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Vulnerables Leben. Eine theologische Ethik der Lebensform Familie

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Abstract

Dieser Beitrag untersucht aus einer theologisch-ethischen Perspektive den Zusammenhang zwischen einer möglichen Krise von Gesellschaft und einer möglichen Krise der Lebensform Familie. In einem ersten Schritt wird analysiert, warum die bisherigen theologisch-ethischen Debattenbeiträge viel über Ehe und Partnerschaft sagen können, aber zu wenig von den Vollzügen und Bedingungen der Lebensform Familie die Rede ist. Darauf aufbauend wird in einem zweiten Schritt gezeigt, wie sich durch einen Perspektivwechsel Möglichkeiten ergeben, die Lebensform Familie von den Erfahrungen und Widerfahrnissen von Verwundbarkeit und Verletzbarkeit unterschiedlicher Akteure her mit unterschiedlichen Ansprüchen auf Anerkennung zu verstehen. In einem dritten und letzten Schritt wird expliziert, was es erfordert und bedeuten kann, Familie als Lebensform zu denken.
Dieser Beitrag ist erschienen unter: Braun, Matthias (2021): Vulnerables Leben. Eine
theologische Ethik der Lebensform Familie, in König, B & Kreft M. (Hg.) Protestantisches
Familienbild? Theologische und sozialphilosophische Reflexionen auf ein strittiges
Konzept, Leipzig, 75-90.
Die hier vorliegende Version ist eine frühere Manuskriptform des veröffentlichten
Textes.
Vulnerables Leben
Eine theologische Ethik der Lebensform Familie
1
Matthias Braun
Die aktuelle Krise von Gesellschaft ist eine Krise von Familie. So lautet eine
gängige Punchline der aktuellen Krisen- und Zeitdiagnosen.
2
Und in der Tat ist
während der SARS-CoV-2 Krise eine der zentralen Fragen, wo Familie beginnt
und wo sie endet. Wen man treffen darf und welcher Bewegungs- und
Gestaltungsraum einem bleibt, hängt maßgeblich von der jeweiligen konkreten
Familienkonstellation ab. Zugleich fallen die mehr oder minder getrennten
Bereiche gesellschaftlichen Lebens in eins: Familie ist zugleich Ort von
Homeoffice, Karriere, Kinderbetreuung, Bildung, Armutsgefährdung, Nerv- und
Lusterfahrung oder kurz mit den Worten Armin Nassehis: Beschleunigung auf
engstem Raum.
3
Eine Beschleunigung, die nicht immer verlustfrei ausbalanciert
zu werden vermag. Familie, so zeigen nicht zuletzt soziologische Studien,
4
ist
eben auch
Ort von nicht selten massiver Gewalterfahrung und Missachtung.
Die aktuelle Krise von Gesellschaft als eine Krise von Familie kann man also
einerseits so verstehen, dass es sich um eine Krise innerhalb der Familie handelt.
Die wesentliche Frage ist dann, wie Familie gestaltet werden muss, damit sie
gelingen kann. Man mag über die Kriterien und Maßstäbe der Bemessung
streiten, kann aber zugleich darauf verweisen, dass es sich dabei um etwas
Privates handelt Menschen innerhalb von Familie miteinander und
füreinander verantwortlich sind.
1 Ich danke Hannah Bleher, Eva Hille, Patrik Hummel und Max Tretter für ihre Kritik und
gewinnbringenden Kommentare zu früheren Versionen des Textes.
2 Vgl. Christian Vooren, Nicht nur Eltern haben ein Recht auf schlechte Laune, ZEIT ONLINE
vom 09. 05.2020, https://www.zeit.de/gesellschaft/2020-05/familien-corona- krise-
kinder-eltern-kinderlose (abgerufen: 20. 05.2020).
3 Vgl. Armin Nassehi, »Das ist unverantwortliches Verhalten!«, Deutschlandfunk vom
18. 03.2020, https://www.deutschlandfunk.de/corona-pandemie-und-solidaritaet-nass
ehi-das-ist.691.de.html?dram:article_id=472764, (abgerufen: 08. 07.2020).
4 Vgl. exemplarisch: Siegfried Lamnek u. a., Tatort Familie: Häusliche Gewalt im
gesellschaftlichen Kontext, 3., überarbeitete Auflage, Wiesbaden 2012.
Man kann die beschriebene Krisensymptomatik von Familie andererseits so
verstehen, dass in der aktuellen Krise etwas sichtbar wird, was auf ein
strukturelles Problem von Familie im öffentlichen Raum hindeutet. So
selbstverständlich Familie als soziale Struktur menschlichen Lebens aber auch
sein mag, so unklar ist ihre Rolle und Bedeutung im öffentlichen Raum. Denn das
zeigt eine Krise wie SARS-CoV-2: Familie hat kaum eine Lobby. Das ist deswegen
ein substantielles Problem, weil Familie essentiell auf soziale Strukturen und
Ressourcen angewiesen ist. Kinderbetreuung, Bildung, Pflege oder auch
Gesundheit und Arbeit sind einige Beispiele für die vielen Handlungen und
Lebensformen, mit denen die Lebensform Familie verwoben ist.
Über Familie nachzudenken ist nicht möglich, ohne zumindest implizit auch
die anthropologische Frage zu stellen, was menschliches Leben ausmacht. Der
hier vorliegende Artikel wird an dieser Stelle argumentieren, dass menschliches
Leben vulnerables Leben ist, das auf die Anerkennung als würdevolles Leben von
anderen angewiesen ist und dessen Gestaltung zugleich einen gemeinsam
geteilten Boden voraussetzt. Eine wechselseitige Anerkennung, die zugleich
ermöglicht, dass Menschen sich als frei und selbstbestimmt erleben und die das
Recht artikuliert, als freie und selbstbestimmte Wesen anerkannt zu werden.
5
All
dies beginnt und vollzieht sich nicht in einem luftleeren Raum, sondern bedarf
Ressourcen und konkreter Orte der Gestaltung, wie den der Familie.
Wenn im Folgenden von Familie die Rede ist, bezeichnet dies ein Ensemble
an Praktiken und Orientierungen von Menschen, die über Generationen hinweg
miteinander und füreinander Verantwortung übernehmen. Die jeweiligen
Praktiken und Orientierungen können dabei sehr unterschiedlich sein und
überschneiden sich dennoch in dem Versuch, jeweils konkrete Antworten auf die
Frage nach einem verantwortlichen Umgang mit vulnerablem Leben zu finden.
Familie, so die These dieses Artikels, vollzieht sich also überall da, wo (Groß-)
Eltern und (Enkel-)Kinder über Generationen hinweg miteinander und für-
einander verbindlich Verantwortung im Umgang mit verletzlichem Leben
übernehmen.
Die Überlegungen dieses Artikels haben ihren konkreten Ort dabei im
Rahmen einer evangelisch-theologischen Ethik. Daraus ergibt sich jedoch ein
substantielles Problem: Es mangelt gerade der evangelischen Ethik nicht an
Ausführungen zum Thema Familie. Diese werden aber sogleich in den meisten
Fällen mehr oder minder mittelbar an Überlegungen zu bestimmten Formen
von
5 Diesen grundsätzlichen Gedanken habe ich ausführlicher entfaltet in: Matthias Braun,
Zwang und Anerkennung. Sozialanthropologische Herausforderungen und theologisch-
ethische Implikationen im Umgang mit psychischer Devianz (PE 10), Tübingen 2017. Zur
notwendigen Verortung der ethischen Überlegungen an und in einem konkreten Ort aus
lutherischer Perspektive: Svend Andersen, Macht aus Liebe. Zur Rekonstruktion einer
lutherischen politischen Ethik (TBT 149), Berlin/New York 2010.
Partnerschaften gebunden. Das vorrangige Erkenntnisinteresse gilt dabei nicht
der Lebensform Familie, sondern zu allererst dem rechten theologischen
Verständnis von Partnerschaft (und das meint dann zumeist ein spezifisches
Eheverständnis). Darin liegen zwei Probleme:
Erstens bleiben Akteurinnen und Akteure größtenteils systematisch
unsichtbar, die nicht unmittelbar Bestandteil von Partnerschaft sind: Kinder,
aber auch (Groß-)Eltern oder weitere Angehörige. Sie alle mögen mehr oder
minder indirekt im Streit um die Maßstäbe einer gelingenden Partnerschaft in
den Fokus geraten. Aber sie bleiben zugleich in ihren je spezifischen
Ansprüchen und Bedürfnissen zu oft unberücksichtigt. Dies ist insbesondere der
Fall, weil Familie als Lebensform vielleicht wie kein anderer ein Ort von
Stellvertretungsphänomenen ist.
6
Füreinander einzutreten, kann mitunter
auch bedeuten, zumindest temporär an die Stelle eines anderen zu treten und
in seinem Namen zu sprechen. Ein solch stellvertretendes Handeln steht dabei
in der Spannung, dass einerseits durch die Übernahme der Stelle eines anderen
beispielsweise der Kinder Ansprüche und Bedürfnisse sichtbar werden, die
ansonsten schlicht unsichtbar zu bleiben drohen. Kinder haben nicht nur
Bedürfnisse und Rechte, sondern es geht auch darum, diese Ansprüche
öffentlich sichtbar und hörbar zu machen. Andererseits droht aber jede
stellvertretende Übernahme der Stimme eines anderen, in einer bloßen
Selbstverdopplung zu enden, am Ende also gar nicht die Bedürfnisse und
Rechte eines anderen, sondern gar nur die eigenen Bedürfnisse perpetuiert zu
haben. So verstanden, impliziert ein Treten an die Stelle eines anderen, dass es
für beide, Vertretende und Vertretene, ein Spiel ohne doppelten Boden ist: Wer
an wessen Stelle tritt, ist nicht unumstößlich klar, sondern steht selbst auf dem
Spiel. Kurzum: In den vielen Fällen werden es die Eltern sein, die
stellvertretend Entscheidungen im Namen der Kinder treffen und zu treffen
haben. Und dennoch: Der Wutanfall der Dreijährigen oder aber der demente
Großvater, der zeitweise wieder im NS-Regime zu leben scheint, ziehen einen
selbst mit einem Schlag aus der eigenen ruhigen See in einen nicht selten
schamvoll tosendenden Orkan. Sie machen einem schlagartig deutlich, dass auch
man selbst massiv den fragenden Blicken der Anderen ausgesetzt ist.
7
6 Zur allgemeinen Übersicht siehe: Stephan Schaede, Stellvertretung.
Begriffsgeschichtliche Studien zur Soteriologie (BHTh 126), Tübingen 2004. Zur dezidiert
biblisch-theologischen Ausformung von Stellvertretung siehe: Bernd Janowski, An die
Stelle des anderen treten. Zur biblischen Semantik der Stellvertretung, in: Ders./J.
Christine Janowski/Hans P. Lichtenberger, (Hg.), Stellvertretung. Theologische,
philosophische und kulturelle Aspekte, Neukirchen-Vluyn 2006.
7 Siehe hierzu auch die wichtigen und sehr erhellenden Überlegungen zu einer
theolo
gischen Ethik der Schamerfahrung und ihren Verknüpfungen mit
stellvertretenden Entscheidungen: Klaas Huizing, Scham und Ehre. Eine theologische
Ethik, Gütersloh
2016. Außerdem: Ders., Shame on you! Scham als Grundbegriff einer
protestantischen Ethik, in: ZEE 57 (2013), 89101.
Zweitens ist mit der jeweiligen theologischen Perspektive auf Ehe und
Partnerschaft nicht selten eine spezifisch normative Bewertung verbunden, die
nicht ohne größere Kollateralschäden in Kauf zu nehmen auf Personen
außerhalb dieser Beziehung übertragen werden kann. Spitz formuliert: Ethische
Prinzipien und Kriterien zur Gestaltung einer gelingenden und in diesem Sinne
guten Partnerschaft sind nicht automatisch auch gut. Mein Argument wird sein,
dass theologische Fragen der rechten Gestaltung von Partnerschaft
Auseinandersetzungen innerhalb der Lebensform Familie sind. Über Familie
nachzudenken, schließt also nicht aus, auch über Partnerschaft nachzudenken.
Aber dies stellt bereits ein Paradigma innerhalb der Lebensform Familie dar.
Theologisch-ethisches Nachdenken verliert den Zugang zu wesentlichen
Facetten und Formen der Art und Weise, wenn die Lebensform Familie vorrangig
durch die Brille von Ehe und/oder Partnerschaft betrachtet wird. Dies ist nicht
alleine ein abstrakter Verlust, sondern verhindert konkrete Perspektiven für
eine gelingende Aus-handlung von Anerkennungsansprüchen und den Umgang
mit Erfahrungen und
Widerfahrnissen von Verletzbarkeit und Verletzlichkeit
aller Akteure seien es
Kinder, (Groß-)Eltern oder auch nähere oder fernere
Angehörige zu entwickeln.
In einem ersten Schritt werde ich zeigen, warum die bisherigen theologisch-
ethischen Debattenbeiträge viel über Ehe und Partnerschaft sagen können,
aber zu wenig von den Vollzügen und Bedingungen der Lebensform Familie die
Rede
ist. Darauf aufbauend werde ich in einem zweiten Schritt zeigen, wie sich
durch diesen Perspektivwechsel Möglichkeiten ergeben, die Lebensform
Familie von
den Erfahrungen und Widerfahrnissen von Verwundbarkeit und
Verletzbarkeit unterschiedlicher Akteure her mit unterschiedlichen
Ansprüchen auf Anerkennung zu verstehen. In einem dritten und letzten Schritt
wird expliziert, was es
erfordert und bedeuten kann, Familie als Lebensform zu
denken.
1.
Familie Eine theologische Romanze?
Die Rede von Familie wird aus evangelisch-theologischer Perspektive nicht selten
als ein Ort verstanden, der von einer besonderen Spannung gekennzeichnet ist:
Einerseits ist Familie eine Art Kaleidoskop sozialer und gesellschaftlicher
Entwicklungen. Andererseits wird Familie als ein Ort verstanden, der sich dem
unmittelbaren Zugriff von Seiten der Gesellschaft und Politik, aber auch
gesellschaftlichen Veränderungen widersetzt gewissermaßen als Spiegel und
Hort der Glückseeligen in einem. Eine Spannung, die dabei gar nicht unbedingt
als ein Problem, sondern mehr als eine Besonderheit der Lebensform Familie
verstanden wird. An dem Ort von Familie kreuzen sich individuelle und soziale
Perspektiven und Ansprüche ebenso wie der private und öffentliche Raum.
8
In
dieser Gemengelage lassen sich dann theologische Perspektiven eher in Richtung
einer besonderen Betonung der Lebensform Familie finden: als Raum
individueller Persönlichkeitsbildung, der Herausbildung besonderer Formen
von Gemeinschaft, der Familie als einem besonderen und entzogenen Raum
von Privatheit oder aber der Familie als einer vor allem öffentlichen Institution.
Eine Gemeinsamkeit besteht sogleich in der besonderen Betonung der Ehe für
das Verständnis von Familie. Vertreter und Vertreterinnen ganz
unterschiedlicher theologischer Couleur und Herkunft scheinen sich schnell
darauf einigen zu können, dass Familie sofern sie überhaupt als ein
eigenständiges Phänomen in den Blick rückt von der Ehe her zu verstehen sei.
Wo beispielsweise Karl Barth davor warnt, Familie überhaupt als ein
ernstzunehmendes
Thema der Theologie zu begreifen, da man sich einer zu
großen Gefahr aussetze, sich in ordnungstheologischen Spekulationen zu
verlieren, folgen dann Ausführungen zum rechten Verständnis von Ehe und
Partnerschaft, in deren Rahmen dann auch von Familie die Rede ist.
9
Wesentlich
offensiver geht da Wolfgang Huber vor. Er betont, dass die
auf der Ehe beruhende Familie [] nicht nur einen rechtlichen, sondern auch einen
ethischen Vorrang [genieße], weil sie in besonderer Weise dazu geeignet ist,
Verlässlichkeit und auch Verantwortung zu stärken. Eine Gemeinschaft von
Menschen, die füreinander einstehen, wird auch nach außen erkennbar.
10
In ähnlicher Weise argumentieren auch weitere theologische Denker wie
Wolfgang Trillhaas, der ausführt, dass Familie immer um die Ehe der Eltern
herum gruppiert sei,
11
Ulrich Körtner, welcher auf der Zuordnung von Ehe und
Familie insistiert oder auch Johannes Fischer, der mit Blick auf eine
theologische Bestimmung von Familie von einem Primat der Ehe spricht.
12
8 Vgl. zur Übersicht auch: Sabine Plonz, Wirklichkeit der Familie und protestantischer
Diskurs. Ethik im Kontext von Re-Produktionsverhältnissen, Geschlechterkultur und
Moralregime (Ethik und Gesellschaft 5), Baden-Baden 2018. Außerdem: Dies.,
Historische Entwicklung des Familienbegriffs und des Diskurses über Familie.
Evangelische Familiensemantik im Kontext des Wohlfahrtsstaats vom 19. Jahrhundert
bis zur Gegenwart, in: Ursula Boos-Nünning/Margit Stein (Hg.), Familie als Ort von
Erziehung, Bildung und Sozialisation, Münster 2013.
9
Karl Barth, Kirchliche Dogmatik III: Die Lehre von der Schöpfung, Zürich 1951.
10 Vgl. Wolfgang Huber, Ethik. Die Grundfragen unseres Lebens von der Geburt bis zum Tod,
München 2013, 33.
11
Vgl. Wolfgang Trillhaas, Ethik, 3., neu bearbeitete und erweiterte Auflage, Berlin 1970,
290292.
12 Vgl. Johannes Fischer, Hat die Ehe einen Primat gegenüber der nichtehelichen
Lebensgemeinschaft?, in: ZThK 101 (2004), 346357.
Aus dieser Kopplung von Ehe und Familie wird dann Unterschiedliches für die
Bestimmung der theologischen Rede von Familie abgeleitet. Ähnlich wie bereits
die Reformatoren vehement betonten, dass die Ehe nicht als ein Sakrament
oder eine besondere göttliche Ordnung zu verstehen sei, sondern eben ein
»weltlich Ding« sei, wird dann auch Familie als eine solche Gemeinschaft
verstanden.
13
Eine Gemeinschaft, so betont dann etwa die Denkschrift der EKD
»Zwischen Autonomie und Angewiesenheit«, deren Aufgabe darin besteht, die
Bewahrung und Weitergabe des Lebens über die Generationen hinweg zu
gewährleisten.
14
Eine Bewahrung, die nicht einfach irgendwie zu erfolgen hat,
sondern in liebevoller Zuwendung, mit der Bereitschaft zu neuen Aufbrüchen
und dem Mut, in allen Veränderungen einen gemeinsamen Weg zu wagen.
Diese Bestimmungen von Familie sind wichtige Bestandteile, um zu erfassen,
wie eine Lebensform Familie gelingend gestaltet werden könnte.
Peter Dabrock und Rainer Anselm haben zugleich in einem wichtigen Beitrag
mahnend in Anschlag gebracht, dass die aktuellen Debatten um eine Bestimmung
des Wesens von Familie und insbesondere die Gestaltung von Familie zu kurz
greifen: »Bei allem Streit um die Deutung vergangener und die Gestaltung
zukünftiger Lebensformen«, so führen Dabrock und Anselm aus,
scheint ein Argumentationsvektor klar zu sein: Es wird von der Ehe oder in sich
progressiv gebenden Beiträgen: von Ehe und Partnerschaft ausgegangen, die sich
dann zur Familie weitet und diese Weitung auch dann noch trägt oder
transformiert, wenn die die Familie begründende Ehe oder Partnerschaft
zerbrochen ist. Familie
wird in Analogie zur Liebe von Ehe und Partnerschaft
gedacht, nicht umgekehrt.
15
Familie vorrangig von Ehe und Partnerschaft her zu verstehen und zu
konzipieren, ist in zweifacher Hinsicht problematisch: Zum einen, so Dabrock
und Anselm, wird dabei ein spezifisches (romantisches) Verständnis von Liebe auf
die Lebensform Familie übertragen, ohne hinreichend zu klären, ob die
Bedingungen
13 Vgl. Rat der EKD (Hg.), Zwischen Autonomie und Angewiesenheit. Familie als verlässliche
Gemeinschaft stärken. Eine Orientierungshilfe des Rates der Evangelischen Kirche in
Deutschland, Gütersloh 2013.
14 Vgl. EKD, Orientierungshilfe, 13.
15 Peter Dabrock/Rainer Anselm, Die Lebensform Familie als »Leitbild« für Ehe und
Partnerschaft, in: Bernhard Laux/Konrad Hilpert (Hg.), Leitbild am Ende? Der Streit um
Ehe und Familie (Theologie kontrovers), Freiburg i. Br. 2014, 103116, 104.
für den Vollzug einer solchen Liebesbeziehungen gegeben sind.
16
Zum anderen,
und diesem Gedanken werde ich im Folgenden weiter nachgehen, werden aber
die jeweiligen Akteurinnen und Akteure der Partnerschaft als normativ zentral
im Rahmen der Lebensform Familie gesetzt. Damit geht aber unter, dass in der
Lebensform Familie viele unterschiedliche Akteure miteinander und
füreinander Verantwortung tragen. Innerhalb von Familien werden zentrale
Fragen verhandelt und gelöst, etwa welchen Zugang beispielsweise ein Kind zu
Bildung erhält, welche Freundinnen und Freunde einem gut tun und welche
nicht, aber auch, wer in welcher Form Verantwortung für ein krankes Kind oder
zu pflegende Angehörige übernimmt. Es sind Fragen, die zentral von der Art und
Weise abhängen, wie Ehe und Partnerschaft innerhalb von Familie gelebt
werden. Noch pressierender wird das Problem, wenn man auf die Frage der
Adoption eines Kindes schaut.
17
Koppelt man die Lebensform Familie zu eng an
Ehe und Partnerschaft, lauten zentrale Fragen beispielsweise, ob ein
adoptiertes Kind Ausdruck von Liebe und Leidenschaft der Partnerinnen und
Partner sein kann, in welchem Maße der Kontakt zu den biologischen Eltern des
Kindes die Partnerschaft belastet oder aber ob jede Form von Partnerschaft
gleichermaßen Anspruch auf ein Kind haben sollte. All diese berechtigten
Zuspitzungen blenden allerdings aus, dass auf der anderen Seite ein Kind mit
eigenen Bedürfnissen, Ansprüchen und Rechten steht, das einer einfachen
Verrechnung mit den Bedürfnissen der Ehe oder Partnerschaft kategorial
entgegensteht.
Genau diese Frage der Legitimität oder Illegitimität einer solchen
Verrechnung sowie die Bedingungen der Aushandlung der Ansprüche auf
Anerkennung sind aber im Rahmen der Lebensform Familie zentral. Zentral
insofern, als sowohl das Gelingen als auch die Grenzerfahrungen und möglichen
16 Siehe hier auch den wichtigen Hinweis von Rainer Anselm, dass das Zerbrechen einer
Ehe oder Partnerschaft zumindest sobald Kinder vorhanden sind keineswegs das
Ende von Familienbeziehungen bedeutet. Ganz im Gegenteil, die Banden bestehen selbst
im Falle einer möglichen Negation fort. Vgl. Rainer Anselm, Von der Öffentlichkeit des
Privaten zu den individuellen Formen familialen Zusammenlebens. Aspekte für eine
evangelische Ethik der Familie, in: ZEE 51 (2007), 292305.
17 Vgl. hierzu auch die wichtigen Arbeiten von Henning Theißen, Evangelische Offenheit im
Interesse des Kindeswohls. Adoption als Thema der theologischen Ethik, in: ZEE 58
(2014), 124135. Außerdem: Ders., Adoption in Christian Social Ethics. Reflections from a
German Perspective, in: Brian Brock/John Swinton (Hg.), A Graceful Embrace:
Theological Reflections on Adopting Children, Leiden/Boston 2018, 87106 und: Ders.,
Ethik der Adoption (Angewandte Ethik 20), Freiburg/München 2019. Ebenso: Timothy P.
Jackson, Suffering the Suffering Children. Christianity and the Rights and Wrongs of
Adoption, in: Ders. (Hg.), The Morality of Adoption. Social-pschyological, Theological,
and Legal Perspectives (Religion, Marriage, and Family), Grand Rapids/Cambridge 2005
und: Brent Waters, Belonging. A Theological and Moral Inquiry into Adoption, in: Brock,
/Swinton (Hg.), A Graceful Embrace, 5768.
Verletzungen solcher Aushandlungen von Ansprüchen auf Anerkennung ihren
Ort in der Familie haben. Das bedeutet nicht, dass dies der einzige Ort solcher
Aushandlungsprozesse ist, aber eben ein fundamentaler. Familie, so kann mit
den Worten Paul Tillichs formuliert werden, ist ein Ort, in und an dem »sich das
Leben […] als Person in einer Gemeinschaft von Personen konstituiert.«
18
Ein
Ort, an dem erlernt und erprobt werden kann und muss, dass ein anderes
»Selbst die unbedingte Grenze für den eigenen Wunsch, die ganze Welt zu
assimilieren«
19
, darstellt. Es darf nicht unerwähnt bleiben, dass gerade die
EKD-Denkschrift
vehement auf die Strukturbedingungen eingeht, die erfüllt
sein müssen, damit Familiein all ihrer Vielheitgelingen kann: Familie ernst
zunehmen erfordert
eine systematische Verknüpfung der Politikfelder Arbeit, Bildung, Familie und
Soziales. []. Letztlich geht es darum, dass Politik, Wirtschaft und die organisierte
Zivilgesellschaft und dabei sind die Kirchen wichtige Akteure aus der Mitte der
Gesellschaft Lösungen erarbeiten, die es Frauen und Männern ermöglichen, Berufs-
und Familienarbeit partnerschaftlich zu gestalten. Familie muss von einer privaten
Frauenangelegenheit zu einer von Frauen und Männern verantworteten
gesellschaftspolitischen Angelegenheit werden. Sie ist öffentliches Gutund gute
Gabe Gottes. Dazu ist ein neues normatives Familienmodell zu fördern, das der
partnerschaftlichen Familie, in der die Rechte und Pflichten jedes Mitgliedes, auch
der Kinder, gerecht untereinander geteilt und wechselseitig anerkannt werden.
Dieses Modell ist auch als gerechtigkeitsorientierte Familie zu charakterisieren, um
klar zu machen, dass gefühlsmäßige Bindungen und institutionelle
Absicherungen, oder
anders ausgedrückt, Liebe und die Wahrung und
Inanspruchnahme von Rechten einander bedingen und im Einzelfall der Spannung
zwischen Autonomie und Angewiesenheit die Richtung weisen.
20
Allerdings, und das wird im Folgenden zentral entfaltet, erliegt eine solche (Re-)
Bestimmung von Familie einem Trugschluss, wenn sie sich vorrangig auf die
Gelingensbedingungen und Aufgaben von Familie beschränkt und nicht zugleich
die massiven Unrechts- und Missachtungserfahrungen betrachtet, die nicht
externe Bedrohungen von Familie sind, sondern intrinsisch mit dieser Art des
Mit-ein-ander-seins
21
verbunden sind. Nicht von ungefähr haben Gewalt, haben
18 Paul Tillich, Systematische Theologie, Bd. III, Berlin/New York 1987, 51.
19 Tillich: Systematische Theologie III, 53.
20 EKD, Orientierungshilfe, 131.
21 Ein solches Mit-ein-ander-sein eine Figur, die in den Arbeiten des Philosophen Jean Luc
Nancy prägend wird führt gerade nicht durch eine mögliche Überhöhung einer Idee von
Gemeinschaft aus Verletzlichkeit menschlichen Lebens heraus. Vielmehr ist es als die
offene Flanke eines jeden Selbstbezugs zu verstehen. Das Selbst, so insistiert Nancy, »gibt
es nur aufgrund einesMit‹, das es in Wahrheit strukturiert: Dies müsste das Axiom einer
nunmehr ko-existentialen Analytik sein.« Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, Zürich
2012, 142.
Missbrauch oder allgemeiner gesprochen die Erfahrung von Unrecht ihren
Ursprung und Ort in Familien. Es ist gerade diese Ambivalenz aus Anfälligkeit für
Gewalt und liebevollem Raum der Selbstwerdung, die als Spannung Familien
durchzieht. Um diese Spannung genauer in den Blick zu bekommen, lohnt ein
Blick auf die Bestimmung menschlichen Lebens als vulnerables Leben.
2.
Vulnerables Leben
Menschliches Leben ist vulnerables Leben. Vulnerabilität umfasst beides:
Sowohl konkrete bereits erfolgte Missachtungserfahrungen fundamentaler
Ansprüche Einzelner wie Gruppen, als auch die ganz grundlegende Erfahrung
einer jeden Person, dass am Grunde ihres jeweiligen Selbstverhältnisses eine
Fremdheit eingeschrieben ist. Die fundamentale Erfahrung von (bleibender)
Fremdheit in einem Selbstverhältnis werden folgend als Verwundbarkeit und die
konkrete Widerfahrnis der Verletzung fundamentaler Ansprüche als
Verletzlichkeit bezeichnet.
22
Die Verwundbarkeit eines Selbst stellt zunächst keine Pathologie, sondern
eine Grunderfahrung eines jeden Selbstbezugs dar. Familie kommt auch
deswegen eine derart zentrale Funktion in Gesellschaft zu, weil sie wie kein
anderer Ort verletzliche Wesen aneinanderbindet. Die familiäre Bande, die
dabei und dadurch geknüpft wird, ist jedoch nicht per se einfach unschuldig. Ob
es eine gute, eine segensreiche Bande ist, muss sich vielmehr daran bewähren,
inwiefern es gelingt, jede und jeden Einzelne(n) zur freien Selbstbestimmung zu
befähigen. Familie fungiert dabei insofern als ein Brennglas verletzlichen
Lebens, als es zu einer solchen Selbstbestimmung ein nicht selten erhebliches
Maß an Fürsorge bedarf. Ein solches Verhältnis von notwendiger Fürsorge und
zu ermöglichender Selbstbestimmung muss so gedacht werden, dass am Ende
weder ein atomistisches Verständnis des Individuums steht, noch ein
unkritisches Lob von Gemeinschaft postuliert wird. Sehr gewinnbringend kann
hier die Rede von der
22 Ausführlicher zur Unterscheidung zwischen Verwundbarkeit und Verletzlichkeit als
Dimensionen der Rede von Vulnerabilität und ihrer Bedeutung auch für gesellschaftliche
und politische Gestaltungsprozesse: Matthias Braun, »Das ist doch Populismus!« Zur
(nicht nur aber auch: theologischen) Verhältnisbestimmung von Anerkennung und
Affekt, in: Thomas Wabel/Torben Stamer/Jonathan Weider (Hg.), Zwischen Diskurs und
Affekt. Politische Urteilsbildung in theologischer Perspektive (ÖTh 35), Leipzig 2018.
Freiheit als einer kommunikativen ins Feld geführt werden.
23
Am Grunde der
Rede von kommunikativer Freiheit steht ein responsives Ereignis, das über die
einfache Alternative einer Freiheit von oder Freiheit zu hinausweist. Eine so
verstandene Freiheit ist insofern relational, als sie bezeugt, dass jeder
negativen wie auch positiven Freiheit ein affirmativ erlebtes Ereignis zu Grunde
liegt. Der freiheitliche Selbstbezug eröffnet sich von einem Fremdbezug her,
indem ein Selbst an eine fremde, primär als Zuspruch erfahrene Anrede
anknüpft. Selbst und Anderer bleiben aneinander anknüpfend aufeinander
bezogen. In diesem Sinne ist dann auch der Hinweis Roberto Espositos zu
verstehen, dass sowohl die Freiheit von als auch die Freiheit zu bereits
(notwendige) Ausformungen einer asymmetrisch-affirmativen
Grunddimension von Freiheit sind.
24
Die Möglichkeiten individueller
Selbstbestimmung, verstanden als praktisch gewordene Freiheit,
25
eröffnen
sich (erst) aus einer Bindung an eine grundlegend responsive Grunddimension
von Freiheit.
26
Kommunikativ ist Freiheit also zum einen, da sie eine bestimmte Kopp-
lungsnotwendigkeit von affirmativer Responsivität und praktischen Vollzügen
impliziert. Zum anderen, da sie die Möglichkeiten individueller Freiheit an den
Bedingungs- sowie Ermöglichungsraum intersubjektiver Sittlichkeit bindet. Eine
solche Sittlichkeit ist dabei gerade nicht als ein festes Ordnungsgefüge zu
verstehen, sondern als Teil intersubjektiver Anerkennungsverhältnisse. Damit
ist sie einer zeitlichen und räumlichen Dynamik unterworfen: Welche
individuellen oder kollektiven Ansprüche gehört werden und daraufhin
Anerkennung oder Missachtung erfahren, hinterlässt zeitliche wie
topografische Spuren, die zukünftige Anerkennungsprozesse entweder
beschleunigen oder hemmen können. Diese Beschleunigungs- und
Entschleunigungsdynamiken sind für das Nachdenken über Familie deshalb
dermaßen zentral, weil eben diese Dynamiken im Rahmen von Familie auf eine
gleichermaßen große Nähe wie Abhängigkeit und Gebundenheit treffen.
Das grundlegende Versprechen, das sich Individuen einer Familiein nicht
unerheblichem Maße stellvertretendgeben, ist ein (mindestens) zweifaches:
Es umfasst erstens das Versprechen, Achtungsräume zu schaffen und zu
gestalten, in denen Individuen befähigt werden, die ihnen eröffnete Freiheit
selbstbestimmt zu leben und zu gestalten. Gerade weil menschliches Leben
vulnerables Leben ist,
23 Vgl. hierzu auch: Michael Theunissen, Der Andere. Studien zur Sozialontologie der
Gegenwart, Berlin/New York 1977. Außerdem: Wolfgang Huber, Gerechtigkeit und
Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 2006.
24 Vgl. Roberto Esposito, Das Paradigma der Immunisierung, in: Andreas Folkers/ Thomas
Lemke, (Hg.), Biopolitik. Ein Reader, Berlin 2014, 337384.
25 Vgl. Volker Gerhardt, Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität, Stuttgart 1999.
26 Vgl. Thomas Bedorf, Bodenlos, in: DZPh 55 (2007), 689715.
weil Fissuren oder gar Brüche substantiell zum Menschsein dazugehören, bedarf
es eines zweiten Versprechens: Auch in der Widerfahrnis von konkreter
Verletzlichkeit, fällt ein Individuum nicht einfach aus den familiären
Anerkennungsvollzügen und damit den Versprechen, die es gegeben und
erhalten hat, heraus.
27
Diese Versprechen sind nicht einfach unumstößlich
immer bereits da, sie sind nicht automatisch das eingekaufte Essential der
Lebensform Familie, sondern sie müssen sich praktisch erweisen, indem sie
bezeugt werden. Etwa durch Worte, die gegeben und gehalten werden, und
Ansprüche, die gleichrangig beachtetet und gehört werden, ermöglichen, dass
so etwas wie ein soziales Band zwischen den Individuen einer Familie entsteht:
Ein Band, das dann zugleich Anknüpfungspunkte und Knotenpunkte für das sog.
soziale Band einer Gesellschaft zu bieten imstande ist und sich dadurch
auszeichnet, dass Verwundbarkeit
nicht nur in prinzipielle Gleichheitsansprüche also die Zuweisung bestimmter
Rechte und Pflichten zu bestimmten Ansprüchen überführt wird, sondern
vielmehr gerade die Stimmen der besonders Verletzlichen praktisch hörbar und
sagbar hält. Theologisch reformuliert: Eine solche praktische Bezeugung der
fundamentalen Verwundbarkeit eines jeden leiblichen Selbstbezugs weiß nicht
nur um den eigenen Status als peccator in re, sondern sieht ebenso, dass gerade
aus dem zugesprochenen iustus autem in spe die bleibende Notwendigkeit
folgt, die Korrumpiertheit des eigenen Selbst nicht zu leugnen.
28
Anders
formuliert: In der wachgehaltenen Bezeugung der je eigenen Korrumpiertheit
und der damit verbundenen Verwundbarkeit leiblicher Selbstbezüglichkeit
eröffnen sich Gestaltungsräume eines leiblichen Selbstbezugs. Doch gerade die
sich in der Lebensform Familie bietenden Gestaltungsräume müssen sich daran
messen lassen, inwiefern sie es vermögen, die sich von der Gotteswirklichkeit
her eröffnende Hoffnung so in der Weltwirklichkeit abzubilden, dass der
Anspruch eines jeden Selbstbezugs, in seiner fundamentalen Angewiesenheit
Gehör zu finden, praktisch bezeugt wird. Ziel der Bezeugungsakte innerhalb der
Lebensform Familie kann deswegen gerade nicht eine wie auch immer geartete
perfekte Form von Gemeinschaft sein, sondern muss gerade die Befähigung zur
selbstbestimmten Ausübung eröffneter oder eben kommunikativer Freiheit
sein.
29
27 Es ist für die im Rahmen dieses Artikels verfolgte Argumentation von großer Bedeutung,
dass solche Versprechen nicht zwangsläufig oder gar ausschließlich als verbale
Artikulationen verstanden werden.
28 Vgl. Martin Luther, WA 56, Der Brief an die Römer, Weimar 1515/16.
29 Jean Luc Nancy markiert sehr scharfsinnig die Gefahr des radikalen Umschlags einer
singulären Offenheit in gewaltvolle gemeinschaftliche Geschlossenheit, etwa dann,
wenn eine Gemeinschaft selbst dem Phantasma einer Einheit folgt, indem sie sich selbst
als totalitär setzt. Vgl. Jean Luc Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, Zürich/
Berlin 2007, 25. Demgegenüber entwickelt Nancy eine Ontologie des Mit-Seins, die sich
den Elementen von Totalisierung und Aneignung zu entziehen versucht. Ein Selbst, dass
Einer Freiheit, die sich darüber im Klaren ist, dass in dem Umgang mit der je
eigenen Verwundbarkeit die beständige Gefahr lauert, das Gegenüber zu
verletzen. In dem Versuch, sich selbst, die Eltern, die Kinder oder Angehörige
zu beschützen, also mit der je eigenen Verwundbarkeit und erfahrenen
Verletzlichkeit umzugehen, greift man zu (Abwehr-)Maßnahmen, die wiederum
zu einer Steigerung der Vulnerabilität anderer beitragen. Das ist eine Erfahrung,
die gesellschaftliche Großbaustellen wie die Themen Migration oder aber auch
Gesundheitsschutz ebenso betrifft wie Aushandlungsprozesse innerhalb von
Familien.
30
3.
Zu einer Kritik der Lebensform Familie
Solche Orte der Gestaltung vulnerablen Lebens werden in Anknüpfung an die
Arbeiten Rahel Jaeggis als Lebensform verstanden. Lebensformen können als
soziale Gebilde beschrieben werden, in denen Menschen miteinander
versuchen, für konkrete Probleme und Herausforderungen Lösungen zu finden.
Dabei kann es nicht nur sehr unterschiedliche Art und Weisen geben, wie
Lebensformen gestaltet und gelebt werden, sondern vielmehr ist diese Varianz
innerhalb von Lebensformen ein intrinsisches Merkmal einer jeden
Lebensform. Unter dem Begriff der Lebensformen werden dabei bestimmte
Konfigurationen kulturell tradierter Praktiken und Orientierungen verstanden.
Solche Ensembles drücken bestimmte Anknüpfungs- und Vollzugsmuster
kommunikativer Freiheit und damit auch bestimmte Umgangsweisen mit
Lebensvollzügen, Rechtssystemen oder Weisen der Beziehungsorganisation
aus. Die entscheidende Pointe in der Betrachtung der Lebensformen ist eine
zweifache: Zum einen sind Lebensformen daran zu messen, inwiefern sie eine
Lösung für das sich ihnen jeweils stellende
Problem zu liefern in der Lage sind. Damit ist zugleich gesagt, dass Lebensformen
sowohl plural sind es kann also nicht die eine Lebensform geben als auch
Gegenstand von Kritik sein können, nämlich immer dann, wenn sie das jeweils
thematisierte Lebensvollzugsproblem nicht lösen können. Um hier begrifflich
in und an den Trennungsfugen des mit bruchhaft zur Präsenz kommt, hat sich nicht etwa
verloren, sondern noch nie gefunden. »Berühr mich nicht«, schreibt Nancy an anderer
Stelle (Jean Luc Nancy, Noli me tangere, Zürich 2008, 61) und verweist auf die bleibende
Unverfügbarkeit, auf den plural verfassten Grund des Bandes zwischen Selbst und
Anderem. Nur in einer derartig verstandenen Pluralität ist Singularität als Ko-Präsenz
möglich. Vgl. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft.
30 Siehe hierzu auch die gewinnbringenden Ausführungen in dem von Hildegund Keul und
Thomas Müller herausgegebenen Band zum Thema: Hildegard Keul/Thomas Müller
(Hg.), Verwundbar. Theologische und humanwissenschaftliche Perspektiven zur
menschlichen Vulnerabilität, Würzburg 2020.
scharf zeichnen zu können, werde ich diese Varianz innerhalb der Lebensform
Familie im Folgenden als Paradigma bezeichnen.
31
Zum anderen weist die
Kopplung von responsiv fundierter Freiheit und praktischen Figurationen von
Lebensformen darauf hin, dass sich die Frage nach dem guten Leben nicht
abstrakt beantworten lässt, sondern als Verhältnis zwischen dem als Formen
eines
guten Lebens Gewollten und den konkreten Vollzügen und
Herausforderungen
des Handelns verstanden werden muss.
Ein Paradigma bezeichnet folglich eine spezifische zeitliche (strukturelle)
Varianz bei gleichzeitiger (struktureller) Überschneidung in der gemeinsamen
Problemstellung der Lebensform Familie. Die Bedeutung solcher Paradigmen hat
Andreas Reckwitz in seinem jüngsten Werk herausgestellt und zugleich
versucht, die Figur der Paradigmen auf die Analyse politischer Lebensformen zu
übertragen. Paradigmen, so Reckwitz,
[…] sind nach Kuhn Vokabulare der Problemlösung: Sie setzen sich durch, wenn sie
sich als Antwort auf Probleme in seinem Fall: naturwissenschaftliche
Erklärungsproblemebewähren und geraten in die Kritik oder Krise, wenn die Zahl
der
Anomalien‹, denen sie hilflos gegenüberstehen, ein signifikantes Maß
überschritten hat.
32
Gehen Kuhn und in seiner Aufnahme auch Reckwitz tendenziell davon aus, dass
in einem bestimmten Zeitrahmen einzig ein bestimmtes Paradigma leitend sein
kann und neue Paradigmen notwendig Alte ablösen, scheint dies ein möglicher,
aber kein zwingender Schluss zu sein. Sowohl im Raum des Politischen, als auch
in der Lebensform Familie lassen sich nicht wenige Beispiele finden, dass
unterschiedliche Paradigmen durchaus auch nebeneinanderstehen können.
Nicht selten rühren Konflikte im Politischen oder auch in Familien ja gerade
daher, dass es zu Inkommensurabilitäten und Inkongruenzen in den
zugrundeliegenden Paradigmen, also den besonderen Fragen und Problemen
innerhalb der Lebensform kommt. Die Frage, wie Liebe gelebt und auf Dauer
gestellt werden kann, kann dann etwa mit der Ehe zwischen Mann und Frau
beantwortet werden. Ein anderes Paradigma innerhalb der Lebensform Familie
wäre dann beispielsweise die gleichgeschlechtliche Ehe oder aber
Partnerschaften, die sich entscheiden, nicht zu heiraten. Sie alle variieren
untereinander in den strukturellen Vorgaben und den Lösungsangeboten.
Zugleich aber verbindet sie die gemeinsame Problemstellung der Lebensform
Familie: Für- und miteinander über Generationen hinweg Verantwortung zu
übernehmen. Insofern kann eine konkrete
31 Vgl. Thomas S. Kuhn, Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt a. M.
2012.
32 Andreas Reckwitz, Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der
Spätmoderne, Frankfurt a. M. 2019.
Form von Partnerschaft bereits als eine spezifische Konfiguration von Familie
verstanden werden. Eine Partnerschaft zwischen zwei Menschen ist ja immer
auch ein Zusammen- und Aufeinandertreffen unterschiedlicher Herkünfte,
Geschichten und Verantwortlichkeiten für andere Menschen.
An dem Punkt der konkreten Verantwortungsübernahme über
Generationen hinweg kann dann erstens auch der Brückenschlag zur
rechtlichen Verfasstheit der Lebensform Familie erfolgen: So führt das
Bundesverfassungsgericht zur Bestimmung, was als eine Familie verstanden
werden kann, aus:
Art. 6 I GG schützt die Familie als Gemeinschaft von Eltern und Kindern. Dabei ist
nicht maßgeblich, ob die Kinder von den Eltern abstammen und ob sie ehelich oder
nichtehelich geboren wurden. Familie ist die tatsächliche Lebens- und
Erziehungsgemeinschaft zwischen Kindern und Eltern, die für diese Verantwortung
tragen.
33
Entscheidend für die Bestimmung einer Familie als eine solche ist also der
konkrete Aufweis, dass Individuen mit und füreinander Verantwortung tragen.
Gerade darin besteht dann auch der unverzichtbare gesellschaftliche Wert der
Lebensform Familie: Sie muss ein Ort sein, an dem Individuen lernen mit-ein-
ander in Freiheit zu wachsen und zu leben, sich zu achten und Umgangsformen
für und mit der Vulnerabilität der jeweilig anderen zu finden.
Familie als Lebensform zu denken bedeutet zweitens, sie in ihrer
Verschränkung von Figurationen des Privaten und Öffentlichen zu betrachten.
Familie, so sei zugespitzt formuliert, ist zugleich privat und öffentlich. Sie ist
privat, weil es um die Freiheitsrechte und Verantwortungsübernahme Einzelner
geht, deren konkrete Ausgestaltung sehr individuell und einzigartig sein kann.
Diese privaten Konfigurationen von Familie sind aber zugleich angewiesen auf
öffentliche Kommunikationsräume, Ressourcen und institutionelle Strukturen.
Gerade die Erfahrungen in der SARS-CoV-2-Krise zeigen, dass es in Familien
gerade dann zu privaten Tragödien und Rückschlägen kommt, wenn öffentliche
Kommunikationsräume und Strukturen nicht mehr bereitstehen. Eltern fallen
in längst überwunden geglaubte Rollenmuster, Lebensziele geraten in weite
Ferne und mögliche Gewalterfahrungen scheinen aus der öffentlichen
Sichtbarkeit zu verschwinden.
34
Es erweist sich als Trugschluss, dass die
jeweilige Lebensform Familie sich nur (genug) auf sich selbst beziehen und an
sich arbeiten muss, um eine gute Familie zu sein. Gerade hier kann und muss
gerade eine evangelisch-theologische Ethik in Anschlag bringen, dass und wie
sehr responsive Freiheit auf konkrete Gestaltungsräume und Möglichkeiten
angewiesen ist.
33 https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2003/04/
rs20030409_1bvr149396.html (abgerufen 10. 06.2020).
34 Vgl. Jenny Fishera u. a., Community, work, and family in times of COVID-19, in:
Community, Work & Family 23 (2020), 247252.
Drittens aber ist die Lebensform Familie nicht einfach statisch oder gar
immer schon gegeben. Sie ist Veränderungen unterworfen und bedarf auch
darauf haben Rahel Jaeggi und in ihrer Folge weitere Denkerinnen und Denker
hingewiesen Reflexion und Kritik.
35
Die Lebensform Familie muss beständig
und immer wieder daraufhin befragt werden, ob sie und die in ihr gestalteten
Paradigmen, die adressierten Probleme auch wirklich zu lösen in der Lage sind.
Zu prüfen ist also, inwiefern es die Lebensform Familie tatsächlich vermag, einen
Gestaltungsrahmen zu bieten, in dem Menschen über Generationen hinweg
mit- und füreinander verantwortlich mit der Vulnerabilität menschlichen
Lebens umzugehen lernen. Dies ist umso bedeutender, als dass es sich bei der
Lebensform Familie nicht einfach nur um einen vertraglichen Zusammenschluss
einzelner souveräner Subjekte handelt. Vielmehr bildet Familie gerade den
gesellschaftlichen Rahmen, in dem Individuen lernen und erfahren,
miteinander in Freiheit zu leben und sich als Individuen zu achten, mit gleichen
Rechten auf Anerkennung.
Es gehört auch zum Nachdenken über die Lebensform Familie, zugleich
einzugestehen, dass es keine Garantien für das Gelingen solcher Anerkennungs-
und Achtungserfahrungen gibt. Gerade deswegen bedürfen Lebensformen an
sich, aber eben auch die Reflexion auf ihre strukturellen Bedingungen und
Gestaltungsmöglichkeiten, der Kritik. Was aber könnten gemeinsame
Merkmale einer solchen Kritik einer Lebensform Familie sein? Erstens bedarf
eine solche Kritik einer klar entfalteten Theorie. Und hier besteht erheblicher
Reflexions- und eben auch Nachholbedarf. Es mag stimmen, dass das auch für
andere Disziplinen, wie etwa die Erziehungswissenschaften und
Rechtswissenschaften, gilt. Aber es ist eben nicht zuletzt eine dringliche
Aufgabe theologisch-ethischen Nachdenkens. Menschliches Leben von seiner
Vulnerabilität her zu denken, ermöglicht hier eine entscheidende Fluchtlinie. Ein
Leben, das auf die Anerkennung von und mit anderen angewiesen ist und dem
sich gerade in seiner responsiven Verankerung Freiheitsräume eröffnen, die
selbstbestimmt gestaltet werden können und dürfen.
Zweitens ist es Aufgabe einer solchen Kritik der Lebensform Familie, immer
wieder den Blick auf die besonders vulnerablen Personen innerhalb von Familien
zu lenken und auch verborgene Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten an die
Oberfläche zu tragen und sichtbar zu machen. Insofern hat eine Kritik von
Lebensformen nicht zuletzt einen emanzipatorischen Charakter. Dass
beispiels-
35 Aufbauend auf den Überlegungen Foucaults, aber durchaus kontrovers zu den
unterschiedlichen Funktionen und Modi von Kritik, siehe die Überlegungen von Michel
Foucault selbst sowie jene von Judith Butler und Rahel Jaeggi. Judith Butler, Was ist
Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend, in: Rahel Jaeggi/Tilo Wesche (Hg.), Was ist
Kritik?, Frankfurt a. M. 52019, 221246. Außerdem: Michel Foucault, Was ist Kritik,
Berlin 1992.
weise Kinder Ansprüche und Rechte auch und gerade in Familien haben, bleibt
viel zu oft ein abstraktes Bekenntnis, ohne dass es konkret gelebt und umgesetzt
wird. Es ist schlechtweg nicht hinnehmbar, dass in der aktuellen SARS-CoV-2
Krise Kindern, die aufgrund einer Vorerkrankung zu einer Risikogruppe
gehören, oft als einziger Ausweg bleibt, isoliert in ihren Familien zu bleiben.
Hinzu kommt, dass das Infektionsschutzgesetz nicht vorsieht, dass Eltern, die
dann aufgrund eines Risikos des Kindes zu Hause bleiben (müssen), einen
Anspruch auf Verdienstausfall haben. Zu Recht mag man sofort einwenden, dass
es Aufgabe von Politik sei, hier Lösungen zu entwickeln und finden. Aber zugleich
bedarf es einer Kritik, die solche konkreten Missstände aufzudecken und
sichtbar zu machen in der Lage ist. Eine Kritik, die bereit ist, sich die Hände
schmutzig zu machen und in den Riss zu treten.
Drittens und eng mit dem zweiten Punkt verknüpft wird eine Kritik von
Lebensformen die Abhängigkeit der Lebensform Familie von strukturellen und
institutionellen Bedingungen zu einem zentralen Bestandteil ihres
Nachdenkens machen müssen. Dass die Lebensform Familie ein zentraler Ort
sein kann, an dem Menschen miteinander und füreinander Verantwortung
übernehmen und gerade hierin ein soziales Band, ein gemeinsam geteilter
Boden entsteht, bedarf der Bereitstellung von Strukturen und Ressourcen. Das
mag auf den ersten Blick wie ein Gemeinplatz klingen. Und in der Tat wäre es
tollkühn zu behaupten, dass dies noch nie gesagt worden oder dieses
Bedingungsverhältnis gänzlich unbekannt wäre. Und doch wandert gerade in
den theologischen Reflektionen über Familie der Blick viel zu schnell und zu oft
auf die Frage, was eine Familie zu einer guten Familie macht. Wie in der
emanzipatorischen Dimension einer Kritik der Lebensform Familie bereits
ausgeführt, bleibt das auch eine wichtige Aufgabe
theologischen Nachdenkens.
Sie greift aber eben zu kurzund verliert auch ihre
kritische Spannkraft wo sie
nicht zugleich prüft, ob auch die jeweils notwendigen Strukturen sowie
entscheidenden Ressourcen gewährleistet werden.
Chapter
In times of crisis, family comes into focus: On the one hand, the family’s restraining function takes effect when it serves as a refuge for young people against isolation in lockdown and new models of family life together emerge. On the other hand, restrictions on contact at Christmas time threaten the tradition of family get-togethers and family celebrations that has been established in many places, which poses new challenges for all generations. The topic touches emotionally and makes clear how different our ideas of family are. While some experience a temporary revitalization of the family as a protective space of trust, security and community, for others family becomes a danger when physical and psychological aggressions are unleashed behind closed doors: Whether as a trouble spot or crisis support, in times of crisis the family seems en vogue. At the same time, in the twenty-first century one can ask very fundamentally whether also the family as such is in crisis, when some scenarios speak of a disintegration of the family. Scientific developments, combined with the consequences of globalization and increasing individualization of life plans and family models, call self-evident facts into question and raise ethical questions. The increasing pluralism of values not only leads to a strengthening of the ‘secular option’, but also demands new ethical potentials for an individually modern way of life. The concept of family, for example, has changed and pluralized ethically, economically and socio-politically. This opening up of life forms and sexual diversity sometimes meets with resistance on the social and family-political horizon. It is becoming clear that classic family models are being overtaken by sexual-ethical images (including transidentity and homosexuality). These changed constellations have to be reflected ethically. Family and family models are complex and cannot be explicitly summarized or defined in a fixed guiding concept. Standardized images have long been outdated, since the family is a lifelong task that constantly poses new challenges. It is undisputed that the idea of a “perfect family world” is based on utopia, idealism and illusion, and that the concept of family in the twenty-first century must be thought of in terms of diversity beyond the traditional “father-mother-child” image.
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