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Zentrum für Hochschuldidaktik
(Digitale) Präsenz
Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre
Mit Beiträgen von
Georg Albert, Karin Amos, Charlotte Axelsson, Achim Brosziewski, Florian Elliker, Balthasar Eugster,
Götz Fabry, Anastasia Falkenstern, Sofia Marie Fletschinger, Marlies Matischek-Jauk, Sissel
Guttormsen, Georg Krücken, Stefan Kühl, Alexa Maria Kunz, Ines Langemeyer, Laurenz Lütteken, Ina
Mittelstädt, Philipp Neubert, Barbara Pflanzl, Jennifer Preiß, Jürgen Raab, Gabi Reinmann, Sophie
Ruppel, Jörg Scheller, Mandy Schiefner-Rohs, Elisabeth Seethaler, Matthias Sommer, Marija
Stanisavljevic, Luca Tratschin, Peter Tremp, Theresa Vollmer, Ursula Walkenhorst, Kristina Walz
Herausgegeben von Marija Stanisavljevic und Peter Tremp
(Digitale) Präsenz
Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre
Herausgegeben von Marija Stanisavljevic und Peter Tremp
(Digitale) Präsenz
Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre
Zitationshinweis:
Stanisavljevic, Marija & Tremp, Peter (Hrsg.) (2020).
(Digitale) Präsenz – Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre.
Luzern: Pädagogische Hochschule Luzern. doi: 10.5281/zenodo.4291793
Lektorat und Layout: Franziska Imboden
Luzern, Pädagogische Hochschule Luzern, 2020
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht
kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.
Inhalt
Vorwort ......................................................................................................................................................... 7
(Digitale) Präsenz – ein routinierter Blick auf ungewohnte Hochschullehre. Zur Einleitung
Marija Stanisavljevic und Peter Tremp ........................................................................................................ 9
Zur Bedeutung von Körpern und Räumen für die universitäre Präsenzlehre
Georg Albert ................................................................................................................................................. 13
Das Corona Semester 2020. Ein Vorschlag für die weitere Auseinandersetzung
Karin Amos ............................................................................................................................................... 17
Eines Tages rauchend im Hörsaal
Charlotte Axelsson ........................................................................................................................................ 21
Lesen und Blicken im Studium und im Unterricht
Achim Brosziewski ....................................................................................................................................... 23
Universitäre Bildung als Sozialisation und Erfahrung
Florian Elliker ............................................................................................................................................... 27
Da und zugleich abwesend sein. Präsenz als das gepfelgte Sich-Abwenden
Balthasar Eugster ......................................................................................................................................... 33
Die Lehre im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Wozu brauchen wir Präsenz?
Götz Fabry .................................................................................................................................................... 37
Hochschulbildung im Spannungsfeld von digitaler Kommunikation und virtuellen Lernumwelten
Anastasia Falkenstern und Kristina Walz .................................................................................................... 41
Alles anders – und jetzt? Eine studentische Perspektive auf die Bedeutung von Präsenz
Sofia Marie Fletschinger .............................................................................................................................. 45
Die Bedeutung von Präsenz in der medizinischen Lehre. Erfahrung und Forschung Hand in Hand
Sissel Guttormsen .........................................................................................................................................49
Digital is the new presence? Überlegungen im Blick auf Interaktion, Organisation und Gesellschaft
Georg Krücken .............................................................................................................................................. 55
Über die nützliche Filterwirkung internetbasierter Interaktionen
Stefan Kühl ...................................................................................................................................................59
(Online-)Präsenz als Schlüsselkompetenz
Alexa Maria Kunz ......................................................................................................................................... 61
Ein Studium ohne Gespräche — ?
Ines Langemeyer .......................................................................................................................................... 65
Gegen die Verkachelung der Lehre
Laurenz Lütteken .......................................................................................................................................... 69
Welche Präsenz?
Ina Mittelstädt .............................................................................................................................................. 73
Ohne Kommunikation geht es nicht
Philipp Neubert ............................................................................................................................................ 77
«Frustrierte Vogeleltern verweigern Fütterung?»
Barbara Pflanzl und Marlies Matischek-Jauk ............................................................................................... 81
Über Anwesenheit und Präsenz (im hochschulischen Rahmen)
Jennifer Preiß ................................................................................................................................................ 85
Präsenz im Umbruch. Bemerkungen zur neuen vermittelten Unmittelbarkeit und zum alten Kampf um
Macht
Jürgen Raab ................................................................................................................................................. 89
Präsenz – (k)ein Garant für die Hochschullehre, die wir wollen?
Gabi Reinmann ............................................................................................................................................ 93
Verschiebungen. Über die Wahrnehmung von Raum und Zeit in der digitalen Lehrsituation
Sophie Ruppel .............................................................................................................................................. 97
Virtual Meat Space
Jörg Scheller ................................................................................................................................................. 101
‚Digitale‘ Präsenz als Einladung zu Wissenschaft
Mandy Schiefner-Rohs ................................................................................................................................. 105
Resonanz(T)raum online-Lehre
Elisabeth Seethaler ...................................................................................................................................... 109
(Gem)einsam kontemplieren: Überlegungen zur Wir-Beziehung im Seminar
Matthias Sommer ........................................................................................................................................ 113
Kann digitale Präsenz Kommunikation unter Anwesenden ersetzen?
Luca Tratschin .............................................................................................................................................. 117
Könnt Ihr mich verstehen? Zur Herausforderung fehlender körperlicher Kopräsenz bei der Vermittlung
qualitativer Methoden in der digitalen Lehre
Theresa Vollmer ........................................................................................................................................... 121
«Im (digitalen) Seminar alleine lachen ist neu.»
Ursula Walkenhorst ..................................................................................................................................... 125
(Digitale) Präsenz in der Hochschullehre – Notwendige Klärungen
Marija Stanisavljevic und Peter Tremp ........................................................................................................ 129
7
Vorwort
Wir waren überrascht: Als wir im Frühjahr 2020 einige Überle-
gungen zur Hochschullehre unter den Bedingungen des
Präsenzverzichts in der Neuen Zürcher Zeitung publiziert haben1,
haben uns sehr viele Reaktionen erreicht. Bekannte Kolleginnen
und uns unbekannte Kollegen, Nachwuchswissenschaftlerinnen
und Emeritierte, Gegner und Befürworterinnen der Präsenz und
des Fernstudiums schrieben uns an – kein einziger von uns bisher
veröffentlichte Artikel stiess auf so viel sofortige Resonanz.
Augenblicklich war es für uns klar, dass solcher Redebedarf
produktiv im Sinne eines hochschuldidaktischen und sozialwis-
senschaftlichen Diskurses gebündelt werden sollte.
Was heisst also «(digitale) Präsenz»? Unsere Frage erinnert
beinahe an Preisausschreibungen früherer Akademien. Diese
legten – in aufklärerischer Absicht – wissenschaftliche Probleme
einem Kreis von Fachgelehrten vor, um sie zur Mitwirkung an
einer Lösung zu ermuntern. Dabei lockte weniger das Preisgeld
als viel eher das mit Preis und Publikation verbundene Prestige.
Es ist uns eine grosse Freude, dass so viele Kolleginnen und
Kollegen vom Thema gelockt unserer (preislosen) Ausschreibung
gefolgt sind und zur Klärung der Frage nach der (digitalen)
Präsenz mit ihren Überlegungen beigetragen haben. Anders als
die damaligen Akademien standen wir glücklicherweise nicht vor
der Notwendigkeit, eine Rangierung der hier publizierten Beiträge
vorzunehmen. Das grosse Spektrum widerspiegelt mannigfaltige
Stile und Zugänge wissenschaftlicher Reflexionspraxis, es
beleuchtet eigene Erfahrungen und systematische Beobach-
tungen, es dokumentiert kollegialen Austausch und
theoriegeleitete Systematisierungen, und es zeigt illustrative
Beispiele. Während in einigen Beiträgen versucht wird, die
krisenbedingten Erfahrungen zu ordnen, wird in anderen
Beiträgen stärker eine Wertung und sogar eine deutliche
emotionale Involviertheit spürbar. Bereits diese unterschied-
lichen Modi der Auseinandersetzung machen deutlich, dass wir
es mit einem sozialen Phänomen zu tun haben, dessen
Entwicklung wir nun zeitgleich beobachten und das es wohl
noch zu fassen gilt.
Die Diversität des Bandes geht allerdings über die Unterschiede
in den Bearbeitungsformen hinaus. Bei (vorgegebener)
beschränkter Zeichenzahl haben sich Kolleginnen und Kollegen
aus unterschiedlichen Disziplinen, unterschiedlichen
Hochschulen und Hochschultypen und in unterschiedlichen
akademischen Positionen in leichtfüssiger Art geäussert und den
Band mit jeweils neuen, anderen, manchmal überraschenden
Facetten bereichert.
Im Ergebnis entsteht so eine Umschau zur (digitalen) Präsenz, ein
Panorama unterschiedlicher Aspekte und Sichtweisen. Der Band
ermöglicht so einen Rundumblick auf ein soziales Phänomen in
verschiedenen Formierungen.
Gerade diese Kombination macht die Besonderheit der
Publikation aus: Kein Positionspapier, und gleichwohl Statements.
Denn: Die Sache ist ja noch nicht verstanden, die Erörterungen
leisten aber – so unsere Einschätzung – einen anregenden Beitrag
zum Verständnis.
Unser Dank gilt den Autorinnen und Autoren für erhellende,
erfreuliche und lehrreiche Einsichten sowie für die kooperative
Zusammenarbeit.
Und wir bedanken uns sehr herzlich bei Franziska Imboden,
welche die Publikation mit Ausdauer und Sorgfalt begleitet hat
und uns in vielerlei Hinsicht unterstützt hat.
Weggis und Luzern, im November 2020
Marija Stanisavljevic & Peter Tremp
1 Der Beitrag findet sich am Ende dieser Publikation abgedruckt.
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doi: 10.5281/zenodo.4291793 | (Digitale) Präsenz – Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre
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(Digitale) Präsenz – ein routinierter Blick
auf ungewohnte Hochschullehre
Zur Einleitung
bisweilen auch Einlassung und Musse, in der «wir etwas in der
erfahrbaren Welt als Selbstzweck, um seiner selbst willen,
wahrnehmen, worin wir also die Wahrnehmung […] zur selbstge-
nügsamen Handlung erheben und nicht als eine Phase eines
praktischen Handels vollziehen» (ebd.). Ein solcher Krisenbefund
mag (vor allem manche Lehrenden) überraschen – zum Glück
korrigiert uns die Empirie. Laut der kürzlich abgeschossenen
Befragungsauswertung «Digitales Studium und Arbeiten an der
PH Luzern:
Erfahrungen während der Corona-Krise» (Oswald et al. 2020) an
unserer Hochschule ging die Absenz der Präsenz für einen Teil
der Studierenden mit gänzlich neuen Bildungserfahrungen
einher. Bei der Beantwortung der offenen Frage nach dem
«Mehrwert digital angereicherten Studiums» beschreibt eine
Gruppe der Studierenden eine neue Qualität der Einlassung auf
die Studieninhalte: Die eingeschränkte Mobilität, der Wegfall des
Pendelns, die Lockerung der raumzeitlichen Vorgaben und der
Fremdbestimmung bedeutet für diese Studierenden selbstbe-
stimmte Zeiteinteilung und selbstverantwortliches Lernen. Sie
beschreiben intensive Lernerfahrungen, Momente der Einlassung
und des Verstehens, der Konzentration oder der in bisherigem
Hochschulalltag nicht vorhandenen Aufmerksamkeit. In der Krise
und dank der darin begründeten Musse wurde das Lernen –
ähnlich dem klassischen Bildungsideal – zur «selbstgenügsamen
Handlung» (Oevermann 2016: 63).
Während Überraschung, Unsicherheit und Unwissen über die
faktischen Gegebenheiten weitestgehend die Handlungsmuster
des ersten Lockdowns bestimmten, ging der Ausbruch der
sogenannten «zweiten Welle» mit teilweise wissenschaftlichen
Kenntnissen und einigen medizinischen Vermutungen über die
Ursachen und Auswirkungen der Pandemie einher. Verbreitet
wurde nun aber auch über die sozialen Folgen diverser politischer
Beschlüsse debattiert und sinniert. Als nun die erneute Suspen-
dierung und Neu-Regulierung des Hochschulalltags zum Thema
wurde, wurden mannigfaltige Prozesse und Einflussfaktoren,
welche die Entscheidungsbildung begleiten, sichtbar. Spätestens
ab dem Zeitpunkt ist auch der dritte Krisentyp nach Oevermann,
die Entscheidungskrise, nachvollziehbar (ebd.: 64ff.). Denn nun
musste abgewogen werden, ob das Semester und in welcher
Form stattfindet, wie die Lehre organisiert werden soll etc. Anders
jedoch als im Semester davor, waren die Entscheidungsprozesse
nicht mehr vor dem lähmenden Schock des Unbekannten
geprägt. Viel mehr musste «eine Wahl zwischen Alternativen
getroffen werden», wobei «eine bewährte Begründung jedoch
nicht zur Verfügung steht» (ebd.), sondern vielmehr die
Dr. Marija Stanisavljevic, Soziologin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Zentrum für Hochschuldidaktik der Pädagogischen
Hochschule Luzern
Prof. Dr. Peter Tremp, Bildungswissenschaftler, Leiter des Zentrums für Hochschuldidaktik der Pädagogischen Hochschule
Luzern
Folgt man nicht nur den fernöstlichen Weisheiten, die in wohlwol-
lender Lesart eine Krise gleichwohl als Chance begreifen wollen
– sondern ebenfalls Überlegungen Ulrich Oevermanns (2016)
zum komplementären Verhältnis von Krise und Routine, wird
schnell klar, dass Krise die ultimative Bewährungsprobe für die
Routine ist. Mehr noch, sie ist gerade die Bedingung der
Möglichkeit der Entstehung routinierter Handlungen. Zunächst
entzieht die Krise den Alltagsroutinen den wohlbekannten Boden
des Handelns und erschüttert «das Denken in den gewohnten
alltäglichen Bahnen» (Schütz 2011: 56ff.). Das Bewährte funkti-
oniert nicht mehr, es trägt nicht, hält den Alltag nicht mehr
zusammen. Was nun folgt, beschreibt Oevermann wie folgt:
«Auf der Ebene des Praxisvollzugs selbst – also unter dem
Zeitdruck der Krisenbewältigung – operieren wir mit Hilfe der
Anschauung der Erscheinung von Lebenspraxis […] und mit Hilfe
des praktischen Verstehens […]» (ebd.: 63).
Anders ausgedrückt: Ratlos stehen wir da und versuchen, die
«neue» Realität zu verstehen, uns darin zurecht zu finden, wir
können aber nicht anders als uns dabei stets auf das Altbekannte,
das Vertraute zu beziehen. Nun zeigt das vergleichende
Herantasten an das Neue, woraus das Vertraute eigentlich
bestand. In der Krise offenbart sich also der Kern der Alltags-
routine. Folgt man dieser Argumentationslinie, so ist für die
(Sozial)Wissenschaft die Krise ein Glücksfall par excellence: Sie
irritiert zum Nachdenken, Überprüfen, Hinterfragen und
Entdecken.
So geschah es auch im Frühjahr 2020, als die Hochschulen
weltweit unter dem Druck der sich rasant ausbreitenden
Pandemie abrupt und binnen kürzester Zeit auf altbewährte
Präsenzveranstaltungen verzichten mussten. Plötzlich stand man
irritiert da, ohne die Möglichkeit, das Gegenüber im Modus
körperlicher Kopräsenz zu erfahren und sinnierte über den
Stellenwert der Präsenz in der Hochschullehre, über die Möglich-
keiten des Digitalen, ja grundsätzlich über die Zukunft der
Hochschulen. Interessanterweise scheint der coronabedingte
Lockdown alle drei Krisenausprägungen, die Oevermann
idealtypisch beschreibt, aufeinander zu beziehen. Sicherlich ist
die Pandemie eine «traumatische Krise, in der wir von einem
unerwarteten Ereignis oder Zustand überrascht werden» und in
der sich die «Natur- und die Leiberfahrung» konstituiert (ebd.
2016: 63; H.A.). Wie zahlreiche Beiträge in diesem Band zeigen,
sind die (fehlenden) Leiberfahrungen ein konstitutiver Bestandteil
der durch die Krise ausgelösten Reflexionsprozesse.
Ironischerweise ermöglichte die erzwungene Häuslichkeit aber
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spekulativen Vermutungen. Mehr denn je kommt es auf die
Lebenserfahrungen der Handelnden und deren «Lebenspraxis»
an. Unter dem Gesichtspunkt der Krise und der Krisenbewäl-
tigung gestaltet sich die Lebenspraxis nun nicht mehr als ein
schlüssiger Erfahrungszusammenhang – viel mehr wird sie zu
«eine[r] widersprüchliche[n] Einheit von Entscheidungszwang
und Begründungsverpflichtung» (ebd.).
Der krisenbedingten Irritation und (in diesem Fall) produktiven
Diskrepanz zwischen bewährten Begründungen und
unabsehbaren Entscheidungsfolgen verdanken sich die
Einsichten der hier versammelten Autorinnen und Autoren. Sie
argumentieren aufgrund ihrer Lebenspraxis, ihrer beruflichen
Professionalität und im Modus der irritierten Hinwendung: Der
krisenbedingte Ausfall der Präsenz hilft uns, mannigfaltige
Facetten der Präsenz besser zu verstehen, aber auch die Möglich-
keiten und die Reichweite digital angereicherter Lehre zu
begreifen. Gleichwohl zeigt der vorliegende Band, dass wir das
komplexe Gefüge aus Präsenz, Distanz und Digitalität nach wie
vor zu wenig begreifen: Wir sind zu wenig in der neuen Praxis der
«neuen Normalität» versiert, um entscheidende Einschätzungen
vornehmen zu können.
Erinnert sei an dieser Stelle aber auch daran, dass die
Hochschulen durchaus Erfahrungen mit dem Fernstudium oder
digital angereicherter Lehre hatten. Die Hochschullehre ist, wie
etliche andere Gesellschaftsbereiche, schon seit längerem zur
Spielwiese zunehmender Digitalisierung geworden. Jede, die mal
versucht hat, sich einen Überblick über die Digitalisierungsstra-
tegien und -initiativen, über die digitalen Lehrkonzepte und
Lernsettings zu verschaffen, kann die enorme Produktivität und
Geschäftigkeit auf dem Feld nickend bestätigen. Ein historischer
Blick auf die gesellschaftlichen Entwicklungen, welche die
Hochschulen prägten, zeigt zudem, dass die neusten technischen
Entwicklungen und insbesondere grössere Veränderungen und
Neuerungen der Mediennutzung stets auch den Hochschullalltag
erreicht und manchmal auch grundlegend verändert haben, wie
im Fall des Buchdrucks. Der Buchdruck brachte nicht nur neue
Möglichkeiten zur technischen Verbreitung und Vermittlung des
Wissens, sondern ebenfalls Veränderungen in Lehrformen hervor.
Hochschulen waren indessen schon immer eine Hochburg der
Präsenz – wenn auch manchmal ein Elfenbeinturm. Das werden
sie aller Wahrscheinlichkeit nach auch bleiben. Denn, bis auf
eine Handvoll digitaler Enthusiastinnen können sich alle
relevanten Akteure im Feld der Hochschulbildung einen
kompletten Verzicht auf die Präsenz gar nicht vorstellen. Davon
zeugen die in diesem Band viel zitierte und von Lehrenden
initiierte Petition zum Erhalt der Präsenzlehre ebenso wie die
Ergebnisse etlicher Umfragen und Evaluationen des sogenannten
«Corona-Semesters». So versteht eine überwältigende Mehrheit
der Dozierenden der Pädagogischen Hochschule Luzern digitale
Lehre als eine – zum Teil willkommene, zum Teil aber auch
(bedenkt man Lehrplattformen wie Moodle, Illias & co.) längst
etablierte Ergänzung zur Präsenz – keinesfalls als ihren adäquaten
Ersatz (vgl. Oswald et al. 2020).
Die Ergebnisse unserer PH-Befragung zeigen, dass die digitale
Lehre von den Studierenden einen deutlich höheren Zuspruch
erfährt als von den Dozierenden. Gleichwohl bedeutet dies nicht,
dass die Studierenden auf die Möglichkeit zu medial unvermit-
telten sozialen Interaktionen auf ihrem Bildungsweg verzichten
wollen. Im Gegenteil: eine Mehrheit der Studierenden vermisst
die sozialen Aspekte des Studiums. Seminare, Gruppenarbeiten,
kollaborativer und diskursiver Austausch, informelles und
geselliges Beisammensein stellen in studentischer Sicht einen
essentiellen und unverzichtbaren Bestandteil des Studiums dar.
Auch wenn für Studierende und für Dozierende die leibliche
Anwesenheit des Gegenübers für die Lehre und das Lernen von
zentraler Bedeutung ist, zeigen die aktuellen Erfahrungen, dass
es gleichwohl Hochschulroutinen gibt, die angesichts der Krise
auf eine sehr harte Bewährungsprobe gestellt wurden: Es ist dies
insbesondere die Vorlesung, die auf dem Prüfstand steht. Ganz
im Sinne der einleitenden Überlegungen zu Krise und Routine
scheint die Selbstverständlichkeit der Vorlesung angesichts der
Krise ins Wanken geraten zu sein oder ist zumindest den sozialen
Aushandlungsprozessen unterworfen. Während die Studierenden
die aufgenommenen Vorlesungen («Vorlesungspodcasts» im
Sinne des gebrauchten native term) mit den Möglichkeiten der
individualisierten Erschliessung der Inhalte (anhalten,
wiederholen, langsamer oder aber auch schneller abspielen)
überaus schätzen, stehen die Dozierenden dieser Form der Lehre
eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Während Studierende
die Vorlesungen als eine Veranstaltung reiner Wissensvermittlung
und -aneignung verstehen, ist sie in der Wahrnehmung der
Dozierenden eine durch und durch interaktive Lehrform. So
beschreiben die Dozierenden in offenen Fragen der zitierten
Befragung ihre Mühe, eine Vorlesung ohne Publikum zu halten,
ohne die Möglichkeit das Gegenüber zu sehen, ohne abzuprüfen,
ob alles verstanden wurde, ob man zu laut, leise, zu schnell
spricht, ohne die begleitende Geräuschkulisse im Hintergrund,
den rahmenden und ritualisierten kommunikativen Austausch
etc. Dozierende fühlen sich weniger einer Gruppe gegenüber
gestellt, sondern einer Addition von einzelnen Studierenden (vgl.
ebd.).
Nun wollen wir also Krise auch als Chance verstehen und das
Phänomen der Präsenz auskundschaften. Die Krise bietet hierbei
die einmalige Möglichkeit, die Veränderungen und Anpassungen
im sozialen Gefüge analytisch und mit entsprechendem theore-
tischem, methodischem und methodologischem Hintergrund
beobachten zu können. Dieser Band trägt zum Verständnis
ebensolcher sich verändernden Bedingungen bei, indem es uns
erlaubt, die Präsenzlehre, ihre neuen Formen und Bedingungen
– wie die digitale Präsenz – mit den Augen und dem Begriffsapparat
unterschiedlicher Disziplinen und der reflexiven Lebenspraxis
erfahrener Lehrender zu betrachten.
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Die Beiträge fokussieren unterschiedliche Aspekte des Hochschul-
alltags. Die Autorinnen und Autoren thematisieren jeweils andere
Problemstellungen um sich dem Phänomen der Präsenz zu
nähern. Anhand ebendieser Problem- und Fragestellungen, die
im Zentrum der Beiträge stehen, lassen sich die wichtigsten
Merkmale und Besonderheiten der (digitalen) Präsenz erkennen.
Was macht also die Präsenz aus und wo und wie machen sich
Veränderungen unter dem Einfluss zunehmender Digitalisierung
bemerkbar? Folgen wir den Ausführungen der in diesem Statem-
entband versammelten Autorinnen und Autoren, so können wir
sechs Aspekte ausmachen, die im Wesentlichen die Präsenz
auszeichnen.
1. Kommunikations- und Interaktionsanordnungen: Präsenz
meint spezifische soziale Anordnungen und Kommunikati-
onsabläufe im Modus körperlicher Kopräsenz. Mit
mikroanalytischem Fokus lässt sich sodann fragen, inwiefern
sich das körperliche und kommunikative Gefüge unter
aktuellen Bedingungen verändert. Was bedeutet Digitalität
in Hinblick auf Gestik, Mimik, Blickführungen, Sprach- und
Kommunikationsregelungen? Besonderes produktiv und
erkenntnisgenerierend zeigen sich dabei interaktionssozio-
logische Ansätze (e.g. Ervin Goffman).
2. Raum und raumzeitliche Anordnungen: Ebenso wie soziale
Dimension und kommunikative Strukturen sind Raum bzw.
raumzeitliche Anordnungen entscheidend für die Präsenz
und ihre Ausprägungen. Insbesondere scheinen die
spezifischen Hochschulräumlichkeiten dort eine grosse Rolle
zu spielen, wo sie dazu beitragen, kleine und grosse
«Übergangsrituale» zu rahmen. Der Gang zum Hochschul-
gebäude, die Suche nach dem Seminarraum, das
Stühle-Rücken am Seminaranfang oder die spezifischen
Möbelanordnungen in Seminarräumen tragen in entschei-
dendem Masse dazu bei, dass sich eine mehr oder minder
ausgeprägte gemeinsame kontemplative Haltung einstellt.
Es gilt nun die Möglichkeiten digitaler Räume und
Begegnungen analytisch zu beobachten.
3. Medial vermittelte Präsenz und Präsentation: Den vielleicht
offensichtlichsten Unterschied stellt die veränderte
Medialität der Präsenzsituationen dar. Dass neue
Vermittlungs- und Verbreitungsmedien massive Auswir-
kungen auf das kommunikative Miteinander, auf die
Lehr- und Lernsituationen und auf diverse Aspekte der
Selbstrepräsentation und Imagepflege haben, ist
unbestritten. So veränderte beispielsweise die Erfindung des
Bruchdrucks die Wissensvermittlung und Diskurskulturen
nachhaltig. Und so wie uns Walter Benjamins (1990)
eindrückliche Ausführungen zu verstehen helfen, wie sich
Film und filmische Techniken auf diverse Aspekte der
Imagepflege und Repräsentation auswirken, so hilft uns ein
Blick auf andere gesellschaftlichen Sinnsphären, die
Reichweite zunehmender Digitalisierung zu begreifen. Wie
Beiträge in diesem Band zeigen, ist ein Blick auf das
Kunstsystem und die Verflechtung zwischen der Digitali-
sierung, medial vermittelte Kommunikation und Präsenz
besonders instruktiv.
4. Hochschulmethodische Zugänge: Bisher gewohnte
methodische Zugänge passen nur noch bedingt zum Fernstu-
dienmodus, die lineare Übersetzung in digitale Settings führt
oftmals zu unbefriedigenden Ergebnissen. Welche
Grundüberlegungen bestimmen den neuen Lehralltag, wie
ändern sich Seminare und Vorlesungen?
5. Studium als Lebensphase, Studieneingangsphase und die
Wissenschaftssozialisation: Über die konkreten Interaktions-
zusammenhänge in gegebenen Lehr- und Lernsettings
hinaus spielt die Präsenz eine Schlüsselrolle hinsichtlich der
spezifischen Hochschul- und Wissenschaftssozialisation.
Begreift man das Studium als eine alle Lebensbereiche
umfassende Lebensphase, so ist klar, dass das Studieren
über die Vermittlung der Kompetenzen, des Wissens, der
Fertigkeiten oder Inhalte hinausgeht. Studium meint auch
Aneignung bestimmter habitueller Praxen und (milieuspezi-
fische) Vergemeinschaftung. Nun ist dies deswegen möglich,
weil das klassische Studium nicht in jeder Hinsicht der
Maxime der möglichst effizienten Zeitorganisation folgt.
Vielmehr haben die Studierende Zeit, sich in informellen
Rahmen zu begegnen, Zeit miteinander zu verbringen, Zeit
und Raum neue Verhaltensformen auszuprobieren etc. Wie
verläuft die Hochschulsozialisation, wie die Vergemein-
schaftung unter den Bedingungen der Digitalisierung? Wo
begegnet man sich? Wie wird das Informelle organisiert?
6. Problematisierung der Änderungen im Bildungssystem: Wie
entscheidend die Präsenz für die Hochschullehre ist, zeigen
insbesondere jene Beiträge, welche sie im Kontext weitrei-
chender systemischer Überlegungen thematisieren. Präsenz
wird als eine der Fundamente des Bildungs- und Wissen-
schaftssystems verstanden und diskutiert. Solche meso- und
makroanalytische Überlegungen zeigen auf, welche
möglichen Folgen die Änderungen der internen,
systemeigenen Programme auf das Gesamtgefüge oder gar
weitereichende gesamtgesellschaftlichen Folgen haben
könnten.
Mit Bestimmtheit gibt es auch weitere Aspekte, welche die
Präsenz in allen ihren Ausprägungen mitbestimmen, gestalten
oder definieren. Folgt man den hier gesammelten Ausführungen
und somit dem analytischen Blick erfahrener Lehrenden und
geübter Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen, sind dies
sicherlich die wichtigsten Aspekte der Präsenz. Es gilt, weiterhin
interessiert zu beobachten und mit strengem analytischem
Repertoire zu prüfen, welche Änderungen und Anpassungen nun
erfahrbar werden.
Marija Stanisavljevic und Peter Tremp | (Digitale) Präsenz – ein routinierter Blick auf ungewohnte Hochschullehre
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Insgesamt zeigt die vorliegende Publikation aber vor allem, dass
«Präsenz» viele Facetten kennt, die hier aufgefächert und
beschrieben werden. Und dies höchst routiniert!
Literatur
Benjamin, Walter (1991 [1935]): «Das Kunstwerk im Zeitalter
seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung.» In: Ders.:
Abhandlungen. Gesammelte Schriften. Band 1.2. Suhrkamp:
Frankfurt a.M. S.: 431–469.
Oevermann, Ulrich (2016): «Krise und Routine als analytisches
Paradigma in den Sozialwissenschaften.» In: Becker-Lenz, Roland;
Franzmann, Andreas; Jansen, Axel & Matthias Jung (Hrsg.): Die
Methodenschule der Objektiven Hermeneutik. Wiesbaden:
Springer VS. S.: 43-114.
Oswald, Yvonne; Meier, Jürg; Stanisavljevic, Marija; Meyer, Jonas
& Sandra Zulliger (2020): Digitales Studium und Arbeiten an der
PH Luzern: Erfahrungen während der Corona-Krise. Befragungser-
gebnisse von Mitarbeitenden und Studierenden. Luzern:
Pädagogische Hochschule. Verfügbar unter: https://www.phlu.
ch/_Resources/Persistent/093589490e1c6b6dd9fbe19c641c2e
674aaa22aa/PHLU_MgtSummary_Umfrage-digitales-Lernen-Ar-
beiten_20201214_final.docx.pdf (letzter Zugriff am 19.11.2020)
Schütz, Alfred (2011): Der Fremde. Ein sozialpsychologischer
Versuch. In: Göttlich, Andreas; Sebald, Gerd & Jan Weyand
(Hrsg.): Alfred Schütz Werkausgabe. Band VI.2. Relevanz und
Handeln 2. Gesellschaftliches Wissen und politisches Handeln.
UVK: Konstanz. S.: 55-90.
doi: 10.5281/zenodo.4291793 | (Digitale) Präsenz – Ein Rundumblick auf das soziale Phänomen Lehre