ChapterPDF Available

„Doing“ Bildungsarmut im Kontext der Schulsystementwicklung. Statistische Veränderungsbeobachtungen und Perspektiven empirischer Erforschung

Authors:

Abstract and Figures

In diesem Beitrag wird für eine erste Annäherung das Augenmerk einerseits auf die Reflexion der hemmenden Kräfte innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigungen mit Schulreform(-en) und Bildungsarmut und andererseits auf theoretische wie empirische Beschreibungsformen des angesprochenen Verhältnisses gelegt. Hierzu wird zunächst in das Konzept der Bildungsarmut eingeführt, um anschließend die Entwicklung formeller Bildungsarmut zum Abschluss der Schulpflichtzeit anhand statistischer Auswertungen auf Ebene der Bundesländer Deutschlands zu beschreiben und auf Basis von Fallanalysen für die differenzielle Bedeutung unterschiedlicher Konstruktionsbedingungen von Schulreformen für die Genese von Bildungsarmut zu sensibilisieren. Im abschließenden Kapitel eröffnen wir theoretische und empirische Perspektiven einer handlungstheoretisch ausgerichteten Erforschung der sozialen Hervorbringung des Unterlaufens von institutionalisierten Normen eines Bildungsminimums.
Content may be subject to copyright.
163
„Doing“ Bildungsarmut im Kontext
der Schulsystementwicklung
Statistische Veränderungsbeobachtungen
und Perspektiven empirischer Erforschung
Björn Hermstein und Nils Berkemeyer
Zur Frage nach dem Problem der Bildungsarmut im Kontext
der Schulsystementwicklung
Es stellt sich die Frage: Wieso erfährt die Frage nach den Relationen von Schul-
systementwicklung und Bildungsarmut nicht mehr öffentliche und wissenschaft-
liche Aufmerksamkeit? Verantwortliche Bildungspolitiker mögen bereits die
Frage als Zumutung empfinden, da die Existenz von Bildungsarmut sie in Erklä-
rungsnöte bringt und ihre bisherige Amtszeit, trotz erzielter Erfolge, sowie die
bildungspolitische Leistungsfähigkeit als solche kritisch zu bewerten ist. Von Bil-
dungsarmut betroffene Personen sind sich ihrer gesellschaftlichen Position wo-
möglich gar nicht bewusst, weil es ihnen an manifesten Beobachtungspunkten
mangelt oder ein rein bildungsbezogener Mangel von einer materiell-existenzi-
ellen Armut überlagert wird. Vielleicht bleiben ihnen im Falle eines bestehenden
Problembewusstseins aber auch wichtige Artikulationschancen verwehrt, die es
erst ermöglichen, eine diesbezügliche Mobilisierung gesellschaftlicher Kräfte für
eine Optimierung ihrer Lage, womöglich gegen (bildungs-)systemimmanente
Widerstände, zu realisieren. Aber auch ein schamgetriebenes Negieren des Un-
terlaufens von definierten Bildungs- bzw. Leistungsanforderungen kann ein
nachvollziehbares Motiv der De-Thematisierung sein, für betroffene Individuen
ebenso wie für Lehrkräfte und Schulleitungen, die sich dem Erfolgskult der mo-
dernen Gesellschaft (Neckel 2008) nicht entziehen können und Misserfolgsas-
pekte verständlicherweise aus ihren Selbstbeschreibungen suspendieren.
Man kann von mannigfaltigen Gründen für das Ausbleiben einer verschrän-
kenden Betrachtung von Phänomenen der Bildungsarmut und der Schulsyste-
mentwicklung ausgehen. Es bedürfte eines eigenen Forschungsprogramms, die-
sem vielschichtigen Sachverhalt in angemessener Weise nachzugehen. In diesem
Beitrag wird für eine erste Annäherung das Augenmerk einerseits auf die Refle-
xion der hemmenden Kräfte innerhalb der wissenschaftlichen Beschäftigungen
mit Schulreform(-en) und Bildungsarmut und andererseits auf theoretische wie
empirische Beschreibungsformen des angesprochenen Verhältnisses gelegt.
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
164
Hierzu wird zunächst in das Konzept der Bildungsarmut eingeführt, um an-
schließend die Entwicklung formeller Bildungsarmut zum Abschluss der Schul-
pflichtzeit anhand statistischer Auswertungen auf Ebene der Bundesländer
Deutschlands zu beschreiben und auf Basis von Fallanalysen für die differenzielle
Bedeutung unterschiedlicher Konstruktionsbedingungen von Schulreformen für
die Genese von Bildungsarmut zu sensibilisieren. Im abschließenden Kapitel er-
öffnen wir theoretische und empirische Perspektiven einer handlungstheoretisch
ausgerichteten Erforschung der sozialen Hervorbringung des Unterlaufens von
institutionalisierten Normen eines Bildungsminimums.
Die Verwendung des Begriffs Schulsystementwicklung impliziert, dass wir das
skizzierte Themenfeld zuvorderst unter makrostrukturellen, sprich systemischen
und institutionellen, Gesichtspunkten beleuchten werden. Und auch der Tatbe-
stand der Bildungsarmut wird weniger als individuelles Defizit denn primär als
Ergebnis des institutionell geprägten handelnden Zusammenwirkens relevanter
Akteure behandelt (siehe hierzu insbesondere die Ausführungen im 5. Kapitel).
Um den Gegenstandsbereich überschaubar zu halten, legen wir den Fokus unse-
rer Betrachtungen auf einem wichtigen, weil als zentrale „soziale Dirigierstelle“
(Schelsky) fungierenden und qua gesetzlicher Schulpflicht alle Gesellschaftsteil-
nehmer inkludierenden Bildungsbereich: das Schulwesen.
Aspekte von Bildungsarmut in der jüngeren
Schulsystementwicklung
Auch wenn anvisierte Reformmaßnahmen im Bildungssystem, sei es in Bezug
auf die organisatorisch-pädagogische Inklusion von Schüler*innen, die Struktu-
rierung des Berechtigungswesens oder auch die Neujustierung steuerungspoliti-
scher Verantwortlichkeiten, häufig mit Verweis auf das normative Postulat der
Chancengleichheit mit Sinn ausgestattet werden (von Friedeburg, 1989), ist für
die Post-PISA-Phase zu konstatieren, dass keine speziellen Reformen zur schuli-
schen Förderung zwecks der Angleichung von Bildungschancen besonders be-
nachteiligter oder leistungsschwacher Kinder und Jugendliche aufgelegt wurden
(Hermstein et al. 2019). Eine konsequente Risikovermeidungsstrategie, mit der
einerseits eine Diagnostik schulischer Leistungen im Hinblick auf zukünftige Ri-
siken (in Bezug auf Integration in Arbeitsmarkt, politische Teilhabe, Gesundheit
etc.) etabliert wird und die zudem Mechanismen kennt, mittels derer etwaige Ge-
fährdungen schulischen (Mindest-)Erfolgs so geregelt bearbeitet werden, dass zu
einem bestimmten Zeitpunkt in der Bildungsbiografie ein gefordertes Mindest-
maß an Bildung garantiert erreicht wird, ist im Schulsystem, trotz einer beträcht-
lichen Ansammlung einzelner Maßnahmen und Initiativen, nicht institutionell
verankert.
Sehr wohl aber kann behauptet werden, dass die seit Mitte der 1990er Jahre
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
165
regelmäßig und auf verschiedenen Ebenen durchgeführten Leistungsvergleichs-
studien durch die Definition von Kompetenzstufen die empirische Beobachtung
von performanzbezogenen Entwicklungsrisiken von Schüler*innen dauerhaft er-
möglichen. Grundlegende Unterscheidungen für ein die Kompetenzdimension
berücksichtigendes (Mess-)Konzept von Bildungsarmut wurden ungefähr zeit-
gleich durch die Bildungssoziologin Jutta Allmendinger (1999) eingeführt. Sie
schlägt vor, mit der Kompetenz- und der Zertifikatsarmut zwei Typen von Bil-
dungsarmut voneinander abzugrenzen, wobei beide Typen als relative oder ab-
solute Armut vorliegen können. Der absolute Maßstab rekurriert dabei auf einen
zu definierenden Mindeststandard, z. B. das Absolvieren der Schulpflichtzeit o-
der das Erreichen eines bestimmten zertifizierbaren Bildungsniveaus, der relative
Maßstab auf die individuelle Position im Spektrum des auf das fokussierte Bil-
dungsmerkmal bezogenen sozialen Verteilungsraums. Mit einem solchen Mess-
konzept lassen sich Personengruppen hinsichtlich ihrer verfügbaren Bildungs-
ressourcen bestimmen und durch Relationierung so voneinander abgrenzen,
dass sie als (relativ und/oder absolut) bildungsarm qualifiziert werden können.
Die an dieses Messkonzept anschließende empirische Befundlage weist auch
heute noch, trotz des fortlaufend aktualisierten Anspruchs auf gleiche Bildungs-
chancen und die seit der Bildungsexpansion stark ausgebauten Aufnahmekapa-
zitäten von Bildungseinrichtungen, auf die Virulenz von Bildungsarmut hin. Der
Anteil von Bevölkerungsgruppen, die nur über ein geringes Maß an Schriftspra-
chenkompetenz verfügen und somit aufgrund eingeschränkter Partizipationsfä-
higkeiten in Bezug auf essentielle Aufgaben des Alltagslebens als funktionale An-
alphabeten gelten, ist beträchtlich. Groß angelegte Untersuchungen wie die LEO-
Grundbildungsstudie (Level-One Studie zum Phänomen geringer Lese- und
Schreibkompetenz unter Erwachsenen) oder PIAAC (Programme for the Inter-
national Assessment of Adult Competencies) zufolge gibt es in Deutschland ca.
7,5 Millionen funktionale Analphabetinnen und Analphabeten im Alter zwi-
schen 18 und 64 Jahren, von denen 80% sogar einen Schulabschluss aufweisen.
Zudem ist der Anteil der in Deutschland lebenden Menschen, die in der PIAAC-
Studie lediglich Kompetenzen auf der untersten Niveaustufe erzielt haben, höher
ist als im Durchschnitt der weiteren Teilnehmerstaaten (Grotlüschen 2016).
Kompetenzbezogene Bildungsarmut liegt darüber hinaus schon in jüngeren Ge-
nerationen, die noch zur Teilnahme am Bildungssystem verpflichtet sind, vor.
Der IQB-Bildungstrend weist etwa nach, dass es in allen Bundesländern größere
Schülergruppen in der Sekundarstufe I gibt, deren gemessene Lesekompetenz
nicht den Minimalanforderungen für einen Mittleren Schulabschluss entspricht
(Hoffmann/Böhme 2016). Der PISA-Studie von 2015 folgend beträgt der Anteil
der Jugendlichen, die nur über eingeschränkte Lesefähigkeiten verfügen und in
der Regel nicht auf eine aktive Teilhabe am Berufs- und Gesellschaftsleben vor-
bereitet sind, 16 Prozent (Weis et al. 2016). Und für die deutschen Grundschüler
wurde im Rahmen der im Jahr 2017 publizierten Internationalen Grundschule-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
166
Lese-Untersuchung festgestellt, dass circa 19 Prozent der Viertklässler lediglich
ein Leistungsniveau erreichen, bei dem davon auszugehen ist, dass sie mit erheb-
lichen Schwierigkeiten in ihrer weiteren Bildungsbiographie und hinsichtlich
ihrer gesellschaftlichen Teilhabe konfrontiert sein werden (Bremerich-Vos/
Wendt/Bos 2017).
Aber auch Menschen, die ihre Basisqualifikationen in institutionalisierten
Bildungskontexten nachgewiesen haben und dementsprechend schulische Ab-
schlüsse erworben haben, können als relativ bildungsarm angesehen werden.
Kinder und Jugendliche an Hauptschulen etwa werden häufig aufgrund des Be-
suchs dieser Schularten stigmatisiert (Knigge 2009), der an diesen Schulen er-
worbene Bildungsabschluss gilt aufgrund der sich bietenden geringen Anschlus-
soptionen als entwertet (Solga/Wagner 2001). Dazu trägt auch bei, dass der
Trend zu höher qualifizierenden Schulabschlüssen seit Jahren anhält (Autoren-
gruppe Bildungsberichterstattung 2016; Berkemeyer et al. 2017) und der Anteil
der jungen Menschen mit abgeschlossener Hochschul- und Fachhochschulaus-
bildung stetig wächst (Bechler 2014). Im Lichte des Verteilungsspektrums von
Zertifikaten sind dann auch Erfolgsgeschichten, wie etwa der zwischen 1970 und
2006 von 17,2 Prozent auf 7,9 Prozent gesunkene Anteil der Schulabgänger ohne
mindestens einen Hauptschulabschluss (Baumert/Maaz 2010), einzuordnen, da
Kategorien wie Bildungsminimum und Grundbildung im spezifischen gesell-
schaftlich-historischen Kontext zu definieren sind (Tenorth 2004).
Die gerechtigkeitstheoretisch gelagerten Diskussionen der vergangenen Jahre
haltenr Fragestellungen dieser Art wichtige Bestimmungsprinzipien bereit, weil
mithilfe derartiger Konzepte auf individuelle Akteure attribuierte Merkmale im
Hinblick auf gesellschaftliche Normen und kulturelle Referenzwerte reflektiert wer-
den können. Aus der analytischen Durchdringung dessen, was ein menschenwür-
diges Leben in der modernen Gesellschaft und ihren Teilbereichen auszeichnet, sind
dann normative Leitlinien, etwa durch Bezugnahme auf Ideen des guten Lebens o-
der der auf Behigung, fairen Institutionen und sozialer Anerkennung beruhenden
Teilhabe an gesellschaftlichen Praktiken (Berkemeyer et al. 2017; Giesinger 2007),
abzuleiten, aufgrund derer zu entscheiden ist, welche Art von (schulischer) Bildung
in welchem quantitativen Ausmaß mindestens gefordert wird und wie Bildungssys-
teme beschaffen sein sollten, damit das Erreichen eines Bildungsminimums als ab-
solute Norm Geltung erhält.
Der im Jahr 2003 von wissenschaftlicher Seite formulierte Vorschlag für die
Etablierung von Bildungsstandards (Klieme et al. 2003), die ein Minimalniveau an
schulisch-fachspezifischen Kompetenzen repräsentieren und für das schulische
Lehren sowie die administrative Qualitätssicherung verfügbar machen (in Form
sogenannter Mindeststandards), kann als eine ideelle Initiative im Sinne der kon-
sequenten schulsystemischen Orientierung an gesellschaftlich notwendigen fachli-
cher Fähigkeiten und Fertigkeiten verstanden werden. Eine hierauf fußender kon-
sequenter Reformansatz zugunsten der Diagnose und Vermeidung kompetenz-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
167
bezogener Bildungsarmut wurde durch die Etablierung schulart- und domänen-
spezifischer Regelstandards, die lediglich ein zu erreichendes Durchschnittsniveau
spezifizieren, bildungspolitisch allerdings nicht verfolgt. Gegenwärtig liegt kein ge-
sichertes Forschungswissen darüber vor, ob die standardmäßige Festlegung und
methodisch gestützte Beobachtung von in der alltäglichen Schulpraxis zunächst la-
tent verbleibenden Basiskompetenzen zu Steigerungen der Förderung von fachli-
chen Fähigkeiten vor allem leistungsschwächerer Schüler*innen und einer Erhö-
hung ihrer Chancen auf einen Schulabschluss beigetragen haben. Die bereits
zitierten Untersuchungsbefunde sowie die nachfolgend präsentierten statistischen
Daten zeigen hingegen, dass sowohl auf latenter (Kompetenzen) als auch auf ma-
nifester Merkmalsebene (fehlende Schulabschlüsse) das Problem der Bildungsar-
mut fortdauernd besteht und das Schulsystem bisweilen zur Perpetuierung gerin-
ger gesellschaftlicher Teilhabechancen beiträgt (Edelstein 2006).
Veränderungen ausgewählter statistischer Bildungsarmuts-
indikatoren im Bundesländervergleich der Schulsysteme
Zum Zweck der exemplarischen Betrachtung des quantitativen Ausmaßes von
Bildungsarmut in Deutschland wird nun das zertifikatsbezogene Merkmal des
Fehlens eines qualifizierenden Schulabschlusses fokussiert. Die empirische
Grundlage bilden zwei statistische Kennwerte, die für die Ebene der Bundes-
länder Deutschlands berechnet wurden: der Anteil der Schüler*innen, die die
allgemeinbildende Schule verlassen, ohne mindestens einen Hauptschulab-
schluss zu erreichen (Abgänger*Innenquote), und der Anteil der ausländischen
Schüler*innen, die ebenfalls aus der allgemeinbildenden Schule hervorgehen,
ohne zumindest einen Hauptschulabschluss zertifiziert bekommen zu haben
(Abgänger*innenquote Ausländer*innen). Diese jungen Menschen sind lang-
fristig erschwerten Bedingungen hinsichtlich der Teilhabe am Ausbildungs-
und Erwerbsleben ausgesetzt, zudem entstehen durch Nach-Qualifizierungs-
maßnahmen und das erhöhte Risiko der Arbeitslosigkeit erhebliche gesamtge-
sellschaftliche Folgekosten (Klemm 2010).
Für die auf alle Schulabgänger ohne mindestens einen Hauptschulabschluss
bezogene Quote unterscheiden wir aufgrund differierender Berechnungsgrund-
lagen zwei Zeiträume innerhalb der reformintensiven Post-PISA I-Phase und
vergleichen einmal die mit dem Ländermittelwert relationierten Quoten der ein-
zelnen Bundesländer des Jahres 2001 mit den Quoten des Jahres 2005 und ein
weiteres Mal die Quoten der Jahre 2006 und 2014. Die zentrale Referenzgröße
des Ländermittelwerts wird als arithmetisches Mittel aus der Summe der Pro-
zentwerte, dividiert durch die Anzahl der Bundesländer berechnet und eignet
sich aufgrund der Unabhängigkeit von den stark unterschiedlichen Schülerzah-
len der Länder gut für systembezogene vergleichende Betrachtungen (Ber-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
168
kemeyer et al. 2017). Werden aus den einzelnen Länderwerten eines Jahres und
dem Ländermittelwert desselben Jahres wiederum Quotienten gebildet und als
Prozentwerte dargestellt, lassen sich die Relationen der Schulsysteme zum
Durchschnitt aller Landessysteme, sowie anschließend die Veränderungen im
angesetzten Zeitraum hinsichtlich der Abgängerquote ermitteln. Diese Variante
der Relationierung von Abgängerquoten der einzelnen Länder bietet sich an, um
Unterschiede der Schulsysteme bezüglich ihrer Veränderungsdynamiken, das
heißt mit Blick auf Veränderungsrichtung und -ausmaß (Stabilität vs. Verände-
rung), prägnant systemvergleichend herauszuarbeiten.
Für die beiden ausgewählten Betrachtungszeiträume sind generell sinkende
Abgänger*innenquoten in den Ländern festzustellen (außer zwischen 2001 und
2005 in Brandenburg), was sich dementsprechend auch in den Ländermittelwer-
ten niederschlägt (siehe Angaben an den beiden Achsen auf Höhe des Länder-
mittelwerts, = 100%). Im Vergleich der Jahre 2001 und 2005 zeigt sich folgendes
Bild (Abb. 1): Die Länder im Quadranten A weisen zu beiden Zeitpunkten über-
durchschnittlich hohe Abgänger**innenquoten auf, die im Quadranten C abge-
tragenen Länder jeweils Werte unterhalb des Ländermittelwerts. In den Quad-
ranten B (2001 unterdurchschnittlich: 2005: überdurchschnittlich) und D (2001:
überdurchschnittlich; 2005: unterdurchschnittlich) finden sich Länder, deren
Anteilswerte einmal oberhalb und einmal unterhalb des Ländermittwerts liegen.
So konnte beispielsweise Thüringen zwischen den Jahren 2001 und 2005 die
Abgänger**innenquote soweit senken (von 13,1% auf 7,8%), dass sie im Jahr
2005 unterhalb des Ländermittelwerts liegt. Zwar konnten im fokussierten Zeit-
raum der Großteil Länder ihre Anteile an Abgängern, die das allgemeinbildende
Schulsystem ohne mindestens einen Hauptschulabschluss verlassen, senken. Al-
lerdings weisen diejenigen Länder, die unterhalb der im Koordinatensystem ein-
gezeichneten Diagonalen verortet sind, besonders positive Veränderungsdyna-
miken hinsichtlich dieses Bildungsarmutsindikators auf, da diese die Abgän-
ger*innenquoten vergleichsweise deutlich verringern konnten. Die Länder ober-
halb der Diagonalen vermochten zwar ebenfalls (mit Ausnahme Brandenburgs)
die Abgänger**innenquote zu vermindern, allerdings sanken ihre Werte weniger
stark als im Mittel aller Länder.
Ein ähnliches, aber doch in den spezifischen Ausprägungen abweichendes
Bild lässt sich für den Vergleich der Jahre 2006 und 2014 feststellen: Alle Länder
haben ihre Abgänger*innenquote wiederum senken können (auch abzulesen an
den in der Abbildung abgetragenen Ländermittelwerten), aber in unterschied-
lichem Ausmaß (Abb. 2). Vor allem für Hamburg (Quadrant D) ist hinsichtlich
der Senkung der Abgängerquote ein besonders deutlicher Positivtrend hervor-
zuheben. Zugleich finden sich aber auch Länder (Berlin, Schleswig-Holstein,
Sachsen-Anhalt; Quadrant A), die in beiden Jahren überdurchschnittliche Ab
Abgängerquoten aufweisen und der generellen Veränderungsdynamik der übri-
gen Länder nicht im gleichen Ausmaß folgen. Die Verteilung der Werte lässt so-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
169
Abbildung 1: Anteil der Abgänger ohne HA-Abschluss im typischen Abschlussalter der
Länder in Relation zum Ländermittelwert, 2001 und 2005, in %
Abbildung 2: Anteil der Abgänger ohne HA-Abschluss an der gleichaltrigen
Wohnbevölkerung der Länder in Relation zum Ländermittelwert, 2006 und 2014, in %
mit einen Drift zwischen Ländern bzw. Gruppen von Ländern erkennen. Auffäl-
lig ist zudem, dass sowohl im Jahr 2014 alle ostdeutschen Länder gegenüber dem
Ländermittelwert höhere Quoten aufweisen.
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
170
Die Anteile der Schulabgänger, die aufgrund des Fehlens von mindestens ei-
nem Hauptschulabschluss zumindest an dieser Schwelle in ihrer Bildungslauf-
bahn von absoluter Bildungsarmut in zertifikatsbezogener Hinsicht betroffen
sind, lassen sich auch gesondert für die Gruppe ausländischer Schüler*innen er-
mitteln. Hierbei beschränken wir uns auf die Jahre 2009 und 2014, da innerhalb
dieses Zeitraums bemerkenswerte Veränderungen zwischen den Ländern festzu-
stellen sind. Insgesamt ist die hier beobachtete Form zertifikatsbezogener Bil-
dungsarmut zum Ende der Schulpflicht innerhalb der Gruppe der Ausländer
häufiger zu beobachten, abzulesen am steigenden Ländermittelwert (2009:
12,2%; 2014: 12,9%). Es zeigt sich also ein zwar moderater, dennoch den Ent-
wicklungen des zuvor berichteten Kennwerts entgegengesetzter Trend. Aller-
dings sind keine länderübergreifend-allgemeinen Dynamiken auszumachen,
vielmehr sind divergente Veränderungsrichtungen festzustellen. Während einige
Länder die Quoten senken konnten (insbesondere Hessen, Baden-Württemberg,
Niedersachsen und Hamburg), stiegen sie in anderen Ländern zum Teil deutlich
an (vor allem Sachsen, aber auch in Thüringen, Sachsen-Anhalt und Schleswig-
Holstein). Allgemein zeigt sich die Verteilung der Länder in Bezug auf diesen
Kennwert inhomogener als bei der zuvor dargestellten Kenngröße, abzulesen an
der Spannweite der zum Ländermittelwert relationierten Quoten der Länder
(siehe Abb. 3).
Abbildung 3: Anteil der ausländischen Abgänger ohne HA-Abschluss an der ausländi-
schen Wohnbevölkerung im typischen Abschlussalter in Relation zum Ländermittel-
wert, 2009 und 2014, in %
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
171
Sämtliche Länder oberhalb der Diagonalen haben ihre Werte gesteigert, obschon
die Länder im Quadranten C noch immer unterdurchschnittliche Quoten aus-
ländischer Schulabgänger, denen nicht einmal ein Hauptschulabschluss zertifi-
ziert wurde, aufweisen. Relative große westdeutsche Flächenstaaten wie Baden-
Württemberg, Niedersachsen und Hessen, die 2009 noch Werte oberhalb das
Ländermittelwerts aufweisen, zeigen demgegenüber eindeutige Positivtrends
hinsichtlich der Verringerung zertifikatsbezogener absoluter Bildungsarmut
zum Ende der Laufbahn im allgemeinbildenden Schulsystem. Nichtsdestotrotz
ist angesichts der statistischen Daten kaum zu bestreiten, dass für die Schüler-
gruppe der Ausländer (und wahrscheinlich auch für diejenigen Schüler*innen
mit Migrationshintergrund, die aber von der Schulstatistik nicht als solche erfasst
werden) allgemein ein erhöhtes Bildungsarmutsrisiko besteht, welches zudem im
Zeitverlauf gestiegen ist.
Zur Bedeutung von Schulreformen für die Genese des Risikos
von Bildungsarmut – Fallanalysen zu schulrechtlichen
Änderungen im Kontext der Diagnosen zu sonderpädagogischen
Förderbedarfen
Bislang wurde noch nicht konkret auf das Verhältnis von spezifischen Schulre-
formen und Bildungsarmut eingegangen. Bemerkenswert ist, dass bislang nur ein
geringes Wissen über die Genese von Bildungsarmut (im Lebenslauf) und ihrer
bedingenden Faktoren besteht (Hermstein et al. 2019), obgleich die Frage der
sozialen Ungleichheit im Bildungserwerb und den Bildungsbeteiligungschancen
breit und intensiv diskutiert wurden. Die auf die Erklärung der Entstehung und
Reproduktion von Ungleichheiten spezialisierte Bildungssoziologie hat zwar un-
ter Bezugnahme auf elaborierte theoretische Modelle intensiv zur empirischen
Schätzung der Beiträge herkunftsspezifischer Merkmale der Schüler*innen zur
sozialen Selektivität im Bildungserwerb beigetragen. Welche schülerseitigen und
institutionellen Gegebenheiten allerdings das Ausbleiben von formeller Qualifi-
kation am Ende der Schulzeit beeinflussen, steht nicht im Zentrum ihres Er-
kenntnisinteresses (als Ausnahme von der Regel: Hajdar/Scharf/Grecu 2019).
Und auch die Schulpädagogik als Wissenschaft (und Praxis) vom Lehren und
Lernen in schulischen Kontexten vermochte es bislang offenbar nicht, eine adä-
quate Pädagogik der Risikogruppen, die zur Bewältigung und Vermeidung von
Bildungsarmut befähigt (Tenorth 2009), zu entwickeln.
Die gegenwärtige Forschungslage stellt sich dementsprechend äußert spär-
lich dar. Bekannt sind hingegen die Schwierigkeiten für Schüler*innen, denen ein
sonderpädagogischer Förderbedarf attestiert wurde und die eine Förderschule
besuchen, überhaupt einen Hauptschulabschluss zu erreichen. Die überwiegende
Mehrheit der Abgänger, die die allgemeinbildende Schule ohne mindestens ei-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
172
nen Hauptschulabschluss verlassen, stammt aus Förderschulen (Autorengruppe
Bildungsberichterstattung 2016). Nicht umfassend aufzuklären ist angesichts
fehlender schulstatistischer Informationen derzeit, ob auch die in allgemeinen
Schulen integrativ unterrichten Schüler*innen mit Förderbedarfen überpropor-
tional vom Risiko der ausbleibenden Zertifizierung ihrer schulischen Leistungen
betroffen sind. Es kann nach aktuellem Stand der Dinge aber davon ausgegangen
werden, dass in Anbetracht gravierender struktureller, organisatorischer und
professionalisierungsbezogener Defizite hinsichtlich der Etablierung inklusiver
Schulsysteme (Weishaupt 2016) Schüler*innen mit diagnostiziertem Förderbe-
darf unter erschwerten Bedingungen lernen. Ein wichtiger, aber selten berück-
sichtigter Faktor dürften die kaum ausreichenden finanziellen und vor allem per-
sonellen Ressourcen sein, unter denen sonderpädagogische Förderung derzeit im
allgemeinen und im Sonderschulwesen betrieben wird.1 Einzelne Studien zeigen
zwar, dass Förderschüler an integrativen Schulen häufiger als an Förderschulen
auch einen Hauptschulabschluss erlangen (Kemper 2012), allerdings geht noch
immer ein großer Teil ohne einen solchen Abschluss von der Schule. Um valide
abzuschätzen, inwieweit ein diagnostizierter Förderbedarf die Abschlusschancen
mitmoderiert, werden allerdings Studien im Kontrollgruppendesign benötigt.
Ob Schulreformen einen Unterschied für die Genese und das Ausmaß an Bil-
dungsarmut machen, kann also an dieser Stelle nicht abschließend geklärt wer-
den. Stellvertretend möchten wir aber eine Untersuchung über die Bedeutung
von schulrechtlichen Änderungen für das Ausmaß an Diagnosen eines sonder-
pädagogischen Förderbedarfs vorstellen, um uns der Ursachenanalyse anzunä-
hern. Details zum methodischen Vorgehen finden sich in Berkemeyer et al.
(2017). Mithilfe einer Dokumentenanalyse der schulgesetzlichen Grundlagen zur
Durchführung eines Feststellungsverfahrens und der Regelungen zur Entschei-
dungsfindung über Förderbedarf und -ort wurde für ausgewählte Länder nach-
gezeichnet, wie innerhalb eines gemeinsamen Ausgestaltungsrahmens, der durch
die KMK-Empfehlungen umrissen wird, unterschiedliche Wege eingeschlagen
1 Beispielhaft ist zu dieser ökonomischen Dimension der Inklusion anzuführen, dass in
Nordrhein-Westfalen derzeit (Juni 2019) wieder verstärkt personelle Ressourcen dem Son-
derschulwesen zugewiesen werden, wodurch die Lage in inklusiv arbeitenden Schulen zu-
nehmend prekärer wird und die Inklusionsidee in der eigentlich dem Gemeinsamen Ler-
nen zugewandten Elternschaft an Rückhalt verliert. Im Rahmen einer Konferenz zur sog.
„Koordinierung von Förderortwechseln“ äußerte eine Schulaufsichtsbeamtin der Schul-
form Realschule, dass das Gemeinsame Lernen derzeit nicht verantwortungsbewusst emp-
fohlen werdennne, da Gemeinsames Lernen unter Bedingungen des Lehrkraftmangels
zwangsläufig zu allgemeiner Unterrichtskürzunghre und eine adäquate sonderpädago-
gische Betreuung nicht gewährleistet werden könne. Nicht nur dieser Einzelfall bezeugt,
dass das Schulsystem unter steigendem Ökonomisierungsdruck steht und entsprechend
die Etablierung eines Forschungsfelds „Schul- und Unterrichtsentwicklung in Mangelsitu-
ationen“ dringend angezeigt ist (siehe auch Hermstein/Hußmann/Vaskova 2020).
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
173
werden, um sich den Herausforderungen rund um Inklusion und Teilhabe insti-
tutionell anzupassen. In allen untersuchten Schulsystemen wurden im Untersu-
chungszeitraum mindestens einmal Anpassungen der Regelungen zum sonder-
pädagogischen Förderbedarf vorgenommen, der Grad der Verbindlichkeit der
neuen Regelungen variiert jedoch erheblich (Muss-, Soll-, Kannvorschriften), so-
dass eine unterschiedliche starke Kontrolle einzelner Verfahrensschritte durch
die Schulaufsichtsbehörden konstatiert werden kann. Die Auswertung zeigt, dass
sich zwei augenscheinlich prägende Momente der Verfahrenskontrolle aus dem
Material herausarbeiten lassen: die Kontrolle der Beteiligten am Verfahren und
die Kontrolle der Entscheidungen über den Förderbedarf sowie den schulischen
Förderort. Dies hat zur Folge, dass sich die Handlungs- und Entscheidungsspiel-
räume für die beteiligten Akteure im Fallvergleich unterschiedlich groß darstel-
len (können).
Der Vergleich von Veränderungen der Kennwerte2 der Bundesländer zeigt
deutliche zeitliche Korrespondenzen zwischen gesetzlichen Regelungen und
Kennwertausprägungen für zwei Fälle, die jedoch bemerkenswert unterschiedli-
che Entwicklungsverläufe aufweisen: Bremen und Hamburg. Bremen hatte das
Recht zum Besuch allgemeiner Schulen bereits im Jahr 1994 verankert und die
höchsten Inklusionsanteile im Ländervergleich zu Beginn des Betrachtungszeit-
raums 2002 zu verzeichnen (Inklusionsanteil rund 56 Prozent). Es folgte ein
Rückgang des Anteils bis 2009, für den keine Korrespondenzen mit gesetzlichen
Regelungen gefunden werden konnten. Die Inklusionsanteile steigen jedoch ab
2009, dem Jahr, in dem die Schaffung der Zentren für unterstützende Pädagogik
(ZuPs) und Überführung der Förderschulen in Regionale Beratungs- und Unter-
stützungszentren (ReBUZ) verankert wurde, erkennbar an (auf rund 77 Prozent
im Jahr 2014), während die seit 2002 leicht gestiegenen Exklusionsquoten ab
2009 stärker sinken (von 4,7 auf 1,5 Prozent; siehe Abb. 4). Die vormals schwan-
kende Bremer Förderquote sinkt zwischen 2010 und 2013 um einen Prozent-
punkt (vgl. Abb. 4). In Bremen existiert weiterhin je ein Förderzentrum »Hören«,
»Sehen« und »körperlich-motorische Entwicklung«. In Hamburg verblieben die
Inklusionsanteile von 2002 bis 2009 schwankend auf einem Niveau von rund 15
Prozent, bis sie nach 2009, dem Jahr der Verankerung des Rechtsanspruchs auf
den Besuch allgemeiner Schulen, deutlich ansteigen (von 14,0 auf 59,6 Prozent
2 Drei Kennwerte werden nachfolgend angeführt: die Förderquote als Anteil der Schülerin-
nen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen an allen Schülerinnen und
Schülern, der Inklusionsanteil als Anteil der inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler
innerhalb der Gruppe der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbe-
darfen, sowie die Exklusionsquote Anteil der an Förderschulen unterrichteten Schülerin-
nen und Schüler mit sonderpädagogischen Förderbedarfen an allen Schülerinnen und
Schülern. Wir beziehen die Kennwerte stets auf das Schülerschaften des allgemeinbilden-
den Schulwesens.
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
174
2014). Im selben Zeitraum sinkt die vormals stabile Exklusionsquote von 4,9 auf
3,4 Prozent. In Hamburg steigen die vormals ebenfalls stabilen Förderquoten im
Gegensatz zu Bremen zwischen 2009 und 2013 um 3,0 Prozentpunkte von 5,8 auf
8,8 Prozent. Im Jahr 2012 wurden Förderschulen in Regionale Bildungs- und Be-
ratungszentren (ReBBZ) umgewandelt und nur die Sonderschulen des Bereichs
»Sehen«, »Hören« und »körperliche und motorische Entwicklung« blieben be-
stehen. In der Folge sinken ab 2013 die Förderquoten erstmals nach 2009 wieder;
die weitere Entwicklung bleibt abzuwarten.
Abb. 4: Muster der Inklusion und Exklusion an institutionellen Wendepunkten,
Beispiele Hamburg und Bremen, 2009 bis 2014
Hamburg ist der Herausforderung »Aufbau inklusiver Schulsysteme« zwischen
den Jahren 2009 und 2012 offensichtlich mit einer Doppelstrategie begegnet. Der
starke Anstieg der Förderquote ist ein Produkt der deutlichen Erhöhung des In-
klusionsanteils bei gleichzeitiger Beibehaltung des Förderschulwesens (abzulesen
an der relativ konstanten Exklusionsquote; Berkemeyer et al. 2017). Daher steht
zu vermuten, dass es kaum zu einem Förderortwechsel von Schüler*innen aus
Förderschulen in das allgemeine Schulwesen kam, während zugleich eine stei-
gende Anzahl an Schüler*innen der allgemeinen Schulen einen sonderpädagogi-
schen Förderbedarf diagnostiziert bekamen. Der Fall Bremen steht für eine kon-
sequente institutionelle Neuordnung der Regelungen zur sonderpädagogischen
Förderung. Das Recht auf inklusive Beschulung gilt ohne Vorbehalt, Förderort
ist in der Regel die allgemeine Schule, die durch dezentrale und zentrale Unter-
stützungseinrichtungen begleitet wird. Das Feststellungsverfahren ist multipro-
fessionell ausgestaltet und wird somit mehrperspektivisch kontrolliert. Dies
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
175
scheinen die wesentlichen Regelungsaspekte zu sein, die den Bremer Weg (Ver-
ringerung der Förderquote, Steigerung des Inklusionsanteils, Verringerung der
Exklusionsquote) des handelnden Zusammenwirkens der Akteure auszeichnen.
Ähnlich deutliche Korrespondenzen zwischen Schulrecht und Indikato-
renausprägungen zeigen sich in den übrigen Bundesländern nicht in dieser Deut-
lichkeit. Hier sind die Akteurskonstellationen anders ausgestaltet, haben Eltern
(Nordrhein-Westfalen), Einzelschulen (Hamburg) und auch Schulleitungen
(Thüringen) größere Einflussmöglichkeiten. Wenn diesen Akteuren mehr Frei-
heiten gewährt werden, bestimmen ihre spezifischen Interessen und normativen
Orientierungen die Prozesse in größerem Maße mit, was sich wiederum auf die
Effekte des tatsächlichen handelnden Zusammenwirkens auswirkt. So zeigt der
Hamburger Fall stellvertretend, dass Einzelschulen bzw. die dort tätigen sonder-
pädagogischen Fachkräfte Interessen ausbilden können, die ihr Handeln im
Zusammenhang mit der Diagnose und Aufnahme von Schüler*innen mit son-
derpädagogischen Förderbedarf mitbestimmen (Stichwort: Ressourcen-Etiket-
tierungs-Dilemma), mitunter mit Folgen für das Bildungsarmutsrisiko dieser
Schüler*innen. Ungeklärt bleibt die varianzerzeugende Verbindung zwischen
den exemplarisch als handlungswirksam behaupteten institutionellen Rege-
lungsaspekten und den Handlungsorientierungen der einflussreichen Akteure.
Hierzu bedarf es vertiefter theoretischer Aufklärungsarbeit, wie sie im Folgenden
angedeutet wird.
Doing Bildungsarmut!? Theoretische und
empirische Forschungsperspektiven
Wie gesehen lassen sich entlang von Forschungsständen, statistischen Auswer-
tungen und auf institutionelle Neuordnungsmaßnahmen abstellenden Analysen
einzelne Bereiche und Mechanismen der Hervorbringung schulischer Bildungs-
armut näherungsweise untersuchen. Ebenso wird aber deutlich, dass eine tiefer-
gehende Durchdringung von Phänomenen absoluter und relativer Kompetenz-
und Zertifikatsarmut, die auch den Entstehungsprozessen und, um das diesbe-
zügliche soziale Handlungsgeschehen zu betonen, „Produktionskontexten die
notwendige Aufmerksamkeit schenkt, um abseits deskriptiver Analysen das Ver-
stehen und womöglich auch das kausale Erklären zu fördern, bisher ausgeblieben
ist. Somit kann derzeit über Strategien zur Überwindung von Bildungsarmut im
Schulbereich lediglich spekuliert werden (Edelstein 2006). Ein umfassender Er-
klärungsansatz dürfte ein sehr herausforderndes Unterfangen sein, wäre doch
unter Rückgriff auf empirische Befundlagen und theoretische Konzepte zu klä-
ren, auf welcher heuristischen Grundlage sich dem Problembereich anzunähern
ist. Wir möchten in Bezug auf Bildungsarmut bewusst vorschlagen, von einem
vielschichtigen Problembereich bildungsbezogener Ungleichheit auszugehen,
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
176
das zunächst konzeptionell weiter auszuarbeiten ist und nicht auf die beiden Di-
mensionen der fachspezifischen Kompetenz- und abschlussbezogener Zertifi-
katsarmut reduziert bleiben sollte (Hermstein et al. 2019).
Eine ausbleibende „positive“ Zertifizierung schulischer Leistungen zum Ende
der Schulpflichtzeit, ausgedrückt durch den Schulabgang ohne mindestens einen
Hauptschulabschluss, ist ein insofern ein geeigneter Indikator und günstiger
Ausgangspunkt für problemadäquate Untersuchungen, als dass hiermit die Nor-
munterschreitung durch Institution und Profession handelnd manifestiert wird
und sich daher rechtfertigen und erklären lassen muss.3 Bildungsarmut ist als
eine Ergebnisgröße Ausdruck des Misserfolgs, dessen Entstehung zuweilen un-
erkannt bleibt, im Fall eines von ständiger Leistungsfeststellung- und -dokumen-
tationszwang geprägten Produktionszusammenhangs wie der Schule aber eine
erhöhte Chance zur Objektivierung erfährt. So lässt sich die Frage der Zurechen-
barkeit von Beiträgen zu diesem Phänomen für mehrere Seiten des Schulgesche-
hens, etwa der Institution Schule und des Individuums (der Schülerin/des Schü-
lers), stellen. Um schulbezogenen Misserfolg, der sich im Extremfall in Bildungs-
armut ausdrückt, als Ergebnis eines kollektiven Produktionszusammenhangs,
hervorgebracht durch institutionell geregeltes und kulturell geformtes handeln-
des Zusammenwirken mehrerer Akteure, zu begreifen, sollten zukünftig theore-
tisch fundierte Modelle und prüfbare Hypothesen entwickelt werden, um ziel-
führende empirische Forschungen anzuleiten.
Hiermit würde dann an beinahe vergessene Arbeiten von Elfriede Höhn und
besonders Klaus Hurrelmann und seiner Arbeitsgruppe angeschlossen, die in
den 1960er bis 1980er Jahren entstanden, unterdessen aber etwas in Vergessen-
heit geraten sind. Sie legten ihr Augenmerk auf die Beschreibung und Erklärung
andauernder und sich kumulierender Misserfolge von Schüler*innen unter Be-
rücksichtigung der Lehrer- und Mitschülerurteile. Entgegen der gegenwärtig
verbreiteten, insbesondere in der mit quantitativen Forschungsmethoden ope-
rierenden Bildungsforschung zum Tragen kommenden reduktionistischen Fo-
kussierung auf schüler- und elternseitige („Hintergrund-“)Merkmale zur Be-
rechnung von Varianzanteilen bei der statistischen Aufklärung von einfluss-
reichen Faktorenkombinationen für schulische (Miss-)Erfolgsparameter, thema-
tisieren Höhn und Hurrelmann die Bedeutung von Attribuierungsvorgängen (e-
her Höhn) und der sozialen Interaktionsdimension (eher Hurrelmann und seine
3 Damit ist gemeint, dass die schulischen Akteure zumindest angeben können sollten, wie
sich der schulische Misserfolg erklären lässt, etwa durch Reflexion ihrer pädagogischen und
soziokulturellen Alltagstheorien vor dem Hintergrund der institutionell festgelegten Aus-
bildungsordnungen und Kompetenzstandards. In welcher „Zone der Entstehung von Bil-
dungsarmutsrisiken“ (Hermstein et al. 2019) die zentralen Faktoren dann verortet werden,
etwa eher innerhalb der Binnenstrukturen der Bildungsinstitutionen oder doch eher in die
bildungssystemexternen sozialen Sphären, ist dann die nachgeordnete Fragestellung.
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
177
Arbeitsgruppe) bei der sozialen Genese von Schulversagen. In der Zusammen-
schau fällt trotz der unterschiedlichen Gegenstandkonstruktionen (Höhn hat
den „schlechten Schüler“ im Blick, Hurrelmann „Leistung und Versagen“), for-
schungsmethodischen Zugänge (Hurrelmann et al. führen Interviews, Höhn ge-
winnt ihre Informationen über Bildungsaufsätze und Polaritätsprofile) und der
angesprochenen disziplinären Perspektiven auf, wie groß doch die Schnittmenge
der aus den jeweiligen theoretischen Reflexionen hervorgehenden Deutungsan-
sätze beider Forschungen ist.
Höhn (1980) nimmt vor allem Bezug auf kognitions- und sozialpsychologi-
sche Konzepte, mit denen die Mechanismen und Funktionsweisen von häufig
implizit verbleibenden Alltagstheorien für die Möglichkeit der individuellen Be-
wältigung von sozialen Anforderungen vergegenwärtigt werden können. Unter
Rückgriff auf Ansätze wie die Attribuierungstheorie (teilweise verknüpft mit rol-
lentheoretischen Aspekten), der Austauschtheorie, dem Etikettierungsansatz
und der Theorie der kognitiven Dissonanz versucht Höhn, Ansatzpunkte für Er-
klärungen ihrer ausnahmslos deskriptiven Befunde herauszuarbeiten, mit einer
deutlichen Sympathie für die Theorie der kognitiven Dissonanz. Nach Höhns
Interpretation des zuletzt genannten Ansatzes sucht eine Lehrkraft, die ihre in
der Berufsrolle verankerten Hypothese der Lernfortschrittserzielung durch pä-
dagogische Arbeit nicht realisieren kann und somit ein inneres Spannungserle-
ben bemerkt, eine Möglichkeit zur Dissonanzreduzierung in der selektiven
Wahrnehmung der Eigenschaften von Schülern, häufig zum Nachteil der min-
derleistenden und normabweichenden Schüler*innen. Die mit diesem Ansatz
beschriebenen Mechanismen weisen auf das menschliche Bedürfnis nach Entlas-
tung und möglichst eindeutigen und ressourcenschonenden Orientierungs-
grundlagen hin, vernachlässigen aber die strukturellen Grundlagen, auf denen
die Kognitionen der Akteure basieren.
Die Untersuchungen von Hurrelmann (Arbeitsgruppe Schulforschung 1980)
vermeiden eine einseitige psychologische Betrachtung und nehmen die Schule
als System organisierter Interaktionsstrukturen sowie die institutionalisierten
pädagogischen Zielstellungen in den Analysefokus, ohne dabei aber den empiri-
schen Differenzierungsgrad der Analysen von Höhn zu erreichen. Unter der An-
nahme, die moderne Schule sei eine von Ambivalenzen durchzogene, weil über-
bürokratisierte „people processing organization“, die zugleich durch übermäßige
Regelungs- und Kontrolldichte sowie weitreichende Freiräume gekennzeichnet
ist, beschreibt Hurrelmann organisatorische Verhärtungen mit weitreichenden
Folgen für das Konzept von Leistung in Schule. Die institutionell festgelegte Vor-
stellung von valide vergleichbaren Leistungskriterien verhindere Hurrelmann
zufolge einerseits, die individuellen Leistungen des Schülers als Medium seiner
Selbstentfaltung und Identitätsentwicklung zu verstehen und zu entwickeln, an-
dererseits seien die Lehrkräfte als Repräsentanten des Systems Schule darauf an-
gewiesen, die Schemata des Schülers als Leistungsträger anzuwenden und damit
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
178
zur ihrer Legitimation beizutragen, denn nur so kann sich schulisches Handeln
auf die förmlich vorgegebenen Erfolgsparameter wie Zensuren und Abschlüsse
beziehen. Allerdings können die für die Durchsetzung und Kontrolle des Leis-
tungssystems zuständigen Lehrkräfte nicht mit unverbrüchlicher Fügsamkeit
und Folgebereitschaft von Schülern und Eltern rechnen. Vielmehr sei, gerade im
Falle stark auf Routinen aufbauender Lehrtigkeit, von bisweilen divergierenden
„Situationsdefinitionen“ auszugehen, die sich aus rollengebundenen Erfahrun-
gen und Annahmen über angemessenes Verhalten speisen und für einen die
Leistungsanforderungen vermittelnden Unterricht ein gewisses Maß an Über-
einstimmung aufweisen müssen. Im Falle zu stark divergierender Situationsdefi-
nitionen fassen Lehrkräfte und Schüler*innen den Unterricht nicht mehr als ein
aus aufeinander bezogenen Interaktionen hervorgehendes gemeinsam gestaltetes
soziales Geschehen auf, sondern entwickeln „verdinglichte“ Wahrnehmungs-
konzeptionen, die zu nachhaltigen Beziehungsstörungen und das Schulversagen
bewirkenden Entfremdungen von schulischer Angebots- und Nachfrageseite
führen können.
So plausibel diese auf den terminologischen Kategorien des Symbolischen In-
teraktionismus fußenden Ausführungen zu den schulischen Störungsmomenten
und prozessualen Ursachen von Schulversagen auch sein mögen, sie erzählen
vielmehr eine Geschichte der interaktionsbezogenen Genese von schulischer
Bildungsarmut als dass sie ein für empirische Forschung geeignetes, theorieba-
siertes Hypothesenset anbieten. Bisher mangelt es noch an einem theoretischen
Verständnis für schulische Bedingungskonstellationen, durch die kognitive Ent-
lastungsbedürfnisse von Lehrkräften (These Höhns) und in Indifferenz mün-
dende Entfremdungserfahrungen (These Hurrelmanns) zuungunsten der Förde-
rung und Entwicklung von leistungsschwächeren und verhaltensauffälligen
Schüler*innen gefördert werden. Zunächst bedarf es einer Phänomenologie ty-
pischer Entstehungsmuster schulischer Bildungsarmut zum Ende der verschie-
denen Schul- und Bildungsstufen. Hierzu lassen sich etwa in formeller Hinsicht
durch Bildungsarmut geprägte Schulkarrieren unter Anwendung von quantita-
tiven (etwa mit Daten aus dem Nationalen Bildungspanel (NEPS) oder in Län-
dern mit schulstatistischen Individualdaten) und qualitativen Methoden gut
längsschnittlich rekonstruieren, um tentativ vertiefende Hinweise auf einfluss-
reiche Bedingungskonstellationen und biographisch Risikomuster zu gewinnen,
auch unter Zuhilfenahme von testbasiert gewonnenen Informationen über fach-
liche Leistungsstände.
Eine explizit handlungstheoretische Annäherung bedarf eines hinreichend
differenzierten Konzepts, mit dem die verschiedentlich wirksamen Bedingungs-
konstellationen in ihrer Komplexität, aber dennoch theoretisch stringent, erfasst
werden können. Die umfangreiche Soziologie Hartmut Essers bietet einen prob-
lemadäquaten terminologischen Rahmen, um die von Hurrelmann genannten
Situationsdefinitionen der Akteure mit den objektiven Strukturen der Hand-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
179
lungssituationen und den tatsächlich erfolgten Handlungswahlen systematisch
zu verbinden (Esser 1999, 2001). Ausgehend von den relevanten Umständen und
den wahrgenommenen Entscheidungsalternativen wäre dann zu bestimmen, wie
sich Phänomene wie Schulversagen und Bildungsarmut aus kumulierenden
Handlungen ergeben und welche Rolle dabei die institutionellen Systemstruktu-
ren, auch im Verhältnis zu den schülerseitigen Merkmalen, spielen. Dabei kann
gerade Essers Grundannahme von nicht zwangsläufig utilitaristischen, aber un-
ter variablen Bedingungen stets als rational einzustufenden Nutzenproduktionen
der Akteure, die sich im Normalfall des Handelns in hochgradig institutionali-
sierten Kontexten an einer „Logic of Appropriateness“ (March/Olsen 1989) ori-
entieren, ein enormer Erkenntniswert zugesprochen werden, da sich aus dieser
Perspektive Fragestellungen wie die folgenden ergeben: Unter welchen Bedin-
gungen erscheint es als rational (sprich: den größeren Nutzen gegenüber anderen
Handlungswahlen produzierend), bestimmte Schüler als problematisch zu klas-
sifizieren, sich von der Vorstellung, sie pädagogisch zugunsten der Verhinderung
von Schulversagen und Bildungsarmut zu behandeln, abzuwenden und auf einen
Dropout abzielende Maßnahmen in Erwägung zu ziehen? Anders herum wäre
zu fragen, welche schulischen, familiären und individuellen Voraussetzungen
eine positive Einstellung zur Schule verhindern, Leistungsbereitschaft untermi-
nieren und Schulabsentismus hervorrufen und somit Aspekte des Schulversa-
gens als Handlungswahlen mit den höchsten Wert-Erwartungs-Werten (in der
Terminologie der Wert-Erwartungstheorie) versehen.
Um solche, aus Sicht der offiziellen Zwecksetzung von Schule „irrationalen“
Handlungswahlen dann doch (überraschend) als rationales Tun verstehen zu
können, wären Verbindungen zu den Antezedenzbedingungen der Handlungen
der Akteure zu ziehen. Nach Esser setzen sich die objektiven Strukturen, die kon-
stitutitv mit den subjektiven Situationsdefinitionen über rationale Handlungs-
wahlen verbunden sind, aus den institutionellen Regelsystemen (Institution),
den materiellen Ressourcen (Opportunitäten) sowie den kulturellen Rahmungen
(Symbole/Oberziele) zusammen. Damit eröffnet seine Soziologie auch neue Per-
spektiven für den systematischen Einbezug von Aspekten einer handlungstheo-
retisch angebundenen Ökonomie der Schule. Gerade unter gegenwärtigen Be-
dingungen, die von (auch durch Schulreformen verschärften) Knappheiten
geprägt sind und in denen Schulentwicklung in vielen Fällen unter Mangelsitua-
tionen betrieben werden muss (Hermstein/Hußmann/Vaskova 2020), wäre dann
die von Wolfgang Böttcher (2002) zu Anfang der 2000er Jahre behandelte Frage,
ob eine ökonomische Schule auch eine pädagogische sein kann, neu zu akzentu-
ieren. Zu fragen wäre dann, inwiefern ressourcenbezogene Mangelsituation in
Schulen, gerade mit Blick auf den an vielen Schulen grassierenden Lehrkräfte-
mangel, die Ökonomie einer Schule und die Situationsdefinitionen von Lehr-
kräften und Schülern derart beeinflussen, dass die pädagogische Arbeit an der
Verhinderung erfolgloser Schulkarrieren nicht mehr durchgängig im Zentrum
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
180
der pädagogischen Nutzenproduktion steht, sondern vielmehr Handlungen rati-
onal erscheinen, die die kumulierende Entstehung von Bildungsarmut sogar
noch befördern. Zu Fragen wie diesen besteht zukünftig deutlicher Forschungs-
bedarf.
Literatur
Allmendinger, Jutta (1999): Bildungsarmut. Zur Verschränkung von Bildungs- und Sozialpolitik. In:
Soziale Welt 50, H. 1, S. 35–50.
Arbeitsgruppe Schulforschung (Hurrelmann, K. et al.) (1980): Leistung und Versagen. Alltagstheo-
rien von Schülern und Lehrern. München: Juventa.
Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2016): Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorenge-
stützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. Bielefeld: W. Bertelsmann Verlag.
Baumert, Jürgen/Maaz, Kai (2010): Bildungsungleichheit und Bildungsarmut – Der Beitrag von
Large-Scale-Assessments. In: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Bildungsverlierer.
Neue Ungleichheiten. Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaft, S. 159–179.
Bechler, Nora (2014): ,Fhe Schulabgänger‘: Die Zahl der ausbildungslosen Jugendlichen im Kohor-
tenvergleich. In: Tremmel, Jörg (Hrsg.): Generationengerechte und nachhaltige Bildungspolitik.
Wiesbaden: Springer VS, S. 101–130.
Berkemeyer, Nils/Bos, Wilfried/Hermstein, Björn/Abendroth, Sonja/Semper, Ina (2017): Chancen-
spiegel – eine Zwischenbilanz. Zur Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit der deutschen
Schulsysteme seit 2002. Gütersloh: Verlag Bertelsmann Stiftung.
Böttcher, Wolfgang (2002): Kann eine ökonomische Schule auch eine pädagogische sein? Schulent-
wicklung zwischen Neuer Steuerung, Organisation, Leistungsevaluation und Bildung. Wein-
heim und München: Juventa.
Bremerich-Vos, Albert/Wendt, Heike/Bos, Wilfried (2017): Lesekompetenzen im internationalen
Vergleich: Testkonzeption und Ergebnisse. In: Hußmann, Anke/Wendt, Heike/Bos, Wilfried/
Bremerich-Vos, Albert/Kasper, Daniel/Lankes, Eva-Maria/McElvany, Nele/Stubbe, Tobias/Val-
tin, Renate (Hrsg.): IGLU 2016. Münster: Waxmann, 79–142.
Edelstein, Wolfgang (2006): Bildung und Armut. Der Beitrag des Bildungssystems zur Vererbung
und zur Bekämpfung von Armut. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 26,
H. 2, S. 120–134.
Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln.
Frankfurt/M. und New York: Campus.
Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur. Frankfurt/M. und
New York: Campus.
Friedeburg, Ludwig von (1989): Bildungsreform in Deutschland. Geschichte und gesellschaftlicher
Widerspruch. Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Giesinger, Johannes (2007): Was heißt Bildungsgerechtigkeit? Zeitschrift für Pädagogik 53, H. 3,
S. 362–381.
Grotlüschen, Anke (2016): Grundbildung. In: Tippelt, Rudolf/Schmidt-Hertha, Bernhard (Hrsg.):
Handbuch Bildungsforschung. Wiesbaden: Springer VS, S. 1–18.
Hajdar, Andreas/Scharf, Jan/Grecu, Alyssa (2019): Schulische Kontexte, Schulentfremdung und Bil-
dungsarmut. In: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Handbuch Bildungsarmut.
Wiesbaden: Springer VS, S. 183–209.
Hermstein, Björn/Berkemeyer, Nils/Bos, Wilfried/Semper, Ina (2018): Schulreform und Bildungsar-
mut. In: Quenzel, Gudrun/Hurrelmann, Klaus (Hrsg.): Handbuch Bildungsarmut. Wiesbaden:
Springer VS, S. 771–798.
Hermstein, Björn/Hußmann, Anke/Vaskova, Anna (2020): Inklusionsorientierte Schulentwicklung
zwischen Schulaufsicht, Schulträger und Einzelschule. Theoretische Explorationen anhand einer
Interviewstudie. In: Klein, Esther Dominique/Bremm, Nina (Hrsg.): Unterstützung – Koopera-
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
181
tion – Kontrolle. Zum Verhältnis von Schulaufsicht und Schulleitungen in der Schulentwick-
lung. Wiesbaden: Springer VS.
Hoffmann, Lars/Böhme, Katrin (2016): Kompetenzstufenbesetzungen im Fach Deutsch. In: Stanat,
Petra/Böhme, Katrin/Schipolowski, Stefan/Haag, Nicole (Hrsg.): IQB Bildungstrend 2015.
Sprachliche Kompetenzen am Ende der 9. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster:
Waxmann, S. 131–153.
Höhn, Elfriede (1980): Der schlechte Schüler. Sozialpsychologische Untersuchungen über das Bild
des Schulversagers. München: R. Piper & Co.
Kemper, Thomas (2012): Untersuchungen zum Schulerfolg von Migranten mit sonderpädagogi-
schen Förderbedarf bei separierter und integrierter Beschulung in Rheinland-Pfalz. In: Zeit-
schrift für Heilpädagogik 53, H. 9, S. 360–368.
Klemm, Klaus (2010): Jugendliche ohne Hauptschulabschluss. Analysen – Regionale Trends – Refor-
mansätze. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Klieme, Eckhard/Avenarius, Hermann/Blum, Werner/Döbrich, Peter/Gruber, Hans/Prenzel, Manf-
red/Reiss, Kristina/Riquarts, Kurt/Rost,rgen/Tenorth, Heinz-Elmar/Vollmer, Helmut J.
(2003): Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards. Eine Expertise. Bonn: BMBF.
Knigge, Michel (2009). Hauptschüler als Bildungsverlierer? Eine Studie zu Stigma und selbstbezoge-
nem Wissen bei einer gesellschaftlichen Problemgruppe. Münster: Waxmann.
March, James G./Olsen, Johan P. (1989): Rediscovering institutions. The organizational basis of pol-
itics. New York u. a.: The Free Press.
Neckel, Sighard (2008): Flucht nach Vorn. Die Erfolgskultur der Marktges ellschaft. Frankfurt/M. und
New York: Campus.
Solga, Heike/Wagner, Sandra (2001): Paradoxie der Bildungsexpansion: Die doppelte Benachteili-
gung von Hauptschülern. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 4, H. 1, S. 107–127.
Tenorth, Heinz-Elmar (2004): Stichwort: „Grundbildung“ und „Basiskompetenzen“. Herkunft, Be-
deutung und Probleme im Kontext allgemeiner Bildung. In: Zeitschrift für Erziehungswissen-
schaft 7, H. 2, S. 169–182.
Tenorth, Heinz-Elmar (2009): Bildungsarmut als Herausforderung moderner Allgemeinbildung. In:
Lange, Ute/Harney, Klaus (Hrsg.): Steuerungsprobleme im Bildungswesen. Wiesbaden: VS, 155–
173.
Weis, Mirjam/Zehner, Fabian/Sälzer, Christine/Strohmaier, Anselm/Artelt, Cordula/Pfost, Maximi-
lian (2016): Lesekompetenz in PISA 2015: Ergebnisse, Veränderungen und Perspektiven. In:
Reiss, Kristina/Sälzer, Christine/Schiepe-Tiska, Anja/Klieme, Eckhard/Köller, Olaf (Hrsg.): PISA
2015. Eine Studie zwischen Kontinuität und Innovation. Münster: Waxmann, S. 249–283
Weishaupt, Horst (2016). Inklusion als umfassende schulische Innovation. Streitbare Anmerkungen
zu einer wichtigen Schulreform. In: Zeitschrift für Pädagogik, 62. Beiheft, S. 27–41.
Björn Hermstein, M. A.
ist Schulentwicklungsplaner der Stadt Oberhausen. Kontakt: bjoern.hermstein@oberhau-
sen.de
Prof. Dr. Nils Berkemeyer
ist Inhaber des Lehrstuhls für Schulpädagogik und Schulentwicklung an der Friedrich-
Schiller-Universität Jena. Kontakt: nils.berkemeyer@uni-jena.de
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund So, Dez 4th 2022, 19:48
Powered by TCPDF (www.tcpdf.org)
... Erkennbar werden beträchtliche Differenzen zwischen den Bundesländern, auch die rechtlichen Regelungen, organisatorischen Modelle und Adressierung der Förderschwerpunkte betreffend Blanck, 2015). Tendenziell lässt sich also eine Parallelität der inklusionsorientierten Modernisierung des allgemeinen Schulwesens und der Persistenz (von Teilen) des Förderschulsystems beobachten (Autor:innengruppe Bildungsberichterstattung, 2022), bedingt durch eine systemisch gestützte Erhöhung des Aufkommens an amtlich festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarfen (Hermstein & Berkemeyer, 2021). Goldan und Grosche (2021) konnten zeigen, dass eine größere räumliche Nähe zu Förderschulangeboten signifikant mit der Wahrscheinlichkeit korreliert, dass Grundschülerinnen und Grundschüler einen sonderpädagogischen Förderbedarf diagnostiziert bekommen. ...
Chapter
An den Themen Schulreform und Bildungsarmut entfalten sich Diskussionen um die Frage, wie die Zustände und Wirkungen des Schulsystems zukünftig verbessert werden können. Die Bedeutung von Schulreformen für die Bearbeitung des Problems der Bildungsarmut wurde allerdings bisher kaum thematisiert und erforscht. Anhand einer Systematik der Schulreform wird anschließend an die empirische Befundlage plausibilisiert, dass Reformen Bildungsarmut sowohl verstärken als auch mindern können.
Article
Full-text available
Basierend auf Individualdaten der amtlichen Schulstatistik werden exemplarisch für das Bundesland Rheinland-Pfalz zwei analytische Perspektiven verfolgt: Zum einen werden Disparitäten im Schulerfolg zwischen integrativ und separiert beschulten Schülern mit sonderpädagogischem Förderbedarf aufgezeigt, zum anderen werden die Ergebnisse differenziert nach dem Migrationshintergrund der Schüler dargestellt. Weiter wird auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte der Umfang des sonderpädagogischen Förderbedarfs auch nach dem Migrationshintergrund der Schüler untersucht und hiermit einher gehende Zusammenhänge zum regionalen Schulerfolg beschrieben.
Article
In Germany, the UN Convention on the Rights of People with Disabilities has triggered a far-reaching debate on the reform of the school system. This is justified by the sometimes severe deficits of the so far mostly segregating special needs education for students with learning disabilities. With regard to selected aspects, attention is drawn to several school-organizational and structural necessities among the manifold needs for action, including aspects of teacher training and further education for teachers. Within this context, the recognizable reform initiatives are related to the needs for action to thus create a basis on which to achieve an interim assessment of these reform efforts.
Kann eine ökonomische Schule auch eine pädagogische sein? Schulentwicklung zwischen Neuer Steuerung, Organisation, Leistungsevaluation und Bildung
  • Wolfgang Böttcher
Böttcher, Wolfgang (2002): Kann eine ökonomische Schule auch eine pädagogische sein? Schulentwicklung zwischen Neuer Steuerung, Organisation, Leistungsevaluation und Bildung. Weinheim und München: Juventa.
Der Beitrag des Bildungssystems zur Vererbung und zur Bekämpfung von Armut. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 26
  • Wolfgang Edelstein
Edelstein, Wolfgang (2006): Bildung und Armut. Der Beitrag des Bildungssystems zur Vererbung und zur Bekämpfung von Armut. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation 26, H. 2, S. 120-134.
  • Hartmut Esser
Esser, Hartmut (1999): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 1: Situationslogik und Handeln. Frankfurt/M. und New York: Campus.
  • Hartmut Esser
Esser, Hartmut (2001): Soziologie. Spezielle Grundlagen. Band 6: Sinn und Kultur. Frankfurt/M. und New York: Campus.
  • Elfriede Höhn
Höhn, Elfriede (1980): Der schlechte Schüler. Sozialpsychologische Untersuchungen über das Bild des Schulversagers. München: R. Piper & Co.
Hauptschüler als Bildungsverlierer? Eine Studie zu Stigma und selbstbezogenem Wissen bei einer gesellschaftlichen Problemgruppe
  • Michel Knigge
Knigge, Michel (2009). Hauptschüler als Bildungsverlierer? Eine Studie zu Stigma und selbstbezogenem Wissen bei einer gesellschaftlichen Problemgruppe. Münster: Waxmann.
Rediscovering institutions. The organizational basis of politics
  • James G March
  • Johan P Olsen
March, James G./Olsen, Johan P. (1989): Rediscovering institutions. The organizational basis of politics. New York u. a.: The Free Press.