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Sport als Zivilreligion!?

Authors:
Volker Schürmann
(Hrsg.)
Sport und Zivilgesellschaft
Bibliografische Informationen der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deutschen National-
bibliografie; detaillierte bibliografische Informationen sind im Internet unter
<http://dnb.ddb.de> abrufbar.
Volker Schürmann (Hrsg.)
Sport und Zivilgesellschaft
Reihe: Sportwissenschaften • Band 9
© 2012
Lehmanns Media • Verlag
Hardenbergstraße 5 • 10623 Berlin
www.lehmanns.de
ISBN: 978-3-86541-509-7
Druck und Bindung: docupoint magdeburg • Barleben
Inhaltsverzeichnis
Sport und Zivilgesellschaft: Zur Einführung
Volker Schürmann ........................................................ 7
Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft
Hans-Peter Krüger ...................................................... 19
Solidarität mit und ohne Ziel – Bedingungen der
Verbundenheit in Sport und Gesellschaft
Thomas Bedorf........................................................... 39
Leistungssport und Zivilgesellschaft in Deutschland.
Grundsätzliche Fragen und aktuelle Probleme
Robert Prohl ............................................................... 57
Fußball und Öffentlichkeit im 21. Jahrhundert.
Von der Kulturkritik an einer Massenveranstaltung
zu einem neuen bürgerlichen Einverständnis
Martin Gessmann ....................................................... 81
Der Fußballplatz als Ort der Vergemeinschaftung
Rudolf Oswald .......................................................... 101
Sport als Zivilreligion!?
Volker Schürmann .................................................... 117
Spielt Deutschland gegen den Abstieg?
Sportmetaphern in der politischen Sprache
Armin Burkhardt ....................................................... 141
Zivilgesellschaftlicher Widerstand gegen Olympia –
inhaltsanalytische Befunde zu den Positionen und
der Resonanz der »NOlympia 2018«-Bewegung
Holger Ihle / Jörg-Uwe Nieland ................................. 167
Sport und Protest: Motive und Repertoires von
Sportprotest als Ausdruck zivilgesellschaftlichen
Engagements
Jürgen Mittag ........................................................... 191
Sport als Zivilreligion!?
Volker Schürmann
»Es ist ein auch heute noch nicht ganz ausgestorbener Irr-
tum, man könne die religiöse Betrachtung der Wirklichkeit
fallen lassen, ohne daß einem etliches andere mit abhanden
kommt, auf das man weniger leicht verzichten möchte.«
(Spaemann 1987, 302)
»Eins bleibt für alle Religiosität charakteristisch: sie schafft
ein Definitivum. Das, was dem Menschen Natur und Geist
nicht geben können, das Letzte: so ist es –, will sie ihm ge-
ben. […] Wer nach Hause will, in die Heimat, in die Gebor-
genheit, muß sich dem Glauben zum Opfer bringen. Wer es
aber mit dem Geist hält, kehrt nicht zurück.« (Plessner
1928, 342 [= GS IV, 420])
Der folgende Beitrag ist das Zwischenergebnis einer doppelten
Suchbewegung. Zum einen geht es um die Frage nach den Zu-
sammenhängen von modernem Sport und Öffentlichkeit, zum an-
deren um das Geheimnis der Rede Coubertins, das »erste und
wesentliche Merkmal des alten wie des modernen Olympismus«
sei, »eine Religion zu sein« (Coubertin, zit. n. Alkemeyer 1996,
146). Die Grundidee besteht darin, beides aufeinander zu bezie-
hen, also zu fragen, ob und in welchem Sinne die rätselhafte Rede
Coubertins eine Antwort auf die Frage nach der Rolle des Sports in
modernen Gesellschaften resp. in deren öffentlicher Selbstverstän-
digung ist. Kurz gefragt: Taugt der Sport als Zivilreligion –
falls
er
denn als Inszenierung des Citoyen gelten kann (Schürmann 2006)?
Das Anliegen
Der Name
Zivilreligion
ist insofern ausschließlich ein Name für ein
systematisches Problem, d.h. für einen gesellschaftstheoretischen
Ort. Das Anliegen ist ein begriffspolitisches. Da Begriffspolitik in
der Bestimmung von Begriffen und der Wahl der Begriffsbezeich-
nungen nicht nicht stattfinden kann (Lübbe 1998), kann man ver-
schiedenen Strategien folgen. Ich halte mich hier an die Empfeh-
lung Benjamins, »die Geschichte gegen den Strich zu bürsten«
118 | Sport als Zivilreligion!?
(Benjamin 1940, 145), gespeist von der Hoffnung, dort
unabgegoltenen »Vorschein« (Bloch 1959) zu bergen.
Den modernen Olympismus als Religion zu bestimmen, scheint
anachronistisch zu sein. Darin sind sich Kritiker und Anhänger
Coubertins einig. Letztere übergehen daher diese Charakterisie-
rung schamvoll oder verharmlosen sie, etwa zu einer pädagogi-
schen Vermittlung moralischer Werte – Kritiker Coubertins vermö-
gen in ihr ausschließlich Ideologisches, also Opium für das Volk,
also nicht einmal Opium des Volkes zu sehen. Gegen den Strich
gebürstet, ist jene Charakterisierung möglicherweise nicht ana-
chronistisch, sondern zutiefst modern. – Das Programm einer Zivil-
religion bei Rousseau scheint ein (Erbauungs-)Programm für die
Herzen zu sein; Terrorismus der Tugend dort, wo kühle Rationali-
tät nicht mehr greift. Kulturkritik affirmiert das bis heute – aufge-
klärten Geistern ist
deshalb
Rousseau bis heute zuwider.1 Gegen
den Strich gebürstet, ist Rousseau vielleicht – Rehm (2006) und
andere liefern Hinweise Teil der besseren Aufklärung.
Der gesellschaftstheoretische Ort, um den es geht, ist das Prob-
lem der Organisation von Zustimmung zur gesellschaftlichen Ord-
nung – Zustimmung im Sinne von Pieper (Pieper 1963) als »Zu-
stimmung zur Welt«, in der wir leben, freilich mit anti-theo-
logischem Stachel: Nicht als Zustimmung zu einer vor-gegebenen
Ordnung, sondern zu einer gegebenen Ordnung, die von Personen
gemacht ist und durch Personen gestaltet wird.2 – Religion ist inso-
1 Vgl. exemplarisch Rudolph (2011). Ich teile alle dort formulierten Vor-
behalte gegen den Rousseauismus, aber der Beitrag schießt darüber
hinaus. Rousseau und Rousseauismus werden gleichgesetzt, und es gilt
als alternativlos, dass »seit Jacob Talmon und Iring Fetscher« ausge-
macht ist, »dass Rousseau als der Begründer eines Konzepts der ›totali-
tären Demokratie‹ zu gelten hat« (ebd. 113f.). Damit aber wird Rous-
seau (und Hegel; ebd.) zu leichtfertig entsorgt, denn nunmehr sind alle
theoretischen Mittel aus der Hand gegeben, den Freiheitsbegriff als sol-
chen zu transformieren: weg von einer Willkür-Freiheit, der gemäß der
Andere immer nur Einschränkung des »autonomen Individuums« sein
kann, hin zu einer Ermöglichungs-Freiheit, der gemäß es Freiheitsspiel-
räume nur im Miteinander gibt (zu dieser nicht harmonisierbaren Diffe-
renz Kobusch 2011).
2 Um falsche Gegnerschaften zu vermeiden: »Zustimmung« hat, auch und
gerade für den Theologen Pieper,
zwei
Modi, nämlich
Affirmation
und
Kritik an
. Auch wer die Welt kritisiert, stimmt ihr noch zu, denn ihm
liegt an Veränderung und also an der Welt – anders als dem gleichgül-
tig Lauen, den Jesus ausspeien wollte. »Zustimmung« ist also nicht per
se Affirmation des Herrschenden. Die Differenz liegt woanders: Dem
Theologen ist die Welt deshalb gut oder schlecht, weil sie transzendent
Volker Schürmann | 119
fern als Bezeichnung dieses theoretischen Ortes passend, als es re-
ligio meint, also die Rückbindung der gesellschaftlichen Individuen
an die Polis resp. an die Bürgerschaftlichkeit, was freilich nicht
zwingend im Modus des Religiösen erfolgt, also nicht zwingend als
Anbetung von Vor-Gegebenem, sondern was sich auch als Feiern
des im Miteinander Gegebenen vollziehen kann. Aber auch dann
noch ist re-ligio eine Bindung, und insofern ist ein Fest mehr und
anderes als das Ausleben von Freude: »Fest ohne Götter ist
Unbegriff« (Pieper; vgl. Schürmann 2003). In anti-theologischer
Absicht beschwört das keinen Glauben an Götter, macht aber auf
ein sachliches Minimum aufmerksam, ohne das bindende Zustim-
mung nicht zu haben ist. Zustimmung zur (gesellschaftlichen) Welt
ist nicht mehr oder weniger umfassende Zustimmung zu diesem
oder jenem
in
der Welt, sondern ist Zustimmung zu einem Maß,
das macht, solch innerweltlichen Dingen zuzustimmen oder auch
nicht. Auch atheistisch gilt daher noch: Fest ohne Heiliges ist
Unbegriff.3 Dabei ist »Heiliges« schlicht, aber strikt, strukturell
definiert, nicht aber durch eine Inhaltsangabe geheiligter Dinge:
Das Heilige ist nicht ein Wert neben allen anderen, sondern jenes
Maß, das rein logisch in den Augenblicken nicht zur Disposition
stehen kann, in denen wir darum streiten, was uns wertvoll ist.4 In
verbürgt ist, und nur insofern kann sie nicht eigentlich schlecht sein:
gut ist sie per se, schlecht
wird
sie ggf. durch unser sündiges Tun.
3 Feuerbach machte den Menschen zum »religiösen Wesen«, lehnte dabei
aber strikt ab, dies als eingeborenen Theismus, d.h. als Gottesglauben
zu interpretieren. Man möge vielmehr unter Religion nichts weiter ver-
stehen »als das Abhängigkeitsgefühl – das Gefühl oder Bewußtsein des
Menschen, daß er nicht [...] sich selbst seine Existenz verdankt«. Das
gelte für alles Leben; »aber nur der Mensch feiert [diese Abhängigkeit]
in dramatischen Vorstellungen, in festlichen Akten« (Feuerbach 1846, §
3, S. 4f.).
4 Man sieht hier, dass der erhebliche Teil des Problems ein logisches (ei-
nes Selbstbezuges) ist. Streng genommen muss hier nämlich von einem
Allerheiligsten die Rede sein, denn selbstverständlich gibt es jene Situa-
tionen, in denen im Streit darum, was uns (= den soeben Streitenden)
wichtig ist, sichtbar wird, dass wir verschiedene Maßstäbe in Anschlag
bringen. Das Heilige ist also selbstredend plural, und die verschiedenen
Maßstäbe können unverträglich, ja antagonistisch sein. Aber auch dann
noch ist ein logisches Minimum, ein Allerheiligstes, im Gebrauch, denn
sonst wäre es kein Miteinander-Streiten, sondern ein voreinander Ge-
räusche-Produzieren. Der Verweis auf diesen Singular will also nicht auf
einen vermeintlichen, und sei es kontrafaktischen Konsens hinaus, und
dieser Verweis will nicht »versöhnen«, um den Anti-Hegelianern ver-
ständlich zu bleiben, sondern sagt ausschließlich, dass ein Streiten et-
was anderes ist als ein Aneinandervorbei›reden‹.
120 | Sport als Zivilreligion!?
eben diesem Sinne ist das Heilige nicht auf das Moralische, Päda-
gogische oder sonstwie Normative reduzierbar (Otto 1917).
Maß
ist
daher ein Gegenbegriff u.a. zu »Grundwerte«.5
Freilich drängen sich auch andere Namen für die Organisation
von Zustimmung auf: Gewalt, gar Terror – Erziehung zur Moral –
Politik. Die verschiedenen Namen stehen für verschiedene Versio-
nen der Verhältnisbestimmung der (seit Hegel zu unterscheiden-
den) Dimensionen
Rechtsstaat
und
Gesellschaft
. Eine »Kritik der
Gewalt« (Benjamin) spürt dem Anderen des Rechts im Recht nach
(Menke 2011); der Verweis auf Erziehung und Moral will eine Be-
schränkung des Rechts von einem Außerhalb des Rechts; das Poli-
tische steht für einen Vermittlungsmodus – sei es den der Suspen-
dierung des Rechts in souveränen Dezisionen (Carl Schmitt), sei es
den der Depotenzierung in der Verschränkung von Recht und Ge-
sellschaft (Plessner).6
Der Sache nach geht es daher im Folgenden um die Grenze des
Rechts. Gesellschaftliche Verhältnisse sind nicht so formal, wie sie
nach vormodernen Vertragstheorien und politischem Liberalismus
zu sein haben, denn auch die Rechtsform hat ihre eigene Materiali-
tät. Und dem entsprechend geht es im Folgenden nicht um mögli-
che Rollen des Sports in und für Vergemeinschaftungen – nicht um
Öffentlichkeiten
in
der Gesellschaft , sondern um fragliche Rollen
des Sports in und für die Gestaltung der Gesellschaftlichkeit selber
– um die Öffentlichkeit
der
Gesellschaft. Oder abkürzend: Es geht
um Sport als »Gesellschaftshandeln«, nicht um Sport als »Gemein-
schaftshandeln« (Habermas 1992, 97).
5
Maß
zielt auf eine Materialität der Form, nicht aber auf eine Inhaltsan-
gabe – es geht gerade nicht um unter Staatsbürgern konsensfähige
»religiöse und theologische Gehalte des politischen Diskurses« (so Vö-
gele 1994, 18). Oder anders: Es geht nicht um Inanspruchnahme eines
»empirischen Konsenses«, sondern um eine »laufend in Anspruch ge-
nommene Prämisse. Daher ist auch keine ›Konkretisierung‹ möglich,
die Form und Gehalt des Allgemeinen bewahrt und es nur mit Inhalt
füllt.« (Luhmann 1978, 348)
6 Zur Entgegensetzung von Suspendierung und Reflexion (»Entsetzung«)
des Rechts vgl. Menke (2011, 63f., 93-103); die Charakterisierung des
Gegenprogramms zu Schmitt als »Depotenzierung« (ebd. 100) ent-
spricht exakt dem, was Plessner »Unentscheidbarkeit«, »Grundlosig-
keit« und mit König »Verschränkung« nennt, und dies wiederum
scheint mir mit dem übereinzustimmen, was Gramsci »Hegemonie« ge-
nannt hat (vgl. Frosini 1990, Holz 1992, Buckel & Fischer-Lescano
2007).
Volker Schürmann | 121
Das Problem einer Zivilreligion
Zivilreligion
steht also für das gesellschaftlichen Ringen um breite
gesellschaftliche Übereinstimmung über die Maßstäbe guten Den-
kens und Handelns.
Zunächst scheint es so, dass die Frage nach dem gesellschafts-
theoretischen Ort von
Zivilreligion
sehr schnell geklärt ist. Ange-
sichts der Frage, ob denn eine Zivilreligion noch ernsthaft einen
Platz haben kann in modernen, säkularen Zivilgesellschaften, muss
die Antwort zunächst zweigeteilt sein – aber in beiden Teilen
scheint sie sonnenklar zu sein. Zum einen ist damit nämlich die
Frage gestellt, ob es noch ernsthaft religiöses Leben
innerhalb
von
modernen Gesellschaften geben kann. Das wiederum kann gar
keine Frage sein, denn daran gibt es gar keinen Zweifel: Selbstver-
ständlich gibt es das, ob einem das als Atheist individuell passt
oder nicht.
Zum anderen ist damit die Frage gestellt, ob moderne Gesell-
schaften als Gesellschaften ernsthaft noch religiös fundiert sein
können. Und auch das scheint gar keine Frage mehr sein zu kön-
nen: Selbstverständlich nicht, so möchte man doch energisch fest-
halten, und zudem darauf verweisen, dass man das spätestens seit
der Trennung von Kirche und Staat auch zweifellos wissen kann.
Gott ist nun einmal tot, und also verbietet sich jede Fundierung
moderner Gesellschaften in vor-geordneten, sog. göttlichen Ord-
nungen. Genau das meint ja Säkularisation.7
Damit scheint der Fall »Zivilreligion« erledigt zu sein. Und dies
ist nicht nur schlechter Schein. Alles Folgende kann, will es nicht
bös anachronistisch werden, jenen beiden klaren Antworten nicht
widerstreiten: Es
ist
unstrittig, dass es religiöses Leben
in
moder-
nen Gesellschaften gibt, und es gibt empirische Evidenzen zuhauf,
dass der Sport in und mit seinen Vergemeinschaftungs- und Insze-
nierungsformen nur zu oft (und zu gern?) die funktionale Rolle
einer Religion oder eines Religionsersatzes
im
gesellschaftlichen
Leben übernimmt. Und es ist hier ebenso unstrittig, dass jedes
Konzept von Religion unangemessen ist, das sich ernsthaft an-
maßt, eine vorgesellschaftliche Legitimationsstruktur moderner,
säkularer Gesellschaften bereitzustellen. Damit scheiden hier ins-
besondere alle noch immer propagierten Konzepte einer positiven
7 »In diesem Sinne heißt Säkularisation schlicht ›der Entzug oder die
Entlassung einer Sache, eines Territoriums oder einer Institution aus
kirchlich-geistlicher Observanz und Herrschaft‹ (Lübbe).« (Böckenförde
1967, 93)
122 | Sport als Zivilreligion!?
Zivilreligion aus, die durchgehend das
Religion
in
Zivilreligion
an
Religiosität binden, also an ein gewolltes Bekenntnis zu gewissen
Inhalten resp. Glaubenssätzen (vgl. Vögele 1994; Kleger 2011;
kritisch Gessmann 2008), selbst dort noch, wo so etwas säkulare
Kompensation von Kontingenz sein soll (Lübbe 1981). Wer Pless-
ner kennt, will nicht zurück.
Was sollte dann aber noch eine Zivil
religion
säkularer Gesell-
schaften sein? Der systematische Einsatzpunkt scheint mir der
Folgende zu sein:
Wenn es für moderne Zivilgesellschaften konstitutiv ist,
a) dass um das, was für das Leben der Gesellschaft das Beste ist,
in aller Öffentlichkeit gerungen wird, und
b) dass dem verbrieften Rechtsanspruch nach Alle als Personen
gleicher Rechte und also als Mitdiskutanten zu gelten haben,
dann ist noch unklar – und dies macht sozusagen das Geheimnis
der Aufklärung aus , woher die Maßstäbe kommen, vermittels
derer das je Beste überhaupt bestimmt wird. Die klassische Aufklä-
rung hat es sich hier leicht gemacht; sie hat an dieser Stelle die
Vernunft einspringen lassen, die wiederum den klassischen Aufklä-
rern als Eine galt, die unterschiedslos allen Menschen gleicherma-
ßen zukam. Kant konnte bekanntlich locker die Menschheit in uns
allen lokalisieren. Das bedeutet: Es konnte klassisch aufklärerisch
angesichts alles Möglichen gestritten werden, ob es vernunftgemäß
sei oder nicht, aber die Vernunft selber war vorgegeben und out of
discussion. Klassische Aufklärung praktizierte einen Glauben an die
Vernunft, weil und insofern sie eine unbedingte Vernunft kannte.
Bereits zeitgenössisch ist das auch
von Aufklärern
kritisiert wor-
den. Lessing etwa hat in
Ernst und Falk
sehr wunderbar herausge-
stellt, dass bei aufklärerischer Absicht die Maßstäbe selber diskuta-
bel sein müssen. Herder und Hamann haben die Sprachlichkeit,
und also die historische und kulturelle Bedingtheit der Vernunft
herausgestellt, Feuerbach und Plessner haben die Parteilichkeit,
d.h. Situiertheit und damit Nicht-Neutralität jeder Vernunft-
Konzeption
im
»Kampfplatz dieser unendlichen Streitigkeiten«
(Kant) herausgestellt, um von Marxens Verortung von Kritik in
geschichtlich wechselnden Gesellschaftsformationen noch gar nicht
zu reden.
All diese Vernunft-Kritiker im Namen der Aufklärung gerieten
freilich ins Fahrwasser der Gegenaufklärung oder gar Anti-
Aufklärung und/oder in den Stallgeruch des politischen Dezisionis-
mus. Wer die Maßstäbe des guten gesellschaftlichen Lebens selbst
Volker Schürmann | 123
für historisch wandelbar hält, und also durch unsere Entscheidun-
gen festgelegt sieht, der gerät zwangsläufig in die Nähe der Positi-
on, dass alle Moralen und Unmoralen gleich nah zu Gott sind, und
dass es folglich eine Frage der willkürlichen, bloß festlegenden
Entscheidung ist, welcher Maßstab gerade gelten soll. Genau des-
halb, weil das nicht republikanisch, sondern Gewalt- bzw. Willkür-
Herrschaft wäre, genau deshalb träumt Habermas aus guten
Gründen noch immer den schlechten Traum von der Einen huma-
nen Universalmoral, die als unverrückbarer Maßstab feststehen
möge. Dabei weiß Habermas selbst am Besten um alles, was da-
gegen spricht im Kern um den Unterschied von Moral und Recht,
und darum, dass unsere Verfassung, also unsere Rechtsordnung
verbindlich ist, nicht aber eine bestimmte Moral. Vor allem weiß er,
dass wir dies nicht ändern sollten, weil dies der Garant für weltan-
schaulichen Frieden ist: Wir leben nun einmal in Zeiten eines fakti-
schen Pluralismus von Moralen, und die Geltung unserer Rechts-
ordnung ist ausdrücklich unabhängig davon, ob jemand sie christ-
lich, kantisch, atheistisch oder sonstwie begründet. Sie darf also
um des Friedens willen nicht durch eine Moral begründet sein, und
umgekehrt schützt sie sogar die Pluralität von Individualmoralen
und die »Zollfreiheit der Gedanken« (Böckenförde 2007, 29). Man
sollte sich also keine unbedingte Vernunft und erst recht keine
unbedingt fundierte Vernunft wünschen – bei Strafe des Trilemmas
von Gesinnungsdiktatur, Weltanschauungs-Krieg oder zynischer
Gleichgültigkeit in Weltanschauungsfragen.
Die scheinbare Quadratur des Kreises, um die es unter dem
Namen einer Zivilreligion geht, besteht also darin, dass die Maß-
stäbe der Entscheidung über das je Beste der gesellschaftlichen
Entwicklung – probeweise: die Rechtsordnung einer Republik –
verbindlich und kategorisch gelten, und zugleich als durch uns
gemacht und durch uns veränderbar gewusst werden, besser:
behandelt werden.
In diesem Sinne sind die Maßstäbe unserem gesellschaftlichen
Handeln vorgegeben, aber wir haben sie uns uns selber vorgege-
ben. Die Menschenrechts-Erklärungen ratifizieren nichts überhisto-
risch Gültiges, sondern deklarieren
Bestimmtes
, nämlich die Inklu-
sion Aller – gegen die Option der Weiterführung von Exklusions-
Gesellschaften. Mit diesen Deklarationen, heute: mit der Geltung
des Völkerrechts, können wir die Maßstäbe guter gesellschaftlicher
Entwicklung nicht mehr willkürlich-dezisionistisch wählen und fest-
legen, weil sie vorgegeben schon festliegen – aber sie sind gleich-
124 | Sport als Zivilreligion!?
wohl nicht mehr im Status eines unabänderlich vorgegebenen
Schicksals. Rousseau hat das auf eine klare und griffige Formel
gebracht:
»Die Gesellschaftsordnung ist ein heiliges Recht, das die Grund-
lage für alle anderen Rechte ist. Diese Ordnung entspricht aber
nicht der Natur. Sie ist durch Vereinbarungen begründet.« (Rous-
seau 1762, 62)
Eine Zivilreligion im Sinne von Rousseau hat es dann mit der
Zustimmung zu diesem heiligen Recht zu tun – an topologisch
äquivalentem Ort spricht Habermas von »Verfassungspatriotismus«
(Habermas 1992, 642; vgl. auch 14).
Um es zusammenzufassen: Das Moment, das hier die Rede von
»Religion« rechtfertigt, ist der Umstand, dass die Maßstäbe zur
Beurteilung guter zivilgesellschaftlicher Entwicklung
verbindlich
gelten müssen – also gegeben sind und nicht zur Disposition ste-
hen , wenn man nicht einem politischen Dezisionismus, und damit
der Willkürherrschaft von Exklusivmächten das Wort reden will.
Vormoderne Religionen und klassische Aufklärung hatten das
dadurch abgesichert, dass sie eine unbedingte Geltung der Maß-
stäbe zugrunde legten, was nichts weiter besagt, als dass diese
Maßstäbe strikt gar nicht in gesellschaftlicher Verhandlungsmasse
auftauchen, sondern uns schicksalhaft auferlegt wären. Genau das
aber ist in modernen Gesellschaften anachronistisch – und dort,
wo es so praktiziert wird, handelt es sich um nichts weiter als um
eine mehr oder weniger subtile Herrschaftstechnologie.
Anders ausgedrückt: Auch moderne Zivilgesellschaften brau-
chen, oder besser: haben, ein »Allerheiligstes« (Hegel, WdL, HW
5, 14) genau wie vormoderne Gesellschaften auch. Der Unter-
schied liegt darin, dass dieses Allerheiligste nicht mehr als unbe-
dingt, absolut, losgelöst, unabänderlich-feststehend gilt, sondern
seinerseits als prekär. Das hat die Konsequenz, dass es nicht mehr
angebetet werden kann, sondern dass man sich seiner und seiner
Heiligkeit je wieder neu, in rituell-wiederholten Kulten vergewis-
sern muss – olympisch: alle vier Jahre, und profan »immer wieder
Sonntags« (Cindy & Bert).
Das erste Ergebnis meiner Topologie ist somit: In modernen Zi-
vilgesellschaften braucht es eine Zivilreligion, weil die Maßstäbe
ihrer Beurteilung in
bedingter Notwendigkeit
gelten.
Volker Schürmann | 125
Nun gibt es immer noch erhebliche Unterschiede zwischen einer
Religion und einem Patriotismus. Beide waren am ersten Punkt
topologisch äquivalent, weil beide das Moment des Geheiligten
gemeinsam haben. Doch es gibt wichtige Unterschiede.
»Religion« nämlich sagt noch mehr und anderes, nämlich z.B.
sagt sie etwas über das Medium, in dem es zur Vergewisserung
des Allerheiligsten kommt. Ein Kultus ist eine Praktik und keine
theoretische Einsichtnahme – und ob Habermas auf das Medium
kultischer Praktiken wettet, kann mindestens offen bleiben. Für
jede Praktik nun, und erst recht für kultische Praktiken, ist es die
Dimension des Sinnlichen, die unverzichtbar ist. Und insbesondere
für Selbstvergewisserungen ist diese Dimension wohl konstitutiv.
Dieser Punkt ist besonders eindringlich von Coubertin einge-
klagt worden. Die Selbstvergewisserungsfunktion, die eine Demo-
kratie lebendig und wehrhaft sein lässt, lässt sich nicht »rein über
die Köpfe« implementieren, sondern bedarf des sinnlich gewissen
Mittuns: »Glauben Sie nicht, eine Demokratie könne auf normale
Weise existieren, wenn es, um die Bürger zusammenzuhalten, nur
die Gesetzestexte und die Aufrufe zur Wahl gibt. Einst hatte man
die äußeren Feierlichkeiten der Kirche und verschwenderischen
Prunk der Monarchie. Wodurch will man das ersetzen? Durch Ein-
weihungen von Statuen und Ansprachen im Gehrock? … Ach was!«
(Coubertin 1966 [1918], 67; vgl. auch Sandkaulen 2009) Thomas
Alkemeyer hat das sehr schön herausgestellt, und zwar vermittels
der Religionssoziologie von Durkheim (vgl. Alkemeyer 1996a, und
ausführlicher Alkemeyer 1996).
Dies wäre dann die zweite – oder wenn man anders zählt: die drit-
te – topologische Bestimmung von »Zivilreligion«. Ich wiederhole
noch einmal:
Die 0. Bestimmung lautet: Falls man davon ausgeht, dass das, was
für die gesellschaftliche Entwicklung am Besten ist, im Medium
der Öffentlichkeit ausgehandelt wird, weil es nicht vorab schon
festliegt und nur ergriffen werden müsste – und sowohl die an-
tiken Polis-Gesellschaften als auch die modernen Zivilgesell-
schaften sind durch diese Grundannahme konstituiert , dann
braucht es einen verbindlichen Maßstab dieser öffentlichen
Streitkultur.
Die 1. Bestimmung lautet: Falls man moderne Gesellschaften als
demokratische Republiken realisieren will, dann muss jene Ver-
bindlichkeit des Maßstabes den Status einer bedingten Notwen-
126 | Sport als Zivilreligion!?
digkeit haben – in definitiver Abgrenzung zu vormoderner abso-
luter Notwendigkeit einerseits und zu gegenmoderner
dezisionistisch-festgesetzter Willkür andererseits.
Die 2. Bestimmung lautet: Weil ein Maßstab im Status bedingter
Notwendigkeit prekär gilt also weder absolut noch aufgrund
von Zwang noch aufgrund von zwanglosem Zwang , deshalb
bedarf dieser Maßstab je neu der kultischen Vergewisserung
seitens aller Bürger. Dies verlangt seinerseits mehr und anderes
als eine Aufklärung der Köpfe. Und deshalb ist der Sport bzw.
jede moderne Bewegungskultur ein besonders geeigneter Kan-
didat, den Ort einer Zivilreligion auszufüllen.
Das Böckenförde-Theorem
Das alles ist nun mitnichten anachronistisch, ja nicht einmal nos-
talgisch. Es ist exakt diejenige Problemlage, die auch im sog. und
viel zitierten Böckenförde-Theorem formuliert ist: »
Der freiheitli-
che, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst
nicht garantieren kann
. Das ist das große Wagnis, das er, um der
Freiheit willen, eingegangen ist.« (Böckenförde 1967, 112)
Man muss der Antwort von Böckenförde nicht zustimmen, aber
man kann um die Frage wissen, auf die sie antwortet, und insofern
kann man verstehen, worum Böckenförde, Habermas, Ratzinger,
Prauss etc. ringen. Zuzugestehen ist zunächst, dass eine entschei-
dende Voraussetzung eingeht, die man gegen anarchistische, sozi-
alistische und kommunistische Einwände verteidigen müsste, aber
auch verteidigen kann: Der Rechtsstaat ist eine notwendige, wenn
auch keine hinreichende Bedingung menschlicher Freiheit. Mit Bö-
ckenförde: »Freiheit – als äußere Freiheit des Handelns – besteht
nicht ohne Recht; erst durch und im Recht wird es möglich, daß
die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen zusammen be-
stehen kann.« Dies »setzt den Staat als Macht- und Entschei-
dungseinheit und Inhaber des Monopols legitimer Gewaltausübung
voraus«, womit wiederum dieser Staat »als bedeutende Kulturleis-
tung verstanden« werden muss. Oder auch: »Freiheit existiert
nicht abstrakt, sie erhält ihre Wirklichkeit in konkreten Gestalten
der Freiheit, die das Recht näher ausformt und bestimmt. Bürgerli-
che Freiheit und politische Freiheit werden erst lebendig als solche
Gestalten der Freiheit, liegen ihnen nicht voraus.« (Böckenförde
1991, 7f.)
Falls man zugesteht, dass der moderne Staat jene konstitutive
Rolle für Freiheit hat, dann ist es naheliegend, ja zwingend, sich
Volker Schürmann | 127
über seine Bestandssicherungen angesichts möglicher und tatsäch-
licher Gefährdungen zu verständigen, worunter hier Legitimations-
krisen zu verstehen sind.8 Das Problem, auf das Böckenförde eine
Antwort sucht, lautet damit: Die Legitimität des modernen Staates
ist die
lebendige Geltung
seiner Verfassung. Die
Geltung
liegt
schlicht darin, dass die Verfassung eben
verfasst
ist, was mindes-
tens die drei Aspekte der positiven Gesatztheit, des demokratisch-
volkssouveränen Verfahrens seiner Einrichtung und Aufrechterhal-
tung und drittens seiner völkerrechtlichen Akzeptanz hat. In die-
sem Sinne
gilt
eine solche Verfassung, solange sie nicht wiederru-
fen wird. Aber sie würde u.a. dann widerrufen, wenn sie nicht
mehr hinreichend legitim wäre. In Legitimationskrisen gilt sie noch,
aber ihre Geltung ist gefährdet.
Lebendige
Geltung verlangt die
Zustimmung der Citoyens im öffentlichen Raum zu ihrer Verfas-
sung, was den Namen »Verfassungspatriotismus« so treffend
macht. Dann und nur dann steht die Geltung der Verfassung nicht
nur auf dem Papier, sondern wird sie tatsächlich praktiziert.9 Wo-
raus also zieht der moderne Staat diese Zustimmung seiner Bür-
ger? Was nichts anderes heißt als: Was erhält die Lebendigkeit des
republikanischen Verhältnisses der Citoyens als Adressaten der
Verfassung zu sich selber als Autoren der Verfassung? Oder in
mythologischer Formulierung: Was gewährleistet, »immer wieder
sonntags«, jene Verfassungs-Zustimmung des »Siehe, sie ist
gut!«? Gottesdienstbesuche sind hier nicht gefragt Verfassungs-
dienstbesuche, mithin Feste des Verfassungspatriotismus, sehr
wohl, jedenfalls dann, wenn die Demokratie wehrhaft bleiben will.
Wobei »Fest«, wie wir vielfach wissen – etwa angesichts des Ab-
laufs der Olympischen Spiele, angesichts des gleichnamigen Filmes
von Thomas Vinterberg etc.pp. , ein Problemtitel ist: Gefragt sind
8 Ein Staat könnte auch, zum Beispiel, vor einem Bankrott stehen – das
wäre auch eine Gefährdung seines Bestandes, aber nicht eine solche,
um die es hier geht.
9 Ich kann und will den republikanischen Grundton nicht verbergen. Es
mag eine Form von ›Legitimität‹ sein, wenn die Bürger an der Verfas-
sung vorbeileben und allgemeine Gleichgültigkeit eingetreten ist. Auch
dann wäre die Verfassung nicht gefährdet, und also irgendwie ›legitim‹.
Aber auch dann würde sie nur »auf dem Papier« bestehen, denn ob sie
dort steht oder nicht, hätte keinerlei Konsequenzen; zu aktuellen empi-
rischen und konzeptionellen Veränderungen in diesem Feld vgl. Zürn
2011.
128 | Sport als Zivilreligion!?
lebendige kultische Praktiken, also weder tote Routinen noch wie-
derkehrende Events, die einen Kult um etwas machen.10
Dass der Staat nun seine Voraussetzungen nicht selbst garan-
tieren kann, heißt zunächst, und neutral, ihn zu begreifen als ein-
gebettet in eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich gleichsam
selbst aufrecht erhält und schützt, indem sie ihrem demokratischen
Rechts- und Sozialstaat Bestand gewährt und sichert. Dies sugge-
riert, und hier wird der Name »Religion« irreführend, dass es da-
rum gehen müsse, die Geltung des Maßstabes bzw. der Rechts-
ordnung ihrerseits noch einmal zu fundieren, also irgendeine vor-
staatliche oder vor-rechtliche Instanz ins Spiel zu bringen, promi-
nent die Moral oder eben eine Religion. Böckenförde, Habermas
und auch die Rousseau-Interpretation von Michaela Rehm formu-
lieren das mehr oder weniger eindeutig genau so. Zum Beispiel:
»Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn
sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her,
aus der moralischen[!] Substanz des einzelnen und der Homogeni-
tät der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren
Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln
des Rechtszwangs und autoritativen Gebots, zu garantieren su-
chen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben [...]. Es führt kein
Weg über die Schwelle von 1789 zurück, ohne den Staat als die
Ordnung der Freiheit zu zerstören.« (Böckenförde 1967, 112f.;
analog Habermas 1992, 51; Münkler 1996, 10; Rehm 2006, 18;
vgl. 12)
Die jeweilige Frage ist dort jeweils: Was hält die Gesellschaft im
Innersten zusammen? Und die Diagnose ist, dass es eine rein
rechtliche Bindung nicht sein kann, sondern dass die rein rechtliche
Bindung durch irgendein vorrechtliches X, das eine affektive Bin-
dung sichert, ergänzt werden müsse. – Dass es auch Gegentenden-
zen gibt, sei nicht verschwiegen: »Auch der Grund des Rechts ge-
hört zum Recht, wie Wilhelm Henke zutreffend bemerkt.« (Böcken-
förde 1986, 98) Beides passt nur nicht zusammen: Die in der Tat
treffende Bemerkung Henkes macht eine Suche nach einem vor-
10 »Jedoch darf aus dem segensreichen Ritual keine lebensfeindliche
Routine werden. Auch in den Liturgien des Alltags besteht das Wesen
des Rituellen darin, ›gewisse sinnlose Dinge zu tun, weil sie etwas be-
deuten‹ und weil man genau weiß, was man da tut. Routine hingegen
meine, sinnvolle Dinge zu tun, als ob sie bedeutungslos wären, nicht zu
wissen also, was man da tut.« (Alexander Kissler: Rezension von: G.K.
Chesterton: Die englische Weihnacht. Bonn 2009, SZ v. 23.12.09, S.
14)
Volker Schürmann | 129
rechtlichen Grund überflüssig – aber so scheint es dann doch nicht
gemeint gewesen zu sein, denn immer wieder wird zur Gründung
des Rechts argumentativ die Moral und Gesinnung der Individuen
in Anspruch genommen.
Zunächst einmal bleibt, um Missverständnisse zu vermeiden,
festzuhalten, dass diese Frage nach den inneren Bindungskräften
einer Gesellschaft rein phänomenal ein tatsächliches Problem ist,
das sich auch philosophisch nicht wegdiskutieren lässt. Ich betone
das deshalb, weil ich darauf hinaus will, dass die Frage in gesell-
schaftstheoretischer Hinsicht falsch gestellt ist bzw. eine falsche
Unterstellung macht. Aber auch dann, wenn diese Frage nach dem
inneren Zusammenhalt einer Gesellschaft gesellschaftstheoretisch
reformuliert sein wird, bleibt das sachliche empirisch-faktische
Problem, das durch die Frage eingefangen wird, weiter bestehen.
Und d.h. dann: Ganz abgesehen von der gesellschaftstheoretisch
formulierten Frage bedarf es so oder so auch einer sozialwissen-
schaftlichen Antwort auf die Frage, wie sie exemplarisch Heitmeyer
(1997) vorlegt. Ich unterscheide also das Gesellschaftliche vom
Sozialen bzw. Gesellschaftstheorie von Sozialwissenschaft.
Gesellschaftstheoretisch aber scheinen mir die Versionen von
Böckenförde, Habermas und Rehm falsch zu sein. Alle Verweise
darauf, dass eine rein rechtliche Bindung durch eine vorrechtliche
Instanz, die zugleich affektive Bindung sichert, ergänzt werden
müsse, läuft auf die Formel hinaus: Damit eine Gesellschaft als
Gesellschaft Bestand hat, ist es komplementär nötig, dass diese
Gesellschaft auch als Gemeinschaft lebt.
Das scheint mir theoretisch falsch, weil diese Formel einen
vormodernen Begriff von Gesellschaft voraussetzt, nämlich eine
vormoderne, monarchistische Version einer Gesellschaftsvertrags-
theorie, die auf einem Sozialatomismus beruht. Gesellschaft ist
dort im Rohzustand ein Haufen unverbundener Individuen, die es
nötig haben, logisch sekundär Verträge miteinander einzugehen,
um die Not des Rohzustands zu wenden. Der Sozialatomismus war
historisch nötig, um mit jedem antiken und mittelalterlichen Sozial-
holismus zu brechen; aber demokratietheoretisch ist der Preis des
Sozialatomismus zu hoch, denn er legitimiert die Inthronisierung
eines Leviathans. Hegel spricht vom »Not- und Verstandes-Staat«,
aber diesen »für den Staat überhaupt zu halten, ist für Hegel eine
Art Kategorienfehler: die zur politischen Theorie gewordene Ver-
wechslung von Gesellschaft und Staat« (Ottmann 1988, 344). Eine
solche zwar neuzeitliche, gleichwohl vormoderne Vertragstheorie
130 | Sport als Zivilreligion!?
verdient es, endlich auf den Spuren Rousseaus abgelöst zu werden
durch eine republikanische Gesellschaftstheorie, die man nur mit
zahlreichen Kautelen als Gesellschafts
vertrags
theorie bezeichnen
kann.11 Gesellschaft besteht hier nicht aus unverbundenen Indivi-
duen, sondern gilt als Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse
– oder wer es lieber mit Heidegger mag: Gesellschaftliche Indivi-
duen haben nicht zuweilen die »Laune«, aufeinander Bezug zu
nehmen, sondern sind das, was sie sind, nämlich gesellschaftliche
Individuen oder Personen, nur in Bezugnahme aufeinander.
Zudem ist jene Formel der Komplementarität von Gesellschaft
und Gemeinschaftsleben politisch fatal. Besonders eindringlich
kann man bei Plessner in dessen
Grenzen der Gemeinschaft
von
1924 lernen, dass das Postulat der notwendigen Ergänzung von
Gesellschaftlichkeit durch Gemeinschaftlichkeit ein Projekt der Ge-
genmoderne ist. Gesellschaftlichkeit wird als Projekt sozialer Kälte
beargwöhnt oder offen kritisiert, so dass es auf der Ebene
der
Gesellschaft
eines Ausgleichs sozialer Wärme bedürfe, also eines
Gesinnungsgemeinschaftskultes. Wohlgemerkt: Auf der Ebene der
Gesellschaft, die damit als eine Art Ober- oder Großgemeinschaft
traktiert wird. Der
gesellschafts
theoretische Joker, auf der Ebene
der Gesellschaftlichkeit ein Gemeinschafts-Denken zu implementie-
ren, torpediert und desavouiert die zentrale Errungenschaft der
Moderne, direkte Verhältnisse zwischen den Menschen durch prin-
zipiell vermittelte Verhältnisse zwischen Staatsbürgern ersetzt zu
haben. Die Moderne hatte damit, um es ganz deutlich zu sagen,
umgestellt vom Recht des Stärkeren auf Rechtsstaatlichkeit; und
wer auf der Ebene von Gesellschaftlichkeit/ Staatsbürgerschaft/
Personalität ein Gemeinschaftsdenken einfüttert, der will zurück zu
direkten Verhältnissen zwischen den Menschen, d.h. zurück zum
Recht des Stärkeren, getarnt als Romantik der sozialen Nähe.
Das alles ist bei Rousseau mit den Händen zu greifen: Die
volonté générale
ist gerade nicht eine holistische Vor-Ordnung vor
den
volonté de tous
(vgl. etwa Brandt 1973; Ottmann 1988, 345),
sondern kriterial immer dann schon im Gebrauch, sobald man ein-
zelne
volonté de tous
individuiert, denn nur
Bestimmte
, nämlich
Kandidaten für Staatsbürgerschaft, kommen überhaupt in Frage,
durch einen freien Willen bestimmt zu sein. Und Rousseau torpe-
diert jede monarchistische Vertragstheorie: »Ein Volk kann sich
11 Vgl. etwa Althusser: »Im übrigen genügt es, Rousseau genau zu
lesen
,
um zu bemerken, daß sein Vertrag kein Vertrag ist.« (Althusser 1966,
150)
Volker Schürmann | 131
einem Herrscher hingeben, sagt Grotius. Nach ihm ist also ein Volk
bereits ein Volk, ehe es sich einem Fürsten hingibt. Diese Hingabe
ist ein Rechtsakt; er setzt eine Volksabstimmung voraus. Ehe man
also den Akt untersucht, mit dem ein Volk einen König wählt, müß-
te man erst den Akt untersuchen, durch den ein Volk ein Volk wird.
[...]. Woher haben hundert, die einen Herrscher wollen, das Recht,
für zehn zu wählen, die keinen wollen? Das Gesetz der Stimmen-
mehrheit ist selber eine Übereinkunft und setzt wenigstens eine
einmalige Einstimmigkeit voraus.« (Rousseau 1762, 71f.)
Monarchistische Vertragstheorien leben davon, nicht eigens zu
problematisieren, wer überhaupt Kandidat ist, Verträge zu schlie-
ßen; und weil sie diesen Kandidatenstatus im Unbestimmten las-
sen, reproduzieren sie die bestehenden Herrschaftsverhältnisse.
Vormodern war
Würde
ein Leistungsbegriff:
dignitas
kam nur Be-
stimmten zu, und folglich sind es auch nur Auserwählte, die in
monarchistischen Vertragstheorien als würdig gelten, Verträge zu
schließen. In der Moderne dagegen ist Würde kein Leistungsbegriff
mehr – von Kant als Unterschied von Preis und Würde auf den
Begriff gebracht, und mit den bürgerlichen Revolutionen, geronnen
in den Menschenrechtserklärungen, als »Rechtstatsache« (Balibar
1993, 123) in die Welt gekommen. Gewollt und versprochen ist mit
diesem revolutionären Bruch der Schutz der
erklärten
unaus-
tauschbaren Einmaligkeit des Menschen, der niemals
nur
als aus-
tauschbares Mittel, sondern immer auch in seiner unantastbaren
Würde behandelt sein will und behandelt sein soll. Dass
allen
Men-
schen erklärtermaßen fraglos, also unbedingt und nicht nur im
Tausch mit einer zu erbringenden Leistung, Würde zukommt, ist
keine Banalität, sondern zugleich historische Errungenschaft und
Versprechen der Revolutionen der Citoyens. Das ist eine entschie-
den andere Gesellschaftstheorie als die des politischen Liberalis-
mus.12
Dann aber ist der Akt der Identifizierung von Mensch und
Staatsbürger dass alle Menschen als Person gleicher Rechte zu
12 So auch explizit: Lindemann (2008, 131): »Die Berücksichtigung der
Zweistufigkeit des Deutens stellt eine wichtige methodische Neuerung
für sozialwissenschaftliche Analysen dar, denn es geht jetzt nicht mehr
nur darum, durch Deuten und Verstehen eine Sicherheit darüber zu er-
langen, wie der andere zu verstehen ist und wie eine Handlungskoordi-
nation erfolgt [bei z.B. Mead, Luhmann oder Habermas werde nur diese
Stufe der Deutung reflektiert; FN], sondern es geht um Deutungspro-
zesse, durch die festgelegt wird, mit wem das überhaupt möglich ist.«
Grundsätzlich zum Thema auch Lindemann (2009).
132 | Sport als Zivilreligion!?
gelten haben – ein Akt der normativen Bindung: Person ist man,
weil und sofern man als unaustauschbar einmalig gilt, und als Per-
son zu gelten, das wiederum kann man nicht allein tun. Gesell-
schaftsverträge
zwischen Personen
sind strikt formal und prozedu-
ral, weil sie unabhängig von allen besonderen Eigenschaften und
Leistungen der Personen gelten, aber sie sind nicht deshalb Ver-
hältnisse zwischen weißen, normativ unbeschriebenen Blättern.
Moderne Gesellschaftlichkeit ist ein Ensemble von Verhältnissen
zwischen Personen, nicht aber ein Haufen unverbundener Indivi-
duen, die zunächst in ihrer Individualität nicht zählen, um dann,
logisch sekundär, aufgefordert werden zu können und zu müssen,
sich mit egoistischem oder altruistischem Wohlwollen auf das
fac-
tum brutum
des Mitmenschen zu beziehen. Die Bindungskraft der
modernen
Gesellschaft
ist schon mitten unter uns, nämlich im re-
publikanisch-antinomischen Zwischen von zugleich herrschenden
und beherrschten Personen, und diese Bindungskraft muss nicht
eigens herbeigemeinschaftet werden. Menschenwürde ist das Maß
moderner Gesellschaftlichkeit, und erst darüber vermittelt eine
Orientierung gelingender Vergemeinschaftungen, und d.h.: Men-
schenwürde ist das Maß der Sakralität der Person (Joas 2011;
Schürmann 2011b). Ob diese Kraft freilich als lebendige besteht,
ist dadurch noch nicht ausgemacht, sondern dies ist, so der Vor-
schlag, die Frage einer gelingenden Zivilreligion. Und deren Appell
lautet: ›Siehe, so wollten wir es doch! Dass wir alle Adressaten und
Autoren der gesellschaftlichen Ordnung unseres Miteinander sind,
weil dies, und nur dies, der Garant ist, uns wechselseitig in unserer
Unaustauschbarkeit zu schützen. Wäre es etwa nicht gut so, wenn
es so wäre!?‹
Oder anders gesagt: Systematisch gesehen ist der Dreiklang
der Französischen Revolution – Freiheit, Gleichheit, Geschwister-
lichkeit – tatsächlich konstitutiv für moderne Gesellschaftlichkeit.
Die Geschwisterlichkeit kommt nicht komplementär zum »Satz der
Gleichfreiheit (egaliberté)« (Balibar) hinzu, sie zielt nicht auf zu-
sätzliche Vergemeinschaftung, also nicht auf eine universale Men-
schenverbrüderung, sondern ist gleichsam der Appell, den einge-
gangenen Gesellschaftsvertrag einzuhalten, weil wir alle nur inner-
halb dessen den Schutz der Personalität genießen, außerhalb da-
gegen bloß schutzlos Menschen wären. – Das kann man so, oder
so ähnlich, zwar schon bei Rousseau und einigen anderen lesen –
da hat Althusser schon ganz recht (s.o., Anm. 11) , aber tatsäch-
lich als Einsicht vergesellschaften, ggf. sogar praktizieren, kann
Volker Schürmann | 133
man es wohl erst »postmodern« (vgl. Balibar 1993, 122f.; Böcken-
förde 2001; Röttgers 2011). In der klassischen Moderne war der
Sozialatomismus, also die monarchistische Vertragstheorie des
politischen Liberalismus als Hausreligion der
società borghese
,
wohl doch zu dominant.
Und der Sport?
Das Anliegen eines Konzepts von
Zivilreligion
ist also, das sachliche
Problem ernst zu nehmen, dass die Rechtsordnung einer Republik
nur im Modus der Zustimmung zu ihr Bestand hat. Dieses Problem
müsste aber so formuliert, und erst recht so beantwortet werden,
dass es als Problem der Gesellschaft auftritt und nicht durch die
Suche nach Gemeinschaftsbildungen kontaminiert wird.
Zivilreligion
wäre dann ein Name für die Organisationsform der Bildung und
Gestaltung jener Zustimmung zur Rechtsordnung. Staatsbürger-
schaft als solche wäre ein Doppeltes von Recht und Zivilreligion,
nicht aber ein nacktes Rechtsverhältnis, das noch der komplemen-
tären Ergänzung bedarf. So weit gekommen, kann man dann wohl
sinnvollerweise auch den Namen austauschen und sagen: Staats-
bürgerschaft ist ein Doppeltes von Recht und
Zivilpolitik
, also ein
nur in politischer Auseinandersetzung lebendiges Rechtsverhältnis.
Kann der Sport in irgendeiner Weise in diesem Sinne zivilreligiös
oder politisch sein? Vermutlich eher nicht, oder höchstens ex
negativo.
Historisch gesehen spielen die Körperkulturen der Moderne hier
jedenfalls eine besonders unrühmliche Rolle. Zwar geht es eigent-
lich – sei es bei den Turngemeinschaften, sei es bei den Sportver-
einen, sei es bei den Gemeinschaftsbildungen im Kontext der Le-
bensreformbewegung – immer nur um Bildungen von Gemein-
schaften innerhalb der Gesellschaft. Aber die Emphasen und Be-
gründungen kippen notorisch in einen Gesinnungsgemeinschafts-
kult. Das Plädoyer für den Turn- oder Sportverein ist notorisch
auch ein Plädoyer dafür, ein Modell für gutes menschliches Mitein-
ander überhaupt sein zu wollen. Notorisch wird mit dem Plädoyer
für Sportgemeinschaften auch explizit ein Gegengewicht zu oder
auch massive Kritik an moderner Gesellschaftlichkeit formuliert.
Zur Ausnahme taugen könnte hier – jedenfalls im Prinzip, wenn
auch nicht de facto – der Olympismus Coubertins, wie überhaupt
die Idee des modernen Wettkampfsports. Der sportliche Wett-
kampf ist nämlich ein Konkurrenz-Verhältnis und damit, wie Sim-
mel sehr schön gezeigt hat, ein indirektes und gerade kein direktes
134 | Sport als Zivilreligion!?
Verhältnis. Wer den Konkurrenten beseitigt, der konkurriert nicht;
und wer es als Kaufmann bewerkstelligt, dass die Waren nicht
beim Konkurrenten gekauft werden, der hat allein damit noch nicht
ein einziges Produkt selber verkauft (Simmel 1903). Doch diese
Einsicht wird, so scheint mir, auch in der Olympischen Bewegung
beständig für das Linsengericht gemeinsamer Gesinnung preis
gegeben.
Eine tatsächliche Ausarbeitung der Frage, ob der Sport – zunächst
eingeschränkt auf den Olympischen Sport als Prototyp des moder-
nen Sports (Schürmann 2010) als Gesellschaftshandeln für die
Rolle einer Zivilpolitik taugt, hätte wohl die folgenden, hier nur
thesenartig formulierten Punkte abzuarbeiten:
Das Versprechen des Olympismus liegt darin, die spielerische
Inszenierung des Grundprinzips der
società civile
(Bürger-
schaftlichkeit/medial vermittelte Personalität) zu sein (Schür-
mann 2006).
Die logische Minimalbedingung dafür liegt darin, dass die
olympische Bewegung eine
verfasste
Bewegung ist, und zwar
eine solche im Geiste der Menschenrechte. (Nur) das erlaubt,
den völkerrechtlich/ verfassungsmäßig verbrieften Schutz der
Menschenwürde mit dem durch die Olympische Charta ver-
brieften Schutz der Fairness olympisch-sportlicher Wettkämpfe
in ein Entsprechungsverhältnis zu setzen (Schürmann 2011a).
Zum Konzept einer Zivilpolitik gehört dazu, dass es um Organi-
sation von Zustimmung zu einem Grundprinzip geht, dass da-
raus aber keineswegs folgt, dass alle Citoyens dies in ein und
demselben Kultus praktizieren müssen. Die Zustimmung muss
freie Zustimmung sein, und die Minimalbedingung dafür ist die
Freiwilligkeit der Teilnahme an einem zivilpolitischen Kultus,
der dann, nach Beitritt, freilich Verbindlichkeiten hat, die nicht
mehr nur der bloß individuellen Gesinnung geschuldet sind. In
diesem Sinne ist das IOC eine Grenzstation: Mitglied der olym-
pischen Bewegung ist man nicht qua individueller Gesinnung –
die Achtung der Werte des Olympismus ist nur die notwendige
Bedingung , sondern nur qua Anerkennung durch das IOC.
Spinoza ist hier um 270º gedreht: Der nämlich argumentiert,
»daß der Staat den inneren Gottesdienst freizugeben habe,
den äußeren Kultus aber bestimmen dürfe« (Kleger & Red.
2004, 1379). In einer
società civile
ist es umgekehrt (= 180º):
der äußere Kultus muss freiwillig, und insofern auch inhaltlich
nicht festgelegt, bleiben, aber ohne doch (+ 90º) den inneren
Kultus festzulegen, denn der äußere Kultus stiftet lediglich ein
verbindliches Maß, aber gewährleistet die Zollfreiheit der Ge-
Volker Schürmann | 135
danken (vgl. auch Lorenzer 1981). Die Ambivalenz ist klar: Nur
weil es hier eine Grenzstation gibt, ist die Freiwilligkeit des Bei-
tritts eine nicht nur individuelle Bekundung, sondern eine Be-
kundung mit Verpflichtungscharakter – aber weil Grenzstatio-
nen herrschaftlich sein oder werden können, sind sie empi-
risch-faktisch ein Mechanismus von Inklusion/Exklusion (pro-
grammatisch freilich mit gleichsam grünen Grenzen13).
Das Grundprinzip der
società civile
kann in unterschiedlichen
Gesellschaftsformationen realisiert sein. Im Westen ist es do-
minant als
società borghese
realisiert. Diese verspricht Gerech-
tigkeit im Modus der Leistungsgerechtigkeit – »Jedem und je-
der nach seiner/ihrer Leistung!«, nicht aber zum Beispiel »Je-
der und jede nach seinen/ihren Bedürfnissen!«. Der Modus der
Leistungsgerechtigkeit steht
intrinsisch
in Konflikt damit, dass
Menschenwürde das Maß für Gleichfreiheit
und
Geschwister-
lichkeit ist: Für das Konzept der Leistungsgerechtigkeit ist es
ein zu lösendes Problem, nicht aber
fraglos
, dass der Schutz
der Würde auch all denen gebührt, die noch nicht, aktuell nicht
oder nicht mehr »leisten«. Das Problem ist bekannt und wird
auch als solches in der
filosofia borghese
thematisiert (exemp-
larisch Nussbaum 2010), dort freilich als Reparaturveranstal-
tung am politischen Liberalismus.
Der olympische Sport ist, mindestens historisch, der Sport der
società borghese
. Dafür steht schon sein Stifter, denn Couber-
tin wollte die bestehende Gesellschaft therapieren, aber er
wollte nicht ihre Grundordnung auf den Prüfstand stellen. Oder
um es mit Alkemeyer zu sagen: Der Olympismus zielt »auf eine
schonende Reparatur des Gesellschaftlichen ohne Austausch
der tragenden Teile« (Alkemeyer 1996a, 81). Folglich trägt
sich auch in der olympischen Bewegung der obige Konflikt aus.
Das betrifft zum einen das Verhältnis von Breiten- und Leis-
tungssport, und damit u.a. die Frage, wie es denn tatsächlich
um die Chancengleichheit aller Mitglieder der olympischen Be-
wegung steht. Zum anderen betrifft dies das Leistungsprinzip
des Sports als solches, das – will es denn Ausdruck eines
fairen
Wettkampf sein – innerlich gebrochen sein müsste durch ein
Analogon zur Geschwisterlichkeit, also durch das, was traditio-
nell ›Achtung des sportlichen Gegners‹ heißt. Beinahe alles
13 Völkerrechtlich irrelevant ist in der Olympischen Charta sogar von ei-
nem »Menschenrecht« die Rede: »The practice of sport is a human
right. Every individual must have the possibility of practising sport,
without discrimination of any kind and in the Olympic spirit, which re-
quires mutual understanding with a spirit of friendship, solidarity and
fair play.« – Zum Zustand dieser Grenzstation IOC vgl. exemplarisch,
aber eindringlich http://www.jensweinreich.de.
136 | Sport als Zivilreligion!?
aber spricht dafür, dass im heutigen Olympismus ein zivilge-
sellschaftliches Leistungsprinzip durch das bürgerliche Erfolgs-
prinzip dominiert wird, für das die Rede von Fairness lediglich
als regulative Maxime komplementär hinzukommt.14 Ein Symp-
tom von vielen dafür ist, dass der heutige Olympismus keine
Kultur der Niederlage (Ränsch-Trill 2006) entwickelt hat.
Noch in der Programmatik des Sports der
società borghese
blitzt
damit der Vorschein einer republikanische Version der Inszenie-
rung des Grundprinzips der
società civile
auf (vgl. Gessmann 2011,
137): Ein Sport, der ein zivilgesellschaftliches Leistungsprinzip
praktizierte, einschließlich realisierter Chancengleichheit für alle
Mitglieder der olympischen Bewegung sowie einladend offener
Grenzen, sich an
diesem
zivilpolitischen Kultus zu beteiligen.
Der Gewinn einer solchen republikanischen Version wäre eine
gänzlich andere normative Basis, die einen anderen Typus von
Zivilreligion/Politik ermöglicht. Der Appell, man möge der mit der
Olympischen Charta eingegangenen Verpflichtung auf faire Wett-
kämpfe zustimmen und praktizieren, zielt dann nämlich weder auf
die egoistischen Eigeninteressen noch auf altruistische Selbstver-
leugnung, sondern auf einen gemeinsam geteilten Sinn, also auf
Aufrechterhaltung eines wechselseitig gewollten spezifischen Ver-
gnügens – angesprochen wären miteinander Sport-Treibende als
mündige Ästheten (Prohl 2004).
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lismus nur exemplarisch, und weil er mein Lieblingsfeind ist: Felix
Magath führt uns gerade sehr anschaulich vor, dass Athleten als Waren
beinahe beliebig austauschbar sind. Die SZ nennt ihn, momentan gera-
de Angestellter beim VfL VW Wolfsburg, treffend »Gebrauchtprofihänd-
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Volker Schürmann | 137
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Article
Das Anliegen des Aufsatzes ist ein doppeltes. Er möchte einen Beitrag zur Inklusionsdebatte leisten, und zwar einen spezifisch sportphilosophischen Beitrag. Der zentrale Aspekt dabei ist die völkerrechtliche Verankerung, die Inklusion formal zu einem Verpflichtungsbegriff und inhaltlich zu einem Grundsatz der Nichtdiskriminierung macht. Zum zweiten soll an diesem Beispiel deutlich werden, was es heißen kann, einen Gegenstand sportphilosophisch zu analysieren. Die Formel dafür ist: Einen Gegenstand der Sportwissenschaft philosophisch zu analysieren, heißt, dessen Bedingungen der Möglichkeit zu artikulieren, und heißt nicht nur, die Merkmale und Bedingungen dieses Gegenstandes zu analysieren. Der dabei entscheidende, und insofern eigenbedeutsam dritte Punkt ist, dass dies nicht zu einem Dualismus gerät, sondern dass die Artikulation der Bedingungen der Möglichkeit innerlich verknüpft ist mit dem Gegenstand Inklusion, gleichwohl aber als typisches Verfahren verallgemeinerbar ist. https://www.degruyter.com/view/journals/sug/14/1/article-p53.xml
Chapter
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Die von Dilthey formulierte Erkenntnisproblematik führte zu der Notwendigkeit, der kantischen Begründung der Naturwissenschaften eine rationale erkenntniskritische Begrün-dung der Geistes- und Sozialwissenschaften zur Seite zu stellen. In dieser Diskussion ist Plessners Beitrag zur Erklären-Verstehen-Kontroverse zu verorten. Er führt dabei einerseits die Argumentation Diltheys weiter5, modifiziert sie aber durch zwei wichtige Erweiterun-gen. Er integriert nämlich einerseits Denkfiguren der neukantianischen Marburger Schule um Cohen und zentrale Elemente der von Husserl begründeten Phänomenologie. Das sich aus dieser Gesamtkonzeption ergebende Verständnis von Erklären und Verste-hen weist eine besondere Pointe auf. Die Begründung der Methoden geisteswissenschaftli-chen Verstehens mache es nämlich erforderlich, eine Theorie der menschlichen Person zu entwickeln, denn diese wird als Trägerin der geschichtlichen Prozesse verstanden. Es ist die Person, deren Ausdruck den Gegenstand des sozial- und geisteswissenschaftlichen Verste-hens bildet. Als menschliche ist die Person nun nicht nur ein immaterielles Geistwesen, sondern ebensosehr ein materiell physisches Wesen. Dieser Sachverhalt müsse Plessner zufolge als grundlegend für die sozial- und geisteswissenschaftliche Forschung berücksich-tigt werden. Es geht für Plessner also nicht nur darum, das Verste-hen gesellschaftlich-historischer Prozesse als wissenschaftliches Verfahren zu begründen, sondern ebenso um einen rational begründeten verstehenden Zugang zur Natur. Dieses Naturverständnis muß notwendigerweise sein Verhältnis zum naturwissenschaftlichen Na-turverständnis reflektieren, da dieses den bis dahin einzig rational begründeten Zugang zur Natur darstellt. Diesem Anspruch versucht Plessner gerecht zu werden, indem er den ver-stehenden Zugang zur Natur als Reflexion der naturwissenschaftlichen Forschung begreift. Es handelt sich bei Plessners Theorie des Lebendigen also einerseits um einen methodisch eigenständigen verstehenden Zugang zur Natur, der andererseits zugleich eine Reflexion des naturwissenschaftlichen Naturverständnisses darstellt.
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Zwei Fragen stehen im Mittelpunkt dieser Studien. Wie wird das Feld sozialer Phänomene durch sozialtheoretische Annahmen kritisch begrenzt? Und: Wie wird faktisch die Grenze zwischen sozialen Personen und anderen Entitäten gezogen? Die erste Frage bezieht sich auf die erkenntniskritischen sozialtheoretischen Annahmen, die in jeweils unterschiedlicher Weise in die Forschung eingehen. Die zweite Frage bezieht sich auf elementare Grenzziehungen, durch die im Objektbereich der Kreis sozialer Personen begrenzt wird. Beide Dimensionen des Grenzbegriffs stehen in einem engen Zusammenhang. Wer danach fragt, wie faktisch der Kreis legitimer sozialer Personen begrenzt wird, darf nicht von vornherein voraussetzen, dass ohnehin nur lebende Menschen soziale Personen sein können. Wer diese Voraussetzung fallen lässt, trägt eine hohe Beweislast. Denn man muss Auskunft darüber geben, welche alternativen sozialtheoretischen Prämissen die empirische Forschung anleiten sollen und darüber, wie das Verhältnis von Sozialtheorie und empirischer Forschung zu begreifen ist. Die hier vorgestellten Studien entfalten zunächst im Anschluss an die historisch-reflexive Anthropologie von Helmuth Plessner ein neuartiges Verhältnis von Anthropologie und Soziologie. Anstatt Anthropologie bzw. anthropologische Annahmen als Voraussetzung sozialwissenschaftlicher Erkenntnis zu begreifen, wird Anthropologie als ein Phänomen im Objektbereich verortet. Dies ermöglicht es zu fragen, welche Funktion der Anthropologie in der Moderne zukommt, wenn es darum geht, den Kreis sozialer Akteure faktisch zu begrenzen. Die sich aus dieser Forschungsstrategie ergebenden Konsequenzen für die Konstruktion von Sozialtheorien werden in einem zweiten Schritt untersucht. Zunächst werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede systematisch rekonstruiert, die sich bei einem systematischen Vergleich der Sozialitätskonzeptionen von Handlungs-, Interaktions- und Systemtheorien ergeben. Vor diesem Hintergrund lassen sich die theoretischen und methodologischen Neuerungen einordnen, die eine Analyse der Grenzen der Sozialwelt erforderlich macht. Dazu gehört nicht zuletzt eine Neufassung des Verhältnisses von Sozialtheorie und empirischer Forschung. Anstatt Sozialtheorien gegen die Infragestellung durch empirische Forschung zu immunisieren, wie es seit Simmel üblich ist, wird ein Verfahren vorgestellt, das es erlaubt, sozialtheoretische Konzepte durch empirische Annahmen zu irritieren.
Article
The paper argues that human dignity is the normative, legally binding base of human rights. Since the Declarations of human rights in 1776/1789 it is no longer possible to base dignity on a universal morality. This results in two main consequences. Firstly, it is necessary to strictly shift the concept of dignity away from a dignity of the human creature, human nature or mankind to the dignity of personality and citizenship, respectively. Secondly, determining the rights of the individual is a definite political practice and not only the application of a correct understanding of what constitutes dignity in theory. Slavery is not a problem of false thinking or morality, but a degrading practice.