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Die Antinomie von Autorität und Autonomie in der Pädagogik
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Antinomie zwischen zwei 'Polen' des pädago-
gischen Diskurses zur Art der Ausgestaltung von pädagogischen Beziehungen. Auf
der einen Seite postuliert eine in die Minderheit geratene Gruppe schulischer Akteure
angesichts einer Zeit postmoderner Beliebigkeit die Notwendigkeit zur 'pädagogischen
Autorität' und fordert die Disziplinierung von Kinder und Jugendlichen. Auf der anderen
Seite fordert man das selbstbestimmte und eigenständige Kind. Das 'Führen' und das
'Entfalten' scheinen sich als unüberwindbare Gegensätze gegenüber zu stehen. Diese
Trennung verdeutlicht sich u. a. innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Schulthe-
orie – dies etwa dann, wenn Hügli (1999) zwischen 'Kontrollpädagogiken' und 'Auto-
nomiepädagogiken' unterscheidet. Sie steckt ebenfalls in den Diskussionen von Leh-
rerinnen und Lehrern zu 'Anstand' und 'Gehorsam' einerseits und dem Anspruch zu
'Selbstständigkeit' und 'Autonomie' andererseits. Auf all diesen Diskursebenen zur pä-
dagogischen Beziehung verbleibt indes das, was zwischen diesen beiden 'Endpunk-
ten' liegt, verborgen. Ich werde im Folgenden versuchen, diese Antinomie darzustellen
und das Verbindende freizulegen.
1. Autorität, Asymmetrie und Abhängigkeit
In diesem Abschnitt unternehme ich den Versuch, die einzelnen Bestandteile dieses
Zusammenhangs darzustellen. Hierzu muss ich definieren, was unter 'pädagogischer
Autorität' zu verstehen ist und inwiefern 'Asymmetrie und Abhängigkeit' als Bestand-
teile 'pädagogischer Autorität' in einer gegenseitigen Wechselwirkung stehen.
1.1 Die 'pädagogische Autorität' – ein Definitionsversuch
Diesen 'Sumpf der Pädagogik' zu betreten, erachtet Reichenbach (2011) als unpopulär
und schwierig, da in der heutigen Gesellschaft Autorität verpönt sei und nicht im Trend
liege. Dieses 'Reizthema' zwingt die Menschen ausserdem dazu, 'immer gleich Stel-
lung beziehen zu müssen', was eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Auto-
rität im Allgemeinen und der 'pädagogischen Autorität' im Besonderen verunmöglicht,
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Abb. 1: Ordnungsversuch nach Riedel (o.J.)
obschon die Thematik differenziert aufgearbeitet worden ist (vgl. Paris 2015, Reichen-
bach 2011, Schott 2003). Ausserdem liefern die Erziehungsstilforschung, die Autorita-
rismusforschung, die Führungsforschung, die entwicklungspädagogische Forschung,
die Historische Bildungsforschung sowie die Allgemeine Erziehungswissenschaft Hin-
weise, was unter 'pädagogischer Autorität' zu verstehen ist. Empirische Studien zur
'pädagogischen Autorität' liegen ebenfalls vor (exemplarisch Frei 2003). In einem ers-
ten Schritt möchte ich mich in Anlehnung an Reichenbachs (2011) Vorgehensweise
zur Bestimmung von 'pädagogischer Autorität' der Erziehungsstilforschung und der
Autoritarismusforschung zuwenden, um zu schauen, ob sich hier eine Definition von
'pädagogischer Autorität' ableiten lässt.
Insbesondere Autoren von Eltern-Ratgebern haben die Ergebnisse der Erziehungsstil-
forschung (vgl. Hurrelmann 2002, Lewin et. al. 1939, Maccoby & Martin 1983, Ruppert
1959, Spranger 1950) eingehend rezipiert. Ebenfalls hat sie sich in der Bildsemantik
zu Erziehung u. a. in der Werbung niedergeschlagen. Die 'Abnehmer der Erziehungs-
stilforschung' sind somit häufig Eltern. Hurrelmann (2002) sowie Riedel (o.J.) haben
den Versuch unternommen, die eruierten Erziehungsstile zu ordnen. Beide grenzen
unter Rückgriff auf Spranger den autoritären Erziehungsstil von anderen Erziehungs-
stilen (permissiv, autoritativ, vernachlässigend) ab. Auf den Achsen unterscheidet Rie-
del nach 'Lenkung' und 'Zuneigung/Wärme' und differenziert die Erziehungsstile zu-
sätzlich aus.
verwöhnend
nachsichtig
sozial-partizipativ
autokratisch
negierend
egalitär-symmetrisch
demokratisch
laissez-faire
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Reichenbach moniert, dass die Erziehungsstilforschung an Verallgemeinerungen leide
und nur wenig praktisch relevantes Wissen für das erzieherische Handeln ermögliche.
Erziehung sei jedoch nur begrenzt eine Technologie, sondern vielmehr eine Kunst. Die
Kunst den 'pädagogischen Takt' (Herbart 1802) zu finden.
"Die Frage ist weniger, welcher Erziehungsstil allen anderen Erziehungsstilen in allen Situationen überlegen ist,
als vielmehr in welchen Situationen welcher Erziehungsstil bzw. welche erzieherische Strategie allen anderen
überlegen ist." (Reichenbach 2011, S. 136)
Die Erziehungsstilforschung gibt demnach keine abschliessende Antwort darauf, was
unter 'pädagogischer Autorität' zu verstehen ist. Somit lohnt es sich, diese Frage an
die Autoritarismusforschung zu richten. Diese widmete sich u. a. der Frage, ob die
monströsen Taten im 2. Weltkrieg von 'perversen, sadistischen und brutalen Persön-
lichkeiten' begangen worden sind. Gemeinhin wurde auf den 'autoritären Charakter der
Deutschen' verwiesen, um den krankhaften Gehorsam, den man während der NS-Zeit
pflegte, zu erklären. Insbesondere Milgram (1961, 1982) stellte den 'autoritären Cha-
rakter der Deutschen' infrage und untersuchte experimentell, ob der Einfluss und die
Macht der Situation zu krankhaftem Gehorsam führen könne. Die Ausgangsfrage des
berühmten Milgram-Experiments lautete: "Wie stark ist das moralische Individuum und
gelingt es der einzelnen Person, ihren Überzeugungen entsprechendes Handeln und
ihrer Meinung entsprechendes Verhalten folgen zu lassen?" Die Antwort ist bekannt:
"Viele Versuchspersonen unseres Experiments waren in gewisser Hinsicht gegen das, was sie dem Schüler
antaten, und viele protestierten, noch während sie gehorchten. Aber zwischen Worten und Gedanken und dem
entscheidenden Schritt des Ungehorsams gegenüber einer böswilligen Autorität liegt noch etwas anderes, näm-
lich die Fähigkeit, Überzeugungen und Wertmassstäbe in Aktion umzusetzen. Manche Versuchspersonen waren
vollkommen von der Unrechtmässigkeit ihres Tuns überzeugt, konnten sich jedoch nicht zu einem klaren Bruch
mit der Autoritätsperson entschliessen." (Milgram 1982, S. 27)
Dieser Befund von Milgram wurde innerhalb der Pädagogik rege rezipiert und disku-
tiert, letztlich ist er jedoch für die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen in der Schule
kaum von Nutzen. Erstens sind Lehrpersonen in der Regel keine 'böswilligen Autoritä-
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ten' und zweitens ist die 'Fähigkeit, Überzeugungen und Wertmassstäbe in Aktion um-
zusetzen' im Kindealter noch nicht möglich und selbst im Jugendalter ist diese Fähig-
keit lediglich eingeschränkt vorhanden (vgl. Selman 1984, Kohlberg 1996). Beide For-
schungsrichtungen – die Erziehungsstilforschung sowie die Autoritarismusforschung –
liefern somit lediglich Hinweise, jedoch keine geeignete Definition was unter 'pädago-
gischer Autorität' zu verstehen ist. Einen ersten Schritt hin zu einer Definition nimmt
Reichenbach (2011, S. 159) vor, indem er in Anlehnung an Sofsky und Paris auf die
fünf Quellen der sozialen Macht in Organisationen hinweist.
Tab. 1: Definitionsversuch der 'pädagogischen Autorität' nach Reichenbach (2011, S. 159) in Anlehnung an Sofsky und Paris
(1994)
Amtsautorität
Über Amtsautorität verfügt eine Person nicht als Person, sondern als Inhaberin die-
ses Amtes und zwar solange er / sie dieses innehat (offizielle Befugnisse).
Sachautorität
Sachautorität bezieht sich auf spezifische Kompetenzen dieser Person und nicht auf
die soziale Position. Sachautorität gründet in Fachwissen, das jahrelang durch Er-
fahrung in einem Teilbereich des Arbeitslebens / oder Wissensbereich erworben
wurde (fachliche Fähigkeit, Spezialist/in).
Organisationsautorität
Die Organisationsautorität hat ihre Machtquelle in der Fähigkeit einer Person, den
reibungslosen Ablauf einer Organisation zu koordinieren, wobei differenzierte Ab-
läufe grösseren Organisationsbedarf erfordern und damit die Autorität derjenigen
stärken, welche die notwendigen Prozesse souverän steuern und koordinieren ver-
mögen (koordinative und organisatorische Fähigkeit).
Funktionsautorität
Funktionsautorität: Sie ist verwandt mit der Organisationsautorität. FA ist eine ent-
persönlichte Autorität. Die Grundlage dieser Autorität ist eine funktionierende Tech-
nik selbst, die der alltäglichen Reproduktion von Steuerungsmechanismen dienlich
ist (sachlich-technische Fähigkeiten).
Charisma
Charisma ist von den vier abzuheben. Es ist in bestimmten Lebensbereichen ganz
bedeutsam, in Organisationen aber untergeordneter Bedeutung (Führungskompe-
tenz).
Für den pädagogischen Bereich sind je nach Schulstufe und Lebensphase alle Formen
von Autorität wichtig. Nun kann man gegenüber Schülerinnen und Schülern schlecht
damit argumentieren, dass man nun einmal über Amtsautorität verfüge und sie des-
halb 'Gehorchen' sollen. Der Blick ist damit, insbesondere im Umgang mit Kindern und
Jugendlichen, auf den 'Akt der Zuschreibung' von Autorität zu lenken. Dieser 'Akt' ist
für das Verständnis, was unter 'pädagogischer Autorität' zu verstehen ist, zentral. Er
beinhaltet drei Aspekte: das 'Folgen', der 'Gehorsam' und das Akzeptieren von 'Asym-
metrie'.
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1.2 'Folgen' und 'Gehorchen'
Das 'Folgen' bildet den ersten Aspekt der Zuschreibung von 'pädagogischer Autorität'.
Mit 'Folgen' meint etwa Paris: "sich jemandem anvertrauen, dem man vertraut und dem
man gleichzeitig zutraut, in unwirtlichem Gelände den richtigen Weg zu finden" (2009,
S. 60). Reichenbach ergänzt Paris, wenn er pointiert schreibt: "Über den Erfolg oder
das Scheitern der Führung entscheiden letztlich die Folgenden" (2011, S. 167). Der
zweite Aspekt dieser Zuschreibung von 'pädagogischer Autorität' ist an den Gehorsam
des Kindes bzw. des Jugendlichen gebunden. Man gehorcht der Lehrperson, da man
ihr dieses Vertrauen schenkt und die Asymmetrie in der pädagogischen Beziehung
akzeptiert. Kinder erkennen sehr gut, dass Erwachsene etwas 'besser können' und
über mehr Lebenserfahrung verfügen. Erst aus diesen drei Aspekten – 'Folgen', 'Ge-
horsam' und 'Asymmetrie' – ergibt sich der Führungsanspruch einer Lehrperson. Den
zweiten Aspekt, der Gehorsam in der Erziehung, möchte ich an dieser Stelle weiter
ausführen. Um zu verdeutlichen, was unter Gehorsam im Kontext von 'pädagogischer
Autorität' zu verstehen ist, wird häufig der Aufsatz 'Die Krise in der Erziehung' (1958)
von Hannah Arendt herangezogen. Darin beschreibt sie, wie Gehorsam und Autorität
in Beziehung stehen. Ein Ausgangspunkt des Aufsatzes ist der Eichmann-Prozess in
Jerusalem und die Aussage Eichmanns, er habe lediglich dem Führer und dem Gesetz
gehorcht. Arendt widerspricht Eichmann, indem sie der Erwachsenwelt ein Recht auf
Gehorsamkeit abspricht: "Niemand hat das Recht zu gehorchen". In politischen wie
moralischen Angelegenheiten gäbe es so etwas wie Gehorsam nicht. Gehorsamkeit
bei den Kindern einzufordern sei hingegen legitim und als Bestandteil von pädagogi-
scher Autorität notwendig. Grundsätzlich unterscheidet sie die 'Kultur des Gehorchens'
vom 'Missbrauch des Gehorsams'. Arendts Auffassung von Gehorsamkeit in der pä-
dagogischen Beziehung ist eng an eine ethische Auffassung von Autorität gebunden.
Autorität bedeutet für Arendt, 'Verantwortung für die Welt' zu übernehmen.
"In der Erziehung äußert sich diese Verantwortung für die Welt in der Autorität. Die Autorität des Erziehers und
die Qualifikation des Lehrers sind nicht dasselbe. Wiewohl ein gewisses Ausmass von Qualifikation für Autorität
unerlässlich ist, kann auch die höchst gesteigerte Qualifikation von sich aus niemals Autorität erzeugen. Die
Qualifikation des Lehrers besteht darin, dass er die Welt kennt und über sie belehren kann, aber seine Autorität
beruht darauf, dass er für diese Welt die Verantwortung übernimmt. Gegenüber dem Kinde nimmt er es gleich-
sam auf sich, die Erwachsenen zu repräsentieren, die ihm sagen und im einzelnen zeigen: Dies ist unsere Welt."
(Ebd. S.265)
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Die Abschaffung der Autorität in der Erziehung bildet die Ursache der monierten 'Krise
in der Erziehung'. Die Autorität in der Erziehung sei von den Erwachsenen abgeschafft
worden, "und dies kann nur eines besagen, nämlich daß die Erwachsenen sich wei-
gern, die Verantwortung für die Welt zu übernehmen, in welche sie die Kinder hinein-
geboren haben" (ebd.). Als Neuankömmlinge könnten die Kinder die Verantwortung
für die bestehende Welt nicht tragen. Kinder seien auch keine unterdrückte Minderheit,
die man befreien müsse. Diese Weigerung, Verantwortung zu übernehmen, zeige sich
wiederum darin, in dieser Welt nicht befehlen und nicht gehorchen zu wollen. Arendt
(ebd., S. 258ff.) meint vier Folgen dieser Abschaffung der Autorität in der Erziehung
zu erkennen.
1. Die Kinder werden aus der Welt der Erwachsenen ausgestossen. Die Verant-
wortung bzw. die Selbstverwaltung – die sie nicht tragen können bzw. zu erken-
nen vermögen – erzeugt bei den Kindern Druck. Darauf reagieren sie entweder
mit blinder Anpassung, Ohnmacht oder Haltlosigkeit.
2. Die Pädagogik hat sich zu einer Wissenschaft des Lehrens und Lernens entwi-
ckelt. Ein Lehrer ist heute jemand, der alles lehren kann, jedoch die Beherr-
schung seines Fachs nicht mehr erfüllt. Damit fällt die beste und legitimste
Quelle von Autorität weg.
3. Die Pädagogik hat den Unterschied zwischen Spielen und Arbeit zugunsten des
Spielens verwischt. Die Gewöhnung an Arbeit und Nicht-Spielen wird ausge-
blendet zugunsten einer künstlichen Eigenständigkeit der kindlichen Welt.
4. Die Eigenständigkeit der kindlichen Welt zu propagieren, unterbricht die natür-
liche Beziehung zwischen den Eltern und dem Kind. Zugleich wird verleugnet,
dass die Kindheit ein vorübergehendes Stadium bildet, indem sich das Erwach-
sensein vorbereitet.
Die Erziehung als 'konservierendes Moment' beinhaltet nach Arendt (ebd., S. 262ff.),
das 'Kind vor der Welt' und die 'Welt vor dem Kind' bzw. das 'Neue vor dem Alten' und
das 'Alte vor dem Neuen' zu schützen.
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"Erziehen tun wir im Grunde immer für eine aus den Fugen geratene oder geratende Welt, denn dies ist die
menschliche Grundsituation, in welcher die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine
begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Weil die Welt von Sterblichen gemacht ist, nutzt sie sich ab; und weil sie
ihre Bewohner dauernd wechselt, ist sie in Gefahr, selbst so sterblich zu werden wie ihre Bewohner. Um die Welt
gegen die Sterblichkeit ihrer Schöpfer und Bewohner im Sein zu halten, muss sie dauernd neu eingerenkt wer-
den. Die Frage ist nur, dass wir so erziehen, dass ein Einrenken überhaupt möglich bleibt, wenn es auch natürlich
nie gesichert werden kann. Unsere Hoffnung hängt immer an dem Neuen, das jede Generation bringt; aber
gerade weil wir nur hierauf unsere Hoffnung setzen können, verderben wir alles, wenn wir versuchen, das Neue
so in die Hand zu bekommen, dass wir, die Alten, bestimmen können, wie es aussehen wird. Gerade um des
Neuen und Revolutionären willen in jedem Kinde muss die Erziehung konservativ sein." (Ebd., S. 267)
Um zum Definitionsversuch von 'pädagogischer Autorität' zurückzukehren, ist zusam-
menfassend festzuhalten, dass der 'Gehorsam' und das 'Folgen' stets Bestandteile
'pädagogischer Autorität' bilden. Zu betonen ist, dass 'pädagogische Autorität' vom
Kind als 'Akt des Vertrauens' zugeschrieben wird. Für den Erwachsenen ergibt sich
dadurch die Aufgabe, die 'Verantwortung für die Welt' zu tragen, die 'pädagogische
Autorität' anzunehmen und sie als 'konservierendes Moment' von Erziehung zu pfle-
gen.
1.3 'Asymmetrie'
Bislang habe ich den dritten Aspekt des 'Akts des Vertrauens' noch nicht ausgeführt:
die Asymmetrie in der pädagogischen Beziehung. Dieser asymmetrischen Bezie-
hungskonstellation in der pädagogischen Begegnung und dem Zuschreibungsverhält-
nis von Autorität möchte ich nun folgen, um zu verdeutlichen, was 'pädagogische Au-
torität' ausmacht – denn die 'pädagogische Autorität' ist zwar Bestandteil einer konser-
vierenden Erziehung, jedoch ebenso eine Eigenschaft einer pädagogischen Bezie-
hung. Diese Beziehung kann lediglich tragend ausfallen, wenn man sich der Begrenzt-
heit der interpersonalen Verhandlungsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen be-
wusst ist. Selman (1984) widmete sich der Entwicklung des sozialen Verstehens und
der Entwicklung von Freundschaft bei Kindern. In diesem Zusammenhang eruierte er
ein vierstufiges Modell, welches die interpersonalen Verhandlungsstrategien (INS) von
Kindern abbildet. Das Modell (vgl. Selman 1980, S. 47ff.) unterscheidet zwei Orientie-
rungsmodi: Die 'Veränderung des Anderen' und die 'Selbstveränderung'. Befindet sich
ein Kind auf der Stufe 0, wendet es zur Veränderung des Anderen unreflektierte Ge-
walt an, um die eigenen Ziele zu erreichen. Um sich zu schützen, wählt es hingegen
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Abb. 2: Interpersonale Verhandlungsstrategien bei Kindern (Selman 1980, S. 47)
Strategien des unreflektierten Rückzugs oder Gehorsams. Diese Stufe durchlaufen
Kinder zwischen 3 und 6 Jahren. Auf der Stufe 1 (6-8 Jahre) greift ein Kind zur Selbst-
veränderung auf Strategien willenloser Unterwerfung unter die Wünsche des Anderen
zurück. Zur Veränderungen des Anderen werden Strategien einseitiger Machaus-
übung angewendet, um den Anderen um der eigene Ziele willen zu kontrollieren. Die
2. Stufe (8-10 Jahre) ist geprägt von bewusst psychologischer Beeinflussung anderer
(Absichten des Andern verändern) oder sich selber (Nachgiebigkeit, um die eigenen
Wünsche zurückzustellen). Auf der Stufe 3 (10-12 Jahre) finden Verhandlungen um
gegenseitig befriedigende Ziele anhand gemeinsamer und reflektierter Mitteilung statt.
Weder die Selbstveränderung noch die Veränderung des Anderen wird angestrebt:
"Die Person ist an einem kommunikativen Prozess und einem für sie selbst und für
den Anderen befriedigenden Ergebnis interessiert" (ebd., S. 52).
Obschon die Kritik an den Altersangaben angebracht sein dürfte, so sind dennoch zwei
Punkte festzuhalten, die es sich im Kontext der 'pädagogischen Autorität' zu beachten
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gilt: Zum einen verdeutlicht Selmans Modell letztlich die unüberwindbare Asymmetrie
zwischen der Lehrperson (Stufe 3) und ihrer Schülerschaft (Stufe 0-2). Zum anderen
ist zu betonen, dass Entscheidungen in pädagogischen Beziehungen auf jener Stufe
getroffen werden, auf der sich der oder die Tiefeststehende befindet. Insofern dürfte
der demokratische Erziehungsstil bzw. Ansätze zur guten Kommunikation (Rogers,
Schultz von Thun etc.) über einen beträchtlichen Teil der kindlichen Entwicklung wenig
Wirkung zeigen. Für den schulischen Kontext bedeutet dies, dass das Kind lediglich
jene Strategien zur interpersonalen Verhandlung nutzen kann, zu welchen es im ge-
genwärtigen Entwicklungsstadium fähig ist. Demnach ist es entwicklungspsycholo-
gisch durchaus angebracht Gehorsam einzufordern, zu disziplinieren, zu herrschen.
Die Lehrperson muss disziplinieren, wenn sie Entscheidungen fällen will. Die Diszipli-
nierung durch die Lehrperson reduziert sich mit zunehmendem Alter bzw. mit zuneh-
mender Fähigkeit zur interpersonalen Verhandlung. Der Gehorsam, die Unterwerfung,
die Nachgiebigkeit weicht somit der Verhandlung und Aushandlung.
Abgesehen von der ethischen Generationenasymmetrie (vgl. Arendt 1958) und der
entwicklungspsychologischen Asymmetrie (vgl. Selman 1980, 1984) verweist Rei-
chenbach (2011, S. 57) auf die Asymmetrie als Grundbedingung jeglicher Beziehung.
Er begründet dies damit, dass sich in Beziehungen unter Erwachsenen inferiore und
superiore Positionen stets abwechseln würden
1
. Gleichgültig, ob in homo- oder hete-
rosexuellen Beziehungen, in Freundschaften, in Bekanntschaften, in Arbeitsverhältnis-
sen, jede Erwachsene Person verfügt aufgrund ihrer Biografie über unterschiedliches
Wissen, andere Fähigkeiten und Fertigkeiten, divergierende Erfahrungen und Strate-
gien etc. In einer Beziehung treten diese Unterschiede zu Tage, "man lernt sie zu ak-
zeptieren, zu schätzen, zu nutzen". Eine Beziehung zu führen bedeutet für Reichen-
bach, Asymmetrie zu anerkennen und nicht der Symmetrieutopie zu verfallen. Beim
Wechselspiel von superiorer und inferiorer Positionen gehe es weniger um Macht, als
vielmehr um den Abgleich zwischen 'Asymmetrie und Abhängigkeit'. In einer Bezie-
hung ist somit die superiore Position stets abhängig von der inferioren Position. Die
inferiore Position spricht der superioren Position ihr Vertrauen aus und damit die Au-
torität zu. 'Abhängigkeit' ist somit stets ein zentraler Bestandteil von Asymmetrie. Die-
ser Zusammenhang von 'Asymmetrie und Abhängigkeit' herrscht ebenfalls in der pä-
dagogischen Beziehung und somit in der 'pädagogische Autorität' vor.
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Hinweis Reichenbachs im Rahmen eines Seminars (2014) an der Universität Basel.
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1.4 'Asymmetrie und Abhängigkeit'
Nachdem ich verdeutlicht habe, welche Asymmetrien – insbesondere in pädagogi-
schen Beziehungen – vorliegen, möchte ich mich einen Moment der 'Abhängigkeit'
widmen. Hierbei könnte es für das Verständnis hilfreich sein, sich zu vergegenwärti-
gen, dass das Kind die bestehende Asymmetrie zwischen ihm und dem/der/den Er-
wachsenen in der Regel freiwillig erkennt und anerkennt. Seine täglichen Erfahren im
Umgang mit den Eltern und anderen Erwachsenen verdeutlicht dem Kind die Erfah-
rungs-, Fertigkeits- oder Fähigkeitsdifferenz. Kinder begreifen, dass sie noch nicht im-
stande sind, Dinge, welche die Erwachsenen erledigen, selber nachzumachen. Von
der Sprache über alltägliche Fertigkeiten und Fähigkeiten bis hin zu komplexen An-
wendungen erleben Kinder die asymmetrische Beziehungslage. Stellen sich nun El-
tern auf eine pseudosymmetrische Ebene neben das Kind, so kommt dies einer Un-
terordnung unter das Kind gleich, da die Kinder über eine realistischere Vorstellung
der Beziehungslage verfügen als deren Eltern oder deren Lehrpersonen. Das Kind
sieht das Beziehungsgefälle, wie es ist, und im Gegensatz zu den Eltern lässt es sich
auf Dauer nicht täuschen. Mehr noch führt die Symmetrieutopie zu einer Störung des
Verhältnisses von 'Asymmetrie und Abhängigkeit'. Wenn Abhängigkeit als gegenseitig
gedacht wird und wenn in dieser Gegenseitigkeit eine Wechselseitigkeit von Asymmet-
rie ausgemacht wird, so wird deutlich, dass die Symmetriebestrebungen von Seiten
der Erwachsenen die Gegenseitigkeit von 'Abhängigkeit' unterlaufen. Die Eltern er-
scheinen damit dem Kind als einseitig von ihm abhängig (vgl. Winterhoff 2009). Sym-
metrische Beziehungslagen bzw. die Annahme symmetrische Beziehungslage seien
herstellbar bewirken somit eine 'einseitige Abhängigkeit'. Im Fall der Erwachsenen-
Kind-Beziehung führt dies dazu, dass das Kind sich gezwungen sieht, entweder zu
rebellieren, um die Asymmetrie wieder herzustellen oder der Hilflosigkeit und Orientie-
rungslosigkeit zu verfallen. Beides dürfen keine Folgen pädagogischen Handelns dar-
stellen. Die Angst einiger Lehrpersonen, über zu wenig Autorität zu verfügen, wird
kompensiert – entweder mit Dominanzverhalten oder mittels dem Bestreben, eine
symmetrische Beziehung mit den Schülerinnen und Schülern zu erzielen. Das Domi-
nanzverhalten der Lehrperson verleitet jedoch lediglich zum Lügen, zur List, zur Ent-
würdigung, zur Schummelei, zum Betrug. Die Folgen der Bestrebungen, eine symmet-
rische Beziehung herzustellen, sind ebenso gravierend. Sie führen beim Kind zu Ohn-
macht und Unsicherheit. Da die Autorität zugeschrieben wird und nichts Angeborenes
darstellt, sind beide Kompensationen für die pädagogische Begegnung und Beziehung
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langfristig kaum gewinnbringend. Erkennt man hingegen den Freiraum zwischen dem
Dominanzverhalten und der Symmetrieutopie und macht diesen für den schulischen
Kontext fruchtbar, so eröffnet sich eine 'Lücke' zwischen den 'Autonomiepädagogiken'
und den 'Kontrollpädagogiken' (vgl. Hügli 1999).
Diesem 'Freiraum' wäre das 'Ermahnen' (Bollnow 1983) hinzuzufügen. Das 'Ermah-
nen' steht zwischen dem 'Befehl' und dem 'Apell'. Es fasst den Menschen weder als
'Instrument' (Befehl), noch als 'freies Wesen ohne pädagogisch relevanten Anspruch'
(Apell) auf (vgl. Reichenbach 2011, S. 107).
"Wo ich nicht mehr befehlen kann, da kann man nur noch ermahnen: Die Ermahnung kann die Durchführung
nicht mehr erzwingen, sie wendet sich vielmehr an ein Wesen, das von sich aus frei über seinen Willen verfügt,
und sie bedeutet die Aufforderung, diesen Willen selber in Bewegung zu setzen" (Bollnow 1983, S. 64)
Obwohl Bollnow dem Ermahnen eine gewisse Erfolglosigkeit attestiert, stellt sie doch
eine Form der Erinnerung oder Ermahnung an eine Unterlassung dar. Diese Unterlas-
sung ist verknüpft mit der Möglichkeit „schuldhaft gegenüber seinem Sein-Sollen zu-
rückzubleiben“ (ebd.). Dieser Schuldhaftigkeit könne der Anlass entwachsen, das Ver-
säumnis nachzuholen. Wichtig erscheint hierbei, dass das Konzept der 'pädagogi-
schen Autorität' die umfassenden Autoritätskonzepte der 'Kontrollpädagogiken' ab-
schwächt, indem es die Freiheit des Willens des Anderen berücksichtigt. Auf der an-
deren Seite wird das autonome Subjekt im Kind nicht vorausgesetzt. Das Ermahnen
spreche vorerst das künftig autonome Subjekt an: "Die Praxis des Ermahnens mag
erfolglos sein, lästig für alle Beteiligten, sich alltäglich wiederholend, doch immer wird
in ihr das Kind – aber freilich auch der Jugendliche – als ein künftig autonomes Subjekt
adressiert, als ein Versäumniswesen, ein Wesen, das dran hätte denken können und
es in Zukunft – irgendwann, vielleicht bald, vielleicht noch lange nicht – von selber tun
wird" (Bollnow zit. in Reichenbach 2011, S. 107).
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Abb. 3: Die pädagogische Autorität zwischen Kontrolle und Autonomie (Eigene Grafik)
In diesem 'Freiraum' zwischen Kontroll- und Autonomiepädagogik, dort wo das Kon-
zept der 'pädagogischen Autorität' die 'Abhängigkeit' erkennt, man jedoch lediglich auf
ein zukünftig autonomes Subjekt verweist, wäre nach der Antinomie von Autorität und
Autonomie zu suchen. Diese Verbindung zu beschreiben würde jedoch indes bedeu-
ten, sich von einer klaren und deutlichen Position zu entfernen. Es würde bedeuten,
nicht mehr einzig für 'pädagogische Autorität' bzw. nicht mehr einzig für 'Autonomie'
einzustehen. Ich möchte an dieser Stelle den 'Wechsel' wagen und erörtern, worin der
Zusammengang von 'Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit' liegen könnte, um
ihn schliesslich dem Zusammenhang von 'Autorität, Asymmetrie und Abhängigkeit'
hinzuzufügen und so die 'Antinomie von Autorität und Autonomie' in diesem 'Freiraum'
zu verdeutlichen.
2. Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit
Im ersten Kapitel habe ich in Form eines Abrisses versucht, den Zusammenhang von
'Autorität, Asymmetrie, Abhängigkeit' zu beschreiben. Ich habe die 'pädagogische Au-
torität' als 'Akt des Vertrauens‘ (vgl. Reichenbach 2011) und die pädagogische Bezie-
hung als asymmetrisch dargelegt. Zugleich war es mir wichtig den Aspekt der 'Abhän-
gigkeit' zu betonen. Die pädagogische Zielsetzung des autonomen Subjekts muss in
dieser Beziehungslage zustande kommen. Für die Autonomiewerdung bzw. für den
Autonomieerwerb benötigen Jugendliche soziale Verhandlungsstrategien (vgl. Selman
1980). Diese sind entwicklungsabhängig, so dass diskursive Verhandlungsstrategien
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erst im Jugendalter zu erwarten sind. Bis dahin wird das sich entwickelnde autonome
Subjekt durch das Ermahnen als künftig autonomes Subjekt angesprochen. An dieser
Stelle, an der die Vertreter einer 'pädagogischen Autorität' einen Punkt setzen (vgl.
Reichenbach 2011, Schott 2003), obschon sie die 'gegenseitige Abhängigkeit' inner-
halb von pädagogischen Beziehungen erkannt haben, möchte ich einen Schritt weiter-
gehen. Hierzu füge ich dem Zusammenhang von 'Autorität, Asymmetrie und Abhän-
gigkeit' den Zusammenhang von 'Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit' hinzu.
Es gilt demnach – analog zur Vorgehensweise im ersten Kapitel – vorab danach zu
fragen, was unter 'Autonomie' in der Erziehung zu verstehen ist.
2.1 'Autonomie' in der Erziehung – ein Bestimmungsversuch
Zunächst ist es nötig, danach zu fragen, welche Ziele die Schule bzw. die Erziehung
verfolgt, um Personen in die 'Unabhängigkeit zu führen'. Drei Zielsetzungen werden
häufig genannt: Freiheit, Mündigkeit, (kantische) Autonomie. Doch was taugen diese
Zielsetzungen für den schulischen Kontext?
Die Freiheit (lat. 'libertas') wird definiert, als Möglichkeit, ohne Zwang zwischen unter-
schiedlichen Möglichkeiten auswählen und entscheiden zu können. In der Pädagogik
trifft man sowohl in der bürgerlichen sowie der libertären Reformpädagogik auf ein
Freiheitsverständnis, das die Befreiung des Kindes über die Befreiung der Schule an-
strebt. Die Emanzipation steht insbesondere bei der libertären Pädagogik im Vorder-
grund der Erziehung. Diese soll antiautoritär, antimilitaristisch, antikapitalistisch, athe-
istisch und koedukativ sein. Der Freiheitsbegriff ist damit u. a. politisch stark überstra-
paziert. Die Mündigkeit (alt.dt. 'Munt‘ → Muntling, Muntehe, Mündel, Schutz) hingegen
ist vorwiegend ein rechtlicher Terminus, den die Volljährigkeit, die Geschäftsfähigkeit,
die Deliktfähigkeit sowie die Handlungsfähigkeit beschreibt. Trotzdem wurde der Be-
griff in der Pädagogik – u. a. von Adorno – forciert, so dass er in Lehrplänen, in Lehr-
mitteln, in Begründungsanalysen von Lehramtsstudierenden etc. Einzug hielt. Unter
Autonomie (alt gr. 'autonomia') versteht man drittens einen Zustand der Selbstbestim-
mung, der Selbstständigkeit, der Unabhängigkeit und der Selbstverwaltung. In den
meisten Schulen ist diese Selbstbestimmung jedoch nicht vorgesehen. Alle drei Be-
griffe sind damit für die Schule problematisch. Folgen möchte ich im Weiteren dennoch
dem Autonomieverständnis von Kant und der Auffassung von Mündigkeit bei Adorno,
um diese Problematik im pädagogischen Kontext zu verdeutlichen.
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Autonom im Sinn von Kant (1784) ist der Mensch lediglich dann, wenn er sich nicht
von dem bestimmen lässt, was er von seinem sozialen Umfeld gelernt hat, sondern
sich an den unveränderlichen Gesetzen der Vernunft und der Moral orientiert. Dies
eröffnet die Frage, wie sich beim Einzelnen diese Form der Autonomie herausbildet
und welche Rolle die Erziehung hierbei spielt. Kann es eine Erziehung zur Autonomie
geben, wenn das autonome Selbst unabhängig von der Erziehung als Bestandteil der
konkreten Welt entsteht? Die Erziehung zu moralischer Autonomie besteht für Kant
darin, die Vernunftstätigkeit des Kindes anzustossen. Das Kind soll dazu angeregt
werden, moralische Handlungsorientierungen kraft seiner eigenen Vernunft "in sich
selbst" zu finden. Die Schule erschafft demnach die autonome Persönlichkeit nicht, es
obliegt vielmehr dem Subjekt, dank des Vernunftgebrauchs, den Ausgang aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit zu vollziehen und zu einer autonomen Person her-
anzureifen. Schule, Unterricht und Erziehung führen im besten Fall die 'Entdeckung
des wahren Selbst' – im Sinn von Herstellung von Mündigkeit als Moment, indem das
Kind sein wahres Selbst entdeckt – herbei und begleiten dessen Entwicklung. Die An-
regung der 'Entwicklung des wahren Selbst durch den Gebrauch der Vernunft' ist somit
die zentrale Aufgabe der Erziehung, die eigentliche Entwicklung des wahren Selbst
vollzieht das Subjekt. Doch reifen Jugendliche während ihrer Volksschulzeit zu auto-
nomen Persönlichkeiten im Sinn von Kant heran? Dies ist aus entwicklungspsycholo-
gischer Sicht zu bezweifeln. Oder orientieren sich unsere Jugendlichen an ethischen
Prinzipien (Kohlberg, Stufe 6)? Verhandeln sie um gegenseitig befriedigende Ziele
durch gemeinsame und reflektierende Mitteilung (Selman, Niveau 3)? Verfügen unsere
Jugendlichen über eine voll ausgebildete Multiperspektivität (Loevinger, Stufe 6 von
9)? Erreichen alle Jugendlichen während ihrer Volksschulzeit die formal-operationale
Stufe gemäss Piaget? Wohl kaum. Auch die autonome Persönlichkeit im Sinn von Kant
wird sich – wenn überhaupt – erst nach der Volksschulzeit im Übergang ins Erwach-
senenalter einstellen. Adorno (1969) befasst sich wie Kant mit der Mündigkeit. Hierbei
stellt er sich zusätzlich die Frage, ob die Schule als 'Ort der Unmündigkeit' überhaupt
dazu fähig ist, Mündigkeit und das autonome Selbst zu bewirken: "Die Schwierigkeit
ist, dass wir das Angebot bestimmter sachlicher Ausbildungen machen, aber dauernd
mit diesem Angebot scheitern, da wir nicht gleichzeitig das autonome Verhalten mit
vermitteln können, oder es zumindest nicht tun" (S. 139.). Trotzdem anerkennt Adorno,
dass dem autonomen Verhalten zwei Autoritäten vorausgehen müssen – nämlich die
15
Autorität des Kindesalters und die Autorität der Gesellschaft (Institutionen / Organisa-
tionen). Diese Autoritäten sind dem Moment der Mündigwerdung vorausgesetzt: "Es
kann keine sinnvolle Schule ohne Lehrer geben, andererseits beseht die Hauptauf-
gabe der Lehrperson darin, sich überflüssig zu machen" (ebd.). Der Ablösungsprozess
von der Autorität im Kindesalter hält Adorno deshalb für nötig, weil eine Identitätsfin-
dung ohne die Begegnung mit Autorität nicht möglich sei. Als Ursache für die Gefahr,
dass gesellschaftliche Institutionen die Mündigkeit gefährden, verweist Adorno auf die
rationalen und normierenden Abläufe z.B. in der Schule hin. Im Fall der Schule sei
diese Situation besonders paradox: "Erziehung zum Widerspruch und Widerstand
kann nur ausserhalb der Schule zur Entfaltung kommen, dort wo die Unterdrückung
herrscht, wo die Manipulation greift" (ebd.).
Jeder Versuch zu einer Erziehung zur Mündigkeit ist ein Effort gegen die bestehende Gesellschaft und damit mit
Widerstand und damit eigener Ohnmacht verbunden. Wer ändern will, kann es wahrscheinlich überhaupt nur,
indem er diese Ohnmacht selber und seine eigene Ohnmacht zu einem Moment dessen macht, was er denkt
und vielleicht auch was er tut. (ebd.)
Adorno kommt zum Schluss, dass Erziehung zur Mündigkeit nicht möglich sei. Auto-
nomie und Mündigkeit stellten vielmehr einen Selbstakt dar. Die Quelle zu diesem Akt
bilde die Autorität der Kindheit und die Unmündigkeit der Gesellschaft bzw. deren In-
stitutionen. Speidel (2014, S. 66ff.) fasst die Problematik des Mündigkeitsbegriffs in
der Erziehung zusammen. Mit Rückgriff auf Speidel und Adorno erkenne ich im Mün-
digkeitsbegriff für den Kontext von Schule und Erziehung einen eher unbrauchbaren
Begriff:
• Mündigkeit wird von Lehrpersonen, Lehrplangestaltern und der Bildungspolitik
als pädagogischer Slogan verwendet, mit dem das Tun in der Schule begründet
werden soll.
• Mündigkeit ist sowohl aus schulpädagogischer Sicht ein eher irrelevanter Ter-
minus, denn Mündigkeit stellt sich nicht in der Volksschule ein, noch ist die
Schule die einzige Quelle für Mündigkeit dar.
16
• Mündigkeit und Unmündigkeit bildet eine binäre Gegensätzlichkeit, die für das
Gesetz nützlich ist, jedoch für die pädagogische Arbeit wird damit lediglich der
Gegensatz von Kind und Erwachsenem betont.
• Mündigkeit wird oft statisch gedacht (Ausgang aus der Unmündigkeit)
• Mündigkeit ist pädagogischer Pathos, ein pädagogischer Gefühlsüberschwang.
• Mündigkeit ist keine Leerformel, nur im schulischen Kontext ist der Begriff eher
ungeeignet, da er zu pädagogischen Versprechungen verleitet.
Genuin fasst man in der Erziehung, basierend auf Kant und Adorno, Mündigkeit als
Vorstufe von Autonomie in einem Ablösungsprozess von der kindlichen und gesell-
schaftlichen Autorität auf. Folglich erhebt man die Mündigkeit als Ziel von Erziehung,
obschon der Begriff zu pathetisch ist.
Wenn der Freiheitsbegriff zu politisch, der Mündigkeitsbegriff zu pathetisch und die
kantische Autonomie in der Pädagogik zu utopisch ist, was können wir der 'pädagogi-
schen Autorität' gegenüberstellen? Existiert ein Gegenüber? Ist man entweder einer
Autorität untergeordnet oder autonom? Oder befindet man sich auf dem Weg vom ei-
nen zum anderen? Die Antworten auf diese Frage entsprächen wohl einer zu linearen
Denkweise. Die Sache scheint, wie so oft, komplexer. Deshalb möchte ich an dieser
Stelle den Blick vom vermeintlichen Gegenüber auf das Verbindende legen: die 'ge-
genseitige Abhängigkeit'. Wie ich bereits in Kapitel 1.4 dargelegt habe, scheint der
Blick auf den Zwischenraum und somit auf den Abhängigkeitsaspekt für die Erziehung
gewinnbringender als die Verteidigung einer der 'Pole'. Es ist an der Zeit, dem Zusam-
menhang zwischen 'Autorität, Asymmetrie und Abhängigkeit' den Zusammenhang von
'Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit' hinzuzufügen.
2.2 Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit
Die Ausgangslage für die Darlegung dieses Zusammenhangs bilden die Anerken-
nungstheorie von Honneth (1994) 'Kampf um Anerkennung' und die u. a. poststruktu-
ralistische Betrachtung von 'Erziehung und Anerkennung' (Ricken, 2006, 2009a,
2009b, Ricoeur 2006). Die Anerkennungstheorie geht davon aus, dass der Mensch
aufgrund der Anerkennung aus seinem sozialen Umfeld (Familie, Freunde, Schule,
17
Abb. 4: Die ‘pädagogische Beziehung’ aus der Warte der Antinomie von Autorität und Auto-
nomie
Gesellschaft) zu Autonomie gelangt. Die Anerkennung wird somit als allgemeine Be-
dingung von Autonomie angesehen. Zugleich gehe ich in diesem Kapitel auf eine
Grundkritik der Poststrukturalisten am Autonomiebegriff ein, nämlich, dass das
menschliche Selbst sozial, relational und intersubjektiv konstituiert ist, so dass es auf-
grund der sozialen Diversifizierung keine echte Autonomie geben kann bzw. die jewei-
ligen Identitäts- und Autonomieverständnisse reformuliert werden müssen (Giesinger,
2013, S. 1). Die Identität ist damit nicht mehr Selbsttransparenz, Autonomie nicht mehr
souverän, sondern es sind dezentrierte, relational bedingte Formen der Selbsteinheit.
Die Betonung der 'Abhängigkeit' als Ausgangslage für 'Anerkennung und Autonomie'
ist folglich hervorzuheben. Vorerst widme ich mich jedoch dem Zusammenhang von
Autonomie und Anerkennung, dann dem Abhängigkeitsaspekt.
Im ersten Kapitel habe ich den Akt der Zuschreibung
2
von 'pädagogischer Autorität'
herausgearbeitet. Die 'pädagogische Autorität' wird zugeschrieben. Sie stellt einen 'Akt
des Vertrauens' dar. Über den Erfolg des Führens entscheiden die Folgenden. Diese
Verbindung zwischen der Lehrperson und den Schülerinnen und Schülern verbildlicht
der rechte Pfeil des Schemas.
Der linke Pfeil beschreibt dagegen Autonomie als Akt der Anerkennung. Dieser Akt
stellt ebenfalls ein Akt des Vertrauens dar. Bislang wurde die Anerkennung des Ande-
2
Im Gegensatz zu Reichenbach spreche ich von Zuschreibung statt Anerkennung von pädagogischer Autorität.
18
ren in Bildungsprozessen vorwiegend in der Bildungsphilosophie und -soziologie erör-
tert. In der Erziehungswissenschaft im Allgemeinen und in der Lehrerinnen- und Lehr-
erbildung im Besonderen wurde das Thema lediglich geringfügig aufgegriffen (vgl. Mi-
cus-Loos 2012, Benner 1999). Grundlegend für das Verständnis von Anerkennung in
Bildungsprozessen ist, dass es sich hierbei nicht um Beifall, nicht um die Befriedigung
des 'Triebs nach Achtung' (Fichte), nicht darum einem Bedürfnis des Selbst nachzu-
kommen. Es ist kein 'Fütterungsmittel' (Ricken 2006, S. 223) zur Konditionierung der
Jugendlichen und ebenfalls nicht die Bestätigung von Leistung. Anerkennung ist ge-
mäss Honneth vielmehr die 'Struktur einer Beziehung'. Mittels Anerkennung beziehen
wir uns auf andere Personen, mit denen wir in einer Beziehung stehen. Anerkennung
ist gegenseitiges 'als Personen wahrnehmen und bestätigen' und zugleich das Me-
dium, in dem sich pädagogisches Handeln vollzieht. Es ist das, "was zwischen den
Menschen entsteht" (Arendt 1967).
"Bei der Anerkennung geht es darum, für jemanden von Bedeutung zu sein, der sich als von mir auch unabhängig
erweist und erweisen soll, indem er sich auch entzieht und versagt. Dieser Prozess der Dezentrierung ist
schmerzlich, denn er bedeutet Ablösung bzw. eben Autonomie." (Benjamin 1990., S. 34)
Honneth versteht Anerkennung ähnlich wie Benjamin, wenn er Anerkennung als "das
Bedürfnis nach dem Anderen, zum Anderen durchzudringen, um dem eigenen
Wunsch zu entsprechen selber Andere zu anerkennen; jemandem zu zeigen, dass er
/ sie von Bedeutung ist" (1994). Die Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse skiz-
ziert Honneth so.
19
Abb. 5: Struktur sozialer Anerkennungsverhältnisse (Honneth 1994, S. 221)
Honneth kennt drei Muster intersubjektiver Anerkennung: die emotionale Zuwendung,
die kognitive Achtung und die soziale Wertschätzung. Diese drei Anerkennungsweisen
beziehen sich auf unterschiedliche Persönlichkeitsdimensionen. Während wir mittels
emotionaler Zuwendung die Bedürfnisse, Gefühle und Emotionen einer Persönlichkeit
anerkennen, so bezieht sich die kognitive Achtung auf die moralische Zurechnungsfä-
higkeit. Die Anerkennungsform hierfür sind die Rechtsverhältnisse. Als dritte Anerken-
nungsweise führt Honneth die soziale Wertschätzung auf. Hiermit anerkennen wir die
Fähigkeiten und Eigenschaften eines Menschen, die er oder sie in die Gemeinschaft
hineinträgt – dies unabhängig davon, ob diese Fähigkeiten oder Eigenschaften von
ökonomischem Nutzen sind. Aus diesen Anerkennungsweisen resultieren je spezifi-
sche Auffassungen des Selbst. Aufgrund emotionaler Zuwendung erhalten wir Selbst-
vertrauen, mittels kognitiver Achtung Selbstachtung und dank sozialer Wertschätzung
Selbstschätzung. Die Betrachtung dieser Anerkennungsverhältnisse verdeutlicht, dass
Honneths Muster intersubjektiver Anerkennung ebenfalls für die pädagogische Bezie-
hung gilt – dies sowohl in der Familie als auch in der Schule. Konzentriert man sich
auf die sozialen Anerkennungsverhältnisse in der Schule, so gerät die Anerkennungs-
praxis von Lehrpersonen in den Fokus. Anerkennen Lehrpersonen durch emotionale
Zuwendung, kognitive Achtung und soziale Wertschätzung? Möchte die Schule als
soziales Medium dienen, um Anerkennung und damit soziale Wertschätzung (sozialer
Wert) zu erteilen, so müsste in ihr "jedes Subjekt ohne kollektive Abstufung die Chance
20
erhalten, sich in seinen eigenen Leistungen und Fähigkeiten als wertvoll für die Ge-
sellschaft zu erfahren" (ebd., S. 197). Gelingt es Lehrpersonen nicht, in und durch ihre
Arbeit den sozialen Wert einer Person freizulegen oder zu betonen, so scheitert ein
zentraler Teil der pädagogischen Arbeit. Insbesondere Jugendliche streben danach zu
anerkennen und anerkannt zu werden. Sie sind im Rahmen ihrer Identitätsentwicklung
auf Anerkennung und Alterität angewiesen. Wird einer sozialen Gruppe – hier die
Schülerschaft – Anerkennung verwehrt, so kann es zu Konflikten kommen. Die Ver-
wehrung von Anerkennung hat Honneth (1994) eingehend beschrieben. Sie gehört für
ihn zur 'moralischen Grammatik' sozialer Konflikte. Insbesondere die 'Entrechtung der
Jugendlichen' – etwa aufgrund des Bildungsmoratoriums, der Jugendschutzgesetze
oder verwehrter politischer Rechte vor dem 18. Lebensjahr – kann von Jugendlichen
als Unrecht empfunden werden. Ebenso schafft ein Mangel an emotionaler Zuwen-
dung und sozialer Wertschätzung in der Schule Konflikte. Die verwehrte Anerkennung
wird dennoch – im Gegensatz zur Welt der Erwachsenen, wo verwehrte Anerkennung
bekämpft werden kann – stets eine Eigenschaft der pädagogischen Beziehung bleiben
(müssen), denn die Schule und insbesondere der Unterricht sind noch immer Orte der
verwehrten Anerkennung. Im Schulalltag wird anerkannt, aberkannt sowie Anerken-
nung verwehrt. Dies führt zu einem Spannungsfeld, aus welchem sich Konflikte erge-
ben können. Die schulischen Konflikte bzw. die Störungen im Unterricht wären somit
daraufhin zu befragen, inwiefern fehlende Anerkennung als Motiv für den Konflikt bzw.
die Störung vorliegen könnte. Inwiefern anerkennt eine Lehrperson ihre Klasse, ein-
zelne Gruppierungen oder Einzelschüler
3
zu geringfügig? Inwiefern lehnt eine Schule
ihrer Schülerschaft Anerkennung in einem oder mehreren Bereichen ab? Inwiefern
verwehrt die Gesellschaft ihren Jugendlichen Anerkennung? Das Anerkennungsver-
hältnis zwischen Schule und Schülerschaft bzw. Gesellschaft und Jugendlichen wäre
hierbei kritisch zu betrachten.
Überträgt man nun die Anerkennungstheorie aus dem soziologischen Feld ins päda-
gogisch-psychologische – wogegen sich Honneth wehren würde –, so rückt das Aner-
kennungsverhältnis zwischen der Lehrperson und der Einzelschülerin bzw. dem Ein-
zelschüler in den Mittelpunkt der Betrachtung. In dieser spezifischen pädagogischen
3
Honneth wehrt sich dagegen, dass die Anerkennungstheorie in der Pädagogik auf Einzelpersonen
angewendet wird. Er betont den soziologischen Charakter der Anerkennungstheorie weitaus stärker
als der psychologische.
21
Beziehung und in diesem spezifischen Kontext Schule fasst man häufig die 'pädago-
gische Autorität' der Lehrperson und die Autonomiebestrebungen des Jugendlichen
als Gegensätze auf. Ausserdem betont man weitaus stärker den entwicklungspsycho-
logischen Aspekt der Autonomieentwicklung, wonach das Kind im Verlauf seines Er-
wachsen-Werdens immer mehr Autonomie erwirbt. Als Phasen der Autonomieentwick-
lung gelten die Kindheit, die Adoleszenz und das Erwachsenenalter. Im Erwachsenen-
alter erreicht man gemäss dieser Auffassung irgendwann die eigene Identität, man
wird autonom und mündig. Unbestritten ist, dass die Adoleszenz eine zentrale Phase
der kindlichen Entwicklung, in der mehr Autonomie erlangt und verlangt wird, darstellt.
Die ethische Perspektive auf die Autonomie mittels Anerkennung und Dezentrierung
betont jedoch weitaus stärker, dass Autonomie durch Anerkennung und Dezentrierung
bewirkt wird. Zudem wird betont, dass Autonomie nicht mehr souverän, sondern als
dezentrierte, relational bedingte Form der Selbsteinheit aufzufassen sei. Lehrpersonen
forcieren durch Anerkennung sowie durch das 'sich entziehen und verwehren' diese
Form der Autonomie.
Die beiden Pfeile der Grafik (Abb. 2, S. 19) verdeutlichen damit ein gegenseitiges Ab-
hängigkeitsverhältnis in pädagogischen Beziehungen. Die Lehrperson ist in ihrem Füh-
rungsanspruch abhängig davon, ob der Schüler bzw. die Schülerin ihr diese Autorität
zuschreibt. Der Schüler bzw. die Schülerin ist wiederum abhängig von der Lehrperson,
die dank Anerkennung und Dezentrierung Autonomie provoziert. Dieses nun noch sehr
statisch wirkende Verhältnis täuscht, denn das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis
ist stets in Bewegung. Fasst man nämlich Autorität und Autonomie nicht als einmaliger
Akt, sondern als andauernder dynamischer Prozess auf, indem Autorität und Autono-
mie in der zwischenmenschlichen Beziehung stets neu anerkannt werden müssen,
dann wird diese Bewegung innerhalb des Abhängigkeitsverhältnis deutlich. Die Ursa-
che für diese Dynamik liegt darin, dass die Zuschreibung von Autorität zurückgenom-
men und die Anerkennung von Autonomie aberkannt werden kann. Das Zuschrei-
bungs- und Anerkennungsverhältnis ändert sich über die Zeit hinweg. Einerseits kann
sich die Identität eines Menschen ändern, sowohl jene der Lehrperson als auch jene
der Schülerin bzw. des Schülers. Eine Lehrerin wird Mutter oder aber ein Schüler ent-
wickelt neue Fähigkeiten, die seine Identität prägen. Jedoch ist andererseits anzuneh-
men, dass ein Mensch zum selben Zeitpunkt aufgrund kollektiver Zugehörigkeit (Nohl,
2010) über unterschiedliche Autoritäts- bzw. Autonomiegrade verfügt. Dies bedeutet,
dass eine Lehrperson in ihrem Beruf sehr wohl Autorität von Seiten der Schülerinnen
22
und Schüler zugeschrieben erhalten kann, dies aber nicht auf die Mitwirkung im Ver-
ein, auf die Familie oder auf den Freundeskreis zutreffen muss. Auf der anderen Seite
verfügen Schülerinnen und Schüler im selben Moment über 'unterschiedliche Autono-
mien', da unterschiedliche Personen Anerkennung und Dezentrierung vornehmen. Die
Sozialität als Angewiesenheit auf und 'Abhängigkeit' des Menschen von sozialer Steu-
erung und Unterstützung ist somit diesem Zuschreibungs- und Anerkennungsverhält-
nis zwischen der Lehrperson und der Schülerin bzw. dem Schüler hinzuzufügen. Ri-
cken (2006, S. 225ff.) betont, dass das Verhältnis von Autonomie und Autorität um die
Sozialität, also die 'Abhängigkeit' des Menschen auf andere bzw. das 'Ineinandergrei-
fen von Subjekt und Sozialität', ergänzt werde müsse. Diese 'Abhängigkeit' von der
sozialen Welt wertet Ricken als etwas Positives, fernab von der 'Selbstaufwertung
durch die Abwertung Anderer' und der 'übersteigerten Selbstbestimmung und Autono-
mie'. Dieser 'Abhängigkeit' müsse sich die Pädagogik wieder stärker bewusst machen.
2.3 'Abhängigkeit' - Vier pädagogische Folgerungen
Ricken (ebd.) nennt vier Folgerungen, die es hinsichtlich der 'Abhängigkeit' in der Pä-
dagogik und damit in der pädagogischen Beziehung wiederzuentdecken gilt. Erstens
müssten Subjektivität und Sozialität nicht länger konträr gedacht werden. Selbstbe-
stimmung und Autonomie seien nicht - möglichst freier - Selbstausdruck, der an Ande-
ren dann seine Grenze finde, sondern von Anfang an durch Andere ebenso ermöglicht
wie bedingt: "Die Frage danach, wer ich denn 'an sich', d.h. ohne Beeinträchtigung
durch andere, also ich selbst, sei, unterschlägt, dass ich der, der ich geworden bin,
allererst durch Andere geworden bin – ohne dabei deren Produkt zu sein" (ebd.). Zwei-
tens sei Lernen ein "ausdrücklich an andere gebundener und durch andere provozier-
ter kritischer Umbauprozess, in dem die Ich-Entwicklung durch einen Überschuss an
Nichtidentität in Bewegung gehalten werde, so dass die Erfahrung der Negativität in
all ihren Facetten – sei es als Nichtkönnen und Nichtkennen, sei es als Selbst- und
Anderenbefremdung – konstitutiv für das Lernen selbst ist" (ebd.). Die Negativität zu
kaschieren oder gar zu negieren hiesse, das Lernen selbst zu verheimlichen und zu
hintertreiben. Drittens stellen Widerspruch und Versagung im Sinn von Zurückweisung
unverzichtbare pädagogische Handlungsformen dar. Die pädagogische Handlung
müsse Anerkennung erteilen und zurückweisen sowie zugleich zu Anerkennung her-
ausfordern und mit Widerspruch bei einer verwehrten Anerkennung umgehen können.
23
Dadurch könne die paradoxe Spannung von Selbst- und Anderen-Bezogenheit auf-
recht erhalten werden. Viertens sei von einer einseitigen Steigerung von Individualität
und Selbstbestimmung Abstand zu nehmen: Die ethische Frage, wie wir denn gemein-
sam leben wollen, dürfe in der Pädagogik kein Nebenschauplatz sein.
3. Die Antinomie von Autorität und Autonomie in der Pädagogik
Ich habe in den ersten beiden Kapiteln versucht zwei Zusammenhänge zu erläutern.
Zum einen ist dies der Zusammenhang von 'Autorität, Asymmetrie und Abhängigkeit',
zum anderen jener von 'Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit'. Wer im schuli-
schen Kontext von 'Autorität, Asymmetrie und Abhängigkeit' spricht, sollte ebenfalls
von 'Autonomie, Anerkennung und Abhängigkeit' sprechen – und umgekehrt. Beide
Zusammenhänge haben in der Schule ihre Berechtigung, häufig verstellen jedoch Dis-
kussionen über die Pole den Blick auf das Dazwischenliegende und Verbindende: die
'gegenseitige Abhängigkeit'. Diese bildet in der pädagogischen Beziehung das Binde-
glied zwischen 'pädagogischer Autorität' und 'individueller Autonomie'. Ohne diese
'wechselseitige Abhängigkeit' kann kaum von einer pädagogischen Beziehung gespro-
chen werden. Die Antinomie von Autorität und Autonomie ist somit in dieser 'gegen-
seitigen Abhängigkeit' und in der Wechselbewegung des Zuschreibungs- und Aner-
kennungsverhältnisses zwischen der Lehrperson und dem Schüler bzw. der Schülerin
zu erkennen. Das Aushalten von Gleichzeitigkeit innerhalb dieses pädagogischen Be-
ziehungsverhältnisses sowie den darin verorteten Dynamiken, dürften zentrale Ele-
mente der Professionalität einer Lehrperson darstellen. Eine dialektische Interpretation
von Autorität und Autonomie gewichtet die verbindenden Elemente 'Asymmetrie, Ab-
hängigkeit und Anerkennung', statt einer linearen Denkweise und somit einer unnöti-
gen Grenzziehung und Polarisierung zu verfallen. Lehrpersonen wären gut beraten,
sich weniger um die 'pädagogische Autorität' oder die 'individuelle Autonomie' zu sor-
gen, als sich vielmehr die Asymmetrie in pädagogischen Beziehungen vor Augen zu
halten, 'gegenseitige Abhängigkeit' zu akzeptieren und Schülerinnen und Schüler mit-
tels emotionaler Zuwendung, kognitiver Achtung und sozialer Wertschätzung in ihrer
Persönlichkeit zu anerkennen. Die 'Pole' werden hierbei wohl stets mitschwingen, das
Wesentliche bleibt jedoch im Zentrum der pädagogischen Arbeit.
24
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