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Cord Schmelzle ist wissenschaftlicher Koordinator und Leiter des Teilprojekts
»Desintegration durch Moral? Moralisches Argumentieren und der Vorwurf des Moralismus
in öffentlichen Debatten« am Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt an der
Goethe-Universität Frankfurt. E-Mail: schmelzle@em.uni-frankfurt.de
Ist Polarisierung schlecht für die Demokratie?
Unter dem Stichwort der Polarisierung wird zurzeit die Sorge artikuliert, dass die westlichen
Demokratien an inneren Spannungen zu zerbrechen drohen.1 Aber ist es tatsächlich so, dass
zunehmende Distanz zwischen den politischen Lagern die Demokratie zwangsläufig
beschädigt oder gar ihre Existenz gefährdet? Um dies zu beurteilen bedarf es eines
differenzierten Blicks auf Polarisierungsphänomene und normativer Maßstäbe, die der
unhintergehbaren Pluralität moderner Gesellschaften angemessen sind.
Die Furcht vor einer Spaltung der Gesellschaften in sich unversöhnlich gegenüberstehende
politische Lager hat in den letzten Monaten die öffentlichen Debatten über den Zustand der
Demokratie in Deutschland, Europa und den Vereinigten Staaten geprägt. Metaphorische
»Risse«, »Klüfte« und »Gräben«, die sich zwischen den Bürger*innen auftäten, sind in
Analysen des politischen Status quo allgegenwärtig und geben dort nicht selten die Rolle des
Schurken, den es zu überwinden gilt. Während die gesellschaftlichen Spannungen im Zuge
der Coronakrise diese Wahrnehmung verstärkt haben, gab es schon vor der Pandemie
reichlich Anlass zur Sorge: Die mit dem Sturm auf das Kapitol endende Präsidentschaft
Donald Trumps, die bitter umkämpfte britische Brexit-Entscheidung, aber auch das
Aufkommen populistischer Bewegungen und die relative Schwäche traditioneller
Volksparteien in Kontinentaleuropa wurden schon länger als Symptome einer schleichenden
Desintegration und Destabilisierung der demokratischen Systeme des Westens interpretiert
(Levitsky/Ziblatt 2018).
Diese im Detail doch recht unterschiedlichen Phänomene, die von der Ausdifferenzierung
eines Parteiensystems bis hin zur wechselseitigen Dämonisierung politisch Andersdenkender
reichen, werden häufig unter dem gemeinsamen Stichwort der Polarisierung diskutiert.
Dabei handelt es sich um einen Begriff aus der politischen Soziologie, der – grob formuliert –
politische Distanz innerhalb einer Gesellschaft beschreibt. Was genau unter politischer
Distanz zu verstehen ist und zwischen wem oder was sie in polarisierten Gesellschaften
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besteht, unterscheidet sich allerdings erheblich in verschiedenen Konzeptionen von
Polarisierung, die in der Politikwissenschaft, Soziologie und Kommunikationswissenschaft
vertreten werden.
Trotz dieser Unschärfen ist der Begriff der Polarisierung in der öffentlichen Wahrnehmung
eindeutig negativ belegt. Die mit ihm verbundenen Assoziationen eines in verfeindete
Fraktionen zerfallenen Gemeinwesens wecken düstere Erinnerungen an das Ende der
Weimarer Republik (vgl. Bösch 2020) oder evozieren das Bild eines aufziehenden »kalten
Bürgerkriegs« (Talisse 2019), der zunächst zwar vorwiegend auf den Seiten von Twitter und
Facebook ausgefochten wird, jedoch, wie der 06.01.2021 gezeigt hat, auch in physische
Gewalt umschlagen kann. Diesen Untergangsszenarien wird in Deutschland seit einigen
Jahren das Konzept des »gesellschaftlichen Zusammenhalts« entgegengestellt, das sich in
der politischen Rhetorik der Bundesrepublik schnell als neuer parteiübergreifender Leitwert
etabliert hat (Deitelhoff et al. 2020). Was Zusammenhalt ausmacht und wie er gestärkt
werden soll, bleibt dabei oftmals im Ungefähren; im Tenor scheint nur klar, dass Demokratie
auf Zusammenhalt angewiesen sei und Polarisierungstendenzen diesen Zusammenhalt
bedrohten.
Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob zunehmende Distanz zwischen
politischen Akteuren – seien es individuelle Bürger*innen oder Parteien – tatsächlich
zwangsläufig etwas Schlechtes ist, das die Demokratie gefährdet, wie der oben umrissene
Krisendiskurs anzunehmen scheint. Ließe sich nicht ebenso gut argumentieren, dass ein
Mangel an Distanz zwischen den Parteien und ihren Positionen ein genauso großes Problem
ist, da er demokratischen Gesellschaften die Möglichkeit versperrt, ihre Pluralität effektiv im
politischen System abzubilden? Und sollte das deutlichere Hervortreten politischer
Differenzen (vulgo: Polarisierung) daher nicht eher begrüßt statt verdammt werden, da es
gesellschaftliche Konflikte sichtbar und bearbeitbar macht, anstatt sie im Verborgenen
schwelen zu lassen?
Im Folgenden möchte ich versuchen, eine differenzierte Antwort auf diese Fragen zu
skizzieren. Ich werde argumentieren, dass manchen Formen der Polarisierung tatsächlich
schlecht für die Demokratie sind, da sie ihre Legitimität untergraben. Andere Arten stärken
diese hingegen und nützen somit der Demokratie. Dies hat erhebliche Auswirkung darauf,
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wie Gesellschaften auf Diagnosen der Polarisierung reagieren sollten und welches Ideal einer
demokratischen Gesellschaft erstrebenswert ist.
Typen politischer Polarisierung
Wie oben angedeutet lassen sich Konzeptionen von Polarisierung anhand zweier Achsen
unterscheiden. Die erste Achse bezieht sich auf die Hinsicht der Polarisierung anhand derer
die Distanz zwischen gesellschaftlichen Entitäten ermittelt wird. Hier ist vor allem die
Unterscheidung zwischen themenbezogener Polarisierung (issue polarization) und
gruppenbezogener bzw. affektiver Polarisierung (affective oder social polarization) von
zentraler Bedeutung (Iyengar et al. 2012; Mason 2018; Neubaum 2021). Themenbezogene
Polarisierung liegt vor, wenn sich die politischen Positionen zu einer bestimmten Sachfrage –
etwa der Aufnahme von Geflüchteten oder dem Ausstieg aus der Atomenergie – innerhalb
einer bestimmten Population stark unterscheiden. Gruppenbezogene Polarisierung bezieht
sich hingegen nicht auf politische Überzeugungen, sondern auf die affektiven Einstellungen,
das heißt auf Gefühle der Sympathie und Antipathie, der Verbundenheit und der
Feindschaft, zwischen politisch definierten Gruppen. Wenn beispielsweise mit Blick auf die
USA von einem gespaltenen Land die Rede ist, dann ist damit in der Regel die durch
Umfragedaten belegte Zunahme der affektiven Polarisierung zwischen Demokraten und
Republikanern gemeint, die die Wahrnehmung der Gegenseite verzerrt und mittlerweile
oftmals in wechselseitige Dämonisierung umschlägt (Mason 2018). Politische Gegner werden
dann nicht mehr als Personen mit anderen Wertvorstellungen und Interessen
wahrgenommen, mit denen es sich zu arrangieren gilt, sondern als moralisch defizitäre
Charaktere, deren Positionen es zu bekämpfen gilt. Gruppenbezogene und themenbezogene
Polarisierung wirken aufeinander ein, aber sie determinieren sich nicht wechselseitig.
Sachbezogene Divergenz muss keine Auswirkungen auf die affektiven Einstellung zur
Gegenpartei haben, ebenso wie sich intensive Antipathie gegenüber anderen politischen
Gruppen nicht in starken sachbezogenen Differenzen niederschlagen muss. Für das
Entstehen von Spannungen zwischen Gruppen reicht es vielmehr, dass diese relativ klar
umrissen sind und sie sich möglichst wenig überlappen.
Die zweite Achse der Unterscheidung von Polarisierungskonzeptionen bezieht sich auf die
Träger*innen der Polarisierung, also die gesellschaftlichen Entitäten, die in einer bestimmten
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Hinsicht polarisiert sind. Hier ist vor allem die Unterscheidung zwischen der Polarisierung
politischer Eliten und der Polarisierung der breiten Bevölkerung relevant (McCarty 2019).
Auch hier besteht kein deterministisches Verhältnis: Polarisierte Eliten erzeugen nicht
zwangsläufig eine polarisierte Bevölkerung und heftigen gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen in Sachfragen kann ein Elitenkonsens gegenüberstehen, der die
Spannbreite der öffentlichen Meinung nicht abbildet. Solche Situationen bieten dann
Gelegenheitsstrukturen für neue politische Akteure, die den mismatch zwischen dem
Meinungsspektrum in den Eliten und der Bevölkerung für sich nutzen wollen. So wird etwa
der Aufstieg der AfD auch auf eine solche Repräsentationslücke in der Migrationspolitik
zurückgeführt (vgl. die Diskussion bei Kortmann et al. 2019).
Anhand dieser Unterscheidungen der Hinsichten und Träge*innen von Polarisierung lässt
sich nun genauer untersuchen, welche ihrer Formen für die Demokratie problematisch oder
auch begrüßenswert sind.
Polarisierung und demokratische Legitimität
Wenn man normativ fragt, wie das Phänomen der Polarisierung zu bewerten ist, gilt es
zunächst, die relevanten Maßstäbe zu klären: Setzt man etwa Werte wie gesellschaftliche
Harmonie, Konsens oder Stabilität voraus, wird sich ein eher skeptischer Blick auf
Polarisierungsprozesse ergeben. Allerdings kann mit guten Gründen bestritten werden, dass
diese Werte hier entscheidendes Gewicht zukommen sollte. Das Streben nach Stabilität,
Konsens und Harmonie dürfte zurecht von denjenigen als bevormundend und ungerecht
empfunden werden, die sich durch den Status quo benachteiligt sehen und auch radikale
Veränderungen für geboten erachten (so etwa Mouffe 2000; Young 2001). Umgekehrt ist
aber auch die unqualifizierte Befürwortung von Konflikten, wie sie in Teilen der radikalen
Demokratietheorie vertreten wird, ebenfalls kein geeigneter Ausgangspunkt für die
Bewertung von Polarisierungsprozessen, da sie ihr destruktives Potenzial und die ungleiche
Konfliktfähigkeit verschiedener gesellschaftlicher Gruppen verkennt. Vielversprechender
erscheint es, die normativen Maßstäbe, an denen Polarisierungsprozesse gemessen werden,
an jene Prinzipien zurückzubinden, die demokratisches Regieren selbst legitimieren. Mache
Formen von Polarisierung stehen mit diesen Prinzipien in einem Spannungsverhältnis,
während andere dazu beitragen, sie zu verwirklichen.
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Die zentrale Frage von Theorien demokratischer Legitimität lautet, warum die Bürger*innen
die Verbindlichkeit demokratischer Entscheidung akzeptieren sollten, denen sie, wenn sie
der jeweiligen Minderheit angehören, nicht zugestimmt haben. Was verleiht
demokratischen Regeln eine Autorität gegenüber der Opposition und ihren Anhänger*innen,
die Autokratien nicht zukommt? Die Antwort, die ich für richtig halte (Schmelzle 2015: Kap.
3), stützt sich auf den fundamentalen Wert der Gleichheit. Demokratisches Regieren, so die
These, ist die einzige Herrschaftsform, die mit dem Prinzip vereinbar ist, dass alle
Bürgerinnen und Bürger die gleiche Rücksicht und Achtung verdienen und ihren Interessen,
Urteilen und Wertvorstellungen prinzipiell gleiches Gewicht zukommt. Diesen Respekt vor
der Gleichheit der Bürger*innen müssen Demokratien auf zwei Ebenen widerspiegeln, auf
die sich Polarisierungstendenzen jeweils unterschiedlich auswirken.
Die erste Ebene betrifft die gleichen Beteiligungschancen aller Bürger*innen, die für
Demokratien unerlässlich sind. Diese umfassen zunächst das allgemeine und gleiche
Wahlrecht, dürfen sich darin jedoch nicht erschöpfen. Eine rein formal verstandene
Gleichheit, die allen dasselbe Recht zur politischen Beteiligung einräumt, reicht nicht aus,
wenn die Fähigkeiten, dieses Recht effektiv wahrzunehmen, ungleich verteilt sind. Zur
Sicherung ihrer Legitimität sind Demokratien daher gefordert, institutionelle Vorkehrungen
zu treffen, die allen Bürger*innen effektive Partizipationschancen (innerhalb des
demokratischen Spektrums) ermöglichen. Hierzu gehören einerseits Maßnahmen auf der
Nachfrageseite, also beispielsweise die politische Bildung oder eine öffentliche
Informationsinfrastruktur, die den Bürger*innen helfen, ihre Präferenzen effektiv in den
politischen Prozess einzuspeisen. Andererseits gilt es aber auch, die Bedingungen dafür zu
schaffen, dass die Bürger*innen aus einem politischen Angebot wählen können, das ihre
Interessen und Wertüberzeugungen widerspiegelt. Hierfür sind vor allen die strukturellen
Weichenstellungen des Wahl- und Parteienrechts relevant, die großen Einfluss darauf haben,
wie breit die Auswahl in einem politischen System ist. Aus der hier entwickelten Perspektive
ist ein vielfältiges – und damit zwangsläufig auch sachbezogener Ebene polarisiertes –
ideologisches Angebot wünschenswert, da nur so Überzeugungen jenseits der Mitte im
politischen System repräsentiert werden können. Das bedeutet nicht, dass radikale
Positionen besondere Förderungen verdienten oder gar intrinsisch vorzugswürdig wären.
Aber diese demokratietheoretischen Überlegungen bieten ein gewichtiges Argument für ein
Wahl- und Parteienrecht, dass innerhalb des demokratischen Spektrums keine
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Vorentscheidungen zugunsten der moderaten Parteien der ideologischen Mitte trifft.
Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass ein Verhältniswahlrecht mit einer relativ niedrigen
Sperrklausel einem Mehrheitswahlrecht vorzuziehen ist, weil es mehr sachbezogene
Polarisierung zulässt.
Rein prozedurale Theorien demokratischer Legitimität sind jedoch inkohärent, da sie den
Maßstab der gleichen Rücksicht und Achtung nur an einem Punkt anlegen, dem Zugang zum
politischen Verfahren. Damit ist aber nicht sichergestellt, dass die Interessen der jeweiligen
Minderheit im weiteren Verlauf des demokratischen Prozesses weiter Gehör finden. Gerade
für permanente ethnische oder ideologische Minderheiten, die nicht davon ausgehen
können, jemals in der Mehrheit zu sein, ist das ein schwerwiegendes Problem, dass die
Legitimität der Demokratie gefährdet (Christiano 1994; Oldenbourg 2019). Aber auch im
demokratischen Normalfall, in dem Mehrheit und Minderheit regelmäßig wechseln, wäre ein
rein prozedurales Verständnis des Prinzips der Gleichheit zu riskant, wenn die Minderheit
nicht darauf vertrauen könnte, dass die Mehrheit Zurückhaltung bei dem Gebrauch von ihrer
Macht übt und auch ihre Interessen mit im Blick behält. Dieser Anspruch wird durch die
regulative Idee der Gemeinwohlorientierung ausgedrückt, die dem Prinzip der gleichen
Rücksicht und Achtung auf der substanziellen Ebene Geltung verschafft. Grob formuliert
besagt sie, dass demokratische Herrschaft auch gegenüber dem politischen Gegner
rechtfertigungsbedürftig bleibt und Entscheidungen intersubjektiv nachvollziehbar
begründet werden müssen. Die jeweilige Mehrheit ist zwar frei, ihre Vorstellung des
Gemeinwohls zu verwirklichen, aber sie hat kein Mandat, private Egoismen mit den Mitteln
der öffentlichen Gewalt zu verfolgen. Institutionell wird dieser Anspruch durch verschiedene
Mechanismen der Gewaltteilung und -verschränkung abgesichert, die der Macht der
Mehrheit Grenzen setzen und die Mitwirkung der Opposition notwendig machen. In diesem
Kontext wird nun die Rolle gruppenbezogener bzw. affektiver Polarisierungsprozesse
problematisch – und zwar sowohl auf Ebene der politischen Eliten als auch der Bevölkerung.
Auf Ebene der politischen Eliten liegt die Vermutung nahe, dass ein hohes Maß affektiver
Polarisierung die Aushandlungsprozesse zwischen Regierung und Opposition unmöglich
macht und damit effektives Regieren im Sinne des Gemeinwohls verhindert. Die –
gerechtfertigte oder ungerechtfertigte – Moralisierung politischer Differenzen verhindert
notwendige Kompromisse, weil ein Sich-in-der-Mitte-Treffen in moralischen Fragen
inakzeptabel erscheint. Und die Antipathie und erlittenen Verletzungen aus harten
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politischen Auseinandersetzungen verhindern das Entstehen von Vertrauen, dass für
politische Tauschgeschäfte benötigt wird (Vallier 2021). Da diese Hürden eine erfolgreiche
gemeinwohlorientierte Politik verhindern, tritt an ihre Stelle ein expressiver Politikstil, in
dem nicht die Lösung von Problemen, sondern die Demütigung des politischen Gegners das
Ziel ist. Diesen Effekt affektiver Polarisierung hat der amerikanische Publizist Adam Server im
Titel eines vielbeachteten Essays über die Präsidentschaft Donald Trumps eindrucksvoll auf
den Punkt gebracht: The Cruelty Is the Point (Serwer 2018). Dieser Politikstil ist für die
politischen Eliten attraktiv, da er sie von ihren Rechenschaftspflichten für die materiellen
Ergebnisse ihrer Politik entbindet (Krupenkin/Iyengar 2018). Trumps Regierungszeit hat
gezeigt, dass selbst desaströse Politikergebnisse und beispiellose Korruption in affektiv
polarisierten Gesellschaften von den eigenen Gefolgsleuten verziehen werden, wenn dem
symbolische Siege auf dem Schlachtfeld der culture wars gegenüberstehen.
Es ist nicht schwierig zu sehen, dass Polarisierung in dieser Spielart tatsächlich ein
existenzielles Problem für die Legitimität und damit letztlich auch die Stabilität
demokratischer Gemeinwesen ist. Wenn ein demokratisches System nicht mehr als Ort
verstanden werden kann, an dem verschiedene Visionen des Gemeinwohls um
Unterstützung ringen, sondern die Befriedigung der Affekte der eigenen Klientel auf Kosten
des politischen Gegners zum Ziel der Übung wird, dann ist es der Minderheit nicht mehr
zuzumuten, politische Entscheidungen der Mehrheit als verbindlich zu akzeptieren. Wie kann
eine solche Entwicklung verhindert werden? Hier ist nicht der Ort ein umfassendes
Programm wider die affektive Polarisierung der Gesellschaft zu entwickeln, aber einen
Gedanken, der oben bereits anklang, möchte ich abschließend noch einmal aufgreifen: Ein
expressiver Politikmodus scheint an Attraktivität zu gewinnen, wenn Auseinandersetzungen
in der Sache sinnlos erscheinen, weil die Politik als zu wenig responsiv und repräsentativ
wahrgenommen wird. Wenn diese Beobachtung richtig ist, dann könnte ein Mittel gegen
gruppenbezogene Polarisierung darin bestehen, mehr themenbezogene Polarisierung
zuzulassen. Diese würde schmerzhafte politische Konflikte nicht verhindern, aber zumindest
die Chance erhöhen, dass sie sich auf prinzipiell bearbeitbare Sachfragen des
Zusammenlebens unter Bedingungen tiefgreifender Pluralität beziehen und nicht zu
Nullsummenspielen unter rivalisierenden Banden degenerieren, bei denen nur der Erfolg des
eigenen Teams zählt. Gelingt dies nicht, kommt die Demokratie an ihr Ende.
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Literaturverzeichnis
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1 Für hilfreiche Anregungen danke ich Andreas Oldenbourg.