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Unterwegs zu Hause sein. Vom Wandern über die Hügel. Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag ›Interdisziplinäre Sportwissenschaft‹

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Abstract

Die zum Zielbeitrag eingereichten Kommentare lassen sich einer von drei Gruppen zuordnen: Kommentare, in denen die Tragfähigkeit des vorgestellten Ansatzes – mehr oder weniger grundsätzlich – in Frage gestellt wird (Mechling, z. T. Wagner, Willimczik), Kommentare, in denen der vorgestellte Ansatz aufgenommen und – in verschiedene Richtungen – weitergedacht wird (Kromidas, Müller, Scherer, z. T. Wagner), und Kommentare, die um die Frage kreisen, was aus dem vorgestellten Ansatz für die Praxis des wissenschaftlichen Tuns folgt (Dresen, Hänsel, Raab). Zu den erstgenannten Kommentaren werden wir im Folgenden aufzeigen, dass die Autoren bei dem Versuch, unserem Gedankengang zu folgen, zumindest eine von zwei entscheidenden Weggabelungen verpasst haben, sodass sich ihre Kommenta-re nur eingeschränkt auf das Gesagte beziehen. Diese verpassten Weggabelungen werden wir unter den Überschriften „Perspektivität zwischen Subjektivität und Ab-bild-Realismus“ (1) und „Reflexion von Grundannahmen statt Metatheorie“ (2) ver-deutlichen. Anschließend diskutieren wir „Folgeprobleme von Perspektivität“ (3), hier insbesondere Aspekte der gegebenen Gemeinsamkeit von Perspektiven sowie der Gefahr eines infiniten Regresses. Wir schließen unsere Entgegnung mit einigen Gedanken zur „Perspektivität im Wissenschaftshandeln“ (4) ab. file:///C:/Users/SH5355/AppData/Local/Temp/241_Antwort_zu_Kommentaren.pdf Schürmann, V. & Hossner, E.-J. In: Spectrum der Sportwissenschaften
Spectrum 24 (2012) Heft 1
Volker Schürmann & Ernst-Joachim Hossner
Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag
„Interdisziplinäre Sportwissenschaft“
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Unterwegs zu Hause sein. Vom Wandern über die Hügel
Die zum Zielbeitrag eingereichten Kommentare lassen sich einer von drei Gruppen
zuordnen: Kommentare, in denen die Tragfähigkeit des vorgestellten Ansatzes –
mehr oder weniger grundsätzlich – in Frage gestellt wird (Mechling, z. T. Wagner,
Willimczik), Kommentare, in denen der vorgestellte Ansatz aufgenommen und – in
verschiedene Richtungen – weitergedacht wird (Kromidas, Müller, Scherer, z. T.
Wagner), und Kommentare, die um die Frage kreisen, was aus dem vorgestellten
Ansatz für die Praxis des wissenschaftlichen Tuns folgt (Dresen, Hänsel, Raab). Zu
den erstgenannten Kommentaren werden wir im Folgenden aufzeigen, dass die
Autoren bei dem Versuch, unserem Gedankengang zu folgen, zumindest eine von
zwei entscheidenden Weggabelungen verpasst haben, sodass sich ihre Kommenta-
re nur eingeschränkt auf das Gesagte beziehen. Diese verpassten Weggabelungen
werden wir unter den Überschriften „Perspektivität zwischen Subjektivität und Ab-
bild-Realismus“ (1) und „Reflexion von Grundannahmen statt Metatheorie“ (2) ver-
deutlichen. Anschließend diskutieren wir „Folgeprobleme von Perspektivität“ (3), hier
insbesondere Aspekte der gegebenen Gemeinsamkeit von Perspektiven sowie der
Gefahr eines infiniten Regresses. Wir schließen unsere Entgegnung mit einigen
Gedanken zur „Perspektivität im Wissenschaftshandeln“ (4) ab.
1 Perspektivität zwischen Subjektivität und Abbild-Realismus
Die Frage nach den (z. B. psychischen) Bedingungen des Erkenntnishandelns ist zu
unterscheiden von der Frage, was als Erkenntnishandeln gilt. Dass Erkenntnishan-
deln immer nur von Einzelnen vollzogen wird (genau deshalb haben wir die Beteilig-
ten personifiziert), ist etwas ganz anderes, als die Psyche der Einzelnen ins Spiel zu
bringen, die erklären möge, warum jemand so handelt. Uns ging es um eine Klärung
dessen, was jemand als Wissenschaftlerin tut, nicht darum, warum sie es tut (gerne
auch er). Auch deshalb haben wir nachdrücklich zwischen Subjektivität und Perspek-
tivität unterschieden und eigens darauf hingewiesen, dass man beides leicht mitei-
nander verwechseln könne.
Man muss selbstverständlich diese Unterscheidung nicht mitmachen, allerdings
muss man sehen, dass wir einfach nicht über „subjektiv gemeinten Sinn“ (Dresen)
geredet haben. Wir sind entschieden der Meinung, dass Perspektiven „interessen-
gebunden sind“, aber sie sind das in der Wissenschaft nicht deshalb, weil „einzelne
Subjekte“ ihre privaten Präsuppositionen ins Spiel bringen (Wagner). Genau deshalb
hatten wir zwischen persönlichen und privaten Theorien unterschieden. Dass eine
Biomechanikerin angesichts eines misslungenen Saltos „mitfühlend“ ist (Mechling),
Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag „Interdisziplinäre Sportwissenschaft“
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das wollen wir hoffen, aber das ändert nichts daran, dass sie als Biomechanikerin u. a.
Gelenkwinkelverläufe thematisiert, nicht aber ihr eigenes Mitfühlen – das hoffen wir
jedenfalls. Erst recht haben wir die Konstruiertheit des Gegenstandes nicht gegen
die Objektivität des Wissens ausgespielt (Wagner) – im Gegenteil kann man (nur) mit
der Unterscheidung von Subjektivität und Perspektivität das „Selbst- oder Fremd-
missverständnis [unterlaufen], ein konstruktivistisches Wissenschaftsverständnis mit
Subjektivismus oder Relativismus zu konnotieren.“ Und diese Weggabelung ist
entscheidend für das, was „Reflexion“ ist, denn Subjektivität wurzelt in den Intentio-
nen der Beteiligten, Perspektivität dagegen in den Interessen, Theorien und Metho-
dologien. Grundannahmen, die es zu reflektieren gilt, existieren in den in Gebrauch
genommenen Konzepten, nicht in den Köpfen der Beteiligten.
Unsere eigene Präsupposition ‚Jegliches Erkennen ist perspektivisch‘ ist keine
Selbstverständlichkeit, sondern unterscheidet sich von anderen Möglichkeiten.
Perspektivität ist nicht synonym mit Konstruiertheit, denn es gibt innerhalb konstruk-
tivistischer Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie auch Subjektivismen. In die andere
Richtung der Abgrenzung sieht sich das Konzept der Perspektivität nicht mehr in der
Lage, „die Welt abzubilden, wie sie ist“ (Mechling), sondern Wissenschaft wird „nur
noch als ein konditional formuliertes, hypothetisch-deduktiv organisiertes System
von Propositionen über einen begrenzten Erfahrungs- und Gegenstandsbereich
aufgefasst“ (Hist. Wb. Philos., Bd. 12 (2004), S. 921).
Das Konzept der Perspektivität ist also selbst ein perspektivisches. Man muss seine
Grundannahme nicht mitmachen, sondern kann an ihr vorbeischreiben (Mechling):
„Niemand muss müssen“ (Lessing: Nathan). Das ist keine gnädige Toleranz, son-
dern heißt: Das, was Perspektivität ist und bedeutet, ist es nur in Abgrenzung gegen
einen Subjektivismus einerseits und einen Abbildrealismus andererseits. Und das
wiederum ist kein Plädoyer für Beliebigkeit, sondern im Gegenteil ein Plädoyer, den
Kosten der Alternativen zu kündigen. Das Postulat „Niemand muss müssen“ kann
nämlich nur in der Perspektive der Perspektivität formuliert und aufrechterhalten
werden; im Subjektivismus steht es für gnädige Toleranz (die es im Zweifel dann
offen oder klammheimlich doch ‚besser‘ weiß) und im Abbildrealismus gibt es Orte
des unbedingten Wissens, also nicht: Falls Präsupposition A, dann gilt x; sondern:
Es gilt y, sodass man sagen muss: Es gilt y. Mechling etwa kennt solche Sätze: „So
muss z. B. die ‚Gesamtbewegung Salto‘ nach Perspektivitätsgrundsätzen eine Ge-
samthandlung sein.“ Verhaltenstheoretiker und Tätigkeitstheoretikerinnen müssen
hier aussteigen; und nur die Perspektive der Perspektivität lässt die Deutung zu,
dass sie das deshalb tun, weil sie die Sache anders sehen – und nicht deshalb, weil
sie es nur noch nicht richtig verstanden haben. Wir sehen darin einen Nutzen.
Wir haben diese Perspektive der Perspektivität weniger begründet als vielmehr unter
Verweis darauf, sie nicht selbst erfunden zu haben, in Anspruch genommen und in
der alten Leibniz-Metapher anschaulich zu machen versucht. Insofern sind wir für die
Übersetzungen von Kromidas und Müller dankbar. Mit der Übersetzung von Per-
spektivität in ein formal-technisches Modell, wie es Kromidas vorschlägt und in
Angriff nimmt, wäre die gemeinsam geteilte Kontrolle, ob die Perspektive der Per-
spektivität tatsächlich die von ihr behaupteten Abgrenzungen durchhält (oder sie
bloß als solche meint), sehr viel leichter und besser möglich (ganz abgesehen von
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dadurch ggf. erst ermöglichten neuen Einsichten). Schon jetzt leistet diese techni-
sche Formulierung gute Hilfe z. B. um klarzustellen, dass es sich bei uns erklär-
termaßen nicht „um unterschiedliche lebensweltliche Fragestellungen“ handelt (so
Willimczik). Vielmehr gilt in der Perspektive der Perspektivität ganz grundsätzlich:
„Der lebensweltliche Gegenstand ‚Stadt‘ wird nicht ohne den Laborgegenstand
‚STADT‘ als Stadt erkannt“ (Kromidas). Eben deshalb begegnet uns keine Stadt auf
Augenhöhe, um uns dann nach dem Verhältnis von „thematischen Teilen“
(Willimczik) fragen zu müssen. Wir hatten vorher eine andere Weggabelung ge-
nommen, und daher laufen wir nicht in Willimcziks Hinterhalt.
Die Präzisierung der Metapher durch Müller stabilisiert auf schöne Weise ein
Schwanken in unserem Text, denn wir konnten uns dann wohl trotz Fußnote 3 nicht
so recht entscheiden, ob wir mittels der Perspektivität allgemeinen Erkennens oder
der Perspektivität wissenschaftlichen Erkennens argumentieren (vgl. auch Scherer).
Die Metapher der sesshaften Bauern, die auf den Hügeln leben, ist in Bezug auf
Wissenschaft angemessener und erhellender. Zugleich wird an ihr noch deutlich,
dass unser Schwanken nicht nur eine Unklarheit war, sondern auch ihre Berechti-
gung in der Sache hat. Wären die Bauern nur sesshaft, kämen sie überhaupt niemals
in jene „Schwierigkeit“, das Konzept des Mühlensausens nicht zu verstehen (Müller),
denn wenn es denn so ist, „dass von ihrem Hügel aus gar keine Mühle zu sehen ist“,
dann müssten sie entweder selber nomadisch werden oder aber gastfreundschaft-
lich gegenüber Nomaden vom Mühlenhügel sein, um überhaupt etwas von Mühlen
zu erfahren.
2 Reflexion von Grundannahmen statt Metatheorie
An dem, was auch verspielt klingen mag, kann man ein logisches Problem studieren.
Dass das Konzept der Perspektivität selbst perspektivisch ist, und wir also von einer
„Perspektive der Perspektivität“ reden müssen – in Abgrenzung von den Perspekti-
ven subjektiver Konstruiertheit einerseits und realistischer Abbildung von Wirklichkeit
andererseits –, das ist der sichtbarste Indikator dafür, dass wir uns das leidige Prob-
lem des Selbstbezugs ins Haus geholt haben. Wir haben den angemessenen Um-
gang mit den mengentheoretischen und semantischen Antinomien nicht themati-
siert, was an dieser Stelle nötig gewesen wäre. Aber de facto ist das Plädoyer für
„Reflexion“ eine Antwort, und zwar eine andere als die Antwort „Metatheorie“.
Das logische Problem liegt darin, dass beides zugleich gilt, nämlich dass die Per-
spektivität von ‚Perspektivität‘ auch nur eine Perspektivität neben den Perspektivitä-
ten aller anderen Konzepte ist, und dass es diejenige Perspektivität ist, die eine
Aussage über alle Perspektivität, einschließlich ihrer selbst als Perspektivität von
‚Perspektivität‘ ist. Deshalb ist die Perspektivität von ‚Perspektivität‘ keine Meta-
Perspektive, denn die Rede von Metaebene ist dadurch definiert, dass die Objekte,
die sie aus Metaebene betrachtet, in der Metastufe selbst nicht vorkommen (sollen
und dürfen). Es muss beides gesagt werden: Das Konzept der Perspektivität des
Erkennens ist seinerseits ein perspektivisches (und nicht die Ausnahme, die die
Regel der Perspektivität bestätigt). Und zugleich: Diese Perspektivität ist nicht losge-
löst („ab-solut“) von den Perspektivitäten aller anderen Konzepte. Die wichtigste
Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag „Interdisziplinäre Sportwissenschaft“
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Konsequenz: Diese Perspektivität ist nicht einfach feststellbar, sondern „zeigt sich“
in einem Tun. Deshalb kann Kromidas zu Recht festhalten, dass solche Interdiszipli-
narität nicht selbst eine Perspektive, sondern „ als Umgang mit Perspektivität
eine Kultur“ ist, nämlich die „gemeinsame Praxis des Perspektivenwechselns“.
Wir reden daher nicht direkt über Interdisziplinarität. Direkt reden wir über ein be-
stimmtes Verständnis von Erkennen und Wissenschaft. Perspektivität ist unser
Ausgangspunkt, und wir versuchen, bestimmte Konsequenzen herauszustellen, die
dieser Ausgangspunkt für die Kultur resp. Praxis von Interdisziplinarität hat. Pointiert
gesagt: Wir setzen nicht, wie etwa Mechling, ein bestimmtes Verständnis von
Interdisziplinarität voraus, sondern thematisieren auch hier ein Konditional: Falls
Interdisziplinarität, welche denn dann? Wir thematisieren Interdisziplinarität aus-
schließlich als einen möglichen Ort, an dem sich die Perspektivität von Wissenschaft
zeigt.
Deshalb haben wir auch keine Definition bei der Hand, erst recht nicht „en passant“
(Wagner). Wir haben keinen ‚Arbeitsauftrag‘ zu verkündigen – etwa derart, dass eine
„ganzheitliche Sportwissenschaft“ (Dresen) eo ipso ein Gewinn wäre. Wir können
auch keine Präsuppositionen von Interdisziplinarität thematisieren, wie dies
Willimczik als fraglos unterstellt, um uns dann vorzurechnen, dass wir das schon
deshalb unzureichend angegangen wären, weil wir „auf jede Auseinandersetzung
mit der bisherigen Fachliteratur“ verzichtet hätten. Wir reden in der Tat an der Debat-
te, die Willimczik vor Augen hat, vorbei, denn in jenem Sinn reden wir gerade nicht
„metatheoretisch“, schon gar nicht normativ apriorisch-deduktiv über Interdisziplina-
rität.
Reflexion ist an dieser Stelle der Gegenbegriff. Reflexion ist eine Rückbeugung, und
damit eine Figur, sich dessen innezuwerden, was man je schon tut. Wir plädieren
gerade nicht dafür, vom Beobachtungshochsitz einer Metatheorie bloß zu beobach-
ten, was ‚man‘ so tut, wenn man Interdisziplinarität im Sinn hat. Wir insistieren
vielmehr darauf, die reflexiven Hausaufgaben des eigenen Tuns zu erledigen, sprich:
die je eigenen Präsuppositionen zu reflektieren und miteinander zu konfrontieren,
denn genau das ist die Minimalbedingung jener Kultur des gemeinsamen Perspekti-
venwechselns. In diesem Sinne stimmen wir Wagner völlig zu: Der notwendige
Ausgangspunkt ist Disziplinarität. Allerdings mit einer notwendigen Korrektur. Wir
hatten anhand unseres Einstiegsbeispiels darauf hingewiesen, dass Perspektivität
nicht direkt der eigenen Disziplin geschuldet ist, sondern zu klären ist, mit welchen
Interessen man welche Theorie und Methodologie jeweils in Gebrauch nimmt.
3 Folgeprobleme von Perspektivität
Auch die Perspektive der Perspektivität hat selbstredend ihre Folgeprobleme. Ein
Abbild-Realismus hat bei interdisziplinärer Arbeit z. B. kein Problem mit dem ge-
meinsamen Gegenstand, sondern bildet ihn einfach ab, um ihn dann, sekundär, von
verschiedenen Seiten aus auf Augenhöhe zu betrachten. Im Konzept der Perspektivi-
tät ist solche Gemeinsamkeit der Perspektiven nicht gegeben, sondern aufgegeben.
Scherer stellt dieses Folgeproblem in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Er
verweist zunächst darauf, dass dieser gemeinsame Bezugspunkt eben nicht, einfach
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so, als lebensweltlicher Bezugspunkt zu haben ist. Das liegt unseres Erachtens
daran, dass wir es in der Wissenschaft eo ipso mit „Laborgegenständen“ zu tun
haben, die sich eben als solche – als wissenschaftlich konstituierte – prinzipiell, und
nicht nur graduell von ihren lebensweltlichen ‚Entsprechungen‘ unterscheiden (daher
der Unterschied z. B. von Bewegungswissenschaft und Bewegungslehre). Das gilt
selbst dann noch, deshalb unsere Fußnote 3, wenn es so wäre, dass lebensweltli-
ches Erkennen nicht perspektivisch, sondern etwa realistisch-abbildend wäre. Wir
gehen aber in der Tat, wie auch Scherer, davon aus, dass auch lebensweltliches
Erkennen perspektivisch ist, wodurch sich das Folgeproblem des gemeinsamen
Gegenstandes naturgemäß potenziert. Und daraus folgt ganz selbstverständlich,
dass auch innerhalb des Konzepts der Perspektivität eine Re-Formulierung des
Verhältnisses von Lebenswelt und Wissenschaft zu erfolgen hat. Das haben wir
nicht getan, sondern nur den mehr oder weniger wohlfeilen Hinweis gegeben, dass
die gesehene Stadt durch die Konstituiertheit des Sehens nicht zu einem Luftschloss
wird.
Scherer macht hier, wenn wir ihn recht verstehen, geltend, dass der Topos des
Anwendungsbezuges an dieser Stelle seinen systematischen Ort hat. Das unter-
schreiben wir gerne – allerdings noch nicht als Antwort auf die Frage, sondern als
nun gegebene Problemstellung, wie ein solcher „Anwendungsbezug“ diese Dienste
leistet. Uns ist nämlich noch etwas rätselhaft, dass der Bezug auf Anwendung das
Konstruieren einer kleinsten gemeinsamen Analyseeinheit überflüssig macht. Das
könnte man doch nur als Hinweis auf eine gegebene Unmittelbarkeit lesen (!?), die
es aber im Konzept der Perspektivität des Erkennens nicht gibt. Schon gar nicht,
wenn man dem folgt, worauf Scherer dann sofort verweist: dass wir längst in einer
wissenschaftlich konstituierten Lebenswelt leben, sodass „Anwendungsbezüge
immer der Übersetzung wissenschaftlich-perspektivischer Erkenntnisse in lebens-
weltliche Konstruktion [bedürfen]“. Hier können wir nur gemeinsamen Klärungsbe-
darf anmelden.
Ein anderes Folgeproblem liegt in der Frage, wo das alles enden soll. Wagner stellt
die großartig-diebische Frage, ob nicht die Forderung nach Reflexion von Präsuppo-
sitionen zwangsläufig in einen unendlichen Regress läuft. In der Theorie ist diese
Frage schnell erledigt: Die Unterstellung eines unendlichen Regresses kann man
dann, und nur dann, machen, wenn man nicht-perspektivisches Wissen zur Grundla-
ge macht und/oder zum Ziel erklärt. Das ist derselbe Punkt, der Perspektivität von
Relativismus unterscheidet. Aber diese Antwort wird der berechtigten Frage von
Wagner sichtlich nicht gerecht. Wir versuchen daher ein zweites Argument.
Die Reflexion von Grundannahmen wird immer einen historischen und situativen
Index haben. Diskutiert eine Handlungstheoretikerin mit einem Verhaltenstheoreti-
ker, wird sie darauf zu reflektieren haben, was eine Handlungstheorie ausmacht;
diskutiert sie mit anderen Handlungstheoretikern, wird sie darauf zu reflektieren
haben, was ihren Ansatz von anderen Handlungstheorien unterscheidet – dabei hat
der Verhaltenstheoretiker bloß interessiert zuzuhören. Oder er interveniert – als
Bauer vom fremden Hügel sozusagen. Will sagen: Das von Wagner eingeklagte
„Begründungsende“ wird der Sache nach historisch und situativ bestimmt sein – es
ist der Sache nach nicht in transhistorischer oder transsituativer Kontemplation zu
Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag „Interdisziplinäre Sportwissenschaft“
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haben. Und dann gilt: Wenn sich zwei Handlungstheoretiker streiten, müssen sie
nicht miteinander klären, was eine Handlungstheorie von einer Tätigkeitstheorie
unterscheidet, denn darin sind sie sich als Handlungstheoretiker einig. Solche Prob-
leme tauchen erst auf, wenn Nomaden von Tätigkeitstheorien zu berichten wissen
(oder wenn man selbst nomadisch wird und wissen will, was wohl auf den anderen
Hügeln passiert). Dass eine Biomechanikerin heute ihre anthropologischen Grund-
annahmen nicht thematisiert, ist gemessen an den Debatten, die außerhalb der
Biomechanik geführt werden, ein Taubstellen – dass sie nicht thematisiert, wie es ihr
biomechanischer Ansatz mit dem Trojanischen Krieg hält, ist heutzutage ganz
selbstverständlich. Nur wer mit Gottes Augen auf unsere menschliche Welt blicken
will, der kann problematisch finden, dass wir heute in je unserem Wissen Grundan-
nahmen machen, die sich schon morgen in gemeinsamer Reflexionspraxis als nicht
alternativlos herausstellen.
4 Perspektivität im Wissenschaftshandeln
Nachdrücklich wird in mehreren Kommentaren darauf hingewiesen, dass unsere
„gedankliche Konstituierung von Interdisziplinarität“ (Hänsel) eingebettet werden
muss in das konkrete Tun handelnder Personen. Hänsel spricht von einer „Psycho-
logie der Interdisziplinarität“, Raab von „Erkenntnishandeln“, Dresen von „Deutungs-
arbeit“, Willimczik klagt Konkretionen ein etc. Solche Einbettung ist zweifellos wich-
tig, nötig und ganz in unserem Interesse (vgl. Abschnitt 6 unseres Beitrags). Es
nützen keine bloß schönen Reden, was Interdisziplinarität wohl sei. Solche Reden
müssen sich im Tun bewähren, oder noch deutlicher: Wissenschaft zu betreiben ist
ein Tun, eine Praxis und nicht lediglich die Umsetzung von Konzepten in Handlun-
gen.
Die angemessene Antwort auf die Frage, was nun genau zu tun ist und ob es über-
haupt getan werden sollte, dürfte vielleicht zuerst die sein, dass das, was wir gel-
tend gemacht haben, sehr simpel und eine Art wissenschaftliche Selbstverständ-
lichkeit ist. Die Reflexion von Grundannahmen ist zunächst nichts weiter als eben
gute Wissenschaft: Ein Tätigkeitstheoretiker sollte Auskunft darüber geben können,
was eine Tätigkeitstheorie ausmacht und was sie von Handlungstheorien und Ver-
haltenstheorien unterscheidet. Wer das auf Aufforderung nicht kann, der ist entwe-
der noch im Stadium der Industrialisierung von Wissensproduktion – wenn es nicht
darauf ankommt, das eigene Paradigma zu reflektieren, sondern nur wichtig ist, auf
seiner Basis Wissen zu produzieren – oder aber so jemand betreibt schlechte Wis-
senschaft.
Dieser Verweis darauf, dass wir einen sehr flachen Ball gespielt haben, kann, darf
und will aber nicht leugnen, dass es oft in der Sache schwer ist, diesen Ball auch
anzunehmen. Was es heißen soll, die Biomechanik möge ihre anthropologischen
Grundannahmen klären und diese dann auch noch in ihren Modellen kenntlich
machen, das könnte, wenn überhaupt, nur in der konkreten Theoriebildung der
Biomechanik geklärt werden – und schon die Frage mag dort Rätsel aufwerfen.
Nicht alle, die nicht verstehen, wonach denn überhaupt gefragt ist, stellen sich
deshalb schon taub.
Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag „Interdisziplinäre Sportwissenschaft“
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Hier ist das, was sonst zu Recht als Ausflucht gilt, in der Tat ein Argument. Weil es
eine Aufforderung ist, die je eigenen Grundannahmen zu reflektieren, kann es hier
keine allgemeinen Handlungsempfehlungen mehr geben. Man kann und muss es
tun – sei es einzeln, sei es gemeinsam. Darüber hinaus mag es Dokumentationen
von Beispielen gelingender Praxis geben. In genau diesem Sinne hatten wir (siehe
Fußnote 1 unseres Beitrages) die Lektüre des Buches von Lindemann empfohlen.
Aber man könnte auch auf Scherer (2001) verweisen, wo exemplarisch das vorge-
führt ist, was „Reflexion von Grundannahmen“ meint; dort am Beispiel der inneren
Verknüpfung von sportdidaktischen Konzepten mit lerntheoretischen Grundannah-
men. Es mag sein, dass das Einfache schwer zu machen ist. Dennoch bleibt es sehr
simpel: Wissenschaftliches Wissen hat, in der Perspektive der Perspektivität, eine
Wenn-dann-Struktur, also weder eine Jemand meint, dass- noch eine Es ist so, dass-
Struktur. Gelingende Interdisziplinarität ist dann möglich, wenn die Beteiligten je
situativ-konkret um ihre Prämissen wissen.
Bleibt die – vor allem von Hänsel forcierte – Frage, warum dies alles getan werden
sollte, konkret: welche Kosten mit einem Perspektivenansatz verbunden sind. Ab-
schließend sollen daher Konsequenzen angedeutet werden, die sich aus dem vor-
gestellten Ansatz für die Praxis des „Erkenntnishandelns“ (Raab) ergeben könnten.
Nimmt man zu diesem Zweck den Spielball der ökonomischen Kalkulation auf, gälte
es, neben den von Hänsel nachgefragten Kosten zunächst auch den unmittelbaren
Nutzen in den Blick zu nehmen. Dieser Nutzen wird in verschiedenen Kommentaren
unterstrichen, etwa von Dresen, wenn sie die begründet-reflektierte Beschränkung
des eigenen perspektivischen Beitrags herausstellt, die zugleich jedoch mit einer
Schärfung des Blicks für das Genuine der eigenen Position verbunden ist. Allgemei-
ner haben wir oben die Reflexion von Grundannahmen als Merkmal guter Wissen-
schaft herausgestellt – auch das ist nicht nichts. Was aus einer Adoption des Per-
spektivenansatzes schließlich folgt, ist ein besseres Verständnis der Übersetzungs-
problematik. So man denn versucht, Interdisziplinarität auf der Ebene der Ergebnisse
herzustellen, ist der Versuch einer Übersetzung in der Tat „von Vornherein illusionär“
(Nitsch, zit. bei Willimczik). Der vorgeschaltet-reflektierende Rückbezug auf die
eigene Perspektive stellt jedoch eine notwendige Bedingung für das dar, was Hänsel
als „radikalere“ Konzeptualisierung von Interdisziplinarität bezeichnet und der Positi-
on eines „milden Interesses an den Ergebnissen anderer Disziplinen“ gegenüber-
stellt. Gerade diese Erkenntnis führt dann zu dem von Mechling eingeforderten –
und von ihm im Zielbeitrag offenbar übersehenen – „Angebot zu interdisziplinärer
Forschung“, denn die von Nitsch festgestellte „Illusion“ gilt doch auch nur dann,
wenn man die oben besprochene „Selbstreflexionsweggabelung“ verpasst hat. Eine
„radikale“ – in unserer Wortwahl: „gelungene“ – Interdisziplinarität wird von daher
mit der Perspektive der Perspektivität erst ermöglicht. Der Nutzen liegt daher auf der
Hand.
Betrachtet man die andere Seite der ökonomischen Gleichung, so müssen Kosten in
Rechnung gestellt werden. In der Tat setzt ein Perspektivenansatz notwendiger-
weise die Bereitschaft voraus, den in der eigenen Disziplin sicher-ausgetretenen
Weg zu verlassen, sich von anderen Perspektiven irritieren zu lassen, allgemeiner
gesprochen: nachzudenken. All dies mag schon als Kosten erlebt werden. Hinzu
Antwort zu den Kommentaren zum Beitrag „Interdisziplinäre Sportwissenschaft“
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kommt, dass die oben skizzierte Ermöglichung natürlich nicht Gelingen garantiert,
denn tatsächlich kann – wie bereits im Zielbeitrag ausgeführt – die wechselseitige
Klärung von Grundannahmen auch in die Einsicht münden, dass die betrachtete
Stadt gar keine Anhöhe bietet, von der aus „Mühlensausen“, „Alarmzustand“ und
„Pferdeverschiffung“ zugleich und in ihrer Wechselwirkung in den Blick genommen
werden können. Ohne Zweifel: Dieses Risiko ist mit potenziellen Kosten verbunden.
Im Hinblick auf ein solches Risiko scheint es uns, als ob die Gründergeneration der
deutschen Sportwissenschaft ein wenig mutiger gewesen ist als ihre Nachfolgerin-
nen. Wenn beispielsweise Göhner mit seiner „aktionalen Funktionsanalyse“ Bewe-
gungsteile (regelhaft) biomechanisch begründet, für diese Begründung jedoch die
Betrachtung des Aktions-, Aufgaben- und Zielkontexts für unerlässlich erachtet, dann
verlässt er einerseits seine biomechanische Heimat (in der personale Bezüge nicht
vorkommen), ohne zugleich das bewegungswissenschaftliche Nachbardorf der
Motorik zu erreichen (in der anstelle der Außenperspektive der Aufgabenstruktur die
Innenperspektive der Aufgabenlösung betrachtet wird). Was er mit seiner funktiona-
len Aufgabenanalyse jedoch vorlegt, ist eine Systematik von offenbar hohem sport-
praktischem Nutzen, die zugleich – wenn auch von ihm selbst nicht dezidiert verfolgt
– zu einem Theoriebildungsprozess zwischen Biomechanik und Motorik einlädt.
Was dieses Beispiel verdeutlicht, ist zweierlei: zum einen, dass der aufgezeigte Weg
gangbar ist, und zum zweiten, dass der Weg mit noch weiteren, bisher vernachläs-
sigten Kosten verbunden ist. Wie uns scheint, zielt Hänsel in seinem Kommentar vor
allem auf solche Kosten ab, also Folgekosten, die mit der Aufgabe der (mutter-)
disziplinären „mainstream“-Sicht zugunsten einer sportwissenschaftlich-interdiszi-
plinären Theoriebildung verbunden sind. Konkretisiert am Göhner-Beispiel: In einer
Biomechanik-Zeitschrift bekommt man einen Beitrag zur funktionalen Aufgabenana-
lyse nur schwer unter – und schon gar nicht in einem „International Journal of…“.
Solange die Sportwissenschaft also bei Evaluationen, Berufungen, Drittmittelverga-
ben usw. Kriterien wie die Anzahl international-disziplinärer Publikationen hoch
gewichtet, darf es aufgrund der dann hohen Kosten nicht erstaunen, wenn man nur
wenige Mitglieder der Fachgesellschaft dafür begeistern kann, sich auf den Weg zu
einer gelungen-interdisziplinären Sportwissenschaft zu begeben. Wir wollten in
unserem Beitrag den Punkt setzen, dass dieser Weg, so man denn wichtige Ab-
zweigungen nicht verpasst, gangbar ist – die ökonomisch berechenbare Attraktivität,
den Weg tatsächlich einzuschlagen, wird von der Sportwissenschaft selbst festge-
legt. Wir wollen an dieser Stelle zu bedenken geben, dass in der Schlussrechnung
die langfristigen Kosten für das Auslassen interdisziplinärer Chancen größer ausfal-
len könnten als die kurzfristigen Gewinne, die eine disziplinäre Anschlussfähigkeit
bringen mögen. Dies aber ist eine andere Geschichte…
Literatur
Scherer, H.-G. (2001). Zwischen Bewegungslernen und Sich-Bewegen-Lernen. sportpädago-
gik, 25 (4), Beilage.
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