. Sie sind „the constitu-
tive basis of everything social“ (James 2019, S. 34).
24
Castoriadis geht von einem einzigen, zentralen Imaginary in einer Gesellschaft aus.
Es ist das Social Imaginary, was eine Gesellschaft von der anderen unterscheidet.
(vgl. Strauss 2006, S. 329)
Benedict Anderson
In seiner Betrachtung des Nationalismus (1983 [2016]) schlägt der Politikwissen-
schaftler Benedict Anderson eine Definition für die Nation vor, die für viele der
wichtigsten Autoren zu Imaginaries der entscheidende Ausgangspunkt wurde:
„In an anthropological spirit, then, I propose the following definition of the
nation: it is an imagined political community […]. It is imagined because the
members of even the smallest nation will never know most of their fellow-
members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the
image of their communion.“ (ebd., S. 6)
Anderson begründet die Entwicklung dieser Imagined Communities insbesondere mit
dem Entstehen des – vom ihm benannten – Print Kapitalismus. Um ihre Gewinne zu
maximieren entwickelten Verlage unter anderem eine Schriftsprache, die von mög-
lichst vielen verstanden werden sollte (vgl. ebd., S. 44). Auch druckten sie vor allem
Bücher, die auf ein breites Interesse stießen (vgl. ebd., S. 38). Dazu kam die Rolle
der Zeitungen, die mit ihrem täglichen Erscheinungsrhythmus nicht nur das Zeitbe-
wusstsein synchronisierten (vgl. ebd., S. 33), sondern auch das Morgengebet durch
das morgendliche Zeitungslesen ersetzten (vgl. ebd., S. 35). Die Vorstellung, dass in
der ganzen Nation viele andere sich zum gleichen Zeitpunkt mit den gleichen Inhal-
ten beschäftigen, war nach Anderson, ein wichtiger Beitrag für die Fähigkeit, sich
einer Nation bewusst zu werden (vgl. ebd., S. 36).
2.2.2 Social Imaginaries bei Taylor
Charles Taylor hat wie niemand sonst das aktuelle Verständnis von Imaginaries ge-
prägt. Auf ihn berufen sich die meisten Autoren, wenn sie das Konzept von Imagina-
ries zu erklären versuchen.
Anfang der neunziger Jahre war die gängige Theorie zur Entstehung der modernen
westlichen Kultur, dass diese vor allem durch den Siegeszug der modernen Wissen-
25
schaft und der Rationalität zu erklären ist. Für Taylor als Philosoph blieb diese Be-
gründung zu oberflächlich.
Inspiriert von Andersons Definition der Nation als „Imagined Community“ (s. Kapi-
tel 2.2.1) entwickelte er die These, dass die Moderne dadurch entstanden ist, dass
sich etwas in der Art verändert hatte, wie Menschen sich kollektiv die Gesellschaft
vorstellten. Aus einer neuen moralischen Struktur ist ein kollektives Selbstverständ-
nis in der Gesellschaft geworden, das er als „modern social imaginary“ (vgl. Taylor
2004) beschreibt.
Zunächst erklärt er Social Imaginaries anhand ihrer Rolle, um sie von reinen Ideen
abzugrenzen:
„The social imaginary is not a set of ideas; rather, it is what enables, through
making sense of, the practices of a society.“ (ebd., S. 2)
Sie ermöglichen gesellschaftliches Leben, indem sie bestimmte Verhaltensweisen
innerhalb dessen legitimieren.
Eine zentrale Eigenschaft von Social Imaginaries, die er von Anfang an betont, ist,
dass sie für offensichtlich gehalten werden, sobald sie etabliert sind:
„…once we are well installed in the modern social imaginary, it seems the
only possible one, the only one that makes sense.“ (ebd., S. 17)
Im zweiten Kapitel von Modern Social Imaginary (2004) führt Taylor seine Um-
schreibung der Social Imaginaries weiter aus:
„I'm thinking […] of the ways people imagine their social existence, how they
fit together with others, how things go on between them and their fellows, the
expectations that are normally met, and the deeper normative notions and
images that underlie these expectations’“ (ebd., S. 23)
Die zwei Schlüsselbegriffe sind hier „imagine“ und „expectations“. Social Imagina-
ries beschreiben, wie Menschen sich ihr Zusammenleben in der Gesellschaft vorstel-
len und welche Erwartungen dabei eine Rolle spielen.
26
Taylor stellt eine weitere essenzielle Eigenschaft von Social Imaginaries vor:
„Such understanding is both factual and normative; that is, we have a sense
of how things usually go, but this is interwoven with an idea of how they
ought to go, of what missteps would invalidate the practice.“ (ebd., S. 24)
Social Imaginaries enthalten zwei Ebenen: eine sachliche und eine normative. Die
sachliche Ebene enthält die Erwartungen, wie es gewohnheitsgemäß läuft. Die nor-
mative Ebene beschreibt die unterliegenden Wünsche zu den Erwartungen wie es
nach den kollektiven Wertvorstellungen laufen sollte.
Taylor grenzt Social Imaginaries als intellektuelles Element in der Gesellschaft be-
wusst von Theorien ab und verdeutlicht dadurch weitere Eigenschaften:
„… my focus is on the way ordinary people “imagine” their social surround-
ings, and this is often not expressed in theoretical term, but is carried in im-
ages, stories, and legends.(ebd., S. 23)
Menschen basieren ihren Platz in der Gesellschaft nicht auf Theorien, sondern wer-
den von Bildern und Geschichten geleitet. Diese sind die wichtigsten Träger von
Social Imaginaries. Taylor fokussiert sich dabei bewusst auf die „ordinary people“,
wie der nächste Punkt vertieft.
„… theory is often the possession of a small minority, whereas what is inter-
esting in the social imaginary is that it is shared by large groups of people, if
not the whole society.“ (ebd., S. 23)
Ein essentielles Merkmal von Social Imaginaries ist, dass sie nicht nur in der Vor-
stellung einer Elite existieren, sondern von großen Teilen der Gesellschaft geteilt
werden. Taylor führt aus, dass Social Imaginaries häufig ihren Ursprung in Theorien
von Eliten haben. In langen Prozessen verselbstständigen sich diese Theorien, fließen
in Bilder und Geschichten ein, bis sie schließlich Teil dessen geworden sind, wie
Gesellschaft sich organisiert, ihr Verhalten legitimiert und sie sich nicht mehr vor-
stellen kann, anders zu handeln.
Das grenzt Social Imaginaries von vielen anderen sozialtheoretischen Konzepten ab,
die in der Regel einen klar definierten, theoretisch erfassbaren Rahmen haben. Genau
dieser fehlt bei den Social Imaginaries.
27
Taylor verortet Social Imaginaries im philosophischen Begriff des „Background un-
derstanding“ um zu verdeutlichen, dass er für ihre Reichweite „no clear limits“ sieht.
Er beschreibt den „Background“ als…
„… that largely unstructured and inarticulate understanding of our whole
situation. […] It can never be adequately expressed in the form of explicit
doctrines because of its unlimited and indefinite nature.“ (ebd., S. 25)
Als Teil des Hintergrundverständnisses lassen sich somit Social Imaginaries nur
schwer in Worte fassen. Sie manifestieren sich vorrangig in den Handlungen. Taylor
verdeutlicht das an einem Beispiel:
„The understanding implicit in practice stands to social theory in the same
relation that my ability to get around a familiar environment stands to a (lit-
eral) map of this area. I am very well able to orient myself without ever hav-
ing adopted the standpoint of overview the map offers me.“ (ebd., S. 26)
Alma und Vanheeswijck (2018) weisen darauf hin, dass durch das Ausdrücken des
Hintergrundverständnisses in täglichen Handlungen und den Geschichten, die man
erzählt, diese tiefliegenden Werte nicht nur real werden, sondern sich auch konstant
verändert:
„Hence, precisely in these articulating-constitutive practices of coping with
our world, social imaginaries’ flexible boundaries are challenged, negotiated
and reconstructed.“ (ebd., S. 8)
Social Imaginaries sind also Teil eines tiefliegenden Hintergrundverständnis des
richtigen Verhaltens in der Gesellschaft, das schwer zu erfassen ist, sich vorwiegend
durch Handlungen manifestiert und dessen Rahmen immer in Bewegung bleibt. Im
Gegensatz zu Castoriadis, für den es pro Gesellschaft nur ein Imaginary gab, weist
James drauf hin, dass Taylor ein Social Imaginary als „a cultural dominant, layered
across prior and emerging imaginaries“ (James 2019, S. 41) versteht.
Patomäki und Steger greifen Taylors Social Imaginaries auf und beschreiben die
Elemente, aus denen ein „typical modern national imaginary“ meist zusammenge-
setzt ist: (2010, S. 1057)
- Prototypen sind archetypische Geschichten und Merkmale, die exemplarisch
für eine Nation stehen wie „The First Thanksgiving“ für die USA und der
28
Umriss eines Landes auf der Karte (vgl. Prototypen bei Strauss in Kapitel
2.2.3)
- Metaphern sind übertragene Begriffe wie Vaterland und andere, die in diesem
Kontext häufig das Bild der Familie verwenden
- Framings kontextualisieren Themen positiv im Sinne der Nation, häufig in
Verbindung mit entsprechenden Metaphern (Beispiel: „Bist du bereit für das
Wohl deines Vaterlands zu sterben?“)
Auch wenn zu Beginn des 21. Jahrhunderts nach Patomäki und Steger die gesell-
schaftliche Identität der meisten Menschen nach wie vor von nationale Imaginaries
geprägt wird, so beobachten sie, dass…
„…the national imaginary is being increasingly blended with and destabi-
lized by the prototypes, metaphors and framings of a global or ‘planetary’
imaginary. (ebd., S. 1062)
Aus diesem Blickwinkel schaut der Politikwissenschaftler Manfred Steger, der sich
intensiv mit Globalisierung und Ideologie auseinandersetzt, auf Taylor und betrachtet
das Zusammenspiel von Ideologie und Imaginaries mit Blick auf globale Imaginaries
(Steger 2008).
„The ideologies dominating the world today are no longer exclusively articu-
lations of the national imaginary but reconfigured ideational systems that
constitute potent translations of the dawning global imaginary.“ (ebd., S. 12)
James (2019) abstrahiert aus Stegers Ausführungen ein Ebenen-Modell für Ideen,
Ideologien und Imaginaries: Ideen sind demnach Glaubenssätze, die von Individuen
ausgedrückt werden. Ideologien sammeln diese Ideen zu umfassenden Glaubenssys-
temen mit Wahrheitsansprüchen. Imaginaries wiederum sind „convocations of the
social whole that frame different ideological contestations“. „The social whole“ weist
daraufhin, wie z.B. das „wir“ in vielen Aussagen auf Bühnen oder in Meinungsarti-
keln ohne empfunden Notwendigkeit zur genaueren Definition verwendet wird. (vgl.
ebd., S. 42)
Dieses Modell grenzt zum einen die Begriffe voneinander ab und zeigt gleichzeitig,
wie sie aufeinander aufbauen.
29
2.2.3 Imaginaries aus anthropologischer Perspektive
In seinem Artikel ‚Disjuncture and Difference in the Global Cultural Economy‘
(1990) betrachtet der Ethnologe Arjun Appadurai die gesellschaftlichen Veränderun-
gen durch die zunehmende Globalisierung.
Ausgehend von Andersons Imagined Communities, ermöglicht durch den „Print ca-
pitalism“ (vgl. Kapitel 2.2.1), beschreibt er wie neue Technologien das Gefüge von
Gemeinschaften aufbrechen.
„For with the advent of the steamship, the automobile and the aeroplane, the
camera, the computer and the telephone, we have entered into an altogether
new condition of neighborliness, even with those most distant from our-
selves.“ (Appadurai 1990, S. 2)
Merkmale einer Gemeinschaft lassen sich somit global an unterschiedlichen Orten
und in unterschiedlichen Kontexten wiederfinden.
Alte kulturelle Impulsgeber für globale Vorstellungen wie die USA, gehen in einer
„complex transnational construction of imaginary landscapes(ebd., S. 4) als eine
Instanz von vielen auf.
In dieser neuen Welt identifiziert Appadurai einen globalen Kulturprozess, der die
Imagination als organisierte soziale Handlung etabliert:
„… the imagination has become an organized field of social practices, a form
of work (both in the sense of labor and of culturally organized practice) and a
form of negotiation between sites of agency ('individuals') and globally de-
fined fields of possibility.“ (ebd., S. 5)
Gesellschaftliche Vorstellungen werden konstant neu verhandelt und dieser Vorgang
passiert nicht nebenher, sondern wird von vielen Seiten organisiert durch Handlun-
gen vorangetrieben. Dieser Prozess als „key component of the new global order
(ebd., S. 5) sorgt für eine fragmentierte, weltweite Kulturlandschaft.
30
Um diese Fragmentierung untersuchen zu können, schlägt Appadurai ein Framework
vor, das fünf Dimensionen des „global cultural flow“ (ebd., S. 6) identifiziert:
2
„(a) ethnoscapes; (b) mediascapes; (c) technoscapes; (d) finanscapes; and
(e) ideoscapes“
(ebd., S. 6-7)
Die Endung „-scapes“ als Verweis auf die Metapher der Landschaft nutzt er, um be-
wusst zu machen, dass diese nicht objektiv zu betrachten sind.
„…rather that they are deeply perspectival constructs, inflected by the histor-
ical, linguistic and political situatedness of different sorts of actors: nation-
states, multinationals, diasporic communities, as well as sub-national group-
ings and movements (whether religious, political or economic), and even in-
timate face-to-face groups, such as villages, neighbourhoods and families.“
(ebd., S. 7)
Appadurai stellt diese fünf Dimensionen als Bausteine dessen vor, was er in Anleh-
nung an Andersons Imagined Communities als Imagined Worlds bezeichnet:
„…the multiple worlds which are constituted by the historically situated im-
aginations of persons and groups spread around the globe“. (ebd., S. 7)
Anhand dieser Imagined Worlds, die durch die fünf globalen Dimensionen konstant
beeinflusst werden, zeigt Appadurai wie viel kleinteiliger und vielfältiger die gesell-
schaftlichen Vorstellungen geworden sind. Von Castoriadis' Theorie eines Social
Imaginaries pro Gesellschaft über Taylors dominantes Social Imaginaries bis zu
Appadurai ist die Betrachtung und Konstruktion von Imaginaries deutlich komplexer
geworden.
Die kulturpsychologische Sicht auf Imaginaries bei Strauss
Die Anthropologin Claudia Strauss (2006) beobachtet innerhalb ihrer Disziplin die
Entwicklung, dass ‚Imaginaries‘ zunehmend dort als Begriff zum Einsatz kommt, wo
2
Aufbauend auf der vorliegenden Arbeit könnte untersucht werden, ob Appadurais fünf Dimensionen
durch eine sechste ergänzt werden sollte: die Futurescapes.
31
früher ‚Kultur‘ verwendet wurde. Auf eine spezifische Definition wird dabei häufig
verzichtet.
„Imaginary is becoming common in the place of culture and cultural beliefs,
meanings, and models in anthropology and cultural studies.“ (ebd., S. 322)
Das nimmt sie zum Anlass, um sich selbst mit den Beschreibungen der verschiede-
nen Autoren zu Imaginaries, die auch in dieser Arbeit herangezogen wurden, aus
anthropologischer Sicht zu auseinanderzusetzen.
Strauss stellt dabei heraus, dass alle Autoren den Begriff unterschiedlich verwenden:
„for Castoriadis, the imaginary is a culture’s ethos; for Lacan, it is a fantasy; for An-
derson and Taylor, it is a cultural model“ (ebd., S. 323). Das verdeutlicht, warum
sich über die Zeit keine einheitliche Definition herausgebildet hat.
Strauss identifiziert eine große Übereinstimmung zwischen Social Imaginaries, wie
Taylor sie beschreibt (vgl. Kapitel 2.2.2) und Kulturmodellen der kognitiven Anthro-
pologen. Daraus ergibt sich ein möglicherweise reicher Fundus an Quellen, auf den
Zukunftsforscher zugreifen können, wenn sie sich tiefer mit Imaginaries und Kul-
turmodellen beschäftigen wollen. Insbesondere, weil es hier bereits umfangreiche
theoretische Grundlagenarbeit gibt, von denen z. B. das Verständnis von Zukunfts-
wissen profitieren könnte (vgl. Strauss 2006, S. 331).
Nach Strauss unterscheiden kognitive Psychologen drei Arten von Wissen in Kul-
turmodellen: (ebd., S. 332)
a) Ein Prototyp
b) Beispiele
c) Hintergrundverständnis oder eine implizite Theorie
Strauss nennt als Beispiel die amerikanische Vorstellung von Familie. Der Prototyp
ist das verheiratete Ehepaar mit zwei bis drei Kindern, das in einem Einfamilienhaus
wohnt. Als Beispiele dienen zahlreiche echte und fiktionale Familien, die man kennt.
Zum Hintergrundverständnis gehören die verschiedenen Vorstellungen, was eine
Familie ist und wie sie in verschiedenen Situationen funktionieren sollte. Strauss
erwähnt explizit den „normative pull“, den der Prototyp haben kann, in diesem Fall
die Erwartung, wie sich eine Familie verhalten sollte. Selbst dann, wenn in einem
32
Beispiel Aspekte des Prototypen fehlen, werden sie unbewusst ausgefüllt, so als ob
sie vorhanden wären. (vgl. ebd., S. 332)
Strauss nutzt dieses Modell der drei Wissenstypen, um Taylors recht abstraktes Kon-
zept der Social Imaginaries zu konkretisieren und mit ihrer Hilfe spezifischere Fra-
gen zu formulieren:
„What are the prototypes and exemplars associated with specific imaginaries
(e.g. of a ‘society’ or ‘nation’)? How do the stereotypical expectations em-
bedded in a given prototype fit with the fuller knowledge available in the ex-
emplars and cultural models? Is the prototype for a concept seen as an ide-
al?(ebd., S. 332)
Ein anderes Problem des abstrahierten Umgangs mit Social Imaginaries, wie ihn
Castoriadis und Taylor pflegen, sieht Strauss als Vertreterin der psychologischen
Anthropologie in deren Tendenz der Gesellschaft Fähigkeiten zu zuschreiben, die
beim Individuum liegen:
„This means talking, not about ‘the imaginary of a society’, but of people’s
imaginaries. […] Societies are not creatures who imagine, but people do.“
(ebd., S. 326)
Sie plädiert dafür personenzentrierte ethnografische Methoden zu verwenden, um
Imaginaries zu erfassen und in der Betrachtung von Social Imaginaries immer wie-
der eine Frage in den Mittelpunkt zu stellen:
„‘Whose imaginaries are these?’ […] Answering this question requires a
person-centered approach […] so that we are talking about the imaginaries
of real people, not the imaginaries of imagined people. Studying real people
will help counter the tendency to see imaginaries as more homogeneous or
fixed than they are.“ (ebd., S. 339)
Appadurai und Strauss zusammengenommen verdeutlichen, dass es keine klar abge-
grenzten Gruppen mit eindeutigen singulären Imaginaries gibt. Vielmehr gibt es eine
Vielfalt von Imaginaries, die sich über unterschiedliche Netzwerke und Gruppen-
konstellationen konstant entwickeln. Und das tun sie nicht als abstraktes Konzept in
Gesellschaften, sondern in den Vorstellungen von Individuen, die in umfangreicher
Weise miteinander interagieren.
33
2.3 Vergleichbare Ansätze
Future Imaginaries ist keine völlig neue Wortschöpfung. Verschiedene Wissen-
schaftler*innen haben sich mit den Zukunftsaspekten von Imaginaries beschäftigt
oder diese in ihren Untersuchungen identifiziert. Wiederum andere haben für ihre
Disziplin eine eigene Definition von Imaginaries entwickelt, ähnlich wie diese Ar-
beit es für die kritische Zukunftsforschung versucht.
Dieses Kapitel beschreibt eine Auswahl dieser Ansätze und was sich aus ihnen für
eine Annäherung an Future Imaginaries lernen lässt.
2.3.1 Future Imaginaries bei Cook
Julia Cook ist Research Fellow an der Universität Melbourne in Australien. Für ihren
PHD hat sie 28 junge Erwachsene 2014 in Melbourne zu ihren langfristigen Zu-
kunftserwartungen interviewt. Sie wollte untersuchen, wie junge Menschen mit der
„pervasive uncertainty of the long-term, societal future“ (Cook 2018, S. 2) umgehen.
Dabei stellte sie fest, dass die Aussagen auf weitgehend ähnliche Vorstellungen be-
ruhen, wie sich die Welt zukünftig entwickelt.
„[T]he respondents’ imaginings of the future conformed to remarkably simi-
lar themes throughout the sample. Specifically, their perceptions appeared to
either align with or be formed in reference to a dominant account of the fu-
ture as a space of decline.“ (ebd., S. 56)
Auffällig war dabei, dass die Teilnehmer keinen Grund für ihre Zukunftserwartung
angaben, wenn sie nicht direkt gefragt wurden.
„It appeared that […] the majority of the respondents did not connect their
concerns for the future back to what they perceived to be their root causes not
because they were unable to do so, but because they felt that their concerns
were widely shared, and their source was commonly and implicitly under-
stood.“ (ebd., S. 57)
Die jungen Erwachsenen teilen also nicht nur eine negative Zukunftserwartung. Die
Auslöser für diese Entwicklung erscheinen ihnen auch so offensichtlich und kollektiv
verstanden, dass sie nicht mehr explizit genannt werden müssen.
34
Cook vergleicht diese kollektive, nicht erklärungsbedürftige Zukunftserwartungen
mit dem Konzept der Imaginaries wie es von Taylor beschrieben wurde (vgl. Kapitel
2.2). Die entscheidenden Merkmale sind für sie, dass ein Imaginary kollektiv geteilt
wird und eine sachliche sowie eine normative Dimension enthält (vgl. Cook 2018,
S. 76). Da sich die Erwartungen direkt auf die Zukunft bezogen, bezeichnet Cook sie
als „future imaginaries“ (ebd., S. 74).
Cook entdeckt in den Aussagen der Befragten jedoch nicht nur ein übergreifendes
Future Imaginary, sondern zwei. Das erste betitelt sie als „decline-based imaginary“
(ebd., S. 75). Es beschreibt die Erwartung eines kontinuierlichen Abstiegs der Ge-
sellschaft bis zum endgültigen Kollaps. In ihm enthalten sind sowohl die sachliche
Dimension des erwarteten Abstiegs als auch normative Aspekte, die sich stark aus
dem christlichen Weltbild der Apokalypse speisen.
Das zweite Imaginary, das Cook identifiziert, teilt sich die sachliche Dimension mit
dem ersten in der Erwartung einer sich zunehmend verschlechternden Gesamtsituati-
on, ergänzt diese aber durch eine normative Hoffnung auf die Resilienz des Men-
schen, auch diese Herausforderung überstehen zu können. Cook nennt diese Zu-
kunftserwartung, die von einigen, aber nicht von allen Befragten geteilt wurde, das
„alternative future imaginary“. (vgl. ebd., S. 75)
Im weiteren Verlauf ihrer Untersuchung vergleicht Cook die beiden identifizierten
Future Imaginaries mit den Zukunftstheorien verschiedener Sozialtheoretiker von
Castoriadis über Giddens und die Accelerationisten bis zu Beck. Dabei stellt sie fest,
dass diese in erster Linie mit dem „decline-based imaginary“ korrespondieren. (vgl.
ebd., S. 91)
Ohne Strauss oder die psychologische Anthropologie (vgl. Kapitel 2.2.3) explizit zu
erwähnen, hat Cook die Personen-zentrierte Herangehensweise gewählt, indem sie
die konkreten Zukunftserwartungen der jungen Menschen untersucht.
2.3.2 Fictional Expectations bei Beckert
Jens Beckert ist Wirtschaftssoziologe und Direktor am Max-Planck-Institut für Ge-
sellschaftsforschung in Köln. In seiner Arbeit beschäftigt er sich unter anderem mit
35
der Rolle von Imaginaries in der Wirtschaft. 2016 ist zu dem Thema seine Monogra-
fie ‚Imagined Futures‘ erschienen.
In ihr bezieht sich Beckert bereits im ersten Absatz auf Benedict Andersons Kernthe-
se, dass nationale Identitäten auf Social Imaginaries basieren (vgl. Kapitel 2.2.1) und
knüpft seine eigene Kernthese direkt daran an: „I claim that the dynamism of the
capitalist economy is in no lesser way based on imaginaries.“ Allerdings unterschei-
de sich seine Betrachtung von der Andersons, weil er explizit nicht die Imaginaries
der Vergangenheit und Gegenwart untersucht, sondern Imaginaries der Zukunft.
(vgl. Beckert 2016, S. vii)
„… capitalism is an economic system in which the present is assessed princi-
pally through the lens of the future, which is itself considered using imagi-
naries of future states in order to anticipate as yet unrealized profit and
loss.“ (ebd., S. 22)
Beckert bietet mit seinen Thesen zur Dynamik des Kapitalismus eine Perspektive, in
der sich das Verhalten in der Gegenwart explizit aus Zukunftsvorstellungen speist.
Dazu bezieht er sich auf viele der Sozialtheoretiker, die in dieser Arbeit bereits ge-
nannt wurden. Aufbauend auf ihren Aussagen argumentiert er, dass die zentrale Rol-
le von Future Imaginaries im Kapitalismus und wie sie geformt werden, auch ein
neues Paradigma des Umgangs mit der Zukunft in der Soziologie unterstützen (vgl.
ebd., S. 6).
Fictional Expectations
Das kapitalistische Wirtschaftsmodell baut auf der Erwartung zukünftiger Gewinne
durch gegenwärtige Handlungen auf. Nach der Theorie der rationalen Entscheidun-
gen sind die Akteure in der Lage optimale Entscheidungen zu berechnen und dem-
entsprechend zu investieren. Hier setzt Beckert an und hinterfragt die Theorie ratio-
nalen Handelns, weil diese den Umgang mit einer offenen, unsicheren Zukunft aus-
blendet.
„Rational actor theory does not fail because actors do not wish to maximize
their utility but because it is unable to address the consequences of genuine
uncertainty.“ (ebd., S. 8)
36
Auf dieser Beobachtung baut Beckert seine eigene Theorie der kapitalistischen Dy-
namik auf, die er als Gegenpol zum Konzept der rationalen Erwartungen „fictional
expectations“ (ebd., S. 9) nennt.
Wie der Begriff verdeutlicht, liegt für ihn der Unterschied in den Erwartungen. Sie
sind keine präzise kalkulierten Berechnungen, die auf umfangreichen Informationen
basieren – vielmehr lassen sie sich als Zukunftsbilder beschreiben, mittels derer sich
die Akteure zukünftige Situationen und Zustände vorstellen.
„Under genuine uncertainty, expectations become interpretative frames that
structure situations through imaginaries of future states of the world and of
causal relations. Expectations become determinate only through the imagi-
naries actors develop.“ (ebd., S. 9)
Diese Zukunftsbilder und die damit verbundenen Emotionen sind es, welche die Ak-
teure zum Handeln motivieren.
Beckert weist wiederholt auf die Kontingenz der Zukünfte in den Fictional Expecta-
tions hin, die ebenfalls im starken Kontrast zum Verständnis der rationalen Erwar-
tungen stehen, in dem sich die Zukunft prognostizieren lässt.
„The counter-thesis to rational expectations theory would be that under con-
ditions of uncertainty expectations are contingent, because the openness of
the future renders impossible the existence of a “true” economic model. […],
expectations about the future and asset prices are better understood as based
on communicatively established imaginaries that change as interpretations
and judgements of a situation evolve.“ (ebd., S. 42)
Beckert nennt hier explizit Imaginaries, weil aus seiner Sicht die Formung von wirt-
schaftlich orientierten Erwartungen ein gesellschaftlicher, kontinuierlicher Prozess
ist.
Daraus leitet Beckert verschiedene Implikationen ab, die Fictional Expectations für
die Dynamiken kapitalistischer Wirtschaftssysteme ergeben:
Zunächst helfen Fictional Expectations Akteuren in der Wirtschaft, im Kontext gro-
ßer Unsicherheit ihre Entscheidungen zu koordinieren. Hier spiegelt sich das Grund-
verständnis der Rolle von Imaginaries von Taylor bis Appadurai. Geteilte Erwartun-
gen erlauben ein gemeinsames Handeln. Dadurch wird das Fehlen von verlässlichen
37
Prognosen für die Zukunft durch ein kollektives Zukunftsbild ersetzt und ermöglicht
so wirtschaftliche Entscheidungen für die Zukunft zu treffen. (vgl. ebd., S. 11)
Dies führt als zweite Implikation dazu, dass die koordinierten Entscheidungen der
Akteure die Zukunft beeinflussen können. Je mehr Akteure ein bestimmtes Zu-
kunftsbild übernehmen und je mehr sie ihre Entscheidungen daran ausrichten, desto
größer wird ihr Einfluss auf die Entwicklung in Richtung des Zukunftsbilds. Das
kollektive Zukunftsbild wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. (vgl. ebd.,
S. 11)
Diese beiden Implikationen verdeutlichen, wie laut Beckert wirtschaftliche Akteure
einer offenen und unsicheren Zukunft begegnen: Sie setzen auf die Performativität
einer kollektiven Zukunftserwartung, die dafür sorgt, dass sie heute Entscheidungen
treffen können aus denen morgen die antizipierte Zukunft entsteht. Oder salopp aus-
gedrückt: Wenn alle die gleiche Zukunft erwarten, ist die Zukunft weniger offen.
Macht bedeutet in diesem Verständnis von kapitalistischer Dynamik, Fictional Ex-
pectations erschaffen und beeinflussen zu können. Wer die Zukunftserwartungen
möglichst vieler Akteure zu den eigenen Gunsten prägt, verschafft sich wirtschaftli-
che Vorteile. Deswegen sind die kollektiven Zukunftsbilder umkämpft. Beckert
spricht von „politics of expectations“ (ebd., S. 11):
„Actors seek to influence expectations in different ways, including by shaping
the social and political structures that underlie them.“ (ebd., S.11)
Ein Großteil der wirtschaftlichen Kommunikation von Studien über Werbung bis
zu Präsentationen lassen sich als Versuch betrachten, Zukunftserwartungen zu ge-
stalten.
Beckerts Fictional Expectations bieten das umfassendste und weitreichendste Bei-
spiel für die Rolle von Future Imaginaries in der Gesellschaft.
2.3.3 Sociotechnical Imaginaries bei Jasanoff
In Cooks „alternative imaginary“ bezogen sich die positiven Zukunftsvorstellungen
auf die Erwartungen an und die Möglichkeiten von Technologie (vgl. Kapitel 2.3.1).
Häufig ist der technologische Fortschritt eine treibende Kraft für Future Imaginaries.
38
Der Einfluss von Technologie (und Wissenschaft) für die Entwicklung der Moderne
spielte jedoch bei keinem der in Kapitel 2.2 betrachteten Theoretiker eine Rolle. Die
Forscherinnen Sheila Jasanoff und Sang-Hyun Kim aus dem Bereich der ‚Science,
Technology, and Society Studies‘ (STS) kritisieren diese, aus ihrer Sicht bewusste,
Vernachlässigung in den Sozialwissenschaften und definieren parallel zu Beckert
mit seinen Fictional Expectations für den Kapitalismus einen eigenen Begriff für
Imaginaries im Kontext von STS: „Sociotechnical Imaginaries“ (vgl. Jasanoff und
Kim 2009).
Ursprünglich hatten Jasanoff und Kim Sociotechnical Imaginaries auf die kol-
lektiven Zukunftsvorstellungen von Nationen. In ihrem Kapitel ‚Future Imperfect:
Science, Technology, and the Imaginations of Modernity‘ im Sammelband ‚Dreams-
capes of Modernity‘ (2015) erweitert Jasanoff den Bezugsrahmen um weitere, klei-
nere gesellschaftliche Gruppen wie Konzerne oder soziale Bewegungen und folgt
damit der allgemeinen Entwicklung im Verständnis von Imaginaries wie es in Kapi-
tel 2 beschrieben wurde.
Ein Jahr vor Beckert und damit als weitgehend erste im Kontext der Imaginaries
liefert sie eine präzise Definition ihres Verständnisses:
„…we redefine sociotechnical imaginaries … as collectively held, institution-
ally stabilized, and publicly performed visions of desirable futures, animated
by shared understandings of forms of social life and social order attainable
through, and supportive of, advances in science and technology.“ (Jasanoff
2015, S. 4)
Der Kernbestandteil von Jasanoffs Sociotechnical Imaginaries sind Visionen von
wünschbaren Zukünften, die sie privilegiert, weil sie die Anstrengung, neue techno-
logische Zukünfte zu entwickeln in „positive visions of social progress“ (ebd., S. 4)
verankert sieht. Auch wenn mit solchen Zukünften Ängste und Befürchtungen ver-
bunden werden, so beginnen sie doch nach Jasanoff mit dem Wunsch nach einer bes-
seren Zukunft.
Jasanoff betont die Performativität bei Sociotechnical Imaginaries, um damit noch
einmal die Bedeutung von Technologie und Wissenschaft für die Gesellschaft her-
vorzuheben. Das Verständnis von Wissenschaft und die Möglichkeiten der Techno-
logie, zum Beispiel in der Kommunikation, haben aus ihrer Sicht die Moderne erst
39
ermöglicht und sind für viele Gesellschaften konstituierende Elemente. (vgl. ebd.,
S. 10)
Jasanoff beschreibt jedoch nicht nur das Konzept der Sociotechnical Imagianries,
sondern sie grenzt es auch bewusst von anderen Konzepten ab, um das Profil zu
schärfen und zu verdeutlichen, warum sie es für notwendig hält.
„Unlike mere ideas and fashions, sociotechnical imaginaries are collective,
durable, capable of being performed; yet they are also temporally situated
and culturally particular.“ (ebd., S. 19)
Wie dieses Zitat zeigt, trennt sie vorwiegend nicht, was grundlegende Eigenschaften
von Imaginaries sind und welche spezifisch für Sociotechnical Imaginaries gelten.
Diese Unschärfe ist auch bei den meisten anderen Autoren in diesem Kapitel im
Umgang mit Imaginaries zu finden.
Interessant ist, dass Jasanoff zur Abgrenzung ausschließlich andere Begriffe aus der
Politikwissenschaft heranzieht. So differenziert sie Sociotechnical Imaginaries
von der „master narrative“, vom Diskurs, von der Ideologie sowie von „Policy“ und
dem Plan (vgl. ebd., S. 20). Andere Konzepte, die ebenfalls mit gesellschaftlichen
Erwartungen verbunden sind, werden nicht betrachtet (vgl. Kapitel 3.3).
Dieser Fokus auf die Schnittstelle zwischen Politikwissenschaften und STS ist ele-
mentar für das Verständnis von Sociotechnical Imaginaries nach Jasanoff. Ihr Ansatz
ist stark geprägt von der internen Entwicklung in den STS. Jasanoff versteht ihre
Herangehensweise als eine Reaktion auf die starke Präsenz der Akteurs-Netzwerk-
Theorie in den STS, die aus ihrer Sicht die Rolle von Macht und Handlungsfähigkeit
„verflacht“ (vgl. ebd., S. 16).
Sociotechnical Imaginaries sind kein allgemein-gültiges Konzept, um die Rolle von
Wissenschaft und Technik in den Zukunftserwartungen der Gesellschaft zu beschrei-
ben. Vielmehr sind sie eine spezifische Herangehensweise, mit der Jasanoff zu einem
bestimmten Zeitpunkt eine Verschiebung der Betrachtung in einem konkreten Kon-
text anstrebt. Sie bieten einen Zugang zu Imaginaries aus der Perspektive der STS.
Zudem gibt Jasanoff verschiedene Hinweise darauf, wie Sociotechnical Imaginaries
identifiziert und analysiert werden können. Sie präferiert die Methoden des „interpre-
tative research and analysis that probe the nature of structure-agency relationships
40
through inquiries into meaning making.“ (ebd., S. 24) Dabei hebt sie den Vergleich
als vielversprechendste Methode hervor, um die Unterschiede in Sociotechnical Ima-
ginaries herauszuarbeiten. Dies verdeutlicht, wie stark ihr Denken in der Betrachtung
von nationalen Imaginaries verankert ist. Denn ein Vergleich zwischen den Imagina-
ries von Nationen lässt sich deutlich einfacher definieren als zwischen diversen ge-
sellschaftlichen Gruppen wie z.B. sozialen Bewegungen, die weit schwerer abzu-
grenzen sind. Davon zeugt auch ihre Empfehlung, ein besonderes Augenmerk auf die
Entwicklung von Gesetzen zu legen, da diese häufig Aufschluss über die Entwick-
lung eines Imaginaries geben. (vgl. ebd., S. 26)
„Legal disputes are in their very nature moments of contestations between
disparate understandings of the good […], requiring judges to issue rulings
that often reproduce dominant sociotechnical imaginaries.“ (ebd., S. 26)
Ähnliches gilt für die Programme und Dokumente politischer Akteure von Parteien
über Lobbyverbände bis zu Bürgerbewegungen.
Letztlich formuliert Jasanoff eine ähnliche Forschungsfrage für die Motivation zur
Betrachtung von Imaginaries wie viele Jahre zuvor Fred Polak:
„More needs to be done […] to clarify why, at significant forks in the road,
societies opt for particular directions of choice and change over others and
why those choices gain stability or, at times, fail to do so.“ (ebd., S. 14)
Zahlreiche STS-Wissenschaftler*innen haben auf diesen Grundlagen von Jasanoff
aufgesetzt und spezifische Sociotechnical Imaginaries identifiziert und untersucht
(Beispiele: Ballo 2015; Levenda et al. 2019).
2.3.4 Imaginaries bei Lockton und Candy
Während Jasanoff und Kim sich mit ihren Sociotechnical Imaginaries an der Schnitt-
stelle von STS und Sozial- sowie Politikwissenschaften bewegen, interessieren sich
Dan Lockton und Stuart Candy im Rahmen ihrer Arbeit für die School of Design an
der Carnegie-Mellon-Universität für die Übergänge zwischen Design und Zukunfts-
forschung. Dabei fokussieren sie sich auf die Aspekte der angewandten Zukunftsfor-
schung. So hat Candy in den letzten Jahren den methodischen Rahmen der Experien-
tial Futures geprägt, der Akteuren einen erfahrungsorientierten Umgang mit wahr-
41
scheinlichen und wünschbaren Zukünften ermöglichen soll (Candy und Kornet
2017). Lockten wiederum entwickelte seine Workshop- und Design-Methode ‚New
Metaphors‘ (Lockton et al. 2019).
In ihrem Artikel ‚A Vocabulary for Visions in Designing for Transitions‘ haben Dan
Lockton und Stuart Candy verschiedene Konzepte zusammengetragen, um das Vo-
kabular für die Arbeit mit „visions of sustainable futures“ (Lockton und Candy 2019,
S. 28) zu erweitern. Sie bezeichnen diese Konzepte als „Linsen“ im Sinne der Optik
und nutzen diese als Metapher für die Betrachtung menschlichen Verhaltens aus un-
terschiedlichen Perspektiven (vgl. ebd., S. 28).
Die Metapher „Linse“ ermöglicht, einen Betrachtungsgegenstand aus verschiedenen
Blickwinkeln untersuchen zu können, ohne sich für einen entscheiden oder den Be-
trachtungsgegenstand eindeutig zu zuordnen zu müssen. Jede Linse verschiebt den
Fokus und stellt andere Details scharf.
Die erste Linse, die Lockton und Candy für den Umgang mit Zukünften vorstellen,
sind Imaginaries. Sie verstehen den Begriff als Klammer, die von gesellschaftlichen
Erwartungen und kollektiven Visionen für Themen wie den Klimawandel bis zu
mentalen Modellen von z. B. Designern reicht und die viele der in dieser Arbeit er-
wähnte Theoretiker (Appadurai, Anderson, Jasanoff) anführt. Sie benutzen Imagina-
ries vorrangig als Sammelbegriff für verschiedene Typen von Vorstellungen, die
auch Assoziationen und Metaphern einschließen.
Dabei heben sie die These hervor, dass „imaginaries of futures can affect people’s
actions in the present(ebd., S. 30) und beziehen sich hierbei explizit auf Polak (s.
Kapitel 2.1.2). Insofern bestätigen sie die in dieser Arbeit gemachten Beobachtungen
und Verknüpfungen von Zukünften mit Imaginaries.
Ihre fehlende Präzision in der theoretischen Betrachtung könnte dadurch bedingt
sein, dass ihr Fokus auf der Anwendung von Future Imaginaries steht. Sie sehen das
Potenzial von Imaginaries vor allem als Reflexionswerkzeug in Prozessen mit Grup-
pen.
„As a process, investigating imaginaries starts by engaging with, and seeking
to understand, people’s existing collective or individual conceptions of their
situation; how the systems around them work, from their perspective; and
42
what mindsets accompany those conceptions […]. Then, through externalis-
ing those imaginaries, or making them tangible or engageable-with, a com-
munity has the opportunity to reflect on and learn about its own thinking.“
(Lockton und Candy 2019, S. 31)
In diesem Prozess drückt sich ein interessantes Merkmal von Imaginaries aus: Ima-
ginaries müssen externalisiert werden, damit eine Gemeinschaft über sie nachdenken
kann. Das bestätigt die Hypothese, dass Imaginaries weitgehend unbewusste und vor
allem unreflektierte Vorstellungen sind, die im Alltag nicht als solche wahrgenom-
men werden. Erst die Externalisierung macht sie zugänglich.
„Turning from this general process to consider futures imaginaries more
specifically; surfacing a community’s expectations, aspirations and beliefs
about its own prospects can inform the development of deeper and more ro-
bust visions –while being firmly planted in and cognisant of the contexts and
cultures where those imaginaries are found.“ (ebd., S. 31)
Dieser Absatz fasst die Ausgangsthese der vorliegenden Arbeit zusammen (s. Kapitel
1). Die Identifikation und Externalisierung der Zukunftserwartungen einer Gemein-
schaft ermöglicht die Entwicklung von alternativen Zukünften, die außerhalb des
wahrgenommenen Rahmens möglicher Zukünfte liegen. Diese Zukunftserwartungen
werden durch die Kultur geprägt, in der sie entstanden sind. Es lässt sich nicht ohne
weiteres zwischen individuellen und kollektiven Zukunftserwartungen trennen. Des-
wegen setzen Lockton und Candy in ihrem methodischen Denken die Identifikation
und Externalisierung von Future Imaginaries an den Anfang eines Prozesses, an des-
sen Ende alternative Zukünfte stehen (vgl. Candys ‚Ethnograpic Experiential Fu-
tures‘-Prozess (Candy und Kornet 2017)).
„Using the lens of imaginaries helps to sensitise both ourselves and others to
the functioning and dynamics of what and how we imagine the systems we are
in, as they are and as the might be.“ (Lockton und Candy 2019, S. 32)
Mit dem Verständnis von Future Imaginaries als Linse haben Lockton und Candy
eine relevante Vorlage für deren Einsatz bei der Betrachtung von Zukunftsvorstel-
lungen geliefert, die vor allem auf die angewandte Zukunftsforschung ausgerichtet
ist.
43
2.3.5 Future Imaginaries bei Goode und Godhe
Während Lockton und Candy Imaginaries aus Sicht der angewandten Zukunftsfor-
schung betrachten und vor allem am Potenzial für den methodische Einsatz interes-
siert sind, betrachten die Kulturwissenschaftler Luke Goode und Michael Godhe
(2017) Future Imaginaries als einen essentiellen Untersuchungsgegenstand einer
kritischen Zukunftsforschung (vgl. Kapitel 1.4).
Goode und Godhe, die Critical Future Studies (CFS) als neues, interdisziplinäres
Forschungsfeld ausrufen, schauen als Medien- und Kulturwissenschaftler auf die
Zukunftsforschung „to foster a field of study (CFS) that sits both within and along-
side the broader field of Future Studies“ (Goode und Godhe 2017, S. 108). Aus die-
ser Perspektive kritisieren sie die Priorisierung von Expertenwissen in der Zukunfts-
forschung und das weitgehende Desinteresse an Kultur als Einflussfaktor auf die
Zukunftsvorstellungen der Gesellschaft.
Sie sehen ebenfalls Überschneidungen mit früheren Ansätzen einer kritischen Zu-
kunftsforschung, insbesondere Inayatullah mit seinen Ansätzen zur kritischen De-
konstruktion von Zukünften und den Werten, die sie beeinflusst haben (vgl. Kapitel
2.1.3). Allerdings hinterfragen sie als Kulturwissenschaftler den stark konstruktivisti-
schen Ansatz Inayatullahs, „that the present (or, by extension, the future) represents
the fragile victory of just one dominant discourse“ (Goode und Godhe 2017, 113), da
dieser die Gefahr birgt zu einer Form von Kulturdeterminismus zu werden. Ähnlich
wie Appadurai (vgl. Kapitel 2.2.3) sprechen sie sich für eine Betrachtungsweise aus,
in der die Gegenwart sowie die Zukunft durch einen Wettbewerb multipler Diskurse,
gestaltet wird. (vgl. Goode und Godhe 2017, S. 113)
Teilweise wirken die Abgrenzungen ihrer CFS-Definition zu der von Inayatullah
konstruiert, gerade wenn sie einen „reconstructive turn“ (ebd., S. 114) fordern, der
auch bei Inayatullah anders als von ihnen dargestellt eine wichtige Rolle spielt,
insbesondere als Teil seiner Methode Causal Layer Analysis (vgl. Kapitel 2.1.3).
Insofern lässt sich ihre Konzeption von CFS eher wie eine Weiterentwicklung des
Forschungsfelds verstehen als eine Neuerfindung.
Man könnte es auch als bewussten Reanimierungsversuch zu einem Zeitpunkt inter-
pretieren, an dem alternative Zukunftsbilder nach zwei Jahrzehnten des „alternativlo-
sen“ Neoliberalismus, Fukuyamas „End of History“ und einem Technologiedetermi-
44
nismus, der insbesondere von vielen „Futuristen“ gefördert wurde, wieder eingefor-
dert werden und neu entstehen. (vgl. Goode und Godhe 2017, S. 115)
„Glimpses of alternative (and better) futures can be found in every conceiva-
ble corner of public culture, from popular science to political activism, and
these all merit our (critical) attention.“ (ebd., S. 118)
Der Ansatz von Goode und Godhe definiert somit die kritische Zukunftsforschung
für den aktuellen Zeitpunkt neu und stellt den „futural public sphere“ (ebd., S. 109) –
den öffentlichen Diskurs über die Zukunft – in den Mittelpunkt der Betrachtung. Wo
die Zukunftsforschung und ihre kritischen Ansätze den Fokus in der Regel auf
einzelne Zukunftsbilder legt, verschieben Goode und Godhe ihn auf die Vielzahl der
Zukunftsbilder im gesellschaftlichen Kontext.
Neben der Analyse von Zukunftsbilder in diesem Diskurs, gehört für sie auch die
Untersuchung der „political economy of the future(ebd., S. 122) also des Um-
felds, in dem die Zukunftsbilder entstehen – zum Betrachtungswinkel der CFS. Hier
bringen sie Future Imaginaries ins Spiel.
„In our conception of CFS, it’s important to interrogate “future imagi-
naries”, that is, ideas about the future which, at least in some – usually pow-
erful quarters, become taken-for-granted or congealed discourses.“ (ebd.,
S. 123)
Abgeleitet von Castoriadis und Taylor (vgl. Kapitel 2.2) wird nach ihrem Verständ-
nis aus einer Imagination ein Imaginary, wenn diese für selbstverständlich ange-
nommen wird und in den unterbewussten Hintergrund („background“ vgl. Taylor
in Kapitel 2.2) rückt, um von dort aus das allgemeine Verhalten zu beeinflussen und
sogar zu steuern.
Eine interessante Möglichkeit zu testen, ob es sich bei einer Zukunftserwartung um
ein Future Imaginaries handelt, lässt sich aus ihrer Identifikation des Global Imagi-
nary als Future Imaginary ableiten:
„For our purposes, it is sufficient to acknowledge that this global imaginary
also became a future imaginary, in the sense that it would require a con-
scious act of imagination to conceive the future as any other than an intensi-
fication of globalizing dynamics.“ (Goode und Godhe, S. 124)
45
Verallgemeinert lässt sich sagen: Immer dann, wenn es einen bewussten Akt der
Imagination braucht, um sich eine andere Zukunft als die propagierte vorzustellen, ist
die Wahrscheinlichkeit hoch, dass man es mit einem Future Imaginary zu tun hat.
Dieses kurze Gedankenexperiment gehört zu den einfachsten Möglichkeiten, ein
Future Imaginary zu identifizieren. Dabei gilt: Je schwerer es erscheint, sich eine
alternative Zukunft vorzustellen, desto etablierter ist das vorherrschende Zukunfts-
bild in der Gesellschaft. Insofern könnte man diesen Test zur Identifizierung eines
Future Imaginaries auch so abändern, darüber nachzudenken, wie hoch der Wider-
stand im gesellschaftlichen Diskurs wäre, würde das für selbstverständlich genom-
mene Zukunftsbild hinterfragt werden. Je höher der (angenommene) Widerstand,
desto höher der unbewusste Einfluss auf das tägliche Denken und Handeln.
Das bedeutet allerdings nicht, dass das Vorhandensein von Kritik ein Future Imagi-
nary in Frage stellt. Goode und Godhe führen dazu die Digitalisierung als Beispiel
für ein Future Imaginary an, welches auch dystopische Erwartungen einschließt
(ausgedrückt zum Beispiel in der TV-Serie ‚Black Mirror‘), die aber die Unabwend-
barkeit des Future Imaginaries nicht in Frage stellen. (vgl. Goode und Godhe 2017,
S. 124)
Wie oben bereits angedeutet, geht es Goode und Gohde nicht allein um die kritische
Analyse von Future Imaginaries:
„But the point of drawing our critical attention to future imaginaries is not
merely to dethrone, defamiliarize or loosen them. We see such deconstructive
work as essential to CFS but also suggest that imaginaries can work not only
to constrain future thinking but also positively as the semantic ground for ex-
pansive and potentially radical thinking.“ (ebd., S. 124)
Durch das Identifizieren und Untersuchen der Future Imaginaries können selbige aus
dem Hintergrund wieder ins Bewusstsein geholt und dadurch in ihrer Verankerung
der gesellschaftlichen Zukunftserwartung „gelockert“ werden. Darüber hinaus kön-
nen sie aber auch in einem „reconstructive mode“ (ebd., S. 125) durch neue alterna-
tive Zukünften ergänzt werden, um so den vorher durch das Future Imaginary einge-
engten Horizont wieder zu öffnen. Goode und Godhe führen hier Ruth Levitas ‚Uto-
pia as a Method‘ (2013) an, um sich den Möglichkeiten der Rekonstruktion zu nä-
hern. (vgl. Goode und Godhe 2017, S. 125)
46
Diese Interdisziplinarität – die sich bei Methoden und Betrachtungswinkel aus unter-
schiedlichsten Disziplinen bedient zeichnet den Ansatz von Goode und Gohde be-
sonders aus; auch deshalb, weil er sich von der teilweisen Abschottung gegenüber
anderen Disziplinen abhebt, die insbesondere in der deutschen Zukunftsforschung zu
spüren ist, während sie um ihre Identität als Disziplin (oder interdisziplinäres For-
schungsfeld) ringt.
47
3. Annäherung an Future Imaginaries
Der Begriff Future Imaginaries führt im Namen das Zukunftsverständnis der Zu-
kunftsforschung mit dem Konzept der Imaginaries aus der Sozialtheorie zusammen.
In diesem Kapitel werden die Beobachtungen aus Kapitel 2 kombiniert und für eine
theoretische Annäherung an das Konzept von Future Imaginaries verwendet.
Das Ziel ist, Future Imaginaries zunächst genauer einzugrenzen. Was sind mögliche
Eigenschaften und was zeichnet sie aus? Dann gilt es, sie gegenüber ähnlichen Be-
griffen abzugrenzen, um so zu untersuchen, wie sie sich in die bestehende Begriffs-
landschaft einordnen lassen.
3.1 Beobachtungen aus der Betrachtung von Zukünften und Imaginaries
Die Sammlung und Betrachtung der verschiedenen Konzepte und Herangehenswei-
sen an Zukünfte und Imaginaries im zweiten Kapitel haben gezeigt, wie sich gesell-
schaftlichen Zukunftserwartungen in unterschiedlichen Disziplinen genähert wird.
Auch wenn die Autoren aus dem Kontext der Zukunftsforschung (vgl. Kapitel 2.1)
bewusst wegen ihres Blicks auf Zukünfte in der Gesellschaft ausgewählt wurden, so
lässt sich darüber hinaus feststellen, dass sie alle um ein unbenanntes Konzept von
gesellschaftlichen Zukunftserwartungen kreisen, ohne es explizit zu benennen. Die
ITAS-Workshop-Teilnehmer sprechen von einer „dominierenden soziotechnischen
Zukunft“ (vgl. Kapitel 2.1.1), Polak problematisiert den Einfluss vorhandener Zu-
künfte in den Köpfen von Entscheider (vgl. Kapitel 2.1.2) und bei Inayatullah lassen
sich verschiedene Ansätze in Richtung großer, gesellschaftlicher Zukunftserwartun-
gen identifizieren wie z.B. die archetypischen Zukunftsbilder (vgl. Kapitel 2.1.3).
Man kann also schon seit Jahrzehnten Spuren von einem Betrachtungswinkel auf
gesellschaftliche Zukünfte, wie er mit Future Imaginaries beschreiben werden soll,
in der Zukunftsforschung und verwandten Disziplinen finden – auch wenn er mit
Lockton und Candy (vgl. Kapitel 2.3.4) sowie Goode und Godhe (vgl. Kapitel 2.3.5)
erst in den letzten Jahren explizit mit dem Begriff der Imaginaries verknüpft wurden.
48
Es stellt sich die Frage, warum der Begriff der Imaginaries erst in den letzten Jahren
in der Zukunftsforschung auftaucht, wenn sich Ansätze des Konzepts bis Polak zu-
rückverfolgen lassen. Eine mögliche Erklärung könnte in der grundsätzlichen Vag-
heit liegen, die sowohl mit dem Konzept als auch mit der Begrifflichkeit von Imagi-
naries verbunden ist. Auch dieses Muster zieht sich durch die Betrachtungen in Ka-
pitel 2. So weist Strauss darauf hin, dass alle wichtigen Autoren zu Imaginaries diese
anders definiert haben (vgl. Kapitel 2.2.3). Das hat dazu beigetragen, dass sich bis
heute keine klare Definition von Imaginaries etablieren konnte.
Die Variationen in der Beschreibung und Definition von Imaginaries deuten dennoch
auf einen noch tieferliegenden Grund für die fehlende Adaption des Konzepts hin:
Imaginaries beschreiben ein fundamental vages Phänomen in der Gesellschaft. Auch
dieses Muster lässt sich bei den verschiedenen Autoren in Kapitel 2 entdecken. So ist
es nach Taylor ein konstituierendes Merkmal von Imaginaries, dass sie nicht sprach-
lich präzise formuliert, sondern nur in Geschichten und Legenden vermittelt und in
Handlungen ausgedrückt werden. Als Teil des Hintergrundverständnisses sind sie
unstrukturiert und ohne klaren theoretischen Rahmen. Das führt auch dazu, dass die
Übergänge zu anderen Begriffen wie Ideologie, Mythen und Common Sense fließend
sind.
Umso interessanter ist es zu beobachten, was passiert, wenn in einer Disziplin wie
STS bewusst das Heft in die Hand genommen und ein eigener Begriff mit einer kla-
ren Definition und Rolle entwickeln wird. So konnten sich Sociotechnial Imaginaries
als Konzept etablieren und es lassen sich heute zahlreiche Arbeiten finden, die darauf
aufbauend Studien durchführen (vgl. Kapitel 2.3.4).
Basierend auf den Erkenntnissen über die Herausforderungen im Umgang mit Ima-
ginaries gilt es für den Kontext der Zukunftsforschung also nicht, einen neuen Be-
griff einzuführen, sondern den im Entstehen begriffenen Begriff theoretisch zu un-
termauern. Dazu werden in diesem Kapitel die identifizierten Muster aus Kapitel 2
zu einer Annäherung an ein Konzept von Future Imaginaries zusammengeführt.
49
3.2 Eingrenzung von Future Imaginaries
Wie im letzten Kapitel beschrieben, gibt es bis heute keine allgemeine Definition für
Imaginaries. So wie sich Imaginaries über die soziale Handlung ausdrücken, defi-
niert sich auch der Begriff über den Diskurs um ihn.
Das Ausgangsverständnis von Future Imaginaries, auf dem diese Arbeit aufsetzt,
versteht sie als kollektive Zukunftserwartungen, die so selbstverständlich geworden
sind, dass sie weitgehend unbewusst und unreflektiert gesellschaftliches Verhalten
beeinflussen. Sie sind ein soziologisches Phänomen. Darauf aufbauend kann das
Verständnis nun vertieft werden.
Future Imaginaries lassen sich als eine spezifische Form der von Grunwald formu-
lierten gegenwärtigen Zukünften in gesellschaftlichen Debatten beschreiben (vgl.
Kapitel 2.1.1). Es sind Zukunftserwartungen in der Gegenwart, die sich aus Wissen
und Annahmen zusammensetzen und normative Aspekte enthalten. Was sie von an-
deren Zukünften unterscheidet, ist, dass sie von Gruppen bis hin zu ganzen Gesell-
schaften geteilt werden.
Somit sind Future Imaginaries gleichzeitig eine spezifische Form der von Taylor und
anderen beschriebenen Imaginaries. Sie beschreiben, wie sich Teile der Gesellschaf-
ten die Zukunft eines Themas vorstellen und welche Erwartungen sich daraus an das
gesellschaftliche Verhalten ergeben. Future Imaginaries organisieren den gesell-
schaftlichen Umgang mit der Zukunft. Dabei können sie häufig nicht explizit formu-
liert werden, weil sie Teil des von Taylor angeführten Hintergrundverständnisses
sind (vgl. Kapitel 2.2.2). Vielmehr manifestieren sie sich in Geschichten und Hand-
lungen.
Aus der Entwicklung des Verständnisses von Imaginaries über die letzten Jahrzehnte
lässt sich für die Future Imaginaries ableiten, dass es nicht nur ein Future Imaginary
in einer Gesellschaft oder eine Gruppe gibt, sondern dass es zu verschiedenen The-
men unterschiedliche Future Imaginaries gibt, die sich in ein fragmentiertes Geflecht
von vielfältigen Imaginaries mit unterschiedlicher Reichweite und Wirkmächtigkeit
einsortieren.
Future Imaginaries werden in dieser Arbeit nicht als allgemein-gültiges Konzept
verstanden, sondern als eine spezifische Betrachtung einer Form von Zukunftserwar-
50
tungen in der Gesellschaft aus Perspektive der (kritischen) Zukunftsforschung, ver-
gleichbar den Fictional Expectations in der Wirtschaftssoziologie und den Socio-
technical Imaginaries in den STS. Im Sinne eines konstruktivistisch-
interaktionistischen Grundverständnisses hebt der Begriff nicht nur Aspekte der
Wirklichkeit aus der Perspektive der Zukunftsforschung hervor, sondern konstituiert
damit auch ein Phänomen, welches erst wahrgenommen werden kann, nachdem es
konstruiert wurde (Giesel 2007, S. 14).
3.2.1 Merkmale von Future Imaginaries
Nachfolgend werden die wichtigsten Eigenschaften beschrieben, die sich aus der
Zusammenführung von Zukünften und Imaginaries ableiten lassen.
Future Imaginaries als dominante Zukunftserwartungen
Ein konstituierendes Merkmal der Future Imaginaries ist ihre Dominanz im Diskurs
um die Zukunft. Wie in Kapitel 3.1 beschrieben, kreisen viele der in dieser Arbeit
herangezogenen Autoren um das Konzept von dominierenden Zukünften. Wenn Zu-
kunftsvorstellungen zu kollektiven Zukunftserwartungen werden, weil sie im Diskurs
so dominant geworden sind, dass sie alternative Zukunftsvorstellungen verdrängen,
lässt sich von Future Imaginaries sprechen. Sie beschreiben Zukunftserwartungen
von Gruppen in der Gesellschaft, die sich nicht mehr vorstellen können, dass es sich
die Zukunft anders entwickeln könnte, als von ihnen angenommen.
Cooks Interview-Serie mit den jungen Erwachsenen in Australien ist ein prototypi-
sches Beispiel (vgl. Kapitel 2.3.1). Ohne voneinander zu wissen, haben die Inter-
viewten ähnliche Erwartungen über die Zukunft geäußert. Die Dominanz ihres Fu-
ture Imaginaries äußerte sich jedoch nicht nur durch geteilte Zukunftserwartungen.
Sie gingen auch intuitiv davon aus, dass diese Erwartungen so selbstverständlich sind
und kollektiv verstanden werden, dass sie keiner Erklärung bedürfen.
Auf dieser Dominanz innerhalb der Zukunftsvorstellungen basiert auch der Test, ob
es sich um ein Future Imaginary handelt. Wie in Kapitel 2.3.5 beschrieben, lässt sich
dazu ein Gedankenexperiment durchführen: Wie hoch wäre zu einem Thema der
innere (im Sinne der persönlichen Vorstellungen) und der äußere (im Sinne des ge-
sellschaftlichen Diskurses) Widerstand gegen die Vorstellung eines alternativen Zu-
51
kunftsbildes? Das Gedankenexperiment hilft, sich der Dominanz eines Future Ima-
ginaries im Hintergrundverständnis anzunähern und kann als erster Test bei der Iden-
tifikation eines Future Imaginaries unterstützen.
Die sachliche und die normative Ebene von Future Imaginaries
Die Rolle von Werten und normativen Vorstellungen zieht sich wie ein roter Faden
durch die Betrachtungen in Kapitel 2 – sowohl in Bezug auf Zukünfte als auch auf
Imaginaries. Grunwald spricht von normativen Festlegungen als einem Bestandteil
von Zukünften (vgl. Kapitel 2.1.1). Polak sieht in den idealen Werten einer Gesell-
schaft die Grundlage für die Entwicklung von Zukunftsbildern (vgl. Kapitel 2.1.2).
Taylor beschreibt zwei Ebenen des sachlichen und normativen in Social Imaginaries,
die ebenso auf Future Imaginaries anwendbar sind, wie Cook gezeigt hat (vgl. Kapi-
tel 2.3.1).
Future Imaginaries enthalten immer eine sachliche Ebene, die nach Taylor be-
schreibt, was die grundsätzlichen Erwartungen für die zukünftige Entwicklung zu
einem Thema sind. Darunter lagert eine tiefere Ebene, welche Vorstellungen enthält,
wie die Entwicklung den kollektiven Werten gemäß verlaufen sollte. Bei Cook führt
diese Unterscheidung der Erwartungen in zwei Ebenen zur Identifikation von zwei
Future Imaginaries, welche sich die sachliche Ebene teilen, auf der normativen Ebe-
ne aber unterscheiden (vgl. Kapitel 2.3.1).
Das Vorhandensein der zwei Ebenen in Future Imaginaries grenzt dieses Konzept
von anderen ab, welche meist nur auf einer der beiden Ebenen aufbauen (vgl. Kapi-
tel 3.3).
Kollektive Zukunftserwartungen gewöhnlicher Menschen
Ein weiteres Merkmal der Future Imaginaries ist, dass sie nicht auf bestimmte Eliten
oder Experten reduziert sind, sondern von der breiten Bevölkerung den „ordinary
people“ wie Taylor schreibt geteilt werden. Das hängt damit zusammen, dass sie
keine abstrahierte Theorie sind oder einen klaren theoretischen Rahmen haben, son-
dern Teil des Hintergrundverständnisses sind.
Cook führte ihre Interviews nicht mit Experten durch, die zu spezifischen Themen
ein vertieftes Verständnis besitzen und die aufgrund dessen zu ihren Zukunftserwar-
52
tungen als Experten befragt wurden. Stattdessen befragte sie junge Erwachsene in
unterschiedlichen Lebenssituationen und mit verschiedenen Weltbildern. In deren
Zukunftserwartungen identifiziert sie die zwei Future Imaginaries. (vgl. Kapitel
2.3.1)
Aus der Perspektive der Anthropologie betonen Appadurai und Strauss die Veror-
tung der Imaginaries bei gewöhnlichen Menschen und nicht nur bei den Eliten. So
führt Appadurai „diasporic communities“ und soziale Bewegungen als Beispiele an
(Appardurai 1990, S. 7). Strauss wiederum verdeutlicht, dass es nicht die Gesell-
schaft ist, die Vorstellungen und Erwartungen hat, sondern die Individuen in ihr.
(vgl. Kapitel 2.2.3)
Das bedeutet auch, dass es in Expertenkreisen Future Imaginaries geben kann. Diese
beziehen sich jedoch weniger auf die Expertise, sondern auf die spezifischen Erwar-
tungen, die im Hintergrundverständnis der Gruppe verortet sind.
Die Performativität von Future Imaginaries
Als Teil des Hintergrundverständnisses manifestieren sich Future Imaginaries über
Sprache und Verhalten in der Form von Erzählungen und Handlungen in Bezug auf
die Zukunft. Dabei trägt jede Erzählung und Handlung dazu bei, die Zukunftserwar-
tungen nicht nur zu festigen, sondern die entsprechende Zukunftserwartung sogar
wahrscheinlicher werden zu lassen. Diese Performativität als Merkmal von Future
Imaginaries wird von verschiedenen Autoren angedeutet.
So beschreiben die Teilnehmer des ITAS-Workshops, dass die (soziotechnischen)
Zukünfte…
„…nicht an individuelle Akteure oder begrenzte Akteursgruppen gebunden
sind, sondern zwischen unterschiedlichsten Diskursen und Bereichen der Ge-
sellschaft zirkulieren und damit ein „Eigenleben“ entfalten können, das kaum
mehr etwas mit den Intentionen ihrer Produzenten gemeinsam hat. Soziotech-
nische Zukünfte besitzen und entwickeln damit eine eigenständige Wirkmäch-
tigkeit in Kommunikations- und Handlungsprozessen…“ (Lösch et al. 2016,
S. 9)
53
Darum untersuchen die Teilnehmer die Performativität von soziotechnischen Zu-
künften in der Dimension ihres Analyse-Modells, welche diese Wirkmächtigkeit der
Zukünfte in der Gesellschaft betrachtet.
Die Wirkung von Zukünften in der Gesellschaft ist als „pull of the future“ Polaks
Kernthese. Die Zukunft entsteht nach Polak aus dem Handeln in der Gegenwart,
welches wiederum von der Zukunftserwartung bestimmt wird.
Insbesondere Taylor und die ihn interpretierenden Autoren wie Alma und Van-
heeswijck weisen auf das konstituierende Merkmal von Imaginaries hin, dass sie
sich erst durch die Handlung manifestieren. Appadurai vertieft dieses Verständnis
mit seiner Beschreibung der Imagination als „organized field of social practice“.
Ähnliche argumentiert Beckert, wenn er schreibt, dass es die Imaginaries sind, mit
denen Akteure ihre Handlungen koordinieren und dadurch die Zukunft beeinflussen:
„Because expectations can help actors coordinate their efforts, they are able
to affect the future.“ (Beckert 2016, S. 11)
Jasanoff sieht die Performativität der Sociotechnical Imaginaries ebenfalls als ein
Kernmerkmal, wie in Kapitel 2.3.3 beschrieben wurde.
Diese Merkmale sind nur eine erste Annäherung an das soziale Phänomen der Future
Imaginaries, die es in zukünftigen Betrachtungen zu vertiefen und zu erweitern gilt.
3.2.2 Bestandteile von Future Imaginaries
Durch die Zusammenführung der Zukünfte aus der Zukunftsforschung und der Ima-
ginaries aus Soziologie und Anthropologie lassen sich verschiedene Überlegungen
bezüglich der Bestandteile von Future Imaginaries ableiten.
Grundsätzlich lässt sich beobachten, dass es insbesondere im Kontext der Imaginari-
es keine einheitliche Beschreibung von Bestandteilen gibt, sondern nur Annäherun-
gen. Das dürfte unter anderem mit der Verortung der Imaginaries im Hintergrund-
wissen zu tun haben, wo sich die Imaginaries – wie beschrieben – einer theoriegelei-
tenden Betrachtung weitgehend entziehen.
Als Zukunftsbilder betrachtet können Future Imaginaries theoretisch aus den von
Grunwald angeführten Wissensbestandteilen und Prämissen bestehen. Sie können
54
somit gegenwärtiges Wissen als Basis enthalten, auf denen Einschätzungen zukünfti-
ger Entwicklungen innerhalb des Zukunftsbilds aufsetzen. Dazu kommen Ceteris-
paribus-Bedingungen und Ad-hoc-Annahmen.
Hier ergibt sich eine gewisse Rekursivität von Future Imaginaries, denn zunächst
sind sie selbst Zukunftsbilder, die sich zu gesellschaftlichen Zukunftserwartungen
verfestigen. Dann werden sie wiederum zu Bestandteilen von anderen Zukunftsbil-
dern in der Gesellschaft. Sie gehen als Prämissen in Zukunftsbilder zu ihrem jeweili-
gen Thema auf und prägen so den Rahmen der vorstellbaren Zukünfte. Eine mögli-
che Konsequenz dieser Erkenntnis wäre, die Bestandteile von Zukünften bei Grun-
wald um Future Imaginaries zu ergänzen und sie so bewusst bei der Untersuchung
der Geltung von Zukunftsaussagen mit zu betrachten.
Da sie sich aber einer direkten Analyse wie oben beschrieben entziehen, lassen
sie sich nur in der Form ihrer Manifestation als Erzählungen und Handlungen unter-
suchen. Hier sind die drei Elemente hilfreich, die sich laut Patomäki und Steger in
Imaginaries finden lassen: Prototypen, Metaphern und Framings (vgl. Kapitel 2.3.2).
Untersucht man die Zukunftsbilder und Handlungen in der Gesellschaft zu einem
Thema auf diese Elemente, können sie Aufschluss geben über das zugrunde liegende
Future Imaginary.
Ebenfalls hilfreich bei der Annäherung an die Bestandteile eines Future Imaginary
sind die von Strauss angeführten drei Arten von Wissen in Kulturmodellen: ein Pro-
totyp, Beispiele und das Hintergrundverständnis oder eine implizite Theorie (vgl.
Kapitel 2.3.3).
Ausgehend von Strauss haben die beiden Forscherinnen Cantó-Milà und Seebach
(2015) ein zukunftsbezogenes Codierungskonzept entwickelt, um autobiografische
Interviews zu analysieren:
1. Als „Imaginaries of the future“ verstehen sie symbolische Universen, die sich
aus verschiedenen Figuren und Narrativen über die Zukunft zusammensetzen.
Diese dienen ihnen dabei als „general framework“, um Figuren und Zu-
kunftsbilder in den größeren Kontext kultureller und sozialer Diskurse und
Handlungen einzuordnen.
55
2. Als „Images of the future“ identifizieren sie die konkreten Bilder, welche die
Interviewten äußerten. Sie beziehen sich auf deren Hoffnungen, Ängste und
sonstige Emotionen. Sie beschreiben das Was des individuellen Future Ima-
ginaries.
3. In Anlehnung an Marc Augé (2004) nutzen sie das Konzept der „Figures“,
um das Wie der Future Imaginaries zu beschreiben. Dabei geht es um die
Form, wie die Befragten ihre Zukunftsbilder präsentieren. Hier lassen sich die
oben erwähnten Elemente wie Prototypen, Metaphern und Framings anknüp-
fen.
(Cantó-Milà und Seebach 2015, S. 202)
Das Fazit ihrer Betrachtung verdeutlicht, dass sich die beschriebene Eigenschaft von
Future Imaginaries nicht direkt erfassen lassen:
„If the figures and images that have been presented are combined together,
the contours of the imaginaries of the future can finally be traced.“ (ebd.,
S. 209)
Man kann sich ihnen nur durch die Analyse der Manifestationen annähern.
Angelehnt an Lockton und Candy lassen sich Future Imaginaries grundsätzlich auch
als Klammer verstehen (vgl. Kapitel 2.3.4), die verschiedene Wissensbestandteile
und Elemente wie Prototypen, Metaphern und Framings sammeln.
3.2.3 Rollen von Future Imaginaries
Eine ausführliche Analyse welche Rollen die Future Imaginaries in Gesellschaften
einnehmen, liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit. Dennoch werden nachfol-
gend die verschiedenen Andeutungen der Autoren aus Kapitel 2 zu möglichen Rollen
von Zukünften und Imaginaries in Kurzform zusammengeführt. Es liegt im Charak-
ter der Future Imaginaries, dass sich hin und wieder kaum zwischen einer Beschrei-
bung ihrer Merkmale und der Rolle, die sie einnehmen, unterscheiden lässt. Viele
Autoren definieren sie vorwiegend über ihre Rolle und vernachlässigen Aspekte wie
spezifische Merkmale oder Bestandteile (vgl. Taylor 2004).
Polak beschreibt mit dem „pull of the future“ die Rolle von Zukunftsbildern als An-
trieb für die kulturelle Weiterentwicklung. Inayatullah zitiert Michael und Anderson,
56
deren Konzept von „Stories“ auf dem Makrolevel dazu beitragen soll, eine Ordnung
zu kreieren und die individuelle Existenz in einen größeren Rahmen von Bedeutung
und Ziel (englisch: purpose) einzuordnen. Diesen Punkt hat Taylor in seiner Be-
schreibung der Social Imaginaries verstärkt, indem er sie anhand ihrer Rolle als
Grundlage des Zusammenlebens und des richtigen Verhaltens miteinander definiert.
Bei Beckert wird erst durch die Existenz von Fictional Expectations kapitalistisches
Handeln im Kontext unsicherer Zukünfte möglich. Das gemeinsame Zukunftsbild
koordiniert die Erwartungen.
Future Imaginaries dienen der Gesellschaft dazu, ihren kollektiven Umgang mit ei-
ner unsicheren Zukunft zu koordinieren und im Alltag handhabbar zu machen. Sie
bieten Orientierung für Entscheidungen und legitimieren Handlungen in Bezug auf
die Zukunft. Gleichzeitig sind Future Imaginaries Teil des grundsätzlichen kol-
lektiven Selbstverständnisses, das die Identität einer Gesellschaft oder Gruppe in der
Gesellschaft bestimmt. Mit Anderson kann eine Gruppe allein dadurch entstehen,
dass sie die gleiche Zukunftserwartung hat (vgl. Kapitel 2.1.2). Die Performativität
der Future Imaginaries wiederum festigt die kollektiven Zukunftserwartungen, das
gemeinsame Selbstverständnis und die unterliegenden Werte.
Da in dieser Arbeit Future Imaginaries als spezifischer Betrachtungswinkel auf ge-
sellschaftliche Zukunftserwartungen aus der Perspektive der Zukunftsforschung ver-
standen werden, ergibt sich daraus auch eine spezifische Rolle von Future Imagina-
ries für die Zukunftsforschung. So erlaubt die Beschäftigung mit Future Imaginaries
eine Vertiefung der im vorherigen Kapitel und im Kapitel 2.1.1 beschriebenen Unter-
suchung der Geltungsansprüche von Zukünften anhand der Wissensbestandteile und
Prämissen. So können insbesondere die Prämissen, in Form von unausgesprochenen
Vorannahmen, welche in die Zukunftsbilder eingeflossen sind, besser aufgespürt
werden. Dadurch lässt sich das Verständnis der Gegenwart vertiefen wie es in Kapi-
tel 1.4 als Ziel der kritischen Zukunftsforschung formuliert wurde. Die Rolle der
Future Imaginaries in der Gesellschaft verdeutlicht auch die Möglichkeiten für die
Zukunftsforschung, wenn die Zukunftsforschung die Future Imaginaries nicht nur
identifizieren, sondern auf ihnen basierend auch alternative Zukunftsbilder entwi-
ckeln kann. Wie die Zukunftsforschung die Identifikation, Dekonstruktion und Re-
57
konstruktion methodisch bewerkstelligen kann, bedarf der weiteren Untersuchung
und Entwicklung. Erste Ansätze finden sich in Kapitel 4.
3.3 Abgrenzung
Nach der Eingrenzung des Verständnisses von Future Imaginaries folgt nun eine
Abgrenzung gegenüber anderen Begriffen, die sich mit ähnlichen Bezugsrahmen
beschäftigen. Dabei sollen nicht nur Ähnlichkeiten und Unterschiede identifiziert,
sondern auch soweit möglich das Verständnis von Future Imaginaries präzisiert
werden. Um im gesetzten Rahmen dieser Arbeit zu bleiben, kann jeder Begriff nur
grob anskizziert und der Bezug zu Future Imaginaries angedeutet werden.
3.3.1 Metaphern
Osmo Kuusi et al. weisen auf die große Bedeutung hin, die Metaphern in der Zu-
kunftsforschung und im Umgang mit Zukünften allgemein haben, auch weil viele der
wichtigsten Begriffe in der Zukunftsforschung selbst Metaphern sind (Beispiel: Sze-
nario). Insbesondere bei Inayatullah und seiner CLA-Methode haben Metaphern eine
zentrale Rolle als Betrachtungsgegenstand übernommen (Kuusi et al. 2016).
Patomäki und Steger haben gezeigt (vgl. Kapitel 2.2.2 und 3.2.2), dass Metaphern
ein häufig verwendetes Ausdrucksformat von Imaginaries sind. Sie werden verwen-
det, um in den von Taylor angeführten „images, stories, and legends“ (s. Kapitel
2.2.2) Aspekte zu vermitteln, für die es häufig (noch) keine eigenen Begriffe gibt.
Auffällig ist es jedoch, dass anderen Autoren sich kaum mit der Verbindung von
Imaginaries und Metaphern auseinandergesetzt haben.
Das Zusammenspiel von Metaphern und Future Imaginaries ist relativ eindeutig.
Wie oben beschrieben, sind sowohl für die Zukunftsbilder als auch für die Imagina-
ries Metaphern elementar. Ihre Analyse in den gesellschaftlicher Zukunftserwartun-
gen dürfte in vielen Fällen der erste Schritt sein, um mögliche Future Imaginaries zu
identifizieren.
58
3.3.2 Mythen
Die Herausforderung einer Abgrenzung zwischen Mythen und Future Imaginaries
beginnt damit, dass beide Begriffe inhärent vage sind und auch Mythen über die Zeit
und Disziplinen vielfältig definiert und interpretiert wurden und werden. Schon Po-
lak weist in ‚The Image of the Future‘ explizit auf die „increasing divergence of
opinions concerning the concepts of “myth” and “mythology”“ (Polak 1973, S. 170)
hin.
Bei seiner historischen Analyse der Bedeutung von Zukunftsbildern spielen gerade in
den frühen Epochen Mythen immer wieder eine wichtige Rolle. Für ihn sind Mythen
und Zukunftsbilder eng miteinander verwoben. Er sieht in Mythen die ersten Aus-
drucksformen von Zukunftsbildern:
3
„It is in the myth that the split personality first succeeds in conceiving the
Other world and crystallizing its image of the future.“ (ebd., S. 28)
Beckert unterstützt diesen Punkt:
„Traditional societies viewed the future as part of a circular repetition of
events whose occurrence was often cognitively represented through myths.“
(Beckert 2016, S. 22)
Auch Inayatullah beschäftigt sich immer wieder mit Mythen. So verweist er bereits
in seinem ersten Artikel zur kritischen Zukunftsforschung 1990 im Kontext der in
Kapitel 2.1.3 beschriebenen Inspiration durch den Begriff Stories darauf: „stories are
more sensitive to unconscious processes, to myths.“ (Inayatullah 1990, S. 124)
In seiner CLA hat Inayatullah den Mythen zusammen mit den Metaphern anschlie-
ßend einen festen Platz als tiefste Eben der Betrachtung eingeräumt. Dort umreißt er
sie als …
„…the deep stories, the collective archetypes, the unconscious dimensions of
the problem or the paradoxes […]. This level provides a gut/emotional level
experience to the worldview under inquiry. The language used is less specific,
3
Im zweiten Teil von ‚The Image of the Future‘ beschäftigt sich Polak dann ausführlich mit dem
Unterschied zwischen und dem Zusammenspiel von sozialen Mythen und Utopien (1973, S. 162ff).
59
more concerned with evoking visual images, with touching the heart instead
of reading the head.“ (Inayatullah 1998a, S. 820)
Seine fünf archetypischen Zukunftsbilder (vgl. Kapitel 2.1.3) weisen wiederum auf
ein Verständnis von Mythen hin, das von C.G. Jung propagiert wurde und große
Ähnlichkeiten zu Imaginaries aufweist. Jung versteht Mythen als einen „Spiegel des
kollektiven Unbewußten oder der Grundstrukturen des menschlichen Seelenlebens,
die sich in überzeitlichen und verschiedenen Kulturen gemeinsamen Archetypen
ausdrücken“ (Engels 2003).
Hier lässt sich eine mögliche Unterscheidung zwischen Imaginaries und Mythen
erkennen. Während Imaginaries insbesondere nach Taylor Teil des „kollektiven Un-
bewußten“ sind, sind Mythen wie zitiert „Spiegel“ ebendieses. Das heißt, sie gehören
zu den Formaten, mit denen sich unter anderem Imaginaries manifestieren. Deswe-
gen stehen sie bei Inayatullah auch mit Metaphern auf einer Stufe: als Ausdrucks-
formate des Unbewussten. Das tun sie in der Form von „beim Hörer Sinn stiftende
Erzählung[en]“ (Engels 2003).
Wenn Mythen und Metaphern zu den Ausdrucksformaten von Future Imaginaries
gehören, lässt sich daraus die Hypothese ableiten, dass Future Imaginaries eine Art
fünfte Ebene in der CLA darstellen könnten. Diese Ebene hat keine eigenen Aus-
drucksformate mehr, sondern lässt sich nur über die Ausdrucksformen in der vierten
Ebene nachzeichnen. Mit dieser weiteren Ebene wäre es möglich zu fragen, welche
Future Imaginaries mit den identifizierten Mythen und Metaphern ausgedrückt wer-
den. In der Rekonstruktion könnten anschließend alternative Imaginaries gewählt
werden, aus denen sich wiederum andere Mythen und Metaphern ableiten lassen.
Diese Herangehensweise wurde bisher nicht überprüft und könnte somit eine erste
Möglichkeit sein, das Konzept der Future Imaginaries methodisch anwendbar zu
machen (vgl. Kapitel 4.1).
Michael und Anderson, die Inayatullah mit ihrem Begriff Stories inspiriert haben,
weisen explizit darauf hin, dass sie diesen Begriff dort verwenden, wo andere My-
thos oder Paradigma verwenden (Michael und Anderson 1987, S. 110). Allgemein
lässt sich beobachten, dass im nicht weiter reflektierten Sprachgebrauch des Alltags
60
häufiger Mythos als Begriff verwendet wird, wo man bei genauerem Hinsehen den
Begriff Imaginaries– sofern bekannt – verwenden würde.
4
3.3.3 Common Sense
Vermutlich die größten Überschneidungen haben Future Imaginaries mit dem Be-
griff des Common Sense. Der Kulturanthropologe Geertz hat Common Sense als ein
kulturelles System definiert, dessen Inhalte identifizier- und interpretierbar sind und
die sich zwischen Völkern und Gesellschaften enorm unterscheiden können (Geertz
1983, S. 265). Seiner Beschreibung folgend gehören (Future) Imaginaries ebenfalls
zu dieser Kategorie.
Geertz beschreibt die Wahrnehmung von Common Sense als einen „Katalog von so
zwingend selbstverständlichen Realitäten, daß sie sich jedem, der nur einigermaßen
bei Verstand ist, geradezu aufdrängen“ (ebd., S. 263). Common Sense unterscheidet
nicht zwischen der „Wahrnehmung der reinen Faktizität“ und „dem simplen All-
tagswissen, den Beurteilungen und Einschätzungen dieser Faktizität“ (ebd., S. 264).
Das konstituierende Merkmal ist der Glaube, die „Wirklichkeit zutreffend zu präsen-
tiere[n]“ (ebd., S. 265). Aus diesem leitet der Common Sense seine Autorität ab und
das Selbstverständnis, sich nicht weiter begründen zu müssen.
Dazu beobachtet Geertz, dass Common Sense als Glaubensvorstellung im Alltag so
stark ist, dass Erfahrungen, die den Common Sense in Frage stellen, zum Schweigen
gebracht werden. Geertz beschreibt für den Common Sense einen umfassenden An-
spruch, Erfahrungen im Alltag zu interpretieren und Handlungen zu begründen. (vgl.
ebd., S. 276)
Future Imaginaries und Common Sense haben das Selbstverständliche gemeinsam.
Allerdings erscheint die Intensität beim Common Sense noch höher zu sein als bei
den Future Imaginaries. Future Imaginaries werden im Alltag nicht mehr reflektiert,
lassen sich aber durchaus noch hinterfragen. Common Sense dagegen lässt in der
Regel keinen Zweifel zu.
4
Eine alternative Betrachtung des Zusammenspiels von Zukünften und Mythen bzw. der Untersu-
chung von Zukünften mit den Methoden von Roland Barthes Mythologie-Analyse findet sich bei Nele
Fischer (2017).
61
Auch über die Selbstverständlichkeit hinaus haben Future Imaginaries und Common
Sense viele Gemeinsamkeiten. Beide sind dominant im Diskurs, performativ in ihrer
Entwicklung und nicht den Eliten vorbehalten. Somit ist es überraschend, dass es bei
den Autoren zu den Imaginaries praktisch keine Beschäftigung mit Common Sense
gibt. Einzig James und Steger erwähnen Common Sense im Kontext der Betrachtung
von Taylors Hintergrundverständnis:
„These imaginations set the common-sense background of lived social expe-
rience.“ (James und Steger 2016, S. 31)
Hier deutet sich ein Zusammenspiel von Imaginaries und Common Sense an. Erstere
liefern das Material für die sozialen Aspekte des Common Sense. Laut Geertz ist
Common Sense „das Ergebnis von Schlüssen, die der Verstand aus gewissen Voran-
nahmen ableitet“ (ebd., S. 275). Imaginaries könnten zu diesen Vorannahmen gehö-
ren.
In Bezug auf Zukünfte führen Ahlqvist und Rhisiart das Beispiel an, wie Zu-
kunftserwartungen in Verwaltungsapparaten zu Common Sense werden:
„Many of these kinds of more mundane futures endeavours are actually fu-
ture turned into ‘taken-for-granted-futures’, that is, futures turned into an
administrative axiom, a ‘self-evident fact’, into a governmental common
sense and routine. (Ahlqvist und Rhisiart 2015, S. 99)
Basierend auf diesem Zusammenhang zwischen „mundane futures“ und Common
Sense formulieren Sie eine Aufgabe für die kritische Zukunftsforschung:
„We argue that critical futures research should develop theoretical and
methodological approaches for studying the construction of these kinds of
mundane futures, both at the level of organisations and companies, and at the
level of civil society.“ (ebd., S. 99)
3.3.4 Vision
Der Begriff der Vision stellt wohl das allgemeinste Konzept eines Zukunftsbilds im
Betrachtungshorizont dieser Arbeit dar. Er wird von praktisch allen Autoren verwen-
det, ohne auch nur von einem genauer definiert zu werden. Übergreifend lässt sich
herauslesen, dass die Vision für eine meist recht konkrete Vorstellung von einer be-
62
stimmten Zukunft steht, die einen stark normativen Anteil hat. In vielen Fällen be-
schreibt sie einen zukünftigen Zustand, in dem ein Problem gelöst oder eine Heraus-
forderung überwunden wurde. (vgl. Dignum 2013)
Der direkte Unterschied zwischen Visionen und Future Imaginaries ist, dass Visio-
nen auch von einzelnen Personen imaginiert werden können während Future Imagi-
naries immer von einer Personengruppe geteilt wird. Visionen sind aber häufig der
Ausgangspunkt für Future Imaginaries und können sich durch Verbreitung zu diesen
entwickeln. (vgl. Jasanoff 2015, S. 2)
3.3.5 Leitbild
Auch für den Begriff des Leitbilds gilt, was für andere Begriffe in dieser Arbeit wie
z. B. Imaginaries und Mythen gilt: Es gibt keine einheitliche, disziplinübergreifende
Definition. Katharina Giesel hat die vielfältigen Definitionen und ihre Entwicklun-
gen untersucht und daraus den Leitfadenansatz neu gefasst (2007). Dazu unterschei-
det sie im Wesentlichen zwischen impliziten und expliziten Leitbildern.
„Implizite Leitbilder bezeichnen sozial geteilte, mental verankerte und verin-
nerlichte Orientierungsmuster, die sich aus Vorstellungen von einer sowohl
erwünschten als auch für realisierbar angesehenen Zukunft speisen. Sie prä-
gen Wahrnehmung, Denken und Handeln derjenigen, die das Leitbild
miteinander teilen. Sie sind Ausdruck volitiver Zukunftsgerichtetheit, wecken
Emotionen und richten das Denken und Handeln intentional aus. Sie beziehen
sich auf langfristig angestrebte, übergeordnete Wert- oder Zielvorstellungen
bzw. Zukunftsentwürfe, mit denen komplexe, mehr oder weniger bildlich fass-
bare Vorstellungen verbunden werden.“ (ebd., S. 246)
Damit teilen implizite Leitbilder viele Merkmale mit den Future Imaginaries, aller-
dings haben sie einen deutlich aktiveren Charakter in Bezug auf wünschenswerte
Zukünfte. Leitbilder sind keine Erwartungen, sondern Zukunftsvorstellungen die
„sowohl erwünscht als auch für realisierbar“ (ebd., S. 246) angesehen werden. Auch
wenn sie nicht allen Akteuren immer vollständig bewusst sein müssen, so können sie
doch formuliert und damit zu expliziten Leitbildern werden (ebd., S. 247).
63
Externe Leitbilder entstehen aus einem bewussten Prozess, um eine Entwicklung zu
gestalten. Der Fokus liegt darauf, verschiedene Akteure teilweise aus unterschied-
lichen Kontexten mit ihren Vorstellungen zusammenzubringen und diese Vorstel-
lungen über den Prozess zusammenzuführen. Auch externe Leitbilder legen einen
besonderen Wert auf die Machbarkeit. Deswegen werden sie immer wieder an neue
Forschungsergebnisse oder Veränderungen angepasst, um erreichbar zu bleiben. (vgl.
Dignum 2013, S. 18)
In vielerlei Hinsicht sind externe Leitbilder das konzeptionelle Gegenstück zu Future
Imaginaries. Sie versuchen Zukunftsvorstellungen zu prägen, die noch nicht da sind
oder zwischen den gewünschten Akteuren noch nicht geteilt werden. Explizite Leit-
bilder sind als Vorstufe zu impliziten Leitbildern gedacht und diese wiederum kön-
nen zu einem Future Imaginary werden, wenn sie sich auf Dauer durchsetzen und
verbreiten können, bis sie in das Hintergrundverständnis gerückt sind.
3.3.6 Megatrends
Der Begriff Megatrend wird im Gegensatz zu den anderen hier betrachteten Begrif-
fen und Konzepten in der öffentlichen Wahrnehmung eng mit der Zukunftsforschung
verbunden. Er wurde Anfang der achtziger Jahre vom Futurist John Naisbitt in sei-
nem gleichnamigen Buch (1982) formuliert, in dem er verschiedene große gesell-
schaftliche Veränderungen beobachtete und ihre Entwicklung in die Zukunft prog-
nostizierte. Dabei hatte der Begriff von Anfang an einen marketingorientierten As-
pekt, da Naisbitts eigene Beratungsfirma regelmäßig Trendreports an Geschäftskun-
den verkaufte (Linstone 1983, S. 91). Damit dürfte sich auch der ideologische Unter-
ton, der die Vorzüge der freien Marktwirtschaft propagiert, erklären, den Richard
Slaughter in ‚Megatrends‘ und dem Nachfolger ‚Megatrends 2000‘ diagnostiziert
(1993, S. 831).
Der Begriff Megatrend wurde also in erster Linie dazu entwickelt, um Unternehmen
bei der Suche nach Potenzialen für zukünftige Geschäftsfelder zu unterstützen. Daran
hat sich bis heute nicht viel geändert. Der Begriff wird vor allem von Trendfor-
schungsunternehmen verwendet, um Reports zu verkaufen. Presse und Medien grei-
fen Megatrends gerne auf, weil sie suggerieren, in einer komplexen Welt Orientie-
rung zu bieten. (vgl. Slaughter 1993; Rust 2009)
64
Slaughters Kritik an Naisbitt lässt sich bis heute auf viele Publikationen und Ver-
wendungen mit dem Begriff Megatrend übertragen. So hat der Begriff nach wie vor
keinen wirklichen theoretischen Unterbau und wird meist grob als „Trend im großen
Maßstab, langanhaltend mit tiefgreifenden Veränderungen“ (Pilkhahn 2007, S. 127)
definiert. Auch bildet der Megatrend in erster Linie die Gegenwart ab, indem er ak-
tuelle Signale (im Falle von Naisbitt aus Zeitschriften-Clippings) als Quelle nimmt
und aus ihnen die Trends extrapoliert. Häufig fungiert er als Klammer für verschie-
dene kleinere Trends, deren komplexes Zusammenspiel nicht näher betrachtet wird.
Damit sind Aussagen und Publikationen mit dem Begriff Megatrend möglicherweise
ein interessantes Indiz dafür, welche Zukunftsbilder Gruppen, Institutionen und die
Gesellschaft gerade beschäftigen. Es fällt auf, dass viele der häufig benannten Me-
gatrends wie Globalisierung, Nachhaltigkeit, Klimawandel und die Digitalisierung
auch als Beispiele für Future Imaginaries angeführt werden (vgl. Rust 2009; Goode
und Gohde 2017).
In dem Sinne lassen sich Megatrends als ein Ausdrucksformat von Future Imagina-
ries betrachten. Sie können als eine Form von Indizien für ein Future Imaginary
bzw. als Impuls für die Entstehung oder Veränderung von einem verstanden werden.
3.3.7 Kollektives Gedächtnis
Nicht nur Imaginaries wurden in den letzten Jahren in den Sozialwissenschaften ver-
stärkt Aufmerksamkeit geschenkt (Binder 2019, S. 18). Als ein Teil des „cultural
turn in sociology“ (Herbrik und Schlechtriemen 2019, S. 3) beschäftigen sich For-
scher*innen insbesondere in Europa und Südamerika seit dem letzten Jahrzehnt
des vergangenen Jahrhunderts vermehrt mit dem kollektiven Gedächtnis, wie es als
Konzept maßgeblich von Maurice Halbwachs (1925) geprägt wurde (Banchs 2014,
S. 7).
Die Kernthese von Halbwachs ist, dass individuelle Erinnerungen kollektiv geformt
werden. Obwohl sie beim Individuum verortet sind, werden sie sozial konstruiert und
basieren auf den Bedürfnissen der Gegenwart. Durch die Interaktion in der Gruppe
werden individuellen Erinnerungen neu interpretiert. Dies geschieht auf der Basis der
aktuell dominanten vorherrschenden Vorstellungen innerhalb der Gruppe. (vgl.
Banchs 2014, S. 8)
65
Im Gegensatz zu Polaks „pull of the future“, der die Gegenwart in Richtung der Zu-
kunft zieht, könnte man hier von einem „push of the presence“ sprechen, der die Ge-
genwart in die Vergangenheit schiebt bzw. nach Halbwachs die Vergangenheit auf-
grund der Gegenwart neu interpretiert.
Aleida und Jan Assmann haben die Thesen von Halbwachs vertieft und verschiedene
Untertypen wie das kulturelle Gedächtnis definiert, das den Prozess beschreibt, mit
dem eine Gesellschaft ihre eigene Identität kommuniziert (Assmann 2011, S. 25).
Ryan (2015) hat das Konzept des kulturellen Gedächtnisses mit den Social Imagina-
ries nach Taylor und der Interpretation von Strauss (vgl. Kapitel 2.2.3) zusammen-
gebracht und kommt zu folgender Erkenntnis:
„There is evidently a high degree of overlap between the concepts of ‘cultural
memory’ and ‘cultural imaginary’ (or cultural model), as interrelated ways of
denoting a society’s implicit self- understanding, mediated in images, stories,
and rituals.“ (Ryan 2015, S. 3)
Sebald und Weyand (2011) haben wiederum die These aufgestellt, dass das kollekti-
ve Gedächtnis und Future Imaginaries nicht nur ähnliche Merkmale haben, sondern
auch direkt zusammenhängen könnten:
„Die Bedeutung sozialer Gedächtnisse scheint sogar in dem Maße zuzuneh-
men, in dem die Selbstverständlichkeit einer Fortsetzung der Vergangenheit
in der nahen Zukunft abnimmt. Erst die Absetzung des Neuen vom erinnerten
Hergebrachten macht das Neue zu einem Neuen (wie die Einbettung des Neu-
en in das Hergebrachte es vertraut macht). (ebd., S. 174)
All das sind einzelne Hinweise, welche neuen Forschungsthemen sich ergeben könn-
ten, wenn in der Soziologie der „cultural turn“ durch einen „futural turn“ ergänzt
werden würde.
3.4 Konzeptionelle Herausforderungen und Inkonsistenzen
Zum Abschluss von Kapitel 3, in dem sich diese Arbeit einem Verständnis von Fu-
ture Imaginaries als Begriff angenähert hat, werden nun einige Herausforderungen,
Inkonsistenzen und Konflikte bei der Zusammenführung von Zukunftsbildern und
Imaginaries beschrieben.
66
3.4.1 Die Vagheit der Future Imaginaries
Wie bereits mehrfach angedeutet, ist der Umgang sowohl mit Zukünften als auch mit
Imaginaries nicht ganz einfach, weil beiden Konzepte eine gewisse Vagheit inne-
wohnt. Für die Zukunftsbilder zeigt allein schon die Tatsache, dass der in dieser und
vielen anderen Arbeiten der Zukunftsforschung verwendete Begriff der „Zukünfte“
im deutschen Sprachgebrauch vom Duden als selten“ eingestuft wird („Duden“
2020). Während also die Zukunftsforschung mit einem Zukunftsbegriff hantiert, der
sich vom Zukunftsverständnis in der breiten Bevölkerung deutlich abhebt, stehen die
Sozialwissenschaften immer noch vor der Herausforderung Imaginaries nicht klar
fassen zu können.
Im November 2019 während diese Arbeit entstand hat die Österreichische Zeit-
schrift für Soziologie eine Sonderausgabe zum Thema ‚Einsatzpunkte und Spielräu-
me des sozialen Imaginären in der Soziologie‘ veröffentlicht. Das Editorial eröffnet
mit den folgenden Sätzen:
„The social imaginary is a challenging object for sociological research in
several respects. As an object of study, the imaginary largely evades attempts
at quantification or explanation in terms of causal relationships. Its reality
status, and hence its relevance as an object of scientific inquiry, is all too
quickly denied. After all, it is “imaginary” and not “real”.“ (Herbrik und
Schlechtriemen 2019, S. 2)
Im ersten Artikel der Ausgabe schließt sich Werner Binder an:
„In the last years, the “social imaginary” has received considerable attention
in the discourse of the social and cultural sciences. Various conferences were
held on the topic, monographs, edited volumes and special issues have been
published, and even a journal named Social Imaginaries has been founded in
2015. Nevertheless, “social imaginary” is not a well-defined concept yet, and
maybe never will be.“ (Binder 2019, S. 18)
Die Voraussetzungen, dass Future Imaginaries jemals ein klares und präzise defi-
niertes Konzept sein werden, sind nicht also nicht die besten. Doch wenn dieser Um-
stand von Anfang an Teil des Konzepts ist, kann darin eine Stärke liegen. Das Ziel
dieser Arbeit ist, wie in der Einleitung beschrieben, einem sozialen Phänomen einen
67
Namen zu geben und es so bewusster wahrnehmbar und interpretierbar zu machen.
Diesem Phänomen der kollektiven Zukunftserwartungen im Hintergrundverständnis
kann sich nur angenähert werden, wenn sein vager Charakter akzeptiert wird. Den
fehlenden klaren Rahmen und die fließenden Übergänge zwischen bewussten und
unbewussten Erwartungen auszuhalten, ermöglicht die Öffnung eine neuen Betrach-
tungsraumes.
3.4.2 Unterscheidung zwischen Imaginaries und Future Imaginaries
Einer der ersten Fragen, die sich bei der Annäherung an Future Imaginaries ergibt,
ist, ob Imaginaries und Future Imaginaries nicht das Gleiche sind. Vom Grundver-
ständnis her hat jedes Imaginary einen Zukunftsbezug, weil Erwartungen sich auf
zukünftiges Verhalten und zukünftige Entwicklungen beziehen (z. B. im Sinne von
„Ich erwarte, dass du hältst, was du versprichst“). Deswegen nutzen Autoren wie z.
B. Lockton und Candy aus ihrer Perspektive der Zukunftsforschung Imaginaries oh-
ne den Zusatz „Future“ (vgl. Kapitel 2.3.4).
Nur Cook sowie Goode und Godhe nutzen explizit den Begriff Future Imaginaries.
Sie beziehen sich damit jeweils bewusst auf spezifische Entwicklungen in der Zu-
kunft. Bei Cook ist es die Erwartung einer Apokalypse oder die Abwendung dieser
durch technologische Entwicklungen. Bei Goode und Godhe sind Future Imaginari-
es eine Unterkategorie von Imaginaries, die sie von anderen Unterkategorien wie
kulturellen Imaginaries und globalen Imaginaries auf Basis des Bezugspunkts unter-
scheiden. Für sie sind Future Imaginaries Imaginaries über die Zukunft. In Bezug
auf Beckert lässt sich damit sagen, dass Social Imaginaries das Zusammenleben in
der Gesellschaft koordinieren, während Future Imaginaries den Umgang mit einer
unsicheren Zukunft in der Gesellschaft koordinieren (vgl. Kapitel 2.3.2).
3.4.3 Mindestgruppengröße für (Future) Imaginaries
Imaginaries bezeichnen die kollektiven Vorstellungen einer Gruppe und ihre Erwar-
tungen an das Miteinander. Aber wie groß muss die Gruppe sein, die ein Imaginary
teilt, damit man von einem Imaginary sprechen kann? Eine Antwort auf diese Frage
findet sich bei keinem der in Kapitel 2.2 betrachteten Autoren.
68
Lange Zeit stellte sich diese Frage auch nicht im Umgang mit Imaginaries. Die Idee
der Social Imaginaries beruhte darauf, dass sie von einem Großteil der Gesellschaft,
wenn nicht sogar von der ganzen Gesellschaft, geteilt wurden. Erst mit Appadurais
Verständnis von Imaginaries als „organized field of social practices“ (s. Kapitel
2.2.3) wurde deutlich, wie sich durch die Globalisierung und ihre verschiedenen Di-
mensionen des kulturellen Flusses Imaginaries immer kleinteiliger wurden und klei-
nere Gruppengrößen betrafen.
Damit wird nun die Frage nach der Mindestgruppengröße für (Future) Imaginaries
relevant. Appadurai bricht sie bis auf Nachbarschaften und Familien herunter (s. Zi-
tat in Kapitel 2.2.3), macht dazu aber keine weiteren Angaben. Weitere Untersu-
chungen sind bisher noch nicht bekannt.
3.4.4 Wirkung der Performativität auf die Future Imaginaries
Ein Aspekt, bei dem die Beschreibungen der verschiedenen in dieser Arbeit betrach-
teten Autoren teilweise diametral auseinandergehen, ist die Wirkung der Performati-
vität auf die Entwicklung von Imaginaries.
Alma und Vanheeswijck z. B. heben – wie in Kapitel 2.2.2 zitiert die konstante
Verhandlung und Veränderung der Imaginaries durch die Manifestationen in Aus-
druck und Handlung hervor.
Goode und Gohde dagegen beschreiben z. B. Future Imaginaries als „verfestigte“
(englisch: congealed) Vorstellungen, die erst durch die Identifizierung und Dekon-
struktion wieder „gelockert“ werden können (Goode und Godhe 2017, S. 124).
Diese zwei Beispiele stehen stellvertretend für den Performativitätsdiskurs um Ima-
ginaries zwischen tief im Hintergrundverständnis verankerten und sich durch Formu-
lierung und Handlung konstant anpassenden kollektiven Zukunftserwartungen. Es
stellt sich die Frage, ob sich die beiden Perspektiven miteinander kombinieren lassen.
Dafür bräuchte es eine genauere Betrachtung der Entstehung, Entwicklung und des
Verschwindens von Future Imaginaries über die Zeit. Diese liegt außerhalb des ge-
setzten Rahmens dieser Arbeit, verspricht jedoch neue Erkenntnisse über das Zu-
sammenspiel von Future Imaginaries und gesellschaftliches Verhalten in Bezug auf
die Zukunft.
69
So könnte untersucht werden, ob sich die von Grunwald diagnostizierte Divergenz
der Zukünfte (vgl. 2.1.1) über die letzten Jahre verstärkt hat oder ob es z. B. eine
Gegenbewegung gibt, aus der sich ähnlich der Fictional Expectations im Kapitalis-
mus neue, dominante Future Imaginaries herausgebildet haben, um im gesellschaft-
lichen Umgang mit einer unsicheren Zukunft Orientierung zu geben und Verhalten
zu koordinieren. Unter diesem Gesichtspunkt ließe sich z. B. die Rolle des Klima-
wandels im gesellschaftlichen Diskurs betrachten.
70
4. Ausblick: Anwendung
Im Fokus dieser Arbeit steht die Annäherung an ein Verständnis von Future Imagi-
naries. Die Übertragung in methodische Konzepte, z. B. um Future Imaginaries zu
identifizieren, überschreitet den Betrachtungsumfang.
Um aber mögliche Ausgangspunkte für eine Konzeption von Methoden vorzustellen,
werden Ansätze, die einige der Autoren aus Kapitel 2 vorgeschlagen haben, festge-
halten und am Beispiel des Themas Künstliche kurz verdeutlicht.
4.1 Hilfsmittel für die Betrachtung von Future Imaginaries
Einige der in Kapitel 2 analysierten Autor* innen haben Hinweise oder konkrete Hil-
festellungen zur Identifikation und Untersuchung von Zukünften und Imaginaries
geben, die hier als mögliche Startpunkte zur Betrachtung von Future Imaginaries
zusammengeführt werden sollen.
Ein Test, ob eine kollektive Zukunftserwartung auf ein Future Imaginary hinweisen
könnte, wurde in Kapitel 2.3.5 mit dem Widerstand beschrieben, den eine Zu-
kunftserwartung erzeugt, wenn man sich eine Alternative zu ihr vorstellt. Dieses Ge-
dankenexperiment kann aber nur einen ersten Hinweis geben.
Die größte Herausforderung bei der Identifikation von Future Imaginaries ist, dass
sie sich als Teil des Hintergrundverständnisses nicht direkt betrachten lassen, son-
dern sich über Ausdrucksformate und Handlungen manifestieren und somit auch nur
indirekt über diese identifizieren werden können. Das Material, mit dem die Zu-
kunftsforschung arbeiten kann, um Future Imaginaries identifizieren und untersu-
chen zu können, sind also all die Äußerungen und Formulierungen von Zukunftser-
wartungen sowie Handlungen, die auf Zukunftserwartungen schließen lassen. „In
short, CFS treats texts, discourses, images and ideas of the future as its primary data
(Goode und Godhe 2017, S. 120).
In dieser Arbeit wurden bereits zahlreiche Beispiele für konkrete Betrachtungsobjek-
te genannt. Von Interviews über Publikationen mit Megatrends bis zur Gesetzge-
bung. Goode und Godhe fügen weitere Beispiele hinzu: „science fiction, technology
71
journalism, advertising, music videos all can be rich repositories of futural imagi-
nation“ (ebd., S. 120).
Dieses Material lässt sich auf vielfältige Weise untersuchen. Goode und Godhe ver-
weisen auf die „rich vein of methodological traditions already at our disposal, for
example: hermeneutics and literary methods, critical discourse analysis, visual semi-
otics“ (ebd., S. 121). Jasanoff fügt dem die Methoden des „interpretive research and
analysis that probe the nature of structure-agency relationships through inquiries into
meaning making“ hinzu und betont insbesondere den Vergleich als hilfreiches In-
strument (2015, S. 24).
Grunwalds Aufführung der Bestandteile von Zukunftsbildern sind ein weiterer Start-
punkt (vgl. Kapitel 2.1.1). Hier können insbesondere die Prämissen Hinweise auf
mögliche Future Imaginaries geben.
Inayatullahs poststruktureller Werkzeugkasten liefert, wie in Kapitel 2.1.3 angeführt,
fünf verschiedene Perspektiven, um auch Future Imaginaries anhand von bestimm-
ten Fragen zu dekonstruieren.
Goode und Godhe wiederum haben Fragen formuliert, um das Umfeld, in denen Zu-
kunftsbilder entstehen, und damit ein wichtiges Spielfeld der Future Imaginaries zu
untersuchen:
- Who are the actors (institutions, individuals etc.) producing and
propagating images of the future?
- What are the institutional arrangements (from scientific institutes to
popular and online media) shaping the circulation and discussion of
images of the future?
- How are ideas of the future discussed and contested in public life?
- Who are the agenda-setting and gatekeeping powers in the futural
public sphere?
- What potential impact could this vision of the future have?
(Goode und Godhe 2017, S. 122-123)
72
Wie in Kapitel 2.2.3 beschrieben, hat Strauss mit der Hilfe der drei Typen von Wis-
sen aus der kognitiven Psychologie weitere spezifische Fragen formuliert, die sich an
identifizierte (Future) Imaginaries stellen lassen:
„What are the prototypes and exemplars associated with specific imaginaries
(e.g. of a ‘society’ or ‘nation’)?
How do the stereotypical expectations embedded in a given prototype fit with
the fuller knowledge available in the exemplars and cultural models?
Is the prototype for a concept seen as an ideal?
(Strauss 2006, S. 332)
Das Modell der ITAS-Workshopteilnehmer ist hilfreich, um die Wechselwirkungen
zwischen Gesellschaft und Future Imaginaries zu untersuchen (vgl. Kapitel 2.1.1).
Lockton und Candy haben sich am anwendungsorientiertesten mit Imaginaries aus
Sicht der Zukunftsforschung beschäftigt. Neben dem in Kapitel 2.3.4 erwähnten
‚Ethnographic Experiential Futures Prozess‘, in dem im ersten Schritt bestehende
Future Imaginaries identifiziert und externalisiert werden, erwähnen sie verschiede-
ne weitere Methoden, um Future Imaginaries zu beschreiben (vgl. Lockton und
Candy 2019, S. 32). Dazu gehören der ‚Ethnographic Futures Research‘ von Robert
B. Textor (1995), die ‚Generic Images of the Future‘, beschrieben von Dator (2009)
und Candy et al. (2006), und das ‚Systems Mythology Toolkit‘ des Institute For The
Future (Hendricks 2014).
Wie in Kapitel 3.2.3 beschrieben, ist auch die CLA von Inayatullah ein vielverspre-
chendes Instrument für die Identifikation von Future Imaginaries und ihren Einfluss
auf Mythen und Metaphern. Ob sie um eine fünfte Ebene erweitert den Umgang mit
Future Imaginariesz. B. in Workshops oder bei der Dekonstruktion von Zukünften
– möglich macht, ist zu überprüfen.
4.2 Künstliche Intelligenz und Future Imaginaries
Wer heute die in der Einleitung angesprochenen Szenarioprozesse durchführt, sei es
mit Adressaten aus der Wirtschaft, der Politik oder der Zivilgesellschaft, wird mit
recht hoher Wahrscheinlichkeit während der Diskussion um Schlüsselfaktoren das
Thema Künstliche Intelligenz (KI) aufnehmen. Unter allen potenziellen Future Ima-
73
ginaries, die derzeit den öffentlichen Diskurs um die Zukunft in Deutschland, aber
auch weltweit beherrschen, wurde für diese kurze Betrachtung zum Ende dieser Ar-
beit die KI ausgesucht. Der Grund dafür ist, dass sie eigentlich ein vorrangig techno-
logisches Thema ist. Diesen Rahmen hat der öffentliche Diskurs aber längst über-
schritten. Nicht nur die Wirtschaft entwickelt Strategien zum Umgang mit und den
Einsatz von KI. Ein großer Teil der Bürger macht sich zunehmend Gedanken darum,
wie KI ihr Leben beeinflussen wird (vgl. Knobloch 2018 und Al-Ani 2019).
Was in diesem Kapitel bewusst vermieden wird, ist eine genauere Definition von KI.
Es ist geradezu ein Merkmal von KI, dass sie sich von einer präzisen technischen
Definition gelöst hat und nun im öffentlichen Diskurs durch die für Future Imagina-
ries typische Vagheit auszeichnet. Das erlaubt einen enormen Interpretationsraum für
verschiedene Akteure, die mit dem Begriff ihre eigenen Erwartungen, Hoffnungen
und Ängste verbinden. Und so schafft es der Diskurs um KI im Jahr 2019 sogar bis
in die Weihnachtspredigt des Kölner Kardinals Rainer Maria Woelki (Süddeutsche
Zeitung 2019).
Nachfolgend sollen zwei Analysen zum Thema KI betrachtet werden, die jeweils auf
einen der im letzten Kapitel aufgeführten methodischen Ansätze setzen. Sie zeigen,
wie man sich möglichen Future Imaginaries beim Thema KI nähern kann und sind
potenzielle Startpunkte für eine weitere Entwicklung von Methoden zur Identifikati-
on und Dekonstruktion von Future Imaginaries.
5
4.2.1 KI und Science-Fiction
In der angeführten Vagheit im Diskurs um KI spielen Geschichten eine deutlich
wichtigere Rolle für die Entwicklung der Zukunftserwartungen, als technische Fak-
5
Eine dritte Analyse, die als Startpunkt für eine methodische Weiterentwicklung dienen könnte, ist
die Betrachtung von KI mit der Hilfe der CLA von Inayatullah, kombiniert mit der Genealogie aus
seinem poststrukturalistischen Werkzeugkasten, wie sie Elissa Farrow (2019) vorgenommen hat. Sie
zeigt, wie sich die Mythen und Metaphern um KI über die Zeit entwickelt haben. Aus Platzgründen
kann die Analyse in dieser Arbeit nicht näher betrachtet werden.
74
ten. Für die KI sind das insbesondere Science-Fiction-Filme, welche jene Bilder lie-
fern, die unsichtbare Algorithmen nicht bieten können.
6
In seinem Artikel ‚Life, but not as we know it: A.I. and the popular imagination‘ hat
sich Luke Goode näher mit den in Science-Fiction präsentierten Zukunftsbildern von
KI befasst und deren Wirkung auf den öffentlichen Diskurs um KI analysiert.
Dabei weist er unter anderem darauf hin, dass Karel Capeks Theaterstück ‚R.U.R.‘
von 1921, welches das Wort ‚Roboter‘ erst einführte, direkt den Aufstand ebendieser
zum Thema hatte:
„Significantly, it derives from the Slavonic word robota, meaning forced la-
bour: […] mainstream SF has certainly helped entrench a narrow, binary
framing of technology as something that either serves us or enslaves us, a
problematic framing that continues to reverberate today through non-
fictional debates surrounding the politics and ethics of technology.“ (Goode
2018, S. 187)
Auch wenn diese Darstellungen immer sozialkritische Aspekte hatten, welche die
Gegebenheiten ihrer Gegenwart kommentierten, so zieht sich das Bild der „danger-
ous machine intelligence threatening to outwit, overthrow or exact revenge on its
human masters“ (ebd., S. 188) wie ein roter Faden durch die populären Darstellungen
– insbesondere in Filmen wie ‚2001: A Space Odyssey‘ und den Romanen von Isaac
Asimov, welche den „Frankenstein complex“ (ebd., S. 188), wie Asimov ihn selbst
nannte, verstärkten.
Mitte der Achtzigerjahre startete die Terminator-Filmreihe, deren Darstellung von
Tötungsrobotern, die über die vernetzte Intelligenz Skynet“ funktionierten, das Bild
von KI in der öffentlichen Wahrnehmung bis heute nachhaltig geprägt hat. Eine Stu-
die des Instituts für Demoskopie Allensbach im Auftrag der Gesellschaft für Infor-
matik e.V. hat dies bestätigt:
„Auf die Frage welche Maschinen mit Künstlicher Intelligenz aus Filmen,
Büchern oder Comics bekannt sind, gaben dreiviertel (76 %) der Deutschen
6
Allein über die Bebilderung von KI-Studien mit anthropomorphischen Robotern lassen sich zahlrei-
che sozialwissenschaftliche Studien anfertigen.
75
ab 16 Jahre den Terminator aus dem gleichnamigen Film an.“ (Gesellschaft
für Informatik (GI) 2019)
Der „Frankenstein complex“ setzt sich bis in die Gegenwart fort – unter anderem mit
Filmen wie ‚The Matrix‘ und lässt sich gleichzeitig, so Goode, auf seine mythi-
schen Wurzeln zu Prometheus, dem Golem oder dem Garten Eden zurückverfolgen
(vgl. Goode 2018, S. 189). In den letzten Jahren ist auch die filmische Erzählung um
KI komplexer und vielfältiger geworden. Goode zieht dafür ‚Her‘ und ‚Ex Machina‘
als Beispiele heran, die auch klassische Gender-Stereotypen diskutieren (vgl. ebd.,
S. 190).
Goode schreibt die Prägung des öffentlichen Bilds aber nicht nur den Darstellungen
in Science-Fiction-Filmen zu, sondern ergänzt seine Analyse durch die Betrachtung,
wie Science-Fiction-Themen die KI-Darstellungen und -Bilder in „non-fictional gen-
res including popular science and philosophy, technology journalism, and online
videos and blogs“ (ebd., S. 193) beeinflussen:
„The popular imagination around A.I. is developing in the context of a sensa-
tionalist, marketing-driven and viral (or meme-based) online attention econ-
omy.“ (ebd., S. 193)
Von Amazons ‚Alexa‘ über selbstfahrende Autos bis zu autonomen Waffensystemen
Goode führt an, wie die aufregungsbasierte Berichterstattung um diese Themen
häufig weit über die technische Realität der konkreten Nachricht hinausgehen. In
Medienberichten wird ‚narrow purpose AI‘ (spezifische KI, die eine Aufgabe lösen
kann) mit ‚general purpose AI‘ (volle KI, die verschiedene, voneinander unabhängi-
ge Aufgaben lösen kann) vermischt. So werden Meldungen zu ‚narrow purpose AI‘
wie Googles Erfolg mit der Go-spielenden KI ‚AlphaGo‘ als Warnung für eine kurz
bevorstehende ‚general purpose AI‘ vermittelt (vgl. ebd., S. 194-195).
Goode untersucht noch weitere Faktoren wie z. B. die von manchen technologiebe-
geisterten Futuristen propagierte Singularität, einem Zeitpunkt, zu der die technolo-
gische Entwicklung die menschliche Denkfähigkeit übersteigen soll (vgl. ebd.,
S. 198). Mit seiner Analyse dieser Einflussfaktoren auf das öffentliche Bild von und
den Diskurs um KI zeigt er, wie man sich den Future Imaginaries zu einem Thema
nähern kann.
76
Von Science-Fiction über Medienereignisse bis hin zu bestimmten Interessensgrup-
pen wirken viele Geschichten und Bilder auf die Vorstellungen über die Rolle von KI
in der Gesellschaft ein. Ihre Wirkmächtigkeit geht weit über die der nüchternen tech-
nischen Faktenlage zu KI hinaus und verfestigen die Vorstellungen zu kollektiven
Zukunftserwartungen, die zunehmend das Handeln vieler Akteure bestimmen, wie
z. B. das der Politik.
4.2.2 Vergleich nationaler KI-Strategien
Will man die Vorstellungen und Erwartungen der Menschen zu KI näher betrachten,
fällt auf, dass es bisher praktisch keine unabhängigen wissenschaftlichen Studien
dazu gibt. Alles, was zu finden ist, sind Studien im Auftrag von Organisationen und
Unternehmen, die sich zum Thema KI platzieren möchten oder die bestimmte Inte-
ressen im Umgang mit KI vertreten. Die Vorstellungen zu KI lassen sich derzeit aus-
schließlich anekdotisch bzw. anhand von Artefakten untersuchen.
Zu den wirkmächtigsten Artefakten für diesen Diskurs dürften die KI-Strategien von
Regierungen zählen. So war es schon ein relevantes Signal für die Zukunftserwar-
tungen an KI als Frankreich seine KI-Strategie vorstellte und eine ungeduldige medi-
ale Berichterstattung in Deutschland monierte, dass Deutschland noch keine hatte
(vgl. BVDW 2018; Lobo 2018).
Wie von Jasanoff beschrieben (vgl. Kapitel 2.3.3), eigenen sich Policy-Dokumente
besonders zur Analyse von Imaginaries, weil sie dazu beitragen Zukunftserwartun-
gen in Gesetzestexte zu überführen. Unter diesem Gesichtspunkt haben sich Jascha
Bareis und Christian Katzenbach vom Alexander von Humboldt Institut für Internet
und Gesellschaft die KI-Strategien von Frankreich, den USA und China angesehen
und verglichen.
„AI is currently considered as one of the key fields where the good and bad of
societies and nations are negotiated. At the same time, it opens a vast space
of imagination. While machine learning applications are already deployed in
various contexts, the current rush to AI in politics and business is highly
stimulated by the strong imaginary power of the concept of AI.“ (Bareis und
Katzenbach 2018, S. 10)
77
Sie zeigen auf, wie über den jeweiligen Fokus dieser Strategien, die Wahrnehmung
von KI abgelesen werden kann. Frankreich betont die Rolle des Staates als Förderer
und Vermittler, ruft den öffentlichen und privaten Sektor zum „Poolen“ von Daten
auf und propagiert eine menschliche KI, die das prometheische Versprechen nicht zu
eine Dystopie machen darf (vgl. ebd., S. 2-4). Die USA betonen dagegen unter
Trump die Deregulierung und wollen KI vor allem zum Ausbau der Verteidigung
nutzen. Ethische Überlegungen zu KI kommen in der Strategie der USA nicht vor
(vgl. ebd., S. 4-7). China hat den detailliertesten Plan vorgelegt, der anders als die
Strategien Frankreichs und der USA nicht Ambitionen nennt, sondern zukünftig
Erreichtes propagiert („wir werden erreicht haben“ statt „wir wollen“). Dazu will die
chinesische Regierung ihre zentrale Kontrolle bewusst einsetzen, um die Entwick-
lungen im Bereich KI zu beschleunigen und so andere Länder zu überholen. KI ist
nach Bareis und Katzenbach der universale Problemlöser Chinas für die aktuellen
Herausforderungen des Landes (ebd., S. 7-10).
Bareis und Katzenbach betonen in ihrem Fazit die Performativität, die von diesen
Strategien ausgehen:
„The national AI strategies currently popping up all around the globe consti-
tute a peculiar hybrid of imaginary and policy measures: they reinforce and
shape existing AI narratives to sketch the horizon of our digital future, and at
the same time they formulate concrete measures to rush along these avenues
towards these horizons. In this way, they powerfully co-produce the very fu-
ture they envision.“ (ebd., S. 10)
Mit diesen Strategien sind viele Milliarden von Dollar, Euro und Yen verbunden, mit
denen Projekte gefördert werden sollen, die zu den anvisierten Maßnahmen passen
und so die ausgedrückten Zukunftserwartungen verfestigen.
Auch wenn sich die Positionierungen zu den Potenzialen und Gefahren von KI in den
Strategien unterscheiden, fällt auf, dass sie im Kern alle von der gleichen Prämisse
ausgehen: Es gibt ein globales Wettrennen um die Vorherrschaft von KI. Die Strate-
gien für den Sieg mögen sich unterscheiden, aber alle gehen davon aus, dass sie am
Rennen teilnehmen müssen. Keiner stellt das Rennen selbst in Frage. Das ist ein
starkes Indiz dafür, dass dieses Verständnis von KI als selbstverständliche Zu-
78
kunftserwartung auf der Ebene der Nationalstaaten nicht mehr infrage gestellt wird
und damit dort zu einem Future Imaginary geworden ist.
In einem Interview, das nach der Veröffentlichung der hier beschriebenen Analyse
erfolgte, erklärte Christian Katzenbach:
„I particularly miss imaginaries that highlight scenarios that do without AI,
identifying domains where we do not want automatic sorting and decision
making to take place. We currently seem to take for granted that AI technolo-
gies will necessarily permeate every domain of society and all aspects of our
lives. But this is not the case. It could be different.“ (Katzenbach 2019)
4.2.3 KI, Future Imaginaries und die Zukunftsforschung
Die meisten der öffentlichen Debatten um KI gehen grundsätzlich von folgender
Prämisse aus: die KI wird eine wesentliche Rolle für die Zukunft spielt. Selbst har-
sche Kritiker formulieren ihre Kritikpunkte meist unbewusst mit der Annahme, dass
die KI – überspitzt formuliert unausweichlich ist. Damit besteht die KI den in die-
ser Arbeit beschriebenen Test für Future Imaginaries: Eine Zukunft, in der KI keine
Rolle spielt, ist ohne großen inneren und äußeren Widerstand nicht vorstellbar.
Zu den wenigen, die den Vormarsch der KI derzeit hinterfragen, gehören ausgerech-
net die KI-Forscher*innen selbst, die auf große Hindernisse in der Weiterentwick-
lung von Machine- und Deep-Learning-Technologien hinweisen und damit die riesi-
ge Lücke zwischen den Future Imaginaries von KI und der technischen Realität von
KI verdeutlichen. (vgl. Simonite 2019)
Das Beispiel KI zeigt das Potenzial für eine kritische Zukunftsforschung, die in der
öffentlichen Debatte einen wertvollen Beitrag leisten könnte, indem sie die unbe-
wussten Zukunftsvorstellungen in der Gesellschaft spiegelt und den Wettstreit der
Future Imaginaries um die Deutungshoheit über die Zukunft sichtbar macht.
So würde es z. B. die Diskussion um KI in Deutschland bereichern, wenn sich die
Zukunftsforschung nicht länger nur einspannen ließe, um noch weitere interessenge-
leitete Zukunftsbilder zur KI zu entwickeln. Stattdessen könnte sie die bestehenden
Mythen und Metaphern und die dahinter liegenden Future Imaginaries zu KI identi-
fizieren und erklären. Dies würde explizit machen, welche Ideen und Interessen der-
79
zeit die meiste Aufmerksamkeit erhält und ermöglichen, diese Konstellation zu hin-
terfragen.
80
5. Fazit
Mit dieser Arbeit wurde betrachtet, was den Rahmen vorstellbarer Zukünfte in der
Gesellschaft bestimmt. Ausgehend von einem Grundkonzept kollektiver Zu-
kunftserwartungen, die für selbstverständlich angenommen werden, wurde sich auf
die Suche nach Mustern begeben, welche bei der Annäherung an ein Verständnis von
Zukunftserwartungen behilflich sein könnten. Da das Konzept den Zukunftsbezug
mit gesellschaftlichen Betrachtungen kombiniert, wurden für die Suche Autor*innen
zum einen aus der Zukunftsforschung und zum anderen aus der Soziologie und Anth-
ropologie herangezogen.
Aus dem Kontext der Zukunftsforschung (vgl. Kapitel 2.1) flossen unter anderem
ein: von Grunwald das Verständnis für die Immanenz der Gegenwart in den Zukünf-
ten, die Wissensanteile und Prämissen als Bestandteile von Zukunftsbildern und von
den Teilnehmern des ITAS-Workshops ein Modell für die Wirkmächtigkeit von Zu-
künften in der Gesellschaft und umgekehrt. Von Polak wurde die Idee des „pull of
the future“ als Antrieb für die gesellschaftliche Entwicklung aufgenommen, während
bei Inayatullah verschiedene Konzepte für die Analyse und Wirkung von Zukünften
in der Gesellschaft identifiziert wurden, wie der poststrukturelle Werkzeugkasten, die
CLA und übergreifende Archetypen von Zukunftserwartungen.
Für die Suche nach Theorie-Mustern für den Umgang der Gesellschaft mit Erwar-
tungen im Kontext der Soziologie und Anthropologie stand der Begriff der Imagina-
ries im Fokus (vgl. Kapitel 2.2). Dessen Entwicklung wurde von Voltaire über Cas-
toriadis, Anderson und Taylor bis zu Appadurai und Strauss in seiner Vielfalt nach-
gezeichnet.
Die Mustersuche wurde mit einer Analyse verschiedener aktueller Ansätze abge-
schlossen, die sich bereits mit kollektiven Zukunftserwartungen in der Gesellschaft
aus unterschiedlichen Perspektiven beschäftigt haben (vgl. Kapitel 2.3). Dazu gehö-
ren Begriffskonzepte wie Fictional Expectations für die Wirtschaftssoziologie und
Sociotechnical Imaginaries für die STS. Zusätzlich wurde der bisherige Umgang mit
Imaginaries im Kontext der Zukunftsforschung betrachtet.
81
Basierend auf dieser Materialsammlung aus Konzepten, Beobachtungen und Per-
spektiven wurde in Kapitel 3 das Konzept der kollektiven Zukunftserwartungen zum
Begriff der Future Imaginaries verdichtet. In ihm wird das Zukunftsverständnis der
Zukunftsforschung mit dem Imaginaries-Verständnis der Soziologie und Anthropo-
logie zusammengeführt und sich so einem theoretischen Verständnis von Future
Imaginaries als Begriffskonzept der (kritischen) Zukunftsforschung angenähert. Der
Zweck dieses Begriffskonzepts ist, diesen gesellschaftlichen Zukunftserwartungen
einen Namen und sie mit einem theoretischen Konzept identifizier- und kritisierbar
zu machen.
Future Imaginaries beschreiben kollektive Zukunftserwartungen einer Gruppe, die
Teil des Hintergrundverständnisses dieser Gruppe geworden sind. Sie sind nicht ex-
plizit formuliert, sondern manifestieren sich durch die Geschichten und Handlungen
der Gruppe. Dadurch sind sie inhärent vage und nur schwer direkt greifbar. Zu ihren
Merkmalen gehört die Dominanz der Zukunftserwartungen im Diskurs um die Zu-
kunft, das Vorhandensein einer sachlichen und einer normativen Ebene, ihre Präsenz
nicht nur bei Eliten, sondern in der breiten Bevölkerung und ihre Performativität
(vgl. Kapitel 3.2.1).
Future Imaginaries dienen der Gesellschaft dazu, ihren kollektiven Umgang mit ei-
ner unsicheren Zukunft zu koordinieren und im Alltag handhabbar zu machen. Sie
bieten Orientierung für Entscheidungen und legitimieren Handlungen in Bezug auf
die Zukunft. Gleichzeitig sind Future Imaginaries Teil des grundsätzlichen kol-
lektiven Selbstverständnisses, das die Identität einer Gesellschaft oder Gruppe in der
Gesellschaft bestimmt. (vgl. Kapitel 3.2.3)
In der Einordnung mit anderen Begriffen, die ähnliche Konzepte beschreiben, haben
sich vor allem Bezüge zueinander gezeigt (vgl. Kapitel 3.3). Mythen und Metaphern
gehören zu den wichtigsten Ausdrucksformen von Future Imaginaries. Gleichzeitig
sind Future Imaginaries wiederum eine Art Vorstufe für den Common Sense. Als
Zukunftserwartungen, die sich im Hintergrundverständnis quasi verselbstständigt
haben, sind sie das konzeptionelle Gegenstück zu Leitbildern, mit denen wiederum
versucht wird, aktiv Zukunftserwartungen zu prägen.
Der Begriff der Future Imaginaries ist nicht ohne Inkonsistenzen und konzeptionelle
Hürden, was insbesondere daran liegt, dass der Begriff der Imaginaries bis heute
82
nicht eindeutig definiert ist. Doch könnte genau darin ein Vorteil liegen, da der Be-
griff auf diese Weise erlaubt, sich einem vagen sozialen Phänomen wie den Zu-
kunftserwartungen im Hintergrundverständnis einer Gesellschaft zu nähern. (vgl.
Kapitel 3.4)
Zum Abschluss der Arbeit wurde ein Ausblick auf erste Ansatzpunkte für die Ent-
wicklung von methodischen Konzepten geboten, welche sich die theoretischen Aus-
führungen dieser Arbeit zunutze machen können. Am Beispiel des öffentlichen Dis-
kurses um Künstliche Intelligenz wurde skizziert, wie sich möglichen Future Imagi-
naries in der Praxis angenähert werden kann und welche Rolle dabei die Zukunfts-
forschung einnehmen könnte. (vgl. Kapitel 4)
Wie diese Arbeit aufzeigt, bietet der ‚cultural turn‘ in den Sozialwissenschaften, wel-
cher in den letzten Jahren das Interesse für Konzepte von Imaginaries bis zum kol-
lektiven Gedächtnis hat aufleben lassen, einen reichen Fundus an Theorien und Mo-
dellen für die kritische Zukunftsforschung. Jedoch deutet sich auch eine umgekehrte
Perspektive an. Die Rolle von Zukunftsvorstellungen und -erwartungen waren lange
kein Thema in der Soziologie. Doch bereits Polak forderte eine Soziologie der Zu-
künfte und ‚The Image of the Future‘ sollte sowohl von der Zukunftsforschung als
auch von der Soziologie wiederentdeckt werden. In den letzten Jahren zeigen sich
erste Signale für ein erstarkendes Interesse von Soziolog*innen an der Zukunft (vgl.
z.B. Selin 2008; Schulz 2015; Tutton 2017; Coleman 2017). Die Zukunftsforschung
sollte das nicht als Angriff auf ihr Hoheitsgebiet verstehen, sondern sich als interdis-
ziplinärer Sparringspartner zur Verfügung stellen. Ein besseres Verständnis der sozi-
alen Zukunftsverständnisse und der Rollen von Zukünften in der Gesellschaft ist eine
vielversprechende Forschungsaufgabe.
83
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