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Was vermögen Ästhetik und ästhetische Bildung in Anbetracht einer Ästhetisierung der Bildung? (Script des Redners)

Authors:
Was vermögen Ästhetik und ästhetische Bildung
in Anbetracht einer Ästhetisierung der Bildung?
Das Script des Redners
Joachim Bröcher
Vortrag zur 44. Arbeitstagung
der Dozent/innen der Sonderpädagogik
deutschsprachiger Länder
`Ästhetisierung der Sonderpädagogik´.
Hochschule für Heilpädagogik Zürich und
Institut für Sonderpädagogik der Universität Zürich
Zürich 7.-9. September 2007
Einführung:
Ästhetik, ästhetische Bildung, Ästhetisierung
Wie viele Lesarten von Ästhetisierung sind denkbar? Beginnen wir mit der af-
firmativen, die seit der Renaissance existiert, im Sinne einer Verschönerung der
Lebensumwelt, auf allen Ebenen, von der Architektur über die Kleidung bis hin
zu der Art und Weise, wie Bilder und Musik produziert wurden. Vasari schuf
eine helle, lichte und freundliche Architektur, in Abgrenzung zur dunklen Gotik.
Auch die Formen des Tanzes wurden fröhlicher und lockerer. In der Malerei
wurden neben religiösen zunehmend auch weltliche Themen dargestellt. Über-
tragen auf Pädagogik und Sonderpädagogik bedeutet dies zunächst, dass eine
Verschönerung der in der Vergangenheit oftmals trostlosen Welten am Rande
des Bildungssystems doch etwas Wünschenswertes sein könnte (?)
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Solche Verbesserungen reichen von einer kreativeren, stimulierenderen, ab-
wechslungsreicheren materiellen Ausstattung der Lernumgebung
bis hin zu verfeinerten Formen der pädagogischen Beziehungsgestaltung, der
Kommunikation oder einem fröhlicheren, kindgerechteren Lernprogramm, ei-
nem bunteren Schulleben, wie es in der Zeit der Reformpädagogik zum Tragen
kam. Fröhlichkeit, Farbigkeit...
Ästhetisierung ist daher zunächst einmal Farbigkeit und damit schön.
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Immerhin gab es in der Geschichte der Pädagogik genug Düsternis, Strenge und
Einförmigkeit oder „rationalistische Verknöcherung“, wie es in der Beschrei-
bung des Tagungsthemas heißt.
Eine Lesart von Ästhetisierung in Pädagogik und Sonderpädagogik könnte also
die Spaß- und Erlebnisorientierung (vgl. G. Schulze 1993), die Unterhaltung etc.
sein
kritisch gewendet als: wahllose Buntheit, Eklektizismus, Beliebigkeit oder Ver-
flachung.
Denkbar wäre auch eine dritte Lesart von Ästhetisierung,
nämlich als ein Hineinbringen von Beweglichkeit, Veränderung, Leichtigkeit in
überkommene, verkrustete Strukturen.
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Im folgenden soll nun ein kleiner Streifzug durch die Kunst unternommen wer-
den, angelehnt an einige Thesen, um zu sehen was uns die Künste im Hinblick
auf derart verstandene Ästhetisierungsprozesse widerspiegeln, was sie der ge-
danklichen Reflexion und diskursiven Bearbeitung zugänglich machen, was sie
hinterfragen, wozu sie anregen.
Betrachten wir etwa die Verlangsamung und die Spiritualität in Andrej Tar-
kowskijs Filmen, die flickernden Videobilder der Pipilotti Rist
die archaischen Figurationen von A.R. Penck,
von denen aus sich Parallelen zu manchen Bildgestaltungen von Förderschülern
ziehen lassen,
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oder die mythologisch inspirierten Blut-Orgien des Hermann Nitsch
die eine Wesensverwandtschaft mit einer bestimmten Sparte von in Coaching-
Sitzungen entstandenen Leidensbildern von Lehrkräften aus der Sonderpädago-
gik aufzuweisen scheinen. Diese leiden einerseits unter den Verhaltensweisen
ihrer Klientel, noch mehr jedoch unter abträglichen strukturellen und schul-
kulturellen Rahmenbedingungen.
Bevor also „Strukturen und Prozesse“ durch die Sonderpädagogik „optimiert“
werden können, wie im Call for Papers angedeutet, müssen diese erst einmal in
Frage gestellt werden.
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Allein dabei kann die Kunst schon von Nutzen sein, indem sie die Wahrneh-
mung schärft.
Ästhetik kann natürlich genauso Zudecken wie Aufdecken, Verschleiern wie
Verhüllen. Alle Mächte, Systeme und Ideologien dieser Welt haben es noch ver-
standen, die Kunst zu instrumentalisieren, in Dienst zu nehmen, wodurch ihr
Wahrheitsanspruch dann mehr als fragwürdig erscheint, wie etwa in der Kunst
des III. Reiches.
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oder in der DDR-Kunst.
Kunst kann genauso für das Wahrhaftige in Anspruch genommen werden wie
für das Unwahre, für die Freiheit wie für die Unterdrückung. Für Schiller ist die
Kunst zwar „eine Tochter der Freiheit“ (S. 6), doch werden wir genauer hinse-
hen müssen, was die Kunst im Einzelnen tut und kann und welche ihrer originä-
ren Repräsentanten und welche ihrer Interpreten für das eigene Anliegen etwas
gelten und aussagen können.
In dem Maße, wie es in der Sonderpädagogik um den kreativen Umgang mit
Vielfalt,
vielleicht aber auch um das Umkonstruieren und Nicht-mehr-Wahrnehmen per-
sönlichen Erlebens und Leidens an den Rändern des Bildungssystems geht,
könnte der Kunst, und zugleich der ästhetischen Bildung am Ende doch eine er-
kenntnis- und veränderungsfördernde Rolle zukommen.
Mit Solger ließe sich feststellen: „Das Kunstwerk ist mithin nicht bloßes Objekt
unter Objekten, sondern da in ihm die Idee selbst anwesend ist, Einheit von We-
sen und Dasein, von Göttlichem und Irdischem“ (Decher 1994, 233). „Es ist die-
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ser Gedanke seiner Philosophie der Kunst, der Solger veranlasst, von einem
Wahrheitsgeschehen der Kunst und der Wahrheit des Kunstwerks zu sprechen.
Für Solger verhält es sich sogar so, dass die Kunst eine ausgezeichnete Art und
Weise ist, Wahrheit erfahrbar zu machen“ (Decher, 1994, S. 235). Freilich han-
delt es sich bei der Wahrheit der Kunst nicht um eine logisch-wissenschaftliche
Wahrheit, sondern eben um die spezifische Wahrheit der Kunst, mit den ihr zur
Verfügung stehenden Mitteln, nämlich sinnlichen Mitteln etwas zu offenbaren
über den Menschen, das Mensch-Sein, das Verhältnis zwischen Mensch und
Welt,
auch im Kontext hochproblematischer, da separierender, etikettierender und
teilweise sogar problemverschärfender Lehr-Lern-Kontexte.
Im Gegensatz zur Mode, die mit ihren Entwürfen und Kreationen nur am Au-
genblick interessiert ist, zum Design, das an der Nützlichkeit der entworfenen
Objekte orientiert ist und zur Werbung, die stets Fröhlichkeit verkündet und auf
den Absatz von Produkten ausgerichtet ist (vgl. Rauterberg 2007), hat die Kunst
etwas Überzeitliches, Ergebnisoffenes und Nutzloses, wodurch sie wiederum in
einem übergreifenden Sinne nützlich ist.
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Erste These:
Kunst spiegelt die existenziellen Anliegen der Menschen wider
„Der Umgang mit Kunst macht auf Entwicklungsstrukturen aufmerksam; Symp-
tome bleiben ohne diese fundamentalen Strukturen unverständlich und sie lassen
sich ohne deren Wandlung auch nicht lösen“, heißt es bei W. Salber (1986, S.
220).
Es gibt Kunstwerke, die handeln von der persönlichen Auseinandersetzung mit
der eigenen Existenz, mit erfahrenem Leid, mit Belastungen, Krisen und Ver-
zweiflung, dem eigenen Verfall. „Nicht bloß die Philosophie, sondern auch die
schönen Künste arbeiten im Grunde darauf hin, das Problem des Daseyns zu er-
fassen“, schreibt Schopenhauer (1997, S. 541).
Frida Kahlo verarbeitete etwa in zahlreichen Selbstbildnissen ihren körperlichen
Schmerz und ihr seelisches Leiden. Als 6jährige war sie an Kinderlähmung er-
krankt und behielt einen leicht verkrüppelten rechten Fuß zurück. Als sie 17 Jah-
re alt war, kam es durch einen Verkehrsunfall zu schweren Rückenverletzungen,
an denen sie zeitlebens litt. Es folgten seelische Verletzungen durch einen
Schwangerschaftsabbruch und eine Fehlgeburt.
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Ein anderes Beispiel sind die Arbeiten von Keith Haring aus den späten 1980er
Jahren.
Die zerrissenen Liniengeflechte, die mit Geschwüren übersät zu sein scheinen,
lassen sich als Hinweise auf die Verarbeitung seiner AIDS-Erkrankung deuten.
Francis Bacon etwa zeigt in seinen Malereien den geschundenen, isolierten und
gequälten Menschen, der in einem Käfig gefangen zu sein scheint. Bacon schuf
Metaphern des Entsetzens und des Schreckens.
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Speziell seine späten Bilder zeigen die Zerbrechlichkeit des menschlichen Kör-
pers.
Max Beckmann stellt in gleichnishaften Bildern den isolierten, dem Schicksal
ausgelieferten Menschen dar. Seine Katastrophenbilder versinnbildlichen die
Machtlosigkeit des Menschen gegenüber dem Schicksal. Seine Werke handeln
von Deformation und Verunsicherung, von Gewalt und sozialem Elend. Auch
im Werk von Otto Dix dominieren gesellschaftskritische Themen, Tod und Ge-
walt. Seine Bilder, etwa die „kartenspielenden Kriegskrüppel“ und der „Streich-
holzhändler“, beide aus dem Jahre 1920, zeigen die Armut in der Kriegs- und
Nachkriegszeit.
Käthe Kollwitz´ graphische Arbeiten sind eine einzige Anklage gegen die Not
und das Elend des Proletariats.
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Auch George Grosz, der politische Zeichner, prangerte in seinen Arbeiten die
sozialen Missstände der Weimarer Republik an. Er warnte er in seinen Bildern
vor dem heraufziehenden Faschismus, etwa in den „Stützen der Gesellschaft“,
von 1926.
Edvard Munchs Bilder handeln von der Verzweiflung des modernen Menschen.
Sein Bild „Der Schrei“ (1893) gilt als Versinnbildlichung von Lebensangst und
Einsamkeit. In seinem Bilderzyklus „Lebensfries“ (1902) verarbeitete Munch
persönliche Erfahrungen, wie Melancholie, Angst, Eifersucht oder Verzweif-
lung. In seinem Spätwerk hat er mitleidslos den eigenen Verfall dokumentiert.
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Mit W. Salber (1986, S. 72), der der Kunst eine therapeutische Funktion zu-
schreibt, ließe sich da sagen, dass sich „Kunst und Seelisches gegenseitig ausle-
gen.“ Oder: „Die Beschreibung von Bildern als Zusammenhang ist eine Be-
schreibung seelischer Wirklichkeiten“ (Salber a.a.O., S. 80). „Werke zeigen,
was gemacht, erfahren, erlitten wird“, schreibt Salber (a.a.O., S. 36) an anderer
Stelle.
Dem Gesamtbestand an historischer und zeitgenössischer Kunst stehen all die
Werke gegenüber, die im nicht-professionellen Bereich, d.h. in Kliniken, Schu-
len, sozialpädagogischen Projekten oder auch in privaten Lebenswelten entstan-
den sind. H.-G. Richter (1997) hat in seiner Untersuchung „Leidensbilder“ zahl-
reiche Werke solcher nicht-professioneller Bildnerei auf ihre tieferen Bedeu-
tungsschichten hin befragt.
Eine erste Anerkennung erfuhren solche nicht-professionellen Werke ja bereits
im Umfeld der Psychiatrie, durch Prinzhorn, Bader (1975) und Bader & Navratil
(1976) u.a., wobei man hier von einer „Außenseiterkunst“ sprach.
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Ergänzen müssten wir freilich, dass den Hintergrund all dieser individuellen äs-
thetischen Auseinandersetzungs- und Verarbeitungsprozesse bestimmte über-
greifende gesellschaftliche Realitäten abgeben. So käme ein sozialphilosophi-
sches Deutungsmuster noch hinzu, wonach die existenziellen Themen und Ver-
störungen des einzelnen nie losgelöst von den pathologischen Grundstrukturen
der Gesellschaft zu sehen sind (vgl. Honneth 1990, 1994). Beschreibende Kon-
zepte wären hier Desintegration, Entfremdung, Atomisierung, Fragmentierung,
Depersonalisierung oder Zerrissenheit.
Die Existenz und die Notwendigkeit der Sonderpädagogik basiert in Teilberei-
chen auf Armut,
in gewisser Weise lassen sich bestimmte Bildungswelten am Rande der Gegen-
wartsgesellschaften auch als deren Guernica beschreiben,
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wobei das in bestimmte gesellschaftliche Bereiche einbrechende Gewaltpotenzi-
al strukturelle wie naturgegebene Ursachen haben kann. Damit würden die viel-
schichtigen Ursachen von Behinderungen und Benachteiligungen, das war ja
ebenso ein Gedankengang im Call for Papers zu dieser Tagung, wieder stärker
in den Blick gerückt.
Sicher wird auch bezüglich der Sozialisation, insbesondere der ästhetischen So-
zialisation die „Schichtzugehörigkeit“, das „kulturelle Milieu, in dem einer auf-
wächst“, als „Bedingungsfaktor für Entwicklungsmöglichkeiten“ erkennbar
(Hartwig 1980, S. 61).
Sprechen wir im Folgenden also von der Rolle der Ästhetik in der Bildung, so
ist in Rechnung zu stellen, dass das „Bildermachen als Komponente von ästheti-
scher Sozialisation“ (Hartwig 1980, 96 ff.) nicht in allen Milieus und Schichten
die gleiche Rolle spielt und ästhetische Bildung teilweise schichtspezifisch ak-
zentuiert werden muss.
Der „Habitus“ als „Erzeugungsprinzip“ der „klassifizierbaren Praxisformen und
Werke“ (Bourdieu 1993, 277 f.)
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schafft immerhin Abgrenzungen und Abstufungen, wodurch auch pädagogische
Blickrichtungen und Erwartungen beeinflusst werden. Zu warnen wäre mit
Bourdieu (1970, S. 163) vor einem „Klassenethnozentrismus“ der gebildeten
Schichten in ästhetischen Dingen. Zumindest gibt es die Möglichkeit, einer äs-
thetisch fundierten Archäologie, die einerseits randständige Lebenswelten in ih-
rer Zerrissenheit, mangelnden gesellschaftlichen Teilhabe oder in ihrer Sprach-
losigkeit, kommunikativen Hilflosigkeit
rekonstruiert, andererseits aber auch die in diesen Welten liegenden Lebens-
Ressourcen anerkennend herausarbeitet (Bröcher 1997, 1999) und in eine eman-
zipatorische Kunstpädagogik/Kunsttherapie (Richter-Reichenbach 1992, 1996,
2004) einbringt.
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Gesellschaftliche Reformen, etwa die Beseitigung von Armut
und das Schaffen von Bildungschancen für alle, sind Aufgaben der Politik. Eine
Bildung, die Lebensverhältnisse wahrnehmen, hinterfragen und verändern hilft,
wäre Aufgabe der Pädagogik. Was will und kann da Kunst?
K. Holzkamp (1976, S. 34) sieht die durch soziale Desintegration oder Zerris-
senheit gekennzeichnete Lage des einzelnen an als „unbewältigtes Dasein wie es
einer Bewältigung durch Kunst (ihre Vor- und Nebenformen) bedürftig und un-
ter Umständen auch fähig ist“, als „Eingefangenheit in der scheinbaren Zufällig-
keit der eigenen subjektiven Erfahrung,
Ausgeliefertsein an den übermächtigen Augenblick, Begriffslosigkeit gegenüber
einem als blinde Faktizität undurchdringlichen Selbst- und Welterleben, Hilflo-
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sigkeit angesichts des eigenen Lebensprozesses als eines unfassbaren und unbe-
einflussbaren Vorgangs.“
Mit Sartre (1991, S. 173) ließe sich das als Moment des Festgelegtseins benen-
nen, als ein in besonderer Weise Verwirklichtsein, eben als „Faktizität“.
Zweite These:
Der rezeptive und produktive Umgang mit Kunst
fördert freiheitliche Bezüge
Der rezeptive und produktive Umgang mit Kunst vermag für die Persönlich-
keitsentfaltung fundamentale Dispositionen, die ja immerhin latent in den ein-
zelnen vorhanden sind, freizulegen.
Sprechen wir in diesem Zusammenhang von einer Förderung der Freiheit, sind
hier die persönliche Freiheit und die Freiheit im politisch-gesellschaftlichen
Sinne zu unterscheiden. Schiller strebte letztere zwar an, beschränkte sich am
Ende jedoch auf die persönliche Freiheit, indem er seiner Hoffnung Ausdruck
gab, den Staat durch die ästhetische Bildung des einzelnen zu bessern.
Nach Richter-Reichenbach (2004, Bd. I, S. 9 ff.) haben wir es im gegenwärtigen
schulischen Bildungssystem mit einer sträflichen Vernachlässigung von ganz-
heitlichen Subjektbezügen zu tun.
Einerseits, so die Autorin, nehme die Bedeutung der musischen Fächer in der
Schule und in der Bildungsdiskussion beständig ab, andererseits müsste gerade
der ästhetischen Bildung wieder neue und vermehrte Bedeutung zuwachsen im
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Sinne eines Gegengewichts, einer Korrektur, eines Regulativs in Lebensberei-
chen, die uns immer einseitiger funktionalisieren.
Im Subjektbezug ästhetischer Prozesse, im darin enthaltenen Möglichkeitsden-
ken, in der ästhetischen Reflexion als einem freien und zwanglosen Zusammen-
spiel von Einbildungskraft und Verstand, den darin liegenden Freiheits- und
Selbstbestimmungsmöglichkeiten, die aus der inneren Subjektivität hervorge-
hen, liegt nun das Besondere des Ästhetischen, das hier unter Rückgriff auf die
kunstphilosophischen Theorien von Kant und Schiller positioniert wird.
Das Ästhetische partizipiert am Freiheitsbegriff, es symbolisiert freiheitliche
Vollzüge. Eine ästhetische Bildung, die auf den erziehungs- und kunstphiloso-
phischen Auffassungen von Kant gründet, unterstellt sich daher einem emanzi-
patorischen Bildungsauftrag. Sie arbeitet an der Befreiung aus Beschränkungen,
an der Freisetzung autonomer Handlungspotenziale und an der Ausweitung der
Handlungskompetenzen der jeweiligen Individuen auf der Basis sinnlicher
Wahrnehmung und produktiver Selbsttätigkeit (vgl. Kant 1781 bzw. 1975, S.
45).
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Ästhetische Bildung leistet eine Art „Emanzipationshilfe im Sinne des `Freima-
chens´ und `Freisetzens´“ (Richter-Reichenbach 1992, S. 97).
Auch bei Schiller (1795), dessen Schriften zur Ästhetik Richter-Reichenbach
(1992, S. 65 ff.) als weiteren kunstphilosophischen Bezugspunkt heranzieht, fin-
det sich ein emanzipatorischer Begriff der „Ästhetischen Erziehung“, der wiede-
rum eng mit den Begriffen der „Selbstbestimmung“ und der „Freiheit“ verknüpft
ist.
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Die Autorin diskutiert den „ästhetischen Zustand“ im Schillerschen Sinne als
„Übergangssituation“. Der ästhetische Prozess soll der Zersplitterung der
menschlichen Vernunft-, Verstandes- und Erlebniskräfte entgegenwirken (ebd.).
Geist, Natur, Pflicht und Neigung sollen wieder zusammengebracht werden, der
Mensch als physisches und moralisches Wesen wieder neu integriert werden.
Dieser Prozess kann bzw. soll über Kunstbetrachtung und Kunstproduktion von-
statten gehen, weil Kunst bereits genau diese Einheit beinhaltet.
Die Verbindung von Phantasie, was ja die Auseinandersetzung mit tieferliegen-
den Bewusstseinsschichten einschließt,
im Sinne des Möglichen, und Vernunft, im Sinne des Notwendigen, erzeugt das
Ideal des selbstbestimmten Menschen, der in der Entfaltung seiner Anlagen und
Fähigkeiten immer auch die Sache der Gesellschaft befördert. „Im ästhetischen
Zustand `spielt´ das Subjekt mit sich selbst, seinen Vorstellungen und Hand-
lungsmöglichkeiten, ohne jede bestimmtere [...] Ausrichtung [...] Für Schiller ist
dieser Zustand nicht nur freisetzend, sondern auch freiheitsbefördernd, weil in
der hier erfahrenen Wahlfreiheit des Verhaltens sich erst die Selbstbestim-
mungsfrage stellt. [...]
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Unter diesem Blickwinkel nun erscheint der ästhetische Zustand bei ästhetisch-
produktiven und -rezeptiven Vollzügen als Medium der Persönlichkeitserweite-
rung und als Übergangsstadium zu vermehrter, selbstbestimmter Ausdrucks-
und Handlungskompetenz, insofern er den Denkkräften Freiheit verschafft, ihren
eigenen Gesetzen gemäß sich zu äußern“ (Schiller S. 77).
Dritte These:
Der Umgang mit Kunst fördert veränderte Sichtweisen
und alternative Daseinsentwürfe
Kunst kann nun dem einzelnen Möglichkeiten anbieten, sich neu oder anders zu
entwerfen, bisher nicht versuchte Daseins-Möglichkeiten zu wählen und zu ver-
wirklichen, das bisherige Sein zu überschreiten, eben das zu schaffen, was Sartre
„Transzendenz“ (1991, S. 322 ff.) nennt.
Freiheit im Sinne des Möglichen und Faktizität im Sinne des Gegebenen stehen
dabei in einem Wechselverhältnis (a.a.O., S. 833 ff.), das von einer guten Päda-
gogik, in der auch die ästhetische Bildung eine Rolle spielt, thematisiert werden
kann. Uns steht dazu ein kompliziertes „Ineinander von philosophisch-
ästhetischen und erzieherisch-bildenden Begründungen, Herleitungen, Entr-
fen“ usw. zur Verfügung, wie es Richter (2003) in historischer Perspektive re-
konstruiert hat.
Das Ästhetische betrifft nun zunächst die aisthesis, die Sinneswahrnehmung.
René Magritte etwa löste in seinen Malereien vertraute Gegenstände und alltäg-
liche Erlebnisse aus ihrem gewohnten Zusammenhang und verfremdete sie teil-
weise durch paradoxe Gegenüberstellungen.
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Sein Thema ist der Schein der Wirklichkeit.
Paul Klee entwickelte eine traumhaft-skurille Zeichensprache, mit der er Wirk-
lichkeiten jenseits des Sichtbaren darstellen wollte. Marc Chagalls Bilderwelt ist
zwischen Traum und Wirklichkeit angesiedelt.
George Braque zeigte die Gegenstände im Stilleben aus verschiedenen Blick-
winkeln. Er gelangte zu einer Aufsplitterung der Form und gab die bis dahin in
der Kunst vorherrschende zentrale Perspektive auf.
Diese veränderten Wahrnehmungsschemata lassen sich auch auf das Bearbeiten
von Lebenserfahrungen und das Reflektieren von Lebenskontexten übertragen.
Kunst bringt dabei ein spielerisches, Veränderung förderndes Element in den
pädagogischen oder therapeutischen Prozess hinein. „Der Weg führt durch einen
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weniger befestigten Grenzstreifen, in dem man mehr zulässt. Im Experimentie-
ren mit Kunst werden Chancen und Begrenzungen künftiger Entwicklungen er-
fassbar“, beschreibt Salber (1986, S. 18) diese besondere Möglichkeit des Äs-
thetischen.
Im wahrhaftigen Auf-den-Punkt-bringen, dessen was ist und dessen, was erfah-
ren oder erlitten wird, liegt zugleich die Möglichkeit der Veränderung. „Jedes
Bild bezieht sich auf Verwandlung und ist auch selbst eine Verwandlung“, heißt
es bei Salber (a.a.O., S. 79).
Das Ineinander von Biografie und Werk mancher Künstler weist auf solche
Verwandlungen hin, ohne dass hier alles im Detail erkannt und verstanden wer-
den kann. Andy Warhol, ursprünglich Andrej Warhola, war der Sohn tschecho-
slowakischer Einwanderer. Er wurde in Pennsylvania geboren und als Andrej 14
Jahre alt war, starb sein Vater, der in den Kohlegruben von West-Virginia arbei-
tete. Der schüchterne Andrej begann seine Tätigkeit als Werbegrafiker.
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Ab 1962 fertigte er fotomechanische Siebdrucke, etwa die Desaster-Serie. War-
hol färbte Zeitungsfotos ein, die u.a. Autounfälle, Selbstmorde und Brände zeig-
ten. Er benutzte das Prinzip der Bildwiederholdung um zu zeigen, dass die Ge-
danken immer wieder zu derartig grausamen Ereignissen zurückkehren.
Der Künstler Wols arbeitete zumeist in tranceähnlichen Zuständen. Er bannte
seine Empfindungen assoziativ auf die Leinwand.
So werden die Bildflächen zum Resonanzkörper für äußere und innere Ereignis-
se. In der Kunst können wir uns daher Auskünfte über extreme Bewusstseinszu-
stände holen, aber auch über die gelungene Bewältigung und Transzendierung,
d.h. die Überschreitung einschränkender Lebensverhältnisse.
Vierte These:
Die moderne Kunst bietet Modelle für ein variables Lernen,
das der Verschiedenheit und Besonderheit der Menschen mit Behinderung
oder Benachteiligung annähernd gerecht werden kann
„Finnegans Wake führt die Sprache über jede Grenze der Geschmeidigkeit und
Kommunikabilität hinaus [...] und stellt das erschreckendste Dokument für for-
male Instabilität und semantische Ambiguität dar, das jemals bekannt wurde“,
notierte U. Eco (1993, S. 390).
Der „Wake“ ist daher ein gutes Modell für das eigene Anliegen, eben wegen
seiner Sperrigkeit und Unergründlichkeit. Dies entspricht der (sonder-) pädago-
gischen Realität.
„Der Wake ist aufgebaut nach der Logik des Traumes, in dem die Identität der
Personen flüssig wird und sich wandelt“, schreibt U. Eco (S. 394).
Die „Offenheit des Ästhetischen“ (U. Eco) bietet daher zunächst einen Erkennt-
nisrahmen, um die Unterschiedlichkeit von Menschen sowie die hohe Komple-
xität und Prozesshaftigkeit von Lehr-Lern-Situationen in der Sonderpädagogik
auch tatsächlich in den Blick zu bekommen und produktiv zu beantworten, ohne
dabei die subjektiven Anliegen des einzelnen zu reduzieren oder zu verflachen.
Nehmen wir einmal, was Umberto Eco (1962 bzw. 1996) unter dem Titel „Ope-
ra aperta“ veröffentlicht hat. Kunst wird da zum Mittel, den Wahrnehmungs-
und Reflexionsrahmen zu erweitern. Im Zentrum dieser Kunsttheorie steht das
Prinzip der Variation, in Anbetracht der Heterogenität der Lernenden wäre dies
ja etwas Wichtiges und Nützliches.
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Geht das Prinzip der didaktischen Variation einher mit einem Erstnehmen der
existenziellen Anliegen des einzelnen dann können Erziehung und Unterricht in
der Sonderpädagogik tatsächlich mehr bieten als ein zusammenhangloses, bun-
tes und spaßiges Potpourri.
Von der Warte in sich geschlossener didaktischer Konzeptionen und idealtypi-
scher Schüler-Bilder, handelt es sich jedoch um eine Diskontinuitätserfahrung.
Viele hofften, gemessen an der Einteilung der Erziehungswissenschaften in feste
Parzellen und Spezialgebiete, alles sei nun unter Dach und Fach und jeder könne
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in Ruhe seiner Lehr- oder Unterrichtstätigkeit, in der Theorie wie in der Praxis,
nachgehen. Grundschulunterricht geht so, Lernbehindertenunterricht geht so
usw. Nun macht sich stattdessen Irritation breit auf allen Ebenen, ein sehr pro-
duktiver Prozess.
Analog zum traditionellen Kunstwerk handelte es sich bei dieser zunächst noch
geordneten Erziehungswelt, zumindest eine Zeitlang, um eine „Poetik der Ein-
deutigkeit und Notwendigkeit“, der ein „geordneter Kosmos“, eine „Hierarchie
der Wesenheiten und Gesetzmäßigkeiten“ (Eco, S. 34) zugrunde lag.
Unterricht nach dem inneren Aufbau einer Sonate: Lebendiger Einstieg, etwas
quälender Mittelteil, die Erarbeitung sozusagen, wieder etwas heiterer dann,
durch die gefundene Problemlösung und schließlich der jubelnde Ausklang. Ein
derart linearer Aufbau funktioniert heutzutage kaum noch.
Das „offene Kunstwerk“, das „Kunstwerk in Bewegung“, wie es Eco beschrie-
ben hat, könnte nun ein brauchbares Modell abgeben, um Uneinheitlichkeit,
Mehrdeutigkeit, Heterogenität in den Lehr-Lern-Prozessen nicht nur zu tolerie-
ren, sondern im Rahmen einer nicht-etikettierenden und nicht-kategorisierenden
Kultur der Differenz zu bejahen und aktiv zu fördern.
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Eco (a.a.O., S. 8) diskutiert auch das Problem einer „Dialektik von Form und
Offenheit“ und versucht, die Grenzen zu bestimmen, innerhalb derer ein Kunst-
werk die „größte Mehrdeutigkeit verwirklichen“ kann.
Auch eine Unterrichtsstunde oder Lerneinheit lässt sich nach solchen Kategorien
betrachten. „Über seine Komposition Scambi (Vertauschungen) äußert Henri
Pousseur: Scambi sind weniger ein Stück als ein Möglichkeitsfeld, eine Einla-
dung zum Auswählen. Das wäre ein Plädoyer für die innere Flexibilisierung der
unterrichtlichen Einheiten, für Neuentwürfe, ohne dabei in völlige Beliebigkeit
zu verfallen. Es ist jederzeit der Wille da, eine Ordnung, eine Struktur zu schaf-
fen, aber nach anderen Gesetzen, als es in den meisten Lehrbüchern der Didaktik
steht.
Um noch einmal auf Ecos Diskurs (S. 28 f.) zückzugreifen: „Ein klassisches
Musikwerk - eine Bachfuge, die Aida oder Sacre du Printemps war ein Ganzes
aus musikalischen Realitäten, die der Komponist in definitiver Weise organisier-
te und dem Hörer darbot, indem er sie in konventionelle Zeichen übersetzte, die
es den Ausführenden gestatteten, die vom Komponisten imaginierte Form in ih-
ren wesentlichen Zügen zu reproduzieren.“ Die späteren Musikwerke hingegen,
Eco verweist auf die Beispiele von Karlheinz Stockhausen, Luciano Berio, Hen-
ri Pousseur oder Pierre Boulez, „bestehen nicht aus einer abgeschlossenen Bot-
schaft, nicht aus einer eindeutig organisierten Form, sondern sie bieten die Mög-
lichkeit für mehrere, der Initiative des Interpreten anvertraute Organisationsfor-
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men; sie präsentieren sich folglich nicht als geschlossene Kunstwerke, die nur in
einer einzigen gegebenen Richtung ausgeführt und aufgefasst werden wollen,
sondern als offene Kunstwerke, die vom Interpreten im gleichen Augenblick, in
dem er sie vermittelt, erst vollendet werden.“
Es geht demnach um Offenheit, im Sinne eines strukturellen Merkmals. Sie wird
in der modernen Kunst zum „produktiven Programm“ (a.a.O., S. 32). Nach Eco
steht sie für „unbegrenzte Möglichkeiten der Form”, für “Freiheit in der Inter-
pretation”. Übertragen wir das doch einmal auf die Struktur des Unterrichts, o-
der weiter gefasst: auf pädagogische Einheiten. Die Lehrkraft, in den hier zu
entwickelnden Prozessen, ist durchaus sehr aktiv. Sie greift ein, strukturiert,
bremst dann und wann auch ab, gibt Impulse. Doch dies geschieht nach ganz
eigenen und neuen Gesetzen.
Offene Kunstwerke sind nach Eco zugleich „Kunstwerke in Bewegung“. Sie
besitzen die Fähigkeit, verschiedene unvorhergesehene, physisch noch nicht rea-
lisierte Strukturen anzunehmen. In den plastischen Künsten finden wir Objekte,
die eine Mobilität in sich haben, die Fähigkeit, sich in den Augen des Betrach-
ters als beständig neue zu formieren; etwa die Mobiles von Calder,
„die sich unter Veränderung ihrer räumlichen Anordnung in der Luft bewegen
und dabei ständig ihren eigenen Raum und ihre eigenen Dimensionen erzeugen“
(a.a.O., S. 42). Prozesshaftigkeit und Metamorphose stehen hier im Zentrum.
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Das Wesen der Komposition im Sinne von Pousseur ist das „Möglichkeitsfeld“,
und ein solches gilt es auch im Bereich der Pädagogik zu entfalten.
Der Begriff der Möglichkeit als philosophischer Terminus korrespondiert mit
dem Prinzip der Variation und meint dabei das „Abgehen von einer statischen
[...] Auffassung der Ordnung“ (Eco, S. 48).
„Offenheit und Dynamik eines Kunstwerkes bestehen“ bestehen mit Eco (S. 56)
„im Sich-Verfügbar-Machen für verschiedene Integrationen“.
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Mittels der Kunst lassen sich Lehr-Lern-Prozesse nun anders wahrnehmen, kon-
struieren und reflektieren:
Dieses Bild von Paul Klee könnte als Modell zur Beschreibung unabhängiger,
aber auch isolierter Lernprozesse einzelner Lerner in einer Gruppe dienen.
Diese Arbeit könnte ein Modell für ein hohen Grad an Ausarbeitung oder inhalt-
licher Qualität der einzelnen Lernprojekte sein.
Hier käme es zu ersten Berührungen und Vernetzungen individueller Prozesse in
einem sozialen Kontext, etwa einer Schulklasse.
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Das Gemeinsame Thema Grün erfährt Abtönungen ins Individuelle (mehr nach
Gelb oder Blau) oder es engagieren sich einige ganz im Tiefblau (= Nicht-
Thema).
Klees Bild Hauptweg und Nebenwege ist die Metapher für differenziertes und
individuelles Lernen schlechthin.
Das Lehr-Lern-Geschehen kreist um bestimmte Energie-Zentren (z.B. großer
roter Kreis, kleiner braun-roter Kreis)
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Hundertwasser liefert uns bildhafte Modelle für Mikrostrukturen/ Tiefenstruktu-
ren von Lehr-Lern-Prozessen.
Dieses Bild könnte als Modell zur Beschreibung hochkomplexer, einander über-
lagernder Prozesse dienen.
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Hier hätten wir ein Modell für die Beschreibung von Beziehung oder Kontakt
zwischen Lehrenden und Lernenden.
Abschließend ein Modell für gute und zugleich bewegliche Ordnung in Lehr-
Lern-Kontexten.
Meine Horizonte spiegeln sich folglich in den praktischen didaktischen Kon-
struktionen wider, die ich ermögliche. Je mehr (gedanklich strukturierte) Offen-
heit, desto mehr Integrationsmöglichkeiten und desto mehr individuelle Freiheit
im Erkennen und Überschreiten der eigenen Lebenslage sind gegeben.
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Es werden gemeinsam mit den Lernenden biografisch sinnvolle, identitätsför-
dernde und inhaltlich relevante Einheiten kreiert, die jenseits des auf Perfektion
und Totalität abzielenden pädagogischen Differenzierungs- und Optimierungs-
apparates liegen. Dessen Berechtigung und Angemessenheit wird eher gemein-
sam hinterfragt.
Der Rückgriff auf Ästhetik kann dazu dienen, das in Sonderpädagogik und all-
gemeiner Pädagogik bisher nicht oder nicht ausreichend Wahrgenommene,
Ausgegliederte usw. zu thematisieren.
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