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Volker
Schürmann
Anfangs-Erfahrung
Eine
Serie
mit
11
Folgen
im
Anschluß
an
Feuerbach
»Denken
dagegen,
das
nicht
als
Ursprung
sich
behauptet,
sollte
nicht
verbergen,
daß
es
nicht
erzeugt
sondern
wiedergibt,
was
es,
als
Erfahrung,
bereits
hat.«*
Im
Anschluß
an
Feuerbach
ist
die
Frage
nach
dem
Anfang
der
Philosophie
ein,
vielleicht
das
Medium
der
Metaphysikkritik.
Den
Anfang
mit
sich
selbst
machen
zu
wollen,
sei,
so
Feuerbach,
Wirklichkeitsverlust:
Philosophie
wähnt
sich
dann
omnipotent
und
omnipräsent,
weil
grenzenlos.
Nichts
anderes
außer
sich
selbst
zu
setzen,
katapultiere
sich
aus
Raum
und
Zeit,
denn
wirkliche
Wesen
existieren
in
Raum
und
Zeit
und
daher
auch
als
durch
andere
Wesen
bedingte
Wesen.
Eine
mit
sich
selbst
anfangende
Philosophie
ist
bestenfalls
»überflüssige
Existenz«,
de
facto
leblos:
sie
spekuliert
ȟber
das
Leben
ohne
Leben,
ohne
Fleisch
und
Blut
—
eine
solche
Philosophie,
wie
die
des
Absoluten
überhaupt,
hat,
als
eine
durchaus
einseitige,
notwendig
die
Empirie
zu
ihrem
Gegensatz«.
1
2
3
0.
Der
Ausgangspunkt
»Der
Philosoph
muß
das
im
Menschen,
was
nicht
philosophiert,
was
vielmehr
ge
gen
die
Philosophie
ist,
dem
abstrakten
Denken
opponiert,
das
also,
was
bei
Hegel
nur
zur
Anmerkung
herabgesetzt
ist,
in
den
Text
der
Philosophie
aufhehmen.
Nur
so
wird
die
Philosophie
zu
einer
universalen,
gegensatzlosen,
unwiderleglichen,
unwiderstehlichen
Macht.
Die
Philosophie
hat
daher
nicht
mit
sich,
sondern
mit
ih
rer
Antithese,
mit
der
Nichtphilosophie,
zu
beginnen.
Dieses
vom
Denken
unter
schiedene,
unphilosophische,
absolut
antischolastische
Wesen
in
uns
ist
das
Prinzip
des
Sensualismus.«^
Feuerbach
insistiert
darauf,
daß
Philosophie
nicht
in
sich
selbst
gründet,
d.h.
nicht
aus
sich
heraus
verständlich
ist.
Bei
aller
Vieldeutigkeit
von
arche
—
An
fang,
Ursprung,
Ur-Sprung,
Prinzip
-
ist
die
von
Feuerbach
gebrauchte
Grund
bedeutung
von
beginnen
halbwegs
klar:
Mit
Anfang
der
Philosophie
ist
ihr
Grund
1
Theodor
W.
Adorno;
Negative
Dialektik.
Frankfurt
a.
M,
7
1992,
S.
71.
2
Ludwig
Feuerbach,
L.:
Vorläufige
Thesen
zw
Reformation
der
Philosophie
[1843],
In:
Ludwig
Feuerbach,
Gesammelte
Werke.
Hg.
von
W.
Schuffenhauer.
Berlin
(GW).
Bd.
9
(1970),
S.
243-263,
hier;
S.
253.
3
Ebd.,
S.
254.
Anfangs-Erfahrung
85
gemeint.
4
* 6
Um
sagen
zu
können,
was
(eine)
Philosophie
bedeutet,
muß
man
not
wendig
Bezug
nehmen
auf
ein
äußer-philosophisches
Prinzip.
Anders
ausge
drückt:
Philosophie
bezieht
sich
mimetisch
auf
etwas,
was
nicht
sie
selbst
ist.
Oder
etwas
salopp
gesagt:
Philosophie
ist
nicht
alles
im
Leben;
sie
ist
vielmehr
notwendig
Moment
eines
umfassenderen
Ganzen,
vorzugsweise
des
Lebens
selbst.
1.
Folge
Das
ist
nicht
eine
triviale
Selbstverständlichkeit,
sondern
sagt
etwas
aus.
Feuer
bach
meint
jedenfalls,
einen
solchen
Verweis
auf
ein
äußer-philosophisches
Prin
zip
gegen
die
gesamte
Philosophie,
gipfelnd
in
Hegel,
einklagen
zu
sollen.5
Klassisches
Verständnis
sei
gerade
das,
daß
Philosophie
aus
sich
selbst
heraus
begründet
werden
müsse,
um
überhaupt
Philosophie
zu
sein.6
Nun
bleibt
sicher
zunächst
einmal
festzuhalten,
daß
dieses
klassische
Verständnis
nicht
völlig
un
sinnig
ist.
In
sich
selbst
zu
gründen
ist
u.a.,
und
vielleicht
entscheidend,
ein
Ge
genkonzept
zur
Fremdbestimmtheit.
Und
bezogen
auf
philosophische
Wahrheit
ist
das
durchaus
attraktiv:
daß
nur
die
Philosophie
selber
bestimmen
könne,
was
philosophische
Wahrheit
ist,
ist
erstens
logisch
dann
einsichtig,
falls
es
denn
so
ist,
daß
Philosophie
es
nicht
mit
einzelnen
Aspekten
von
Welt,
sondern
mit
Welt
überhaupt
zu
tun
hat,
und
zweitens
das
Gegenkonzept
zu
einem
instrumentalisti
schen
Verständnis
von
Wahrheit.
Jedes
nicht-philosophische
Wissen
nützt,
so
Aristoteles,
einem
anderen
Zweck
als
sich
selbst,
und
insofern
ist
die
Philosophie
die
freieste
aller
Wissenschaften,
weil
sie
nicht
noch
am
Tropf
eines
außerphilo
sophischen
Zwecks
hängt
-
ganz
analog
zum
Unterschied
von
Sklave
und
freiem
Polis-Bürger.
Der
genannte
Ausgangspunkt
ist
also
nicht
kostenlos
zu
haben.
Man
gibt
etwas
auf,
wenn
man
nicht
Aristoteles,
sondern
Feuerbach
folgt,
näm
lich
einen
bestimmten
Begriff
von
Freiheit.
Der
Gewinn
ist
nicht
ganz
klar:
auch
Aristoteles
würde
darauf
insistieren,
daß
die
Autonomie
der
Philosophie
nicht
deren
Autarkie
bedeutet.
Weil
und
indem
sie
die
freieste
aller
Wissenschaften
ist,
ist
sie
Organon
eines
guten
Lebens.
Für
Feuerbach
hingegen
wäre
das
wohl
Be
4
Der
Gebrauch
des
Wortes
allein
sagt
selbstverständlich
noch
nicht
viel.
Mein
Sprachge
brauch
von
»Grund«
orientiert
sich
am
Hegelschen
Sprachgebrauch.
Dort
ist
Grund
u.a.
ein
RelationsbegrifF
und
nicht,
zum
Beispiel,
analog
zu
einem
Fundament.
So
ist
dort
z.B.
die
Re
deweise
erlaubt,
daß
Widersprüche
zu
Grunde
gehen;
vgl.
dazu
Michael
Wolff:
Der
Satz
vom
Grund,
oder:
Was
ist
philosophische
Argumentation?
In;
Neue
Hefte
für
Philosophie
26
(1986),
S.
89-114.
3
Vgl.
Ludwig
Feuerbach:
Einige
Bemerkungen
über
den
>Anfang
der
Philosophie:
von
Dr.
J.F.
Re#
[1841].
In;
Ludwig
Feuerbach,
GW
(Anm.
2),
Bd.
9
(1970),
S.
143-153.
6
»Es
bedarf
des
Anstoßes
von
außen
[...].
Solcher
Anstoß
ist
der
Philosophie,
und
der
Hegelschen
am
meisten,
Ketzerei.«
(Adorno
[Anm.
1],
S.
183.)
86
Volker
Schürmann
leg
einer
scholastischen
Ausflucht,
und
er
selbst
würde
auf
Handfesteres
verwei
sen,
nämlich
auf
das
für
Aristoteles
Bequeme,
daß
andere
für
ihn
arbeiten
müs
sen.
7
Anders
gesagt;
Feuerbach
insistiert
darauf,
daß
im
klassischen
Verständnis
Phi
losophie
nicht
als
selbst
durch
anderes
bedingt
gilt,
sondern
ausschließlich
als
(anderes)
bedingend.
Insofern
ist
die
Forderung,
den
Anfang
der
Philosophie
mit
der
Nicht-Philosophie
zu
nehmen,
gleichbedeutend
damit,
ein
»passives
Prin
zip«
8
einzufordern,
also
das
Bedenken
der
Bedingtheit
der
Philosophie
einzukla
gen.
Aristoteles
’
Verweis
auf
das
gute
Leben
sagt
allein
noch
gar
nichts;
durch
aus
naheliegend
ist,
das
Gute
als
direkte
Folge
der
Erkenntnis
des
Wahren
anzu
setzen.
9
*
Dann
wäre
das
gute
Leben
vermeintlich
durch
die
Philosophie
inthroni
siert,
und
es
wäre
gerade
nicht
so,
daß
sich
Philosophie
vom
Leben
belehren
lie
ße,
was
denn
ein
gutes
Leben
sei.
2.
Folge
Nun
kann
man
an
dieser
Stelle
ins
Lamentieren
geraten.
Immerhin
soll
die
Philo
sophie
mit
der
Nicht-Philosophie
beginnen,
d.h.
sie
selbst
soll
ihre
eigene
Be
dingtheit
erkennen.
Mithin
ist
man
schon
mittendrin
in
der
Philosophie,
wenn
man
geschichtsstürzende
Postulate
aufstellt,
man
möge
mit
der
Nicht-Philosophie
beginnen.
Bei
Feuerbach
ist
das
ganz
deutlich
ausgesprochen;
das
von
Hegel
Herabgesetzte
soll
in
den
Text
der
Philosophie
aufgenommen
werden.
Treibt
man
es
nun
besonders
doll
mit
diesem
Anfangsproblem,
fangt
man
niemals
an,
sondern
lamentiert>Chd
jammert,
daß
man,
streng
genommen,
gar
nicht
mit
der
Philosophie
anfangen
kann,
denn
das
sei
ja
ein
einziger,
dann
gern
so
genannter
Widerspruch.
Robustere
Naturen
dokumentieren
dieses
Aha-Erlebnis
dann
in
dicken
philosophischen
Büchern.
7
»Der
bisherige
Gang
der
spekulativen
Philosophie
vom
Abstrakten
zum
Konkreten,
vom
Idealen
zum
Realen
ist
ein
verkehrter.
Auf
diesem
Wege
kommt
man
nie
zur
wahren,
objektiven
Realität,
sondern
immer
nur
zur
Realisation
seiner
eignen
Abstraktionen,
und
ebendeswegen
nie
zur
wahren
Freiheit
des
Geistes;
denn
nur
die
Anschauung
der
Dinge
und
Wesen
in
ihrer
objek
tiven
Wirklichkeit
macht
den
Menschen
frei
und
ledig
aller
Vorurteile.
Der
Übergang
vom
Idea
len
zum
Realen
hat
seinen
Platz
nur
in
der
praktischen
Philosophie.«
(Feuerbaoh,
Thesen
[Anm.
2],
S.
251.)
-
»Das,
was
ist,
so,
wie
es
ist
-
also
das
Wahre
wahr
ausgesprochen,
scheint
ober
flächlich',
das,
was
ist,
so,
wie
es
nicht
ist
-
also
das
Wahre
unwahr
ausgesprochen,
scheint
tief
zu
sein.«
(ebd.)
8
Feuerbach,
Thesen
(Anm.
2),
S.
253.
9
Folgt
man
Malte
Hossenfelder;
Stoa,
Epikweismus
und
Skepsis.
In:
Wolfgang
Röd
(Hg.):
Geschichte
der
Philosophie.
Bd.
3:
Geschichte
der Antike
3.
München
2
1995,
S.
17,
dann
war
dies
fraglose
Grundlage
der
klassischen
antiken
Philosophie,
die
erst
mit
der
hellenistischen
Philosophie
fraglich
geworden
sei.
Anfangs-Erfahrung
87
3.
Folge
Ich
würde
gerne
an
dieser
Stelle
den
Knoten
durchschlagen.
Im
Anschluß
an
Feuerbach
kann
und
will
die
Debatte
um
den
Anfang
der
Philosophie
nicht
be
gründen,
daß
und
wie
Philosophie
überhaupt
anfängt.
Es
geht
also
nicht
um
einen
vermeintlichen
Übergang
von
der
Nicht-Philosophie
zur
Philosophie,
sondern
eben
darum,
den
nicht-philosophischen
Grund
der
Philosophie
in
der
Philosophie
selbst
zu
bedenken.
Von
daher
begründet
sich
auch
die
hier
von
mir
vorgenom
mene
Anfangssetzung,
den
Anfang
der
Philosophie
bei
und
mit
Feuerbach
als
Grund
der
Philosophie
zu
interpretieren.
10
4.
Folge
Den
Knoten
so
zu
durchschlagen
—
in
Luhmanns
Jargon:
diese,
und
nicht
eine
andere
Entparadoxierungsstrategie
zu
wählen
11
*
-
ist
nicht
unschuldig.
An
Hand
von
Feuerbach
ist
das
vielleicht
nie
so
offen
sichtbar
geworden;
in
bezug
auf
Marx
ist
das
Folgeproblem
eine
Standarddebatte.
Wenn
man
den
Ausgang
von
der
Nicht-Philosophie
nimmt,
sprich:
von
der
politischen
Praxis,
bedeutet
dann
nicht
die
11.
Feuerbach-These
Verändern
statt
Interpretieren!
Marx
hätte
dann
den
Gedanken
einer
philosophischen
Wahrheit
zugunsten
eines
politischen
Ak
tionismus
verabschiedet.
Nun
spricht
viel
dafür,
diese
Konsequenz
für
puren
Un
sinn
zu
halten;
Marx
hat
ja
weiter
dicke
Bücher
geschrieben
usw.
Also
ist
jene
Radikalinski-Interpretation
der
11.
These
wohl
Ausdruck
völlig
kruder
Marxis
men.
So
sehr
ich
dieser
Einschätzung
zustimme,
17
so
brisant
ist
die
gewählte
Strategie.
Wer
nämlich
an
dieser
Stelle
den
Knoten
durchschlägt,
der
läßt
gleich
sam
per
Dekret
ein
drohendes
Folgeproblem
nicht
zu,
aber
er
beseitigt
nicht
den
Grund
des
Problems.
Und
das
scheint
mir
eine
Verharmlosung
des
Problems
zu
sein.
Marx
wollte
die
Philosophie
nicht
reparieren,
sondern
grundsätzlich
verändern.
Es
ging
also
nicht
darum,
weiter
Philosophie
zu
treiben
wie
bisher
auch,
und
111
Das
ist
selbstverständlich
eine
spezifische
Feuerbach-Exegese
und
eine
spezifische
philo
sophiehistorische
Verortung.
Nach
diesem
Verständnis
fällt
Feuerbach
nicht
hinter
Kant
und
Hegel
zurück;
er
beginnt
nicht
vor
jenen
noch
einmal
ganz
neu,
sondern
akzeptiert
das
Erreichte
und
verändert
es.
Wichtig
ist
mir
das
systematische
Argument,
und
nicht
die
These
zur
Feuer
bach-Interpretation.
Aber
als
pauschaler
Hinweis
sei
wenigstens
genannt,
daß
das
Wesen
des
Christentums
ursprünglich
Kritik
der
unreinen
Vernunft
heißen
sollte;
vgl.
GW
9
(
Anm
2),
S
80f.
11
Vgl.
z.B.
Niklas
Luhmann:
Die
Gesellschaft
der
Gesellschaft.
Frankfurt
a.
M
2
1999
S
57f.
17
Vgl.
auch
Etienne
Balibar:
The
Philosophy
of
Marx.
Translated
by
Ch.
Turner.
London,
New
York
1995.
88
Volker
Schürmann
dann
auch
noch
nach
draußen
in
die
weite
Welt
zu
gehen,
um
dort
Veränderun
gen
vorzunehmen.
Das
Philosophieren
selbst
müsse
ein
anderes
werden
-
so
der
Marxsche
Stachel.
Was
aber
wäre
denn
eine
politisch
geleitete
Philosophie,
die
sich
von
einem
politischen
Aktionismus
grundsätzlich
unterscheidet?
Wie
sehe
denn
ein
so
gewendeter
Begriff
philosophischer
Wahrheit
aus?
Wer
einem
politischen
Aktionismus
nicht
das
Wort
reden
will,
der
insistiert
dar
auf,
daß
Praxis
und
Geschichte
nicht
selbst
zu
uns
reden.
Jeder
Verweis
auf
Pra
xis
und
Geschichte
unterliegt
dann
und
insofern
selbst
den
Bedingungen
der
Möglichkeit
von...
Sprich;
Will
man
Marx
nicht
zum
politischen
Aktionisten
machen,
dann
muß
man
ihn
in
irgendeinem
Sinne
zum
Transzendentalphiloso
phen
machen.
Und
das
ist
mit
dem
landläufigen
Selbstverständnis
von
Marxisten
offenkundig
nur
schwer
vereinbar.^
Der
Preis
jenes
Ausgangspunkts
ist
also
offenbar
ein
Rückzug
in
die
Transzen
dentalphilosophie,
um
bestimmte
Folgeprobleme
erst
gar
nicht
aufkommen
zu
lassen.
Irgendein
Begriff
philosophischer
Wahrheit
soll
gerettet
werden
-
und
das
wiederum
ist
wohl
mit
einigem
Recht
dem
Verdacht
der
Scholasterei
ausge
setzt.
Um
einen
in
diesem
Kontext
unverdächtigen
Zeugen
zu
variieren;
>Sag
’
nicht,
ein
Begriff
philosophischer
Wahrheit
muß
zu
retten
sein,
sondern
schau
’
,
ob
er
zu
retten
ist.<
(Wittgenstein)
5.
Folge
Anknüpfend
an
den
hier
gewählten
Ausgangspunkt
geht
es
also
auch
weiterhin,
auch
für
Feuerbach,!
4
um
eine
Klärung
der
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erfahrung.
Und
zwar
nachdrücklich
um
die
bei
Kant
vorliegende
zugespitzte
Version,
nämlich
um
die
Klärung
der
Bedingungen
der
Möglichkeit
der
Erfah
rung
überhaupt.
Kant
behauptet
Ingredienzien
von
Erfahrungen,
die
nicht
dieser
oder
jener
bestimmten
Erfahrung,
sondern
eben
der
Erfahrung
überhaupt
ge
schuldet
sind.
Gesucht
sind
damit
logische
Bestimmungen,
die
in
dem
Sinne
rein
formale
Bestimmungen
sind
als
sie
nicht
der
Inhalt
einer
bestimmten
einzelnen,
konkreten
Erfahrung
sein
können.
Daraus
folgt
zwingend,
daß
diese
Bedingun
gen
der
Möglichkeit
entweder
in
gar
keinem
Sinne
selbst
erfahrbar
sind
oder
aber
13
Nach
meiner
Wahrnehmung
ist
das
Buch
von
Hartmann,
in
dem
er
die
Marxsche
Philo
sophie
als
Transzendentalphilosophie
interpretiert
(vgl.
Klaus
Hartmann:
Die
Marxsche
Theo
rie.
Eine
philosophische
Untersuchung
zu
den
Hauptschriften.
Berlin
1970),
unter
Marxisten
nicht
gerade
der
Renner;
nicht
einmal
der
Mühe
der
Abgrenzung
scheint
dieses
Buch
dort
wert
zu
sein.
14
Der
Umweg
über
Marx
war
hier
ja
nur
ein
didaktischer,
weil
dort
das
Folgeproblem
ins
Kraut
geschossen
ist.
Anfangs-Erfahrung
89
in
einem
gänzlich
anderen
Sinne
von
>erfahrbar<,
denn
es
sind
dann
auch
noch
Bedingungen
der
Möglichkeit
der
Erfahrung
ihrer
selbst.
13 14
15
*
5.1.
Die
1.
Variante
ist
die,
die
wirkungsgeschichtlich
der
Transzendentalphilosophie
im
engeren
Sinne
zugeschrieben
wird:
der
Apriorismus
als
ein
Geschäft
vor
aller
Erfahrung.
In
irgendeinem
Sinne
sei
dort
von
einer
ahistorischen,
schlicht
gege
benen
Grundausstattung
unseres
Erkenntnisapparates
die
Rede.
Kant
erklärt
aus
drücklich,
daß
logische
Grundsätze
nicht
von
»der
Zeit
affiziert«
seien
(KrV
B
191
f.)
-
und
eben
dies
ist
das
Skandalen
nicht
nur
für
Feuerbach.
Weil
diese
Va
riante
so
wirkmächtig
war
und
ist,
deshalb
konnte
u.a.
die
Evolutionäre
Erkennt
nistheorie
so
viel
Lärm
machen,
ohne
dabei
zu
merken,
daß
sie
an
Kants
Problem
vorbeiredet.
Es
hilft
eben
nichts,
einfach
eine
Geschichte
zur
Gewordenheit
jener
Grundausstattung
zu
erzählen,
denn
das
verlangt,
mit
Kant,
seinerseits
gewisse
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
evolutionstheoretischer
Erfahrung.
Man
kann
Kants
Problem
ignorieren
oder
sonstwie
abschaffen,
aber
man
kann
es
nicht
durch
Naturalisierung
oder
Historisierung
lösend
Trotzdem
kann
man
aus
guten
Gründen
mit
dieser
Variante,
die
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erfahrung
überhaupt
gegen
Erfahrung
zu
immunisieren,
sehr
unzufrieden
sein.
Kurt
Röttgers
hat
es
schön
auf
den
Punkt
gebracht;
»Die
Ver
nunft
ermöglicht
zwar
Erfahrungen,
wie
uns
die
Transzendentalphilosophie
lehrt,
aber
sie
macht
keine
und
sie
braucht
auch
keine.«
17
*
Bei
Röttgers
richtet
sich
das
dagegen,
daß
die
Vernunft
selbst
nicht
mehr
belehrbar
ist
durch
Erfahrungen,
die
sie
nicht
schon
nach
eigenem,
feststehenden
Maß
eingemeindet
hat:
jede
neue
Erfahrung
ist
immer
nur
eine
andere,
niemals
aber
eine
fremde.
Bei
Hegel
richtet
sich
das
dagegen,
die
Humanität
mit
Füßen
zu
treten,
denn
zwangsläufig
sei
ein
solches
Vernunftkonzept
die
Beschwörung
eines
Hortes
von
Unmittelbarkeit
und
damit
ein
Appell
ans
inwendige
Orakel.
Gegen
alle
Naturalisierung
ist
dann
ein
nicht-transzendentalphilosophischer
Modus
von
Transzendentalphilosophie
ge
sucht.
15
Hier
entspringt
das
viel
diskutierte
Problem
des
Verhältnisses
von
Glauben
und
Wissen
und,
insbesondere,
der
fulminante
Unterschied
der
Kantschen
und
der
Hegelschen
Philosophie.
Hegel
wollte
eben
keinen
Platz
schaffen
für
den
Glauben,
sondern
wollte
das
Absolute
noch
wissen.
Deshalb
güt
Kant
heutzutage
in
der
Regel
als
der
bescheidenere,
während
spekulative
Philosophie
beinahe
nur
noch
als
Überflug
über
bodenständige
Tatsachen
bekannt
ist.
15
Eindringlich
dazu
Gerold
Prauss:
Die
Welt
und
wir.
Stuttgart,
Weimar
1990ff,
17
Kurt
Röttgers:
Kategorien
der
Sozialphilosophie.
Magdeburg
2002,
S.
284.
Vgl.
auch
Eugen
Fink:
Sein
und
Mensch.
Vom
Wesen
der
ontologischen
Erfahrung.
Hg.
von
E.
Schtttz/F,-
A.
Schwarz.
Freiburg,
München
1977,
S.
70f.
90
Volker
Schürmann
5.2.
Die
2.
Variante
setzt
darauf,
daß
die
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erfah
rung
überhaupt
selbst
auch
erfahrbar
sind,
aber
dann
eben
notwendigerweise
in
einem
grundsätzlich
anderen
Sinn.
Grundsätzlich
anders
heißt
aber
nicht,
daß
es
einfach
zwei
gänzlich
verschiedene
Bedeutungen
von
>Erfahrung<
sind.
Das
Pro
blem
löst
sich
nicht
dadurch,
daß
man
eine
schlechte
Äquivokation
wittert.
Viel
mehr
liegt
tatsächlich
eine
notwendige
Äquivokation
vor:
die
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erfahrung
überhaupt
sind
nunmehr
auch
noch
Bedingungen
der
Möglichkeit
der
Erfahrung
ihrer
selbst.
Eugen
Fink
spricht
von
»ontologischer
Erfahrung«
und
gewinnt
dieses
Konzept
an
Hand
einer
Hegel-Lektüre.
Explizit
wird
der
Schritt,
die
transzendentalphilosophische
Vernunft
als
eine
selbst
be
dingte
und
belehrbare
zu
denken,
dann
bei
Feuerbach,
vornehmlich
in
dessen
Redeweise
vom
»Gefühl
der
Abhängigkeit«
18
Dort
freilich
noch
gegen
Hegel.
5.3.
An
der
möglichen
3.
Variante
rede
ich
hier
betont
vorbei.
Die
ist
bei
Marx,
wenn
auch
nicht
eindeutig,
angelegt.
Die
Strategie
liegt
darin,
in
Kants
Formel
das
kleine
Wörtchen
>überhaupt<
zu
streichen.
Marx
und
Engels
können
mit
Hegels
Logik
bekanntlich
nichts
anfangen
und
sehen
darin
ausschließlich
obskure
Ge
danken
Gottes
vor
der
Erschaffung
der
Welt.
Deshalb
lösen
sie,
wenn
auch
nicht
eindeutig,
die
Logik
auf
in
eine
Vielheit
von
eigentümlichen
Logiken
eigentüm
licher
Gegenstände.
Und
dieses
Hohelied
des
Plurals
hat
sich
heutzutage
weitge
hend
durchgesetzt.
Man
kann
eine
beliebige
Hegel-Kritik
herausnehmen,
das
Er
gebnis
ist
beinahe
immer
irgendeine
Variante
davon,
daß
wer
ernsthaft
einen
Singular
gebraucht
und
dies
auch
noch
so
meint
(z.B.
Diskurs
statt
Diskurse),
wohl
vom
metaphysischen
Teufel
sein
muß.
Eine
solche
Abdankung
des
Singu
lars
Erfahrung
überhaupt
hat
schlicht
ihren
Frieden
mit
Hume
geschlossen:
dann
starren
wir
365
mal
pro
Jahr
in
den
Sonnenaufgang,
und
irgendwann
glau
ben
wir,
daß
wohl
Kausalität
im
Spiel
sein
muß.
6.
Folge
Ich
spinne
also
die
2.
Variante
weiter
fort.
Konzipiert
werden
möge
die
Erfahr-
barkeit
(2.
Ordnung)
der
Bedingungen
der
Möglichkeit
von
Erfahrungen
(1.
Ord
nung),
oder
kurz:
die
Bedingtheit
der
Vernunft.
Dafür
steht
programmatisch
Feu
erbachs
Rede
vom
»Gefühl
der
Abhängigkeit«
-
»das
Gefühl
oder
Bewußtsein
18
Vgl.
Ludwig
Feuerbach:
Das
Wesen
der
Religion
[1846].
In:
Ludwig
Feuerbach,
GW
(Anm.
2),
Bd.
10
(1971),
S.
3-79.
Anfangs-Erfahrung
91
des
Menschen,
daß
er
nicht
ohne
ein
andres,
von
ihm
unterschiednes
Wesen
exi
stiert
und
existieren
kann,
daß
er
nicht
sich
selbst
seine
Existenz
verdankt«.
19
*
Bereits
Rudolf
Otto
29
weist
daraufhin,
daß
der
Ausdruck
»Gefühl«
eine
Art
Ver
legenheitswort
ist;
jener
grundsätzlich
andere
Sinn
von
>erfahrbar<
verschiebt
notwendig
die
Bedeutung
von
>Gefühl<.
Bei
Feuerbach
ist
das
eigentlich
auch
ganz
klar
-
aber
so
klar
dann
wieder
doch
nicht.
Er
nennt
dieses
Prinzip
der
Nicht-Philosophie
—
»dieses
vom
Denken
unterschiedene,
unphilosophische,
ab
solut
antischolastische
Wesen
in
uns«
21
-
das
»Prinzip
des
Sensualismus«.
Das
ist
nun
arg
mißverständlich,
denn
die
Kombination
beider
Emphasen
-
Nicht-
Denken
und
Un-Philosophie
einerseits
und
Sensualismus
andererseits
—
ergibt
gewöhnlich
die
Beweihräucherung
einer
so
genannten
unmittelbaren
Erfahrung,
die
uns
nun
wirklich
und
ganz
in
echt
eine
echt
authentische
Authentizität
liefert.
Davon
ist
Feuerbach
-
mindestens
dem
eigenen
Wortlaut
und
Anliegen
nach
-
weit
entfernt.
Sehr
vehement
betont
er,
daß
das
Sinnliche
gerade
nicht
in
diesem
Sinne
das
Unmittelbare
sei.
22
23
Das
Sinnliche
sei
kein
unmittelbar
gegebener
Aus
gangspunkt,
an
den
man
fraglos
anknüpfen
könnte,
sondern
vielmehr
das
Ziel
der
Bewegung.
Eigentliche
Sinnlichkeit
ist
in
der
Anschauung
der
Vorstellung
und
Phantasie
gerade
verdeckt,
und
diese
erste
Anschauung
des
Menschen
muß
zur
wahren
Anschauung
erst
gemacht
werden.
»Die
Aufgabe
der
Philosophie,
der
Wissenschaft
überhaupt
besteht
daher
nicht
dar
in,
von
den
sinnlichen,
d.i.
wirklichen
Dingen
weg,
sondern
zu
ihnen
hin
zu
kom
men
-
nicht
dann,
die
Gegenstände
in
Gedanken
und
Vorstellungen
zu
verwan
deln,
sondern
darin,
das
den
gemeinen
Augen
Unsichtbare
sichtbar,
d.i.
gegen
ständlich,
zu
machen.«
22
In
diesem
Sinne
muß
der
Ausdruck
»Gefühl
der
Abhängigkeit«
gelesen
werden;
nicht
als
Verweis
auf
eine
unmittelbare
Naturerfahrung,
was
immer
das
auch
sein
möge.
Es
ist
die
Anerkennung
einer
(Natur-)Erfahrung
als
Grund
aller
Erfahrung.
»Das
Abhängigkeitsgefühl
des
Menschen
ist
der
Grund
der
Religion;
der
Gegen
19
Ebd.,
§
3.
-
Die
Berechtigung,
diese
Rede
nicht
nur
auf
»den
Menschen«
zu
beziehen,
sondern
hierin
jenes
von
Feuerbach
eingeklagte
passive
Prinzip
der
Philosophie
bzw.
der
Ver
nunft
zu
sehen,
ergibt
sich
aus
Feuerbachs
Konzept
der
Anthropologie
als
prima
philosophia.
29
Vgl.
Rudolf
Otto;
Das
Heilige.
Über
das
Irrationale
in
der
Idee
des
Göttlichen
und
sein
Verhältnis
zum
Rationalen
[1917],
München
1991.
21
Feuerbach,
Thesen
(Anm.
2),
S.
254,
22
Ludwig
Feuerbach;
Grundsätze
der
Philosophie
der
Zukunft
[1843].
In:
Ludwig
Feuer
bach,
GW
(Anm.
2).
Bd.
9
(1970),
S.
264-341,
hier:
§
44.
23
Ebd,
-
Der
gleiche
Befund
ergibt
sich,
wenn
man
nicht
den
Aspekt
der
Nicht-Philosophie
betont,
sondern
den
Aspekt
der
Passivität.
Der
Leib,
der
vorzugsweise
dafür
steht
und
als
»Pas
sivität
des
Ich«
gilt
(Feuerbach,
Anfang
[Anm.
5],
S.
153),
ist
explizit
gerade
nicht
im
direkten
Sinne
unser
empirischer
Körper,
sondern
der
»spekulative
Leib«.
92
Volker
Schürmann
stand
dieses
Abhängigkeitsgefühls
[...]
ist
aber
ursprünglich
nichts
andres
als
die
Natur.«
24
Und
diese
Abhängigkeit
»zum
Bewußtsein
erheben,
sie
sich
verstellen,
beherzigen,
bekennen
heißt
sich
zur
Religion
erheben.
So
ist
alles
Leben
abhängig
vom
Wechsel
der
Jahreszeiten;
aber