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Das relative Alter, der Matthäus-Effekt & Co.: Stolpersteine und Verbesserungspotentiale in der Talentauswahl im Schwimmen

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Abstract

Von 6000 Kindern pro Jahrgang im DSV schaffen gerade einmal ein bis zwei Sportler/-innen Weltniveau, was einer Erfolgsquote von gerade einmal 0,03 Prozent entspricht. Vor dem Hintergrund beschränkter finanzieller Mittel, zurückgehender Geburtenraten, zunehmender Konkurrenz durch moderne und damit für Kinder und Jugendliche womöglich „coolere“ Sportarten sowie in Zeiten des achtjährigen Gymnasiums, reduzierter allgemeiner Sportlichkeit von Kindern, wachsender Leistungsansprüche und gleichzeitiger verminderter Bereitschaft Jugendlicher zum häufig eintönigen Schwimm-Leistungssport, erscheint der „Kampf um mögliche Talente“ für den DSV herausfordernder denn je. Gleichzeitig resultiert daraus ein gesteigerter Bedarf verbesserter Talentauswahl-Prozeduren. Es gilt, möglichst valide, reliable und objektive Kriterien für die Talentauswahl zu ermitteln und diese entsprechend ihrer Prognostizierbarkeit in ein einheitliches Urteilsmodell zu überführen. In der vorliegenden Arbeit werden dazu einige zentrale Grundlagen und neuere Erkenntnisse der Talentforschung dargestellt und mit der aktuellen Praxis im (deutschen) Schwimmsport verglichen. Es stellt sich heraus, dass viele valide Kriterien benannt und viele Stolpersteine der Talentdiagnose bekannt sind. Doch diese Erkenntnisse finden zum Teil noch nicht den Weg in die Praxis. Einige Verbesserungsvorschläge werden dargestellt und anschließend diskutiert.
Deutscher Schwimm-Verband e. V.
Ausbildungslehrgang Lizenztrainer A Schwimmen
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Grundlagen und Stolpersteine der Talentauswahl im Schwimmen
Hausarbeit
Vorgelegt von
Lukas Mundelsee
Badischer Schwimm-Verband
Erfurt, 13. August 2019
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
INHALTSVERZEICHNIS
Zusammenfassung ...................................................................................................................... 3
Einleitung ................................................................................................................................... 4
Grundlagen der Talentauswahl ................................................................................................... 4
Eine Definition von Talent ......................................................................................... 4
Talentiert im Rückspiegel........................................................................................... 5
Talent als multi-dimensionales Konstrukt .................................................................. 9
Mehr Talentprognose statt -diagnose ....................................................................... 12
Talentauswahl im Schwimmen ................................................................................................ 14
Ziele der Talentauswahl des DSV ............................................................................ 14
Zwischenfazit und kritische Würdigung der aktuellen Praxis .................................. 15
Talentkriterien des DSV ........................................................................................... 16
Zwischenfazit und kritische Würdigung der aktuellen Praxis .................................. 27
Urteilsmodelle der Talentauswahl im DSV .............................................................. 29
Zwischenfazit und kritische Würdigung der aktuellen Praxis .................................. 30
Diskussion ................................................................................................................................ 32
Literatur .................................................................................................................................... 35
Anhang 1 .................................................................................................................................. 39
Plagiatserklärung ...................................................................................................................... 40
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Zusammenfassung
3
ZUSAMMENFASSUNG
Aufgrund gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen ist der Kampf um Talente
im DSV vermutlich so groß wie nie. Es gilt, möglichst valide, reliable und objektive Kriterien
für die Talentauswahl zu ermitteln und diese entsprechend ihrer Prognostizierbarkeit in ein
einheitliches Urteilsmodell zu überführen. In der vorliegenden Arbeit werden dazu einige
zentrale Grundlagen der Talentforschung dargestellt und mit der aktuellen Praxis im
(deutschen) Schwimmsport verglichen. Es stellt sich heraus, dass viele valide Kriterien benannt
und viele Stolpersteine der Talentdiagnose bekannt sind. Doch diese Erkenntnisse finden zum
Teil noch nicht den Weg in die Praxis im DSV. Einige Verbesserungsvorschläge werden
dargestellt und anschließend diskutiert.
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Einleitung
4
EINLEITUNG
Vor dem Hintergrund beschränkter finanzieller Mittel (OSP-Deutschland, 2013),
zurückgehender Geburtenraten, zunehmender Konkurrenz durch moderne und damit für Kinder
und Jugendliche womöglich „coolere“ Sportarten (C. Thiel & Spitzenpfeil, 2014) sowie in
Zeiten des achtjährigen Gymnasiums, reduzierter allgemeiner Sportlichkeit von Kindern,
wachsender Leistungsansprüche und gleichzeitiger verminderter Bereitschaft Jugendlicher zum
häufig eintönigen Schwimm-Leistungssport aufgrund von Mediatisierung, Digitalisierung und
Individualisierung (A. Thiel, Gropper & Mayer, 2018), erscheint der „Kampf um mögliche
Talente“ für den DSV herausfordernder denn je (Rudolph, 2015b). Gleichzeitig resultiert daraus
ein gesteigerter Bedarf verbesserter Talentauswahl-Prozeduren (Stoll & Mempel, 2016).
Gerade nach dem Rücktritt Henning Lambertz als Chefbundestrainer und der aktuell im
Hintergrund laufenden Überarbeitung der Nachwuchskonzeption, erscheint es da ein guter
Zeitpunkt, sich dem Thema der Talentauswahl zu widmen und zu klären, inwieweit der DSV
hierbei Verbesserungspotential hat. Die vorliegende Arbeit beschreibt dazu zunächst ein
allgemeines Modell der Talentdiagnostik, stellt in einem zweiten Schritt zentrale Grundlagen
der Talentforschung vor und ergänzt in einem weiteren Schritt Besonderheiten des (deutschen)
Schwimmsports. In mehreren Zwischenfazits wird die aktuelle Praxis der Talentdiagnose mit
dem Forschungsstand verglichen und Verbesserungsmöglichkeiten vorgeschlagen.
GRUNDLAGEN DER TALENTAUSWAHL
Eine Definition von Talent
Welche Talente ausgewählt werden, hängt sehr davon ab, was man überhaupt unter
„Talent“ versteht. Die Definitionen reichen von engem und weitem Fokus hin zu statischem
und dynamischen Fokus, auf die hier aus Platzgründen nicht weiter eingegangen werden soll
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Grundlagen der Talentauswahl
5
und stattdessen auf die entsprechende Fachliteratur verwiesen wird (Hohmann & Carl, 2002;
Seidel, 2011). Für die vorliegende Arbeit soll die Talentdefinition von Hohmann und Seidel
(2004) als Basis verwendet werden, die als Substrat der anderen Definitionen gelten kann:
„Als Talent im Spitzensport wird eine Person bezeichnet, die unter
Berücksichtigung des bereits realisierten Trainings im Vergleich mit Referenzgruppen
ähnlichen biologischen Entwicklungsstandes und ähnlicher Lebensgewohnheiten
überdurchschnittlich sportlich leistungsfähig ist, und bei der man unter
Berücksichtigung personinterner (endogener) Leistungsdispositionen und
realisierbarer exogener Leistungsbedingungen begründbar annimmt, mathematisch
simulativ ermittelt oder nachträglich feststellt, dass sie in einem nachfolgenden
Entwicklungsabschnitt sportliche Spitzenleistungen erreicht bzw. erreicht hat.“ (S.
185).
Die Komplexität des Talentbegriffs wird bei dieser Definition schon angedeutet. Drei
zentrale Aussagen sollen im Folgenden besonders hervorgehoben und unter Rückgriff
wissenschaftstheoretischer sowie einiger möglicher psychologischer Hintergrundprozesse
genauer betrachtet sowie Folgerungen für den DSV davon abgeleitet werden.
Talentiert im Rückspiegel
Der erste wichtige Aspekt der Definition liegt in ihrem letzten Abschnitt versteckt, ist
jedoch für die weiteren Teile dieser Arbeit besonders relevant: Talente können häufig erst im
Rückblick als (früheres) Talent bezeichnet werden, d.h., nachdem ein Sportler bereits
Höchstleistungen auf Spitzenniveau erbracht hat. Ein Großteil der Talentforschung baut genau
auf diesem retrospektiven Ansatz auf, der als Expertiseansatz (auch: Eignungsansatz)
bezeichnet wird. Auch wenn dieser Ansatz bereits viele wichtige Einsichten über den oftmals
langen und mühsamen Weg einiger Weltmeister oder Olympiasieger erbracht hat und viele der
oben genannten äußeren und inneren Talentfaktoren aus diesem Forschungsstrang
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zurückgehen, kam es in der Vergangenheit auch immer wieder zu einer ganzen Reihe an
Fehlinterpretationen dieser Erkenntnisse (siehe Lames & Werninger, 2011) aufgrund einiger
statistischer Artefakte und psychologischer Effekte:
(1) Verwechselung von Korrelation und Kausalität. Zunächst bedeutet retrospektiv
auch: Es werden lediglich Korrelationen zwischen späterem Erfolg und bestimmten Merkmalen
erhoben und zumeist mit weniger erfolgreichen Sportlern verglichen. Kausale Rückschlüsse zu
ziehen, ist deshalb nicht zulässig. Oder wie Lames und Werninger (2011) es pointiert
formulieren: „Hier ist zu erwähnen, dass anderslautende empirische Befunde [der
Expertiseforschung] die Regel nicht widerlegen, da sie nur das Seiende ... beschreiben können,
aber nicht das Sein-Sollende“ (S. 27).
(2) Kognitive Verzerrungen. Erschwerend kommt die Tatsache hinzu, dass die Daten
oftmals aus Erinnerungsprotokollen der Sportler oder Trainer stammen und somit den üblichen
Verzerrungen menschlicher Erinnerung sowie forschungsmethodischer Natur (u.a. Recall-Bias,
Confirmation-Bias und Hindsight-Bias; vgl. Pohl, 2016)
1
unterliegen können. Die bessere
Variante der Erforschung wären Längsschnittstudien, bei denen man junge Sportler im besten
Fall vom Beginn ihrer Karriere bis zum Olympiasieg begleitet. Dabei gibt es jedoch ein
praktisches Problem: Wie Analysen ergaben, schaffen es von 6000 Kindern, die pro Jahrgang
im gesamten Deutschen Schwimmverband ihre ersten Wettkämpfe bestreiten, nur fünf bis in
die Senioren-Nationalmannschaft und nur ein bis zwei davon erreichen Weltniveau (Rudolph,
2011). Um statistisch abgesicherte Ergebnisse zu erhalten, müsste man also mehrere 10000
Kinder wissenschaftlich von ersten Wettkampferfahrungen bis hin zum (potenziell
1
Recall-Bias = Tendenz, sich nicht mehr genau an alles in der Vergangenheit erinnern zu können und vergangene
Ereignisse auf Basis neuerer Erfahrungen so zu interpretieren, dass einigen Ereignissen der Vergangenheit mehr,
anderen weniger Relevanz beigemessen werden, als sie objektiv hatten.
Confirmation Bias = Tendenz, Informationen so auszuwählen, zu untersuchen und zu interpretieren, dass sie die
eigenen (impliziten) Hypothesen bestätigen.
Hindsight-Bias = Tendenz, dazu zu neigen, die Vorhersagbarkeit eines Ereignisses als höher einzuschätzen,
nachdem es eingetreten ist.
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Grundlagen der Talentauswahl
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kommenden) Olympiasieg begleiten. Ein Umstand, der eine solche Untersuchung (leider)
praktisch unmöglich macht.
(3) Erhaltung der Systemordnung. Als dritte Einschränkung vieler Studienergebnisse
aus der Talentforschung kommt hinzu, was in der Systemtheorie als Systemordnung bzw.
Autopoiese bezeichnet wird (Walach, 2009) und was Lames und Werninger (2011) wie folgt
beschreiben: „Möglicherweise findet man nur deshalb wenige Spitzenleister im Tennis, die erst
mit 10 Jahren in die Sportart eingestiegen sind, weil diese dort auf Konkurrenten mit vier und
mehr Trainingsjahren getroffen wären, wodurch sich kaum eine überdauernde Motivation für
diese Sportart herausgebildet hätte“ (S. 27). Oder anders und im Sinne von Systemtheoretikern
ausgedrückt: Wer ein „krankes“ System betrachtet, findet auch „kranke“ Gesetzmäßigkeiten.
Nur weil ein bestimmter Prozentsatz erfolgreicher Jugendmehrkampf-Schwimmer später auch
erfolgreich ist und Nicht-Teilnehmer nicht, heißt das demzufolge noch nicht, dass Erfolg beim
Jugendmehrkampf notwendig ist für späteren Erfolg. Niemand kann nachweisen, was gewesen
wäre, wenn es den Jugendmehrkampf niemals gegeben hätte. Die JMK-Teilnehmer könnten
immer noch erfolgreich sein oder gar noch erfolgreicher. Sie könnten aber auch von Nicht-
JMK-Teilnehmer ein- oder gar überholt worden sein. Auch wenn es aus wissenschaftlicher
Sicht (im Sinne eines Falsifizierens) spannend wäre, den Jugendmehrkampf für 2 bis 3 Jahre
zu pausieren oder bestimmte Jahrgänge nicht zuzulassen, so ist auch das nicht praktikabel. Das
System hält sich somit aufrecht und erschafft dadurch seine eigene Wirklichkeit. Unsere
Aussagen zur Talentauswahl und Talententwicklung sind somit immer auf das aktuelle System
beschränkt, können jedoch nicht verallgemeinert werden.
(4) Sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Damit einher gehen auch eine Reihe
möglicher psychologischer Effekte, die das Talentsystem aufrechterhalten und mit den
Werdegängen späterer Hochleister konfundiert sind. Hier insbesondere hervorzuheben sind der
Pygmalion- und der Galatea-Effekt, die sich beide dem Phänomen der sich selbst erfüllenden
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Grundlagen der Talentauswahl
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Prophezeiung unterordnen lassen (Merton, 1948). Diese mittlerweile empirisch gut belegte
Theorie besagt, dass eine Vorhersage über direkte und indirekte Prozesse dazu führt, dass das
vorhergesagte Ereignis eher eintreffen wird (der Placebo-Effekt ist ein klassisches Beispiel
dafür). Der Pygmalion-Effekt wurde erstmals von Rosenthal und Jacobsen (1968) im
Schulkontext nachgewiesen. Schüler, von denen gegenüber den unwissenden (nicht
eingeweihten) Lehrkräften behauptet wurde, sie seien hochbegabt (obwohl sie tatsächlich
durchschnittlich begabt waren), verbesserten sich im Laufe eines Schuljahres mehr, als die
anderen Schüler der Klasse. Allgemein gesprochen besagt der Effekt, dass je größer die
Erwartung in eine Person ist, umso höher deren Endergebnis. Der Galatea-Effekt (Babad, Inbar
& Rosenthal, 1982) erweitert den Pygmalion-Effekt um die Perspektive der Person selbst und
besagt: Je höher die Erwartung ist, die die Person wahrnimmt, umso besser das Resultat. Der
Matthäus-Effekt, abgeleitet von einer Stelle im Matthäus-Evangelium („Wer hat, dem wird
gegeben werden“, Matthäus 13:12), geht schließlich davon aus, dass Erfolg das Ergebnis eines
sich akkumulierenden Vorteils ist (Merton, 1968). Übertragen auf die Talentauswahl bedeuten
die Effekte: Eltern, Verbände und Trainer fördern (aus welchen Gründen auch immer) in jungen
Jahren auffällige Sportler (Matthäus-Effekt), die aufgrund der damit verbundenen
Erwartungshaltung besser werden, da sie mehr Aufmerksamkeit, Zuwendung und Feedback
bekommen als unauffällige Sportler (Pygmalion-Effekt). Die Sportler selbst nehmen diese
Erwartungshaltung wahr, bleiben am Ball (bzw. im Sport), gehen gerne ins Training, strengen
sich an und verbessern sich dadurch umso mehr (Galatea-Effekt). Am Ende lässt sich kaum
mehr nachvollziehen, ob die anfänglichen Gründe, warum der Sportler gefördert wurde,
tatsächlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit erfolgreicher macht als Merkmale, die die
unauffälligen Sportler vorzuweisen hatten.
Trotz all dieser Einschränkungen lassen sich vom Expertiseansatz fruchtbare
Erkenntnisse für Trainer und Funktionäre ableiten und er hat den entscheidenden Vorteil, dass
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die definitive Finalleistung als ultimatives Kriterium des sportlichen Talents zweifelfrei
vorliegt (Hohmann, 2009). Die genannten Einschränkungen sollten dennoch im Hinterkopf
behalten werden, wenn man die nachfolgenden Ergebnisse interpretiert.
Talent als multi-dimensionales Konstrukt
Eine Theorie, die aus einer retrospektiven Untersuchung im Sinne des Expertiseansatz
entsprungen ist, ist die sogenannte 10.000-Stunden-Regel (ursprünglich basierend auf einer
Studie von Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993; popularisiert durch das Buch von
Gladwell, 2009). Demnach müsse man „nur“ 10.000 Stunden zielgerichtet trainieren und
erreiche dann (gegebenenfalls bei entsprechender körperlicher Eignung) Weltspitzenniveau in
jeder erdenklichen Domäne (Instrument, Sportart usw.). Die Theorie passt zwar zur westlichen
und insbesondere US-amerikanischen Auffassung von Fleiß und Erfolg, konnte für den
Sportbereich jedoch nie empirisch nachgewiesen werden und gilt in der Wissenschaft daher
schon länger als überholt (Issurin & Zuozienė, 2015; Lames & Werninger, 2011; siehe auch
den interessanten Beitrag zur Widerlegung der Theorie Ericssons von Tucker, 2012).
Stattdessen wird eine Spitzenleistung dann erreicht und damit Talent laut oben
genannter Definition ersichtlich, wenn verschiedene personale Dispositionen
(Persönlichkeitseigenschaften, motorische Fähigkeiten, Körperbau usw.) auf verschiedene
äußere (Rahmen-)Bedingungen (Trainingsumfeld, schulische Unterstützung usw.) treffen. Man
spricht auch von einer multi-dimensionalen Modellvorstellung sportlichen Talents (vgl. Seidel,
2011). Ein solches Modell sportlichen Talents ist in Abbildung 1 dargestellt.
Spätestens an der Vielzahl der Faktoren wird klar, wie unwahrscheinlich es ist,
„talentiert“ zu sein und daraus am Ende auch Kapital zu schlagen, sprich z.B. eine
Olympiamedaille zu gewinnen. Von den bereits erwähnten 6000 Kindern pro Jahrgang im DSV
schaffen gerade einmal ein bis zwei Sportler/-innen Weltniveau, was einer Erfolgsquote von
gerade einmal 0,03 Prozent entspricht.
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Grundlagen der Talentauswahl
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Abbildung 1. Talententwicklung als komplexer dynamischer Prozess unter Beeinflussung
personaler und kontextueller Faktoren (nach Hohmann, 2009; in Seidel, 2011, S. 20)
Nun könnte daraus gefolgert werden, dass eine möglichst große Masse an Sportlern ins
Talentsystem geschleust werden müsste, um somit eine höhere Erfolgswahrscheinlichkeit zu
erzwingen. Dass jedoch eher die Exzellenz der Förderung entscheidend ist, zeigen die kleinen
erfolgreichen Schwimmnationen, wie Ungarn, Dänemark und die Niederlande. Zudem stehen
dem DSV nur beschränkte finanzielle Mittel zur Verfügung. Ein blindes Fördern aller ist schon
allein deshalb nicht angebracht. Darüber hinaus würden dadurch auch viele Nicht-Talentierte
(besser: Sportler mit nicht ausreichend Potential), sogenannte „Falsch Positive“ (vgl. Tabelle
1) gefördert werden.
Nun befinden sich Trainer und Funktionäre aber in einer Zwickmühle: Bei der
Festlegung des Kriteriums (Pflichtpunktzahl beim LVT, Pflichtzeit/Pflichtplatzierung für den
JMK, usw.) kann man entweder versuchen, den Alpha-Fehler so gering wie möglich zu halten
(z.B. möglichst hohe Pflichtpunktzahl beim LVT) und somit die Spezifität des Messverfahrens
erhöhen. Dann würde allerdings der Beta-Fehler größer werden (wir selektieren zu viele aus,
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Grundlagen der Talentauswahl
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die eigentlich talentiert wären). Genauso wäre es, wenn man versuchen würde, den Beta-Fehler
zu reduzieren (z.B. möglichst geringe Pflichtpunktzahl beim LVT) und dadurch die Sensitivität
des Messverfahrens zu steigern, da dann die Gefahr eines Alpha-Fehlers steigen würde (wir
nehmen viele Sportler in die Kader auf, die aber gar nicht talentiert sind und verschwenden
damit unnötig Ressourcen, wie z.B. Aufmerksamkeit des Trainers, Geld, Zeit der Kinder/Eltern
usw.). Egal, wie herum man es angeht: Es gibt eine gleich hohe Gesamtwahrscheinlichkeit,
falsche Entscheidungen zu treffen! Es ändert sich lediglich die Verteilung der Fehlerart.
Bei der Betrachtung der Tabelle wird auch nochmal die Problematik des
Expertiseansatzes deutlich: Wir sammeln darüber fast ausschließlich Erkenntnisse über die
Richtig Positiven. Was aber mit den Falsch Negativen (Sportler, die talentiert sind, aber nicht
als solche erkannt und daher nicht gefördert wurden) passiert(e), bleibt oftmals im Dunkeln.
Was also tun? Die Diagnostik-Forschung rät zu folgendem allgemeinen Vorgehen: (a)
Kriterium in Abhängigkeit von dem zu verfolgenden Ziel festsetzen, (b) reliable und valide
Daten erheben; (c) ein Urteilsmodell verwenden, in dem Daten entsprechend ihrer Validität
gewichtet werden (Schmidt-Atzert & Amelang, 2012).
Was sind also laut aktuellem Forschungsstand mögliche valide und reliable Kriterien?
Tabelle 1
Vier mögliche Entscheidungen bei der Frage, ob wir eine Schwimmerin A fördern
Die Schwimmerin A ist in Wirklichkeit...
...talentiert
...nicht talentiert
Die Messung mithilfe
eines beliebigen
Instruments
(Trainerauge, LVT,
JMK usw.) ergibt eine
Einschätzung der
Schwimmerin A als...
...talentiert
Richtig Positive
(= richtige
Entscheidung)
Falsch Positive
(= sog. Beta-Fehler)
...untalentiert
Falsch Negative
(= sog. Alpha-
Fehler)
Richtig Negative
(= richtige
Entscheidung)
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Grundlagen der Talentauswahl
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Mehr Talentprognose statt -diagnose
Die Entscheidung, welche Kriterien für einen Auswahlprozess zugrunde gelegt werden,
hängt unter anderem von der sogenannten Basisrate ab. Das entspricht dem Anteil der
geeigneten Personen an der Gesamtzahl der zu untersuchenden Personen (Schmidt-Atzert &
Amelang, 2012). Ist die Basisrate sehr hoch, ist die Validität als zweiter Faktor nicht ganz so
wichtig. Allerdings siedeln verschiedene Autoren das sportliche Talent im Bereich von 2 bis 4
Standardabweichungen (σ) über dem Niveau vergleichbarer Altersgruppen an (Hohmann &
Carl, 2002). Anders ausgedrückt: Ca. 0,01 % (4σ) bis 4,5 % (2σ) eines jeden Jahrgangs müssten
demnach talentiert sein. Allerdings bleibt unklar, ob sich diese Forderung auf ein einziges
Merkmal (z.B. die Körpergröße) oder auf mehrere bezieht. Im zweiten Fall würde sich die
Wahrscheinlichkeit dann nämlich multiplizieren. Fakt ist: Talente sind selten und die zu Beginn
erwähnten Problematiken, dass immer weniger Kinder und Jugendliche den Weg in den
Leistungssport finden (möchten), verdeutlicht die Wichtigkeit hoch-valider Talentkriterien.
Da überrascht es, dass lange Zeit in der Talentauswahl die Strategie der
Leistungsauffälligen verfolgt wurde, bei der insbesondere aktuelle Wettkampfleistungen zu
Rate gezogen wurde, um Talentierte von Nicht-Talentierten zu unterscheiden. Auf die damit
verbundene Problematik verweisen z.B. Hohmann und Carl (2002, S. 9), indem sie schreiben:
„Die begrenzte Aussagekraft der komplexen Wettkampfleistung als Talentkriterium ist vor
allem darauf zurückzuführen, dass die Bedingungen, unter denen die Leistung zustande
gekommen ist, wie z.B. das zurückliegende Training, das genetische Potenzial, der individuelle
biologische Entwicklungsstand ... in der Regel nicht bekannt sind.“ Statt auf den Ist-Zustand,
also die aktuelle Leistung zu schauen, sollte stattdessen das (prognostische) Leistungspotential
das entscheidende Auswahlkriterium sein. Besonders kritisch halten die Autoren daher
sogenannte Cut-Off-Werte, also Werte, ab denen eine förderungswürdige Leistung zu einer
Talentauswahl (z.B. Kaderstatus auf Grundlage von Rudolph-Punkten, Zeiten etc.) von einer
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Grundlagen der Talentauswahl
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nicht-förderungswürdigen Leistung abgegrenzt wird: „Zum einen ist die Annahme einer
biogenetisch unveränderlichen Merkmalsausstattung des Menschen mittlerweile überkommen.
Und zum anderen beruhen die Auswahl der Diagnoseverfahren und insbesondere die „cut-off-
Werte“ meist nur auf praktischen Erfahrungen und halten einer wissenschaftlichen
Überprüfung nicht stand“ (Hohmann & Carl, 2002, S. 9f). Stattdessen schlagen die Autoren
vor, statistische Auswahlprozeduren so weiterzuentwickeln, dass sich prozentuale
Zugehörigkeitswahrscheinlichkeiten auf Basis empirisch (und unter Berücksichtigung der
Probleme, die mit dem Expertiseansatz einhergehen) abgesicherter, wenig durch Training
veränderbarer und gut prognostizierbarer (v.a. genetisch bedingter) Kriterien zu verschiedenen
Talentklassen bilden lassen (siehe auch Rudolph, 2015b).
Welche Kriterien dazu gezählt werden können, zeigen Hohmann und Carl (2002)
anhand einer Reihe an Studien (zum Teil allgemeinsportlich, viele aber auch schwimmbezogen)
und resümieren: „Als besonders talentiert haben ... solche Nachwuchssportler zu gelten, die
ihre auffälligen Wettkampfleistungen schnell und nachhaltig steigern und dabei sowohl ihre
personalen Leistungsvoraussetzungen als auch die kontextuellen Förderbedingungen möglichst
ökonomisch in Anspruch nehmen“ (Hohmann & Carl, 2002, S. 22). Die dahinterstehenden drei
Hauptkriterien sind demnach: (a) die Fähigkeit zur Entwicklung (Entwicklungsrate), (b) die
Belastbarkeit sowie (c) die Utilisation (Vermögen des Nachwuchssportlers, die jeweilige
juvenile Wettkampfleistung bei glichst geringer Inanspruchnahme der endogenen
Leistungsvoraussetzungen, wie z.B. Motivation, Technik, Kondition, Konstitution, und
exogenen Förderbedingungen, beispielsweise Training und unterstützende Systeme,
sicherzustellen).
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
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TALENTAUSWAHL IM SCHWIMMEN
Nachdem einige Grundlagen der Talentauswahl erörtert wurden, folgt nun der Blick auf
den Schwimmsport im Allgemeinen und den DSV im Speziellen.
Gemäß dem hypothetischen (!) Fall, es sind tatsächlich ca. 0,01 % (4σ) bis 4,5 % (2σ)
der Schwimmer in Deutschland talentiert, würde das umgerechnet auf 6000 Kinder pro
Jahrgang im DSV bedeuten, dass zwischen 60 und 270 Schwimmerinnen und Schwimmer so
veranlagt sind, dass sie das Potential haben, in die Weltspitze vorzustoßen (was
selbstverständlich noch nicht bedeutet, dass sie das dann auch tatsächlich schafften; vgl. die
kontextuellen Faktoren im Sinne des multi-dimensionalen Talentmodells). Egal, wie viele es
tatsächlich sind, lässt sich auch für den DSV festhalten: Je klarer das zu verfolgende Ziel, je
genauer das verwendete Urteilsmodell und je valider und reliabler die Kriterien innerhalb dieses
Urteilsmodells sind (Schmidt-Atzert & Amelang, 2012), umso erfolgswahrscheinlicher ist seine
Talentauswahl.
Ziele der Talentauswahl des DSV
Wie weiter oben schon angedeutet, ist die Prognosevalidität bei der Talentidentifikation
vor Abschluss der Pubertät gering (Abbott & Collins, 2004). Folglich lassen sich zuverlässige
Vorhersagen von späteren Leistungen und Erfolgen kaum definieren - insbesondere von
Sportlern vor der Pubertät (Allen, Vandenbogaerde & Hopkins, 2014). Andere Verbände, z.B.
SwissOlympic, raten deshalb strikt davon ab, eine Talentselektion zu betreiben, bei denen
Kinder ausgeschlossen werden (Fuchslocher, Romann, Laurent, Birrer & Hollenstein, 2011).
Allerdings ist schwer vorstellbar, wie das funktionieren könnte. Zumal beispielsweise die
genannten psychologischen Effekte (Pygmalion- und Galatea-Effekt) kaum vollständig zu
vermeiden sind. So lässt sich auch erklären, warum Lames und Werninger (2011) bei ihrer
Einschätzung eines erfolgreichen Talentfördersystems ohne das Wort „Talent“ oder „talentiert“
auskommen. Laut der Autoren kann ein solches System auf einen markanten Nenner gebracht
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
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werden: „Es muss einer hinreichenden Anzahl an Nachwuchssportlern den Zugang zu guten
Trainings- und Rahmenbedingungen ermöglichen“ (Lames & Werninger, 2011, S. 27).
Was aber sind die Ziele des DSV? Die Nachwuchskonzeption gibt darüber bereits direkt
zu Beginn im Vorwort zumindest teilweise Auskunft: „Sport und Politik bekennen sich in
Deutschland weiterhin zum Spitzensport und verbinden das mit der Forderung, die Zahl an
Medaillen und Plätzen gegenüber 2012 zu steigern. Schwimmen soll dazu als Sportart mit
Medaillen und Finalplatzpotentialbeitragen (Rudolph, 2015b, S. 2). Weiter heißt es: „[Der
DSV] ist sich gewiss, dass Spitzenleistung im Weltmaßstab nur möglich ist, wenn aus einer
möglichst breiten Basis heraus konsequent Talente gesichtet und gefördert werden ... Hierbei
steht die Entwicklung wesentlicher und für die künftige Leistung notwendiger physischer,
technisch-koordinativer und psychischer Voraussetzungen im Vordergrund. (S. 5).
Zusammengefasst: Man möchte möglichst viele olympische Medaillen holen und hierbei mit
einer möglichst breiten Basis beginnen. Im Anschluss müsse man das Feld der Talentauswahl
zumindest ein stückweit der natürlichen Auswahl ... überlassen und ein interessantes,
freudbetontes und vielseitiges Training anbieten, „das sowohl dem künftigen Sprinter als auch
dem Langstreckler eine Entwicklungschance gibt und alle Schwimmarten berücksichtigt“.
Gleichzeitig aber heiße Talentauswahl auch, „weniger talentierte Sportler nicht mehr in
Gruppen des Leistungssports zu fördern“ (S. 55). Zwar nennt die Konzeption Kriterien, die für
diese Selektion herangezogen werden sollen und im Folgenden näher betrachtet werden. Wann
genau diese Selektion aber geschehen soll, darüber schweigt sich die Konzeption leider aus.
Zwischenfazit und kritische Würdigung der aktuellen Praxis
Positiv hervorzuheben ist, dass bereits von Anfang an in der Nachwuchskonzeption klar
ist, wohin der Weg gehen soll: zu mehr olympischen Medaillen. Wie genau dieser Weg gestaltet
wird, darüber findet sich viel zwischen den Zeilen und wurde hier sicherlich nicht erschöpfend
dargestellt. Dass es über den Weg einer „breiten Basis“ laufen muss, entspricht dem aktuellen
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
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Forschungsstand. Dass nicht klar dargestellt wird, wie genau der Weg der breiten Masse weiter
gehen soll und an welchen Stellen Talente ausgewählt werden sollen, ist dagegen schwierig.
Zumal die aktuelle Praxis zumindest vermuten lässt, dass es keinen systematischen Ansatz dazu
gibt. So wurde das Teilnehmerfeld sowohl beim Jugendmehrkampf als auch bei den Deutschen
Jahrgangsmeisterschaften erhöht, was im Sinne einer breiten Basis positiv einzuschätzen ist.
Gleichzeitig wurde das Alter der Jugendmehrkampf-Teilnehmer für beide Geschlechter auf
11jährige vorgezogen und somit auch der Matthäus-Effekt künstlich nach vorne verlegt. Bei
allem Verständnis für das Ziel, Sportler früher an die internationale Spitze zu führen, darf
zumindest hinterfragt werden, warum auch das Eintrittsalter der Jungs, die im
Schwimmleistungssport nachgewiesenermaßen zwei Jahre mehr Zeit zur Entwicklung ihrer
Höchstleistungen haben (Allen et al., 2014; Kosuke Kojima, Jamison & Stager, 2012), an die
Mädchen angepasst wurde. Weiterhin widerspricht die gängige Praxis von Pflichtzeiten bei den
meisten Meisterschaften dem Gedanken der Leistungs- bzw. Förderpyramide (laut den
aktuellen Ausschreibungen entsprechen die Pflichtzeiten über alle Altersklasse hinweg ca. 9
Rudolph-Punkten bei den Süddeutschen und 8 Rudolph-Punkte bei den Norddeutschen
Jahrgangsmeisterschaften). Demnach müsste bei der jüngeren Altersklasse ein niedrigeres
Kriterium angelegt werden als bei den älteren Altersklassen - auch auf die Gefahr hin, viele zu
fördern, die keine Spitzenleister im Schwimmen werden.
Talentkriterien des DSV
In Übereinstimmung mit Hohmann und Carl (2002) nennt auch der DSV die
Belastungsverträglichkeit sowie das Entwicklungstempo (für Richtwerte der
Entwicklungsraten pro Schwimmart und -strecke siehe Allen et al., 2014) als
Talentauswahlkriterien in seiner Nachwuchskonzeption (Rudolph, 2015b). Darüber hinaus
sollten Trainerinnen und Trainer laut Konzeption auf folgende Faktoren bei der Auswahl bzw.
Prognose ihrer Talente achten: (a) neuromuskuläre Faktoren („Wassergefühl“), (b) Körperbau,
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
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(c) konditionelle Fähigkeiten, (d) mentale Stärke sowie (e) die Leistungsauffälligkeit in
Kindheit/Jugend). Wie prognostisch valide sind diese weiteren Faktoren, sodass eine
Talentidentifikation nach diesen Kriterien gerechtfertigt ist? Ein Blick in die
Forschungsliteratur gibt darüber Aufschluss:
(a) Neuromuskuläre Faktoren. Das „Wassergefühl“ lässt sich mediumbedingt
zumindest neurologisch nur schwerlich bis gar nicht wissenschaftlich nachweisen (man müsste
dazu z.B. eine EEG-Messung im Schwimmkanal durchführen). Folglich finden sich auch keine
empirischen Studien dazu. Das muss aber nicht heißen, dass es gar keine prognostische
Validität besitzt. Zur Abschätzung der Validität eines Merkmals sind Expertenurteile zulässig
(Schmidt-Atzert & Amelang, 2012), insofern darf man Rudolph durchaus Glauben schenken,
wenn er schreibt: „Die Begabung, Widerstand zu reduzieren, Kraft ökonomisch einzusetzen
und so Wasser effektiv vortriebswirksam zu nutzen, ist ein wesentliches Merkmal der Eignung
für Sportschwimmen. Es ist ein Gefühl und kaum zu messen, aber ob Spitz oder Phelps, Matthes
oder Groß, van Almsick oder Popov, Steffen oder Biedermann, eines hatten/haben sie
gemeinsam: dieses exzellente Wassergefühl“ (Rudolph, 2011, S. 46). Allerdings darf man die
somit gegebene Augenscheinvalidität dieses Kriteriums nicht verwechseln mit dessen
Objektivität und Reliabilität. Zur Abschätzung ersterer ist ein Expertenurteil zulässig. Der
Nachweis, dass sich Wassergefühl reliabel und objektiv messen lässt, muss aber erst noch
erbracht werden. Denn auch das Auge des Trainers ist nicht gefeit vor menschlichen
Fehlschlüssen (insbesondere der sich selbst erfüllenden Prophezeiung) und viele relevante
Faktoren bleiben im Verborgenen (beispielsweise mentale Voraussetzungen). Nicht ohne
Grund lässt sich anhand empirischer Befunde und Meta-Analysen in anderen Domänen (z.B.
Eignungsfeststellung in der Personalauswahl; klinische Diagnostik) zeigen, dass statistische
Urteilsbildung denen holistischer (hier: nicht-statistischer) Verfahren überlegen sind (z.B.
Grove, Zald, Lebow, Snitz & Nelson, 2000; Kuncel, Klieger, Connelly & Ones, 2013).
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
18
So könnte man sich mit einigen Kriterien behelfen, die zwar nur wahrscheinlich mit
dem Wassergefühl korrelieren, sich gleichzeitig aber objektiv und reliabel bei Kindern messen
lassen (z.B. der Stroke-Index, siehe Morais et al., 2012; oder auch die Antriebseffizienz, für
eine der wenigen Längsschnittstudien siehe Morais et al., 2016). Allerdings bleibt die
prognostische Validität auch hier noch offen (Kucia-Krzysztoń, Dybińska, Ambroży & Chwała,
2013).
(b) Körperbau. Die Körpergröße und -bau spielt laut mehrerer Studien eine
entscheidende Rolle im Schwimmsport (Altmann & Sperling, 2013; Rudolph, 1996) - wohl
weislich, dass kleinere Athleten auch erfolgreich sein können. Eine interessante aktuelle
Analyse hierzu bietet Madge (2016b), der die Finalisten bei den Olympischen Spielen in Rio
hinsichtlich ihrer Körpergröße untersuchte. So war beispielsweise die kleinste Frau in einem
Finale in Rio gerade einmal 1,55m, die größte 1,91m; der kleinste Mann maß 1,68m, der größte
2,01m. Das sind jedoch einzelne Werte mit wenig Aussagekraft (auch wenn sie den
kleingewachsenen Talenten in Deutschland Hoffnung geben sollten). Wie steht es um die
Durchschnittswerte aller in Rio startenden Finalisten? Madge beziffert diesen Wert bei den
Männern auf 1,88m und bei den Frauen auf 1,76m. Beides liegt über den Durchschnittswerten
der Normalbevölkerung in Deutschland, die bei Männern ca. 1,80m und bei Frauen 1,66m
betragen (SOEP, 2006). Dennoch lohnt auch hier ein etwas differenzierterer Blick.
Beispielsweise spielt die Körpergröße über die Lagenstrecken (durchschnittliche Körpergröße
der Finalistinnen: ca. 1,72m und der Finalisten: ca. 1,84m) sowie über die Bruststrecken
(durchschnittliche Körpergröße der Finalistinnen: ca. 1,74m und der Finalisten: ca. 1,89m)
offenbar eine geringere Rolle als in den anderen Schwimmarten. Die geringste
durchschnittliche Körpergröße hatten Frauen und Männer in den 400m-Finals (ca. 1,71m bzw.
1,86m, während die Finalisten und Finalistinnen jeweils über 1500m im Durchschnitt genauso
groß waren wie diejenigen auf den 200m-Strecken (ca. 1,75m bzw. 1,88m). Es gilt abschließend
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
19
zu dieser Analyse kritisch anzumerken, dass (a) keine Signifikanzen berichtet werden und (b)
Durchschnittswerte sicherlich in ihrer Aussagekraft qualitativ hochwertiger einzuschätzen sind
als einzelne Extremwerte. Bei einer solch kleinen Stichprobe (jeweils 8 pro Finale) wären
allerdings Medianwerte (der mittlere Wert in einer Verteilung) die tragfähigere Lösung, da
diese robuster sind gegenüber Ausreißern (sowohl nach oben als auch nach unten).
2
Trotzdem
lässt sich festhalten: Eine gewisse Körpergröße ist im Schwimmen von Vorteil und sicherlich
ein nicht von der Hand zu weisendes Talentauswahl-Kriterium. Auf weitere körperbauliche
Merkmale, wie z.B. die Hand- und Fußgröße oder Armlänge, wird hier aus Platzgründen nicht
eingegangen. Mehrere Studien konnten jedoch auch hier positive Zusammenhänge zur
Schwimmleistung belegen (z.B. Jagomägi & Jürimäe, 2005).
(c) Konditionelle Fähigkeiten. Aufgrund des nicht-linearen menschlichen
Entwicklungsprozessen gilt es (bisher) als unmöglich, den Erwachsenenwert einer genetisch
bestimmten Größe beim Menschen mit ausreichend großer Genauigkeit vorherzusagen (Abbott,
Collins, Martindale & Sowerby, 2002). Konditionelle Faktoren gelten als am meisten
trainierbar. Da konditionelle Fähigkeiten gleichzeitig von genetisch bestimmten Größen, wie
z.B. Muskelmasse, Körperproportionen, abhängen, lassen sich auch diese aus ethischen
Gründen nur bedingt als Talent-Vorhersagekriterien nutzen (Issurin, 2017). Korrekterweise
wird auf diesen Umstand in der Nachwuchskonzeption (Rudolph, 2015b) hingewiesen und
angemerkt, dass deshalb nur die Extreme auf dem physiologischen Spektrum von Ausdauer bis
Sprint nützlich zur Talentidentifikation“ (Rudolph, 2015b, S. 53) seien.
(d) Mentale Stärke. Tatsächlich gilt es als mittlerweile empirisch gut belegt, dass die
mentale Stärke eines der wichtigsten Talentmerkmale darstellt (Abbott & Collins, 2004; Baker
& Côté, 2003). Im Review vom Issurin (2017) lassen sich vier der sieben wissenschaftlich am
2
Beispielhaft sei hier eine fiktive, wenn auch extreme Verteilung für das Finale über 1500m Kraul genannt, die
zur oben genannten durchschnittlichen Körpergröße von 1,88m führen würde: 1,80; 1,80; 1,80; 1,80; 1,80; 2,00;
2,00; 2,00. Der Median würde hier mit 1,80m den aussagekräftigeren Richtwert angeben.
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
20
besten abgesicherten Faktoren, die zu späterer sportlicher Exzellenz führten, der mentalen
Stärke zuschreiben (hohe Lernfähigkeit; außergewöhnliche Einstellung zum Training,
insbesondere Disziplin; Persönlichkeitseigenschaften, bspw. intrinsische Motivation; frühe
Aneignung mentaler Fähigkeiten, wie z.B. emotionale Stabilität und Selbstregulation). Die
Selbst-Motivation nimmt hierbei nochmal eine besonders wichtige Rolle ein. Der grundlegende
Zusammenhang zur Spitzenleistung ist einfach erklärt: Der Faktor, der sich als am
konsistentesten zur Trennung zwischen denen, die absolute Weltspitze erreichen und denen, die
das nicht tun, ist über die meisten Sportarten hinweg die aufsummierte Anzahl an
Trainingsstunden (z.B. Baker, Côté & Abernethy, 2003). Um das zu erreichen, benötigt man
enorm viel Motivation. Für das Schwimmen kommt erschwerend hinzu, dass eher Ansätze des
Deliberate Practice
3
erfolgversprechender scheinen (Issurin, 2017) und darum auch
konsequenterweise das Mittel der Wahl des DSV (für eine ausführliche Begründung siehe
Rudolph, 2015a). Gleichzeitig geht Deliberate Practice im Vergleich zu Deliberate Play aber
mit höheren Dropout-Raten aufgrund von Motivationsverlust einher (Fraser-Thomas, Côté &
Deakin, 2008; Wall & Côté, 2007). Da verwundert es nicht, dass auch Ruta Meilutyte in einer
Befragung die Motivation von allen ihr wichtig erscheinenden persönlichen Eigenschaften auf
dem Weg zur Weltelite auf Platz 1 setzte (Issurin & Zuozienė, 2015). Gerade vor dem
Hintergrund aktueller gesellschaftlicher Entwicklungen wird der mühsame, lange Weg eines
Spitzensportlers für heutige Jugendliche immer unattraktiver. „Das liegt nicht nur daran, dass
sie bereits im Schulalltag unter erheblichem Leistungsdruck stehen, sondern auch im Internet
neue Formen der Selbstdarstellung, der Selbstverwirklichung und des Wettkampfes finden, die
mit deutlich weniger Einschränkungen im Leben verbunden sind“ (A. Thiel et al., 2018, S. 15).
3
Man unterscheidet zwischen free play, deliberate play, structured practice und deliberate practice, wobei beim ersten Extrem
in frühen Jahren die Betonung auf vielfältigen und spielerischen Komponenten liegt und eine spätere Spezialisierung eine hohe
„Endleistung“ hervorbringen soll, wohingegen beim letzten Extrem eine beschleunigte Leistungsentwicklung durch frühzeitige
Spezialisierung angestrebt wird. Die Ziel- und Ergebnisorientierung nimmt somit von links nach rechts zu (Zibung &
Conzelmann, 2013).
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
21
Die Selbst-Motivationsfähigkeit wird darum an Prognoserelevanz für die Talentdiagnostik
wahrscheinlich noch weiter an Wert gewinnen - insbesondere im Schwimmsport.
(e) Leistungsauffälligkeit in Kindheit/Jugend. Auch wenn hier in den weiteren
Ausführungen in der Nachwuchskonzeption darauf eingegangen wird, dass dieses Kriterium im
Talentauswahlprozess nur mit Vorsicht zu berücksichtigen und sicherlich nicht eins zu eins
übertragen werden könne, so darf dessen prognostische Validität von den genannten Kriterien
zumindest am stärksten angezweifelt werden (vgl. Fraser-Thomas et al., 2008). Beispielsweise
konnten Vaeyens, Güllich, Warr und Philippaerts (2009) in ihrer Analyse der Top-10 mehrerer
Olympischer Spiele und Weltmeisterschaften zeigen, dass diese sich im Vergleich zu denen,
die „nur“ nationales Niveau erreicht hatten, unter anderem wie folgt unterschieden: die später
Erfolgreicheren spezialisierten sich später in einer Sportart, wurden erst in einem höheren Alter
in nationale Kaderprogramme aufgenommen, nahmen später an ersten internationalen
Wettkämpfen teil und feierten dementsprechend auch in einem höheren Alter ihre ersten
internationalen Erfolge. Da keine sportartenspezifische Auswertung vorgenommen wurde,
können jedoch keine direkten Rückschlüsse auf das Schwimmen gezogen werden. In einer
anderen Untersuchung zeigten Moesch, Elbe, Hauge und Wikman (2011), dass dänische
Spitzenathleten (die Mehrheit davon Schwimmer) signifikant weniger zur Junioren-
Nationalmannschaft gehörten als solche, die nicht bis in die Senioren-Nationalmannschaft
vordrangen. Allen und Kollegen (2014) halten deshalb fest: Die Ungewissheit hinsichtlich einer
Prognose aufgrund von juvenilen Leistungen ist im Schwimmen so groß, dass von einer
Verwendung von Richtwerten für Entwicklungsraten bei Frauen vor dem 14. und bei Männer
vor dem 16. Lebensjahr abzuraten ist.
Auch Rudolph (2018) analysierte frühe Erfolge anhand der Ergebnisse aller 45
Junioreneuropameisterschaften (JEM) seit 1967. Von den 211 deutschen Schwimmern und
Schwimmerinnen, die in den Einzeldisziplinen bei JEM Medaillen gewannen, gelangten 86,
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
22
also gut ein Drittel in die Nationalmannschaft der Senioren. Zwei Drittel schafften den Sprung
demnach nicht. Retrospektiv betrachtet hatten 58% aller deutschen Europameister,
Medaillengewinner bei Weltmeisterschaften und Olympischen Spielen an der JEM
teilgenommen. Gleichzeitig bedeuten die Ergebnisse aber auch: 42% der Sportlerinnen und
Sportler, also etwa die Hälfte, hatte daran nicht teilgenommen. Der logische Schluss Rudolphs,
dass JEM-Teilnahme eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung darstellt, ist auf
Basis dieser Studienlage darum nicht zulässig.
Eine kleine eigene Untersuchung zeigt auf, wie sich die sechs Führenden der ewigen
Deutschen Bestenliste über 200 Meter Lagen entwickelten (siehe Abbildung 2). Es fällt auf,
dass sich der als 11jähriger langsamste der sechs, Philip Heintz, mit einer solchen Zeit
heutzutage niemals für den Deutschen Jugendmehrkampf qualifiziert hätte (zum Vergleich: auf
Platz 100 steht heute, Anfang 2019, ein Schwimmer im Jahrgang 2008 mit 3:01,02). Heintz
entwickelte sich neben Jacob Heidtmann zudem auch am langsamsten, steht heute jedoch
auf Platz 1 der ewigen Bestenliste.
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
23
Es soll hier nicht auf die weiteren „Einzelschicksale“ eingegangen werden, sondern
lediglich festgehalten werden, dass bei diesen beiden Schwimmern selbst im Alter von 14
Jahren noch nicht wirklich klar war, wohin „die Reise“ gehen könnte. Wie gut also, dass man
beiden das nötige Vertrauen geschenkt und sie nicht vorzeitig aus dem Fördersystem aussortiert
hatte. Doch genau das passiert in Deutschland vermutlich tagtäglich viel zu häufig.
Nun hat dieser Blick auf die sechs deutschen Lagen-Schwimmer keine statistisch
besonders hohe Aussagekraft. Es gibt jedoch eine Untersuchung von Sokolovas (2006), die
deutlich umfangreicher ist. Sokolovas untersuchte hierfür die Top-100 des US-
Schwimmverbandes mehrerer Altersklassen bis zum Alter von 18 Jahren kam zu folgenden
eindrucksvollen Ergebnissen: (a) Nur ca. 10% der mit 18J erfolgreichen Sportler war bereits
zwischen 10 und 12 Jahren unter den Top-100; bei den 13-14J sind es ca. 30%, bei den 15-16J
ca. 50%. (b) Etwa die Hälfte der 18jährigen Top100-Schwimmer tauchten in jüngeren
Altersklassen in keiner Top100-Liste auf. Über die Gründe für diese und o.g. Ergebnisse lässt
sich größtenteils nur spekulieren. Die einzige mir bekannte Studie, die anhand von Interviews
mit sowohl noch aktiven als auch bereits ausgeschiedenen Nachwuchsschwimmern
nachzuvollziehen versucht, was zu einem vorzeitigen Ausscheiden führen kann, ist die von
Fraser-Thomas et al. (2008). Diese kann aber aufgrund der Größe der Stichprobe (10 Sportler
pro Gruppe) ebenso nur Hinweise zu den Gründen liefern wie einige eigene Überlegungen:
Allein statistisch betrachtet unterliegt das Steigerungspotential eines Schwimmers hin zum
potenziellen Weltrekord als quasi-natürliche Schranke einem begrenzten Wachstum. Das
bedeutet, je früher ein Sportler leistungsauffällig ist und somit näher an der quasi-natürlichen
Schranke, umso unwahrscheinlicher ist, dass er sich noch sehr stark steigern wird (vgl. auch
nochmal die Entwicklungen der sechs Schwimmer in Abbildung 2). Damit ist jedoch die
Entwicklungsrate als eines der drei zentralen Talentkriterien (Hohmann & Carl, 2002) ebenso
vermindert wie die Utilisation. Diese Sachlage konfundiert gleichzeitig mit der Psyche des
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
24
Schwimmers: Je besser er/sie ist, umso schwieriger und unwahrscheinlicher wird es, sich
weiterhin zu steigern, was auf Kosten der Motivation gehen kann. Er/sie muss mehr für weitere
Steigerungen tun, während gleichzeitig andere Sportler in gefühlt (aber statistisch einfach
erklärbaren) „großen Sprüngen“ näherkommen. Ob es darum so erfreulich ist, dass sich die
deutschen Rekorde gerade in den jüngeren Altersklassen in den letzten Jahren kontinuierlich
verbessert haben, wie Rudolph (2018) in einer Analyse der Leistungsentwicklung der
Altersklasse 12 männlich von 1991 bis 2017 feststellt, oder ob man sich dadurch selbst das
Schwimmer- und Trainerleben (unnötig) schwer macht, müsste anhand weiterer
Längsschnittstudien und Systemvergleichen mehrerer Schwimmnationen näher untersucht
werden.
Eineinhalb Stolpersteine. Dass die beiden Hauptprädiktoren der Leistung jugendlicher
Schwimmer, nämlich anthropometrische und kinematische Variablen sehr stark von der
biologischer Reife abhängen (Lätt et al., 2009), ist eine wichtige Ergänzung zu den bisherigen
Ausführungen. Hohmann und Seidel (2004) deuten das in ihrer Definition von Talent bereits
an, indem sie die Leistungsfähigkeit nur als valide einschätzbar halten, wenn gleichzeitig
sowohl das bereits realisierte Training als auch der biologische Entwicklungsstand sowie die
Lebensgewohnheiten berücksichtigt werden. Denn würden diese Faktoren nicht beachtet
werden, würde man viele vermeintliche Talente (falsche Positive) auswählen, die aber nur
deshalb gerade auffällig sind, weil sie körperlich sehr weit entwickelt sind oder bereits seit
frühester Kindheit spezifisch in der Sportart trainieren.
Auch Rudolph weist auf diesen Umstand hin, indem er schreibt: „Wer sportliche
Leistungen im Kindesalter als Auswahlkriterium nutzt, ohne dabei die Bedingungen ihres
Zustandekommens zu beachten, der handelt im Sinne der sportlichen Perspektive der Kinder
verantwortungslos. Die Wertung der Schwimmleistung sollte zumindest von Angaben zur
biologischen Entwicklung und zum Trainingsalter flankiert sein“ (Rudolph, 2011, S. 40).
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
25
Unter dem Trainingsalter wird dabei der Zeitraum vom Beginn des regelmäßigen
sportlichen Trainings bis zu einem gefragten Zeitpunkt verstanden (Rudolph, 2008); unter
biologischem Alter dagegen das durch die morphologische und funktionelle Entwicklung
bestimmte Alter. Letzteres kann individuell stark vom kalendarischen Alter abweichen
(Rudolph, 2008). Laut Studien unterscheidet sich das biologische vom kalendarischen Alter um
bis zu zwei Jahre. Haben wir also einen im Dezember geborenen 10jährigen Schwimmer in
unserer Trainingsgruppe, der auch noch biologisch spätentwickelt ist und einen im selben Jahr
im Januar geborenen, der zu den Frühentwicklern zählt, würden diese beiden Jungen sich bis
zu 5 Jahre (!) biologisch unterscheiden (Malina, Bouchard & Bar-Or, 2004). Die Unterschiede
im Trainingslager würden sich dann noch dazu addieren.
Dass sich das biologische Alter auf das Leistungsvermögen auswirkt, zeigt sich
beispielsweise daran, dass sich mehrheitlich biologisch weit entwickelte Schwimmerinnen und
Schwimmer für die JEM qualifizierten (Rudolph, 1996). Noch eindrücklicher ist die Tatsache,
dass 87 Prozent der Teilnehmer am Jugendmehrkampf in der ersten Jahreshälfte geboren sind
(Rudolph, 2011), während in Deutschland die Geburten über das Jahr annähernd gleich verteilt
sind und - so zumindest die Annahme - auch Talente übers Jahr hinweg gleich verteilt sein
müssten. Diese Tatsache, dass ein willkürlich festgelegtes Wettkampfklassedatum (im
Schwimmen geht eine Wettkampfklasse vom 1. Januar bis zum 31. Dezember eines Jahrgangs),
zu einer systematischen Benachteiligung der relativ Jüngeren gegenüber den relativ älteren
Sportlern führt, wird als Relative-Age-Effect (RAE) bezeichnet und konnte für viele Sportarten
nachgewiesen werden (für eine sportartenübergreifende Übersicht siehe z.B. Baker, Schorer &
Cobley, 2010; für eine schwimmspezifische siehe C. Thiel & Spitzenpfeil, 2014). Während der
offensichtliche Grund auf der Hand liegt, nämlich dass früher im Jahr Geborene sowohl vom
biologischen als auch vom Trainingsalter relativ „älter“ und somit körperlich reifer sind und
damit, je nach Altersklasse beispielsweise über 100m Freistil zwischen 4 Prozent (bei 9
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
26
Jährigen) und 8 Prozent (bei 11 und 12jährigen) schneller schwimmen (Neuloh, 2010), geben
die im Hintergrund ablaufenden und den Effekt verstärkenden Prozesse Anlass zu
Spekulationen. Hancock, Adler und Côté (2013) schlagen verschiedene, bereits erwähnte
psychologische Effekte vor. So sei der Matthäus-Effekt dafür verantwortlich, dass Eltern eher
früh im Jahr geborene Kinder zu Schwimmkursen anmelden (unter der Annahme, dass
Schwimmkurse die Kinder nach dem Alter auswählen) und diese Kinder damit einen Vorsprung
haben, auf den sie kumulativ aufbauen. Weiterhin könnte der so gewonnene Vorsprung im
Pygmalion- und Galatea-Effekt münden. Auch motivationale Faktoren könnten eine Rolle
spielen (Baker et al., 2010). Wer frühreif und/oder früh geboren ist und dadurch seinen Jahrgang
auf egal welcher Ebene dominiert, erhält Selbstbestätigung und den fürs Schwimmen so
wichtigen „Motivationsboost“ (Issurin, 2017; Vallerand, Deci & Ryan, 1987). Wer
spätentwickelt und/oder spät geboren ist, wird demotiviert und hört gegebenenfalls ganz auf
(Barnsley & Thompson, 1988), gerade in einem Alter, in dem man beispielsweise beim
Übergang auf die weiterführende Schule seine Interessen nochmal überdenkt (K Kojima &
Stager, 2010). Darüber hinaus konnte zumindest im französischen Fußball nachgewiesen
werden, dass früh im Jahr Geborene bereits bei den aller jüngsten Altersklassen
überrepräsentiert waren (Delorme, Boiché & Raspaud, 2010). Der RAE wäre demnach
allerdings nichts anderes als ein statistisches Artefakt. Unter statistischer Kontrolle der
ursprünglichen Geburtenverteilung konnten Buhre und Tschernij (2018) interessanterweise
dann auch keinen RAE im Schwedischen Schwimmverband finden.
Darüber hinaus gibt es mittlerweile Befunde, dass sich der RAE im Laufe der Jahrgänge
zumindest aufheben oder womöglich sogar umkehren und zu einem sogenannten Flip-Flop-
Effekt werden könnte (C. Thiel & Spitzenpfeil, 2014). Was beispielsweise dann der Fall sein
könnte, wenn relativ jüngere Sportler mehr Motivation und „Durchbeißer“-Mentalität
entwickeln, die relativ älteren einzuholen und später, sobald die körperliche Entwicklung
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
27
abgeschlossen und sie ihren reifebedingten Leistungsnachteil ausgeglichen haben, von dieser
Extra-Motivation oder dem erlernten Umgang mit Niederlagen zehren (Schorer, Baker, Cobley
& Büsch, 2009). Allerdings ist die Befundlage, ob es diesen Effekt im DSV gibt, noch unklar.
So ergab die Analyse von Neuloh (2010) keine signifikante Abnahme der Schwimmleistung
über 100m Freistil der 17- und 18-Jährigen. Darüber hinaus konnte der Autor nachweisen, dass
die Geburtenraten der Finalteilnehmer der Weltmeisterschaften in Rom 2009 über das Jahr
hinweg gleich verteilt waren. In Übereinstimmung damit zeigt sich im Australischen
Schwimmverband eine Abnahme des RAE bis zum 15. Lebensjahr und im Anschluss gar eine
Umkehrung mit einer Überrepräsentation relativ jüngerer Sportler (Cobley et al., 2018),
während eine aktuelle Analyse im Deutschen Schwimmverband wiederum den RAE auch noch
bis ins hohe Jugendalter nachweisen kann (Staub, Mundelsee & Vogt, 2019). Unbestritten
bleibt jedoch, dass der RAE in Deutschland aktuell in jungen Jahrgängen vorhanden ist und
dem Ziel einer möglichst validen Talentauswahl entgegenläuft.
Zwischenfazit und kritische Würdigung der aktuellen Praxis
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die drei von Hohmann und Carl (2002)
identifizierten Hauptkriterien der Talentprognose (Entwicklungsrate, Belastbarkeit und
Utilisation) speziell im Schwimmen um mentale Faktoren, die Körpergröße sowie Indikatoren
für Schwimmeffizienz empirisch abgesichert ergänzt werden können. Laut
Nachwuchskonzeption sollte dabei jedoch auch zwingend die körperliche Reife und das
Trainingsalter berücksichtigt werden. Wie genau, das verschweigt uns die Konzeption leider.
Womöglich, weil es schwierig ist, im Training oder auf Wettkämpfen darauf einzugehen.
Zusätzlich sollte eine klare Handhabe des RAE entwickelt werden, auch wenn noch zu
klären bleibt, ob der Effekt in Deutschland bereits von Anfang an vorherrscht wie in Schweden
und sich dann durch die Jahrgänge durchzieht oder aber doch entsteht, obwohl die Geburtsraten
beim Einstieg gleich verteilt sind. Aus Platzgründen sei hier nur kurz skizziert, welche Ideen
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
28
bereits entwickelt wurden, um den RAE zu beseitigen oder zumindest zu minimieren (für eine
Übersicht siehe Grandjean & Romann, 2015). So schlagen Barnsley und Thompson (1988) vor,
eine Gleichverteilung der Geburtsmonate (Quoten) bei der Kaderzusammenstellung
einzuführen, während Boucher und Halliwell (1991) zu einer Verkürzung der künstlichen
Altersklassen von 12 auf 9 Monaten raten (im Anhang 1 ist ein solches System beispielhaft auf
den Jugendmehrkampf übertragen). Zur Komplexität des RAE kommt hinzu, dass die reine
Körpergröße sowohl als Indikator für die körperliche Reife, als auch als Kriterium für Talent
zählen kann. Im Sinne einer validen Talentauswahl brauchen wir zumindest prognostisch große
Schwimmer. Da sollten wir es vermeiden, diese ungerechtfertigt zu benachteiligen, was
passieren rde, wenn man sie - wie einige Autoren vorschlagen - auf Wettkämpfen nach
Körpergröße oder Gewichtsklassen einteilt (Musch & Grondin, 2001). Neuloh (2010) könnte
sich sowohl vorstellen, geburtstagsabhängige Pflichtzeiten einzuführen sowie die Wertung auf
Wettkämpfen variabel anhand rollierender Stichtage (Stichtag könnte z.B. der Tag vor dem
Wettkampf sein) zu gestalten. Dagegen hält Wattie (2013) nichts von komplizierten
(statistischen) Regelungen und hält es stattdessen für wichtiger, gegen die von ihm
ausgemachten Hauptursachen (bspw. die genannten psychologischen Prozesse) des RAE
anzukämpfen. Dass das Alter im Jugendmehrkampf nun um ein Jahr vorverlegt wurde,
entspricht genau dem Gegenteil dessen, was C. Thiel und Spitzenpfeil (2014) vorschlagen. Mit
Verweis auf den Wettbewerbsdruck, der durch ein frühes Einstiegsalter gepaart mit
Wettkämpfen im Kindesalter entsteht, „dem relativ ältere Sportler durch ihre fortgeschrittene
Reifung besser entgegentreten können“ (S. 54), sollte die Wettkampfstruktur „weg von einem
Hauptwettkampf am Ende der Saison zu einer Serie von über die gesamte Saison verteilten,
wichtigen Wettkämpfen geändert werden (S. 55). Damit würde man gleich zwei Fliegen mit
einer Klappe schlagen, da die Forderung nach mehr Vorläufen und Finals bereits in jungen
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
29
Jahren als Vorbereitung auf internationale Wettkämpfe erfüllt wäre (ein Hauptargument der
Vorverlegung der Altersklassen beim JMK).
Urteilsmodelle der Talentauswahl im DSV
Wettkämpfe und Trainingspraxis sind nur zwei Formen, bei denen Talentauswahl
stattfindet und auch eher nebenbei. Eine explizitere Form der Talentauswahl stellt der
Landesvielseitigkeitstest (LVT) dar. Zwar ermittelt dieser laut Nachwuchskonzeption eher die
Eignung des Kindes und nicht das Talent (Rudolph, 2015b). Im aktuellen Test-Manual
(Altmann, 2017) wird er jedoch beschrieben als „Test zur allgemeinen Einschätzung der
sportlichen und körperlichen Eignung für das Schwimmen sowie zur Überprüfung des
Ausbildungsstandes von leistungsbestimmenden Faktoren. Ziel des LVT ist es, eine Hilfe für
die Entscheidung über eine Förderung beziehungsweise die weitere Laufbahn der Schwimmer
zu bieten“ (S. 43). Im Sinne der Definitionen ist der LVT demnach sowohl ein Instrument zur
Talentprognose, aber auch zur Talentauswahl (es gibt eine Empfehlung des DSV an die
Landesverbände, den LVT als D-Kaderkriterium einzusetzen). Abgetestet werden die
folgenden acht Bereiche: (a) Körperliche Eignung (Gewicht, Körperhöhe, Sitzhöhe,
Armspannweite, Körperbau); (b) Grundschnelligkeit (15m-Sprints in allen vier
Schwimmarten); (c) Beinbewegung (25m-Sprints in allen vier Schwimmarten); (d)
Schwimmleistung (je nach Altersbereich 50m bis 1500m-Strecken); (e) Athletik (Liegestütze,
Schlussdreisprung, Klimmzüge, Bauchmuskeltest, Rückenmuskeltest); (f) Beweglichkeit
(Fußstreckung, Fußbeugung, Schulterbeweglichkeit, Rumpfbeugen); (g) Schwimmtechnik in
allen vier Schwimmarten und (h) Delfinbeinbewegung (15m-Sprints in Bauchlage und
Rückenlage) sowie Gleiten (7,5m in Bauchlage).
Die meisten Tests werden anhand von wissenschaftlichen Erkenntnissen begründet
(Ausnahmen sind bspw. die Grundschnelligkeit, das Gleiten und die Delfinbeinbewegung) und
die Durchführung ausführlich und konkret genug beschrieben, um eine möglichst hohe
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
30
Durchführungsobjektivität und -reliabilität zu ermöglichen. Die Gewichtung der so
gewonnenen Daten erfolgt nach einem genauen Schema (die Technikbewertung und die
Beinbewegung fließen mit 24 möglichen Punkten am stärksten ein, die körperliche Eignung
mit maximal 6 Punkten am schwächsten).
Zwischenfazit und kritische Würdigung der aktuellen Praxis
Der aktuelle LVT stellt ein umfassendes und zu großen Teilen wissenschaftlich
fundiertes Urteilsmodell dar. Die empirische Begründung für die drei genannten Teilbereiche
sollte ergänzt werden. Ebenso bleibt die prognostische Validität einiger Merkmale unklar, hier
insbesondere die Kriterien zur Technikbewertung, die Beweglichkeit und die
Grundschnelligkeit (ohne gleichzeitige Technikkontrolle). Darüber hinaus ist fraglich, warum
weder die Belastungsverträglichkeit noch die Trainierbarkeit oder die mentale Stärke erfasst
werden, obwohl diese doch drei zentrale Talentprognose-Kriterien darstellen. Für die mentale
Stärke könnten einfach durchführbare, gut validierte Fragebögen zum Einsatz kommen, wie sie
Stoll und Mempel (2016) verwenden. Die Belastungsverträglichkeit könnte anhand eines Tests
überprüft und von Heimtrainern eingeschätzt werden. Die Trainierbarkeit bzw.
Entwicklungsrate könnte sich aus bisherigen LVT-Testergebnissen und Wettkampfergebnissen
zusammensetzen.
Weiterhin gibt das Manual keinen Aufschluss darüber, inwieweit die Faktoren
tatsächlich so gewichtet einfließen und wie mit möglichen Konfundierungen umgegangen wird,
hier insbesondere die mit der Körperhöhe. Mit Ausnahme der Athletik und der Beweglichkeit
korrelieren sämtliche Untertests des LVT mit der Körperhöhe (Altmann & Sperling, 2013) und
zwar überwiegend im mittleren Bereich (r = 0,4 bis 0,7). Diese Korrelationswerte bedeuten
statistisch gesehen nichts anderes, als dass 16 bis 49 Prozent der LVT-Teilergebnisse auf die
Körperhöhe zurückzuführen sind. Da verwundert es nicht, dass Altmann und Sperling (2013)
auch einen Relative-Age-Effect nachweisen können (zumindest nach altem Wertungsschema).
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Talentauswahl im Schwimmen
31
Genaue Zuordnungen zu den Teilleistungen des LVT nennen die Autoren nicht. So bleibt
unklar, wie viel Prozent der Gesamtleistung von der Körpergröße abhängt.
SwissOlympic hat mit der PISTE (Fuchslocher et al., 2011) ein ähnliches Urteilsmodell
wie das des LVT. Um der Konfundierung mit der körperlichen Reife entgegenzuwirken,
werden darin alle Beurteilungskriterien, die von der biologischen Reifen abhängen, mit einem
Korrekturfaktor multipliziert. Auch für den LVT böte sich ein solches Vorgehen an. Allerdings
sei nochmals betont, dass es, bei allen Bemühungen, Fairness herzustellen, nicht passieren darf,
dass körperlich normal entwickelte, aber besonders große Sportler systematisch benachteiligt
werden. Eine Möglichkeit wäre, die biologische Reife sowie die mögliche Körpergröße mittels
statistischer Verfahren abzuschätzen und im Anschluss aus den übrigen Daten rauszurechnen.
Ein weiterer Vorteil der PISTE gegenüber dem LVT ist, dass es mit der Leistungsentwicklung
ein Längsschnittkriterium gibt. Das heißt, es wird nicht nur auf den aktuellen Stand geschaut,
sondern auch Punkte für die bisherige Entwicklung vergeben.
Im LVT-Manual selbst wird eine wissenschaftlich abgesicherte und recht einfache
Möglichkeit vorgeschlagen. Sie stammt von Sherar, Mirwald, Baxter-Jones und Thomis (2005)
und errechnet aus der aktuellen Körperhöhe, der Sitzhöhe, dem Gewicht und dem aktuellen
Alter (auf den Tag genau) die prognostizierte zukünftige Körpergröße sowie, davon ausgehend,
die aktuelle ungefähre biologische Reife (die Autoren bieten im Internet sogar ein Tool an, mit
dem sich diese beiden Vorhersagen anhand der genannten Kennwerten durchführen lassen)
4
.
Es konnte jedoch nicht festgestellt werden, ob die LVT-Datenbank diese Berechnung auch
tatsächlich durchführt.
Dass es sich lohnt, auch komplexere statistische Modellierungen anzuwenden, konnten
Hohmann und Seidel (2010) an einer Stichprobe einiger hundert Nachwuchsschwimmer der
Sportschulen Magdeburgs mittels eines nicht-linearen statistischen Verfahrens (der sog. Fuzzy-
4
Siehe: https://www.usask.ca/kin-growthutility/ahp_ui.php
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Diskussion
32
Logik) nachweisen. So stieg die korrekte Vorhersage der Leistungen im Erwachsenenalter auf
Basis einiger im Jugendalter erhobener Kennziffern (z.B. Motivation, Schulterbeweglichkeit
usw.) bei Frauen von 69 auf 88 Prozent und bei Männern von 50 auf 68 Prozent.
DISKUSSION
Vor dem Hintergrund aktueller gesellschaftlicher und politischer Entwicklungen (OSP-
Deutschland, 2013; A. Thiel et al., 2018), ist der „Kampf um mögliche Talente“ für den DSV
herausfordernder denn je (Rudolph, 2015b). Gerade weil mögliche (wirklich) talentierte
Athleten durch die unpassende Auffassung von Talent oft übersehen werden (Abbott et al.,
2002), erschien es umso wichtiger, sich mit dem aktuellen Stand der Talentforschung zu
beschäftigen. Die vorliegende Arbeit stellte darum zunächst einige Grundlagen der
Talentauswahl vor, erweiterte zentrale Aspekte um die Besonderheiten im (deutschen)
Schwimmsport und verglich anschließend die aktuell gängige Praxis mit Erkenntnissen aus der
Forschung.
Vor dem Hintergrund, dass Olympiasieger im Schwimmen immer älter werden (Allen
et al., 2014; König et al., 2014; Madge, 2016a), kann und sollte sich der Deutsche
Schwimmerband es sich nicht leisten, zu viele Talente bereits im frühesten Auswahlprozess zu
verlieren. Es gilt, wie dargestellt, zu hinterfragen,
(a) inwieweit bereits zu Beginn mit Eintritt in den Schwimmverband die Geburtsraten
über das Jahr hinweg nicht normalverteilt sind;
(b) wie sichergestellt werden kann, dass möglichst viele tatsächliche Talente (aber
möglicherweise als nicht-talentierte diagnostizierte) im System bleiben und wie
deren Motivation aufrechterhalten werden kann;
(c) welche Kriterien der Talentauswahl sich als prognostisch valide erweisen, sofern sie
noch nicht empirisch abgesichert sind (z.B. das Wassergefühl);
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Diskussion
33
(d) wie die dadurch gewonnen validen Kriterien noch stärker in die Talentdiagnose und
-prognose einfließen können (z.B. die mentale Stärke)
(e) gleichzeitig aber auch, welche Kriterien als nicht valide zurückgewiesen werden
sollten und dies von Seiten des DSV auch klar so kommuniziert wird;
(f) warum andere Nationen keinen Relative-Age-Effect oder zumindest eine
Abschwächung nach der Pubertät aufweisen;
(g) wie es sich bewerkstelligen lässt, dass Spätentwickler und auch spät im Jahr
Geborene nicht systematisch sowohl im Wettkampfsystem des DSV, als auch im
Sichtungssystem (z.B. im LVT) benachteiligt werden;
(h) ob das Ziel, gerade Mädchen früher an das System der Vorläufe und Finals zu
gewöhnen, es rechtfertigt, den Altersbereich der Jugendmehrkämpfe für beide
Geschlechter vorzuziehen;
(i) und ob mehrere Hauptwettkämpfe inklusive Vorläufe und Finals ähnlich einer Liga
in einer Saison mit unterschiedlichen Wertungsklassen nicht mehrere Fliegen mit
einer Klappe schlagen könnte.
Kommt es durch einige dieser Überlegungen und Veränderungen im Talentesystem des
DSV schließlich zu einem größeren Talente-Pool, sind die Weichen für ein erfolgreicheres
Abschneiden auf internationalem Niveau damit natürlich noch nicht vollständig gestellt. Wie
Hannes Vitense, neuer Teamcoach im DSV, kürzlich in einem Interview mit swimsportnews
klarstellte, gibt es auch später im langfristigen Leistungsaufbau noch einige „Baustellen“: „Im
Übergang vom Juniorenbereich hin zu den Erwachsenen brechen mitunter ganze Generationen
von Talenten weg“ (Vitense, 2019). Aber auch da gibt es Ideen, wie beispielsweise das
kanadische Track-System, auf das Vitense verweist. Bei diesem wurden mittels
Regressionsanalysen drei mögliche Entwicklungspfade inklusive zughörigen Pflichtzeiten
dargestellt, anhand derer sich Wertungsklassen auf Wettkämpfen einteilen ließen.
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Diskussion
34
Nun kann man solchen Überlegungen, aber auch der Modellierung mittels Fuzzy-Logik
(Hohmann & Seidel, 2010) oder Regressionsanalysen mit der körperlichen Reife und der
prognostizierten finalen Körperhöhe als Moderatoren „Zahlenvergewaltigung“ vorwerfen
(Rudolph, 2011). Allerdings stellt sich die Frage: Welche validen, reliablen und objektiven
Alternativen gibt es? Und welche davon sind ökonomisch anwendbar?
Wenn das Ziel ist, möglichst wenige tatsächliche Talente auf dem Weg zur Weltspitze
zu verlieren, müssen wir wohl oder übel das Risiko eingehen, lieber zu viele zu fördern, als zu
wenige und möglichst faire Bedingungen schaffen. Dass das mit finanziellem Aufwand
verbunden sein könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Allerdings lässt sich auch zeigen,
dass es einen linearen Zusammenhang zwischen den aufgewendeten finanziellen Mitteln eines
Sportverbandes und der Anzahl olympischer Medaillen gibt (Hogan & Norton, 2000).
Abschließend müssen wir uns im Deutschen Schwimmerband - Trainer, wie
Funktionäre - vermutlich vor allem eine Frage stellen: Mit welcher Altersgruppe wollen wir im
internationalen Vergleich eigentlich besonders erfolgreich sein?
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Literatur
35
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Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Anhang 1
39
ANHANG 1
Da “das Wettkampfsystem letztlich die Ziele, Inhalte, Methoden und Gestaltung des
Trainings“ (Löcken & Ziegler, 1991, S. 16) bestimmt, könnte genau darin ein Ansatz liegen,
den RAE zumindest zu reduzieren. Bereits Boucher und Halliwell (1991) schlagen hierzu das
Novem-System vor. Hierbei werden die Altersklassen nicht mehr auf Basis von 12 Monaten,
sondern von 9 Monaten eingeteilt.
Die aktuelle Praxis des Jugendmehrkampfs könnte dahingehend verändert werden, dass
wieder zwei Jahrgänge in Folge (Mädchen 11-12 Jahre, Jungs 12-13 Jahre) daran teilnehmen
und in einer von drei 8-Monats-Wertungen starten (siehe Tabelle 2). Dadurch würden die
Konkurrenten im ersten Jahr andere sein als im zweiten Jahr.
Tabelle 2
Drei mögliche Wertungen im Jugendmehrkampf im Jahr 2019 und drei Beispiel-Schwimmer
aus dem Jahrgang 2008 sowie deren Zuordnung zur entsprechenden Wertung in Abhängigkeit
des Jahres.
JMK 2019
Bsp. Geb. am
01. Januar
2008
Bsp. Geb. am
01. August
2008
Bsp. Geb. am
31. Dezember
2008
Wertung
1
Geb. Mai 2009
bis Dezember
2009
Teilnahme
2019
Teilnahme
2019
Wertung
2
Geb.
September
2008 bis April
2009
Teilnahme
2019
Teilnahme
2020
Wertung
3
Geb. Januar
2008 bis
August 2008
Teilnahme
2020
Teilnahme
2020
Frühe Auffälligkeit macht noch keine Sieger
Plagiatserklärung
40
PLAGIATSERKLÄRUNG
Hiermit erkläre ich, dass ich die vorliegende Hausarbeit selbständig verfasst und keine
anderen als die angegebenen Hilfsmittel benutzt habe.
Die Stellen der Hausarbeit, die anderen Quellen im Wortlaut oder dem Sinn nach
entnommen wurden, sind durch Angaben der Herkunft kenntlich gemacht. Dies gilt auch für
Zeichnungen, Skizzen, bildliche Darstellungen sowie für Quellen aus dem Internet
Der Autor stellt seinen Beitrag honorarfrei zur Verfügung.
Erfurt, 13.08.2019
Lukas Mundelsee
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Article
Full-text available
The phenomena of relative age effect (RAE) has been investigated thoroughly in the sport and school settings. However, different measures and research designs have been applied in the various settings. At the same time different constructs, such as sampling, participation, and performance have been investigated in separate studies. Most interpretations have been done in a de-contextualized manner. That is, results have not been interpreted based on the functioning of the age-grouping system over time, but rather on a general level of grouping individuals based on chronological age. The purpose of this study was to investigate the occurrence of RAE in sampling, competitive participation, and selection for national competition in the Swedish age-group swimming system based on a thorough understanding of the specific impacts of age and gender of this system over time. Results show that there is inconclusive evidence suggesting that RAE occurs due to the age-grouping system in Swedish swimming. The system does not create a bias based on either relative age difference or gender. Based on this study and future suggestions the continued research on RAE should be expanded to include longitudinal studies following specific age by gender groups over time. In addition, measures of performance and criteria of selection should be investigated in order to draw conclusions if systematic discrimination is embedded within a specific country and sport age-grouping system in favor of athletes that could be attributed to a relative age.
Article
Full-text available
Extensive findings related to nature and nurture in determining athletic talent (AT) have been reviewed. Available data demonstrate the important contribution of hereditary factors as well as the crucial importance of environmental prerequisites for identifying and developing AT. Recent publications provide examples of contemporary approaches intended to solve the problem of how to discover and nurture AT. A number of cross-sectional and longitudinal studies highlighted possibilities of revealing a predisposition to certain sports among youthful prospects, but were unable to predict attainment of world-class status. Data pertaining to Olympic champions indicate that their superiority compared with other elite athletes is determined by high intrinsic motivation, determination, dedication, persistence, and creativity. These salient manifestations of personality could be successfully recognized even in the initial stages of their preparation, where exceptionally gifted individuals manifested high learnability and a high rate of athletic improvement. Moreover, future champions were characterized by an exceptional attitude to training and a willingness to perform more voluminous and high-quality training routines. Exceptionally talented athletes in endurance, power, and combat sports attained world-class status after 4-7 years of specialized preparation, accumulating 3000-7000 h of purposeful training. This stands in contradiction to Ericsson's theory of deliberate practice and the 10-year rule. In contrast, Olympic artistic gymnastics champions attained world-class status following an average of 9.7 years of specialized preparation, accumulating an average of 8918 h of specialized training. Apparently, the theory of 10,000 h of deliberate practice and the 10-year rule are selectively applicable to highly coordinative esthetic sports but not to general preparation trends in endurance, power, and combat sports.
Technical Report
Full-text available
Durch die Einteilung in Alterskategorien kommt es im Kindes-und Juniorenalter zu relativen Altersunterschieden unter Schwimmerinnen und Schwimmern. So hat ein Schwimmer, der kurz nach dem Stichtag geboren ist (Januar), im Vergleich zu einem Schwimmer, der spät im Selektionsjahr geboren ist (Dezember), einen entscheidenden Entwicklungs-und Leistungsvorteil. Die Folgen, die sich daraus ergeben bezeichnet man als " Relative Age Effect " (RAE). Durch den RAE gehen im Schweizer Nachwuchsschwimmsport viele Talente verloren und die Chance in ein Förderprogramm aufgenommen zu werden, ist nicht für alle Schwimmer gleich gross. Der RAE beginnt schon bei der Beteiligung am Schwimmsport generell. Eine Analyse aller J+S Teilnehmer im Schwimmen zeigt, dass bei den im vierten Quartal geborenen Jungen, im Vergleich zu jenen, die im ersten Quartal sind, bereits rund 147 Schwimmer weniger am organisierten Schwimmsport teilnehmen. Werden nur die Teilnehmer der J+S Nachwuchsförderung analysiert, so ist ein Rückgang von 30.1% von den Januar bis März (1. Quartal) geborenen auf 20.3% zu den Oktober bis Dezember (4. Quartal) geborenen festzustellen, welcher jedoch nicht signifikant ist. Auch bei den PISTE-Testteilnehmenden aus den Jahren 2009-2015 ist ein Rückgang der Teilnehmer vom ersten zum letzten Quartal festzustellen, welcher bis auf die Jahre 2011 und 2015 statistisch hoch signifikant ist. Durch Selektionen wird der RAE weiter verstärkt. Der starke RAE verdeutlicht, dass teilweise «falsche Talente» aufgrund von aktuellen Leistungsvorteilen gefördert werden und «echte Talente» aufgrund ihrer momentanen körperlichen Nachteile nicht gefördert werden. Zudem zeigt sich, dass keine Chancengleichheit bei der Selektion besteht. Je früher ein Schwimmer im Jahr geboren ist, desto höher ist seine Chance in einer Auswahlmannschaft zu schwimmen. Da der RAE bereits im Kinderschwimmsport entsteht, wäre es daher sinnvoll dem RAE schon hier durch strukturelle Änderungen entgegenzuwirken. Die Kidsliga ist daher als Ausbildungswettkampf sicherlich ein wichtiges Instrument, damit alle die gleichen Chancen auf eine Teilnahme an einem kindgerechten Wettkampf haben. Dennoch wird im Schwimmsport bei Selektionen wohl die momentane Leistung noch zu stark mitbeurteilt.
Book
Cognitive Illusions (3rd, revised ed.) explores a wide range of fascinating psychological effects in the way we think, judge and remember in our everyday lives. In this volume, Rüdiger F. Pohl brings together leading international researchers to define what cognitive illusions are and discuss their theoretical status: are such illusions proof of a faulty human information-processing system, or do they only represent by-products of otherwise adaptive cognitive mechanisms? The book describes and discusses 26 different cognitive illusions, with each chapter giving a profound overview of the respective empirical research including potential explanations, individual differences, and relevant applied perspectives. This edition has been thoroughly updated throughout, featuring new chapters on metacognition, and how we respond to fake news, along with detailed descriptions of experiments that can be used as classroom demonstration in every chapter. Demonstrating just how diverse cognitive illusions can be, it is a must read for all students and researchers of cognitive illusions, specifically, those focusing on thinking, reasoning, decision-making, and memory.
Presentation
Relatively older athletes, who were born in the first two quartiles of a year, have an increased probability of being selected and exposed to a higher level of coaching, training and other talent-promoting factors. Therefore, it is considered as one of the errors within the process of talent identification (Wattie, Schorer & Baker, 2015). Research has conceded the prevalence of the relative age effect (RAE) across various sports, e.g. reports on Australian age group swimmers showing consistent RAE for male and female athletes until 15 and 14 years of age (yoa). The effect diminishes at 16 years and turns inverse at 17-18 years of age (Cobley et al., 2017). This investigation determines a magnitude and transient pattern of the RAE according to sex and stroke across German age group swimming. Methods RAE was examined in German top-100 age group rankings (2004-2013) including birth months of three cohorts (born 1995-1993; n=3630) for the age groups 11-18. Chi-Square tests and Cramer’s V estimated effect sizes, Odd’s ratios (OR) and Confidence Intervals (CI, 95%) calculated relative quartile discrepancies. These steps were applied across age groups and according to sex and stroke. Results The RAE is significantly present over all strokes for female swimmers until 17 yoa and for male swimmers until 18 yoa. Effect sizes were medium until 12 yoa for girls and 15 yoa for boys. No inverted effects were visible until 18 yoa. Discussion Compared to previous reports on an Australian cohort, the RAE was prevalent over a longer time period. Therefore, the impact of negative outcomes from RAE appears larger with respect to a similar cohort from Australia. These findings will be discussed, ranging from a less permeable talent detection system in Germany to potentially biased decisions in talent selections by different peers (Hancock, Adler & Côté, 2013). References Cobley, S., Abbott, S., Dogramaci, S., Kable, A., Salter, J., Hintermann, M., & Romann, M. (2017). Transient Relative Age Effects across annual age groups in National level Australian Swimming. Journal of Science and Medicine in Sport, 21(8), 839-845. Hancock, D. J., Adler, A. L. & Côté, J. (2013). A proposed theoretical model to explain relative age effects in sport. European journal of sport science, 13(6), 630-637. Wattie, N., Schorer, J. & Baker, J. (2015). The relative age effect in sport: A developmental systems model. Sports Medicine, 45(1), 83-94.
Article
Objectives: To determine the prevalence, magnitude and transient patterning of Relative Age Effects (RAEs) according to sex and stroke event across all age-groups at the Australian National age swimming Championships. Design: Repeated years of cross-sectional participation data were examined. Methods: Participants were 6014 unique male (3185) and female (2829) swimmers (aged 12-18 years) who participated in Freestyle (50, 400m) and/or Breaststroke (100, 200m) at the National age swimming Championships between 2000-2014 (inclusive). RAE prevalence, magnitude and transience were determined using Chi-square tests and Cramer's V estimates for effect size. Odds Ratios (OR) and 95% Confidence Intervals (CI) examined relative age quartile discrepancies. These steps were applied across age-groups and according to sex and each stroke event. Results: Consistent RAEs with large-medium effect sizes were evident for males at 12-15 years of age respectively, and with large-medium effects for females at 12-14 respectively across all four swimming strokes. RAE magnitude then consistently reduced with age across strokes (e.g., Q1 vs. Q4 OR range 16year old males=0.94-1.20; females=0.68-1.41). With few exceptions, by 15-16 years RAEs had typically dissipated; and by 17-18 years, descriptive and significant inverse RAEs emerged, reflecting overrepresentation of relatively younger swimmers. Conclusions: Performance advantages associated with relative age (and thereby likely growth and maturation) are transient. Greater consideration of transient performance and participation in athlete development systems is necessary. This may include revising the emphasis of sport programmes according to developmental stages and delaying forms of athlete selection to improve validity.