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Abstract

Im ersten Teil des Essays wurden Wesensmerkmale eines Defizitmodells vorgestellt. Die Diagnose der Rechenschwäche /Dyskalkulie gehört zu dessen Wirkungsfeld. Jetzt soll eine Alternative skizziert werden, welche fähig ist, eine systemische mathematische Bildung zu erzeugen. // Résumée Dans la première partie de cet essai, nous avons présenté la nature des caractéristiques d’un modèle s’orientant par rapport aux déficits. Le diagnostic de difficultés en calcul/ dyscalculie fait partie de son champ d’application. Le présent article esquisse une alternative visant à proposer un enseignement systémique des mathématiques.
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Dyskalkulie und Panoptikum
Das Defizitmodell begründet die Dyskalku-
lie als erkennbare Wahrheit über ein Indivi-
duum. Die gesellschaftliche Überwachung
und Kontrolle dieser Vorgänge kann nach
Michel Foucault (1977) unter dem Begriff
des Panoptikums zusammengefasst wer-
den. Panoptismus bezweckt, in Werkstät-
ten, Schulen, Kasernen, Kliniken oder Ge-
fängnissen das Licht so anzuordnen, dass
die wesentlichen Funktionen dieser kon-
kreten Einrichtungen sichtbar werden. Das
Sehen und das Gesehen-Werden stehen im
Zentrum. Gleichzeitig ist der Panoptismus
eine abstrakte Formel, ja eine abstrakte Ma-
schine, deren Bedeutung darin besteht, «ir-
gendeiner menschlichen Mannigfaltigkeit
eine Verhaltensweise aufzuzwingen» (De-
leuze, 1992, S. 51f.). Erziehen und bilden
sind formalisierte Funktionen. Unterricht
ist demnach die konkrete Einrichtung einer
abstrakten Maschine, welche man architek-
tonisch, optisch-verhaltensmässig und abs-
trakt begreifen kann.
Stefan Meyer
Teil II: Beziehungshaltige Mathematik
Zusammenfassung
Im ersten Teil des Essays wurden Wesensmerkmale eines Defizitmodells vorgestellt. Die Diagnose der Re-
chenschwäche / Dyskalkulie gehört zu dessen Wirkungsfeld. Jetzt soll eine Alternative skizziert werden,
welche fähig ist, eine systemische mathematische Bildung zu erzeugen.
Résumée
Dans la première partie de cet essai, nous avons présenté la nature des caractéristiques d’un modèle
s’orientant par rapport aux déficits. Le diagnostic de difficultés en calcul / dyscalculie fait partie de son
champ d’application. Le présent article esquisse une alternative visant à proposer un enseignement sys-
témique des mathématiques.
Abbildung 1:
Collage eines schulischen
Panoptikums
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Abbildung 1 skizziert Elemente eines schu-
lischen Panoptikums, das im Uhrzeigersinn
von der Selbstbeurteilung bis zur Überwa-
chungskamera und dem Jugendstrafgesetz
reicht. Man könnte es betiteln mit «überwa-
chen und individualisieren». Das panopti-
sche Schema oder Diagramm kann den
Geist der lernenden Person auch im Mathe-
matikunterricht erobern und unterwerfen.
Laing (1969) beschrieb das wie folgt:
Kinder geben nicht leicht ihre angeborene
Vorstellungskraft, Neugier und Verträumt-
heit auf. Man muss sie lieben, um sie dazu zu
bringen. Liebe ist der Weg durch Zugeständ-
nisse zur Disziplin – und durch Disziplin nur
allzu oft zum Selbstverrat.
Die Schule muss die Kinder dazu bringen, so
denken zu wollen, wie die Schule will, dass
sie denken. (ebd., S. 63)
Das Denken zu wollen, wie die Schule will,
dass sie denken, wird über eine Prozess-
struktur, die Aufgabendidaktik (Lenné,
1969) eingerichtet. Dabei werden Lernenden
unablässig Aufgaben vorgelegt, welche die
Beziehungshaltigkeit zwischen der Mathe-
matik und der Lebenswelt unterlaufen
(Freudenthal, 1977). Nach Mauss (1999) ist
die Gabe von Aufgaben auch eine Zelebrati-
on von Macht und Bedeutsamkeit. Das Ge-
ben in der Schule wird verbunden mit der
Erwartung auf Wissen beim Empfänger.
Der Rechengestörte reagiert negativ auf die
Gabe. Er weiss nichts mit ihr anzufangen.
Nach Freire (1977) zerstören Fibeln die
Kreativität. Die Schulbuchseite «schenkt»
die Mathematisierung des Weltbezuges. Be-
ziehungshaltige Mathematik wird hingegen
durch die eigene kreative Anstrengung
(ebd., S. 54) erzeugt. In Anlehnung an
Metze’s (1997) Erörterung des Schriftsprach-
erwerbs geht es nicht um eine radikale Ab-
lehnung oder Anerkennung von Fibeln. Es
geht auch nicht um die Polarisierung zwi-
schen offiziellen Lehrwerken und selber
hergestellten Lehrgängen. Es geht um Ein-
sicht in die unablässige Gabe von Aufgaben.
Die Prozessstruktur der Aufgabendidaktik
untergräbt die didakti sche Kompetenz der
Lehrkraft auf subtile Weise. Der Verzicht
auf Sachanalysen und auf didaktische Ana-
lysen erzeugt eine «funktionale Gebunden-
heit». Der Gestaltpsychologe Duncker (1974)
definierte das als Tendenz, einen Gegen-
stand beim Problemlösen mit den norma-
len, gewohnten und illusionären Wegen zu
verbinden. Die beziehungshaltige Mathema-
tik erfordert hingegen, dass man jenen Ge-
genstand in anderen Funktionen verwen-
den würde. «Gebundenes» Verhalten behin-
dert den Lösungsweg von Anfang an. Es
zwingt Dyskalkulie auf und möchte sie
gleichzeitig behandeln.
Die Gebundenheit erkennt man auch
daran, dass die Lernenden pädagogisch--
rokratisch überwacht werden. Moderne för-
derdiagnostische Systeme und Methoden
versuchen die Dyskalkulie neu zu definie-
ren, oder man zieht pädagogische Definitio-
nen den klinischen vor (Moser Opitz, 2007;
Dilling et al., 2011). Das «Gestörte» oder das
«Besondere» sollen individualisiert und in-
tegriert werden.
Wie soll das Defizitmodell Störungen
mindern helfen, wenn es nicht fähig ist, die
Prävention der Dyskalkulie zu bewerkstelli-
gen? Das überwachende und individualisie-
rende Panoptikum ist für die Entwicklung
der schulischen Integration verheerend.
Fachdidaktik bleibt ein programmierter
Verlust der Autonomie. Nach Bachelard
(1988) standen die Physiker des letzten Jahr-
hunderts mehrmals vor der Notwendigkeit,
«ihre Vernunft umzubauen und, intellektu-
ell gesprochen, ein neues Leben zu begin-
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nen» (ebd., S. 173). Man hätte Dyskalkulie
schon längst aufgeben müssen, so wie die
Physiker die Annahme, dass das Elektron
ein Ding sei. In den folgenden Abschnitten
wird das alternative, umgebaute Panopti-
kum, die Handmetapher der mathemati-
schen Bildung, vorgestellt.
Ressourcenorientierter Panoptismus:
Autonomie, Sozialisation, Lernen
Das ressourcenorientierte Diagramm ent-
stand in Anlehnung an Foucault (1977). Mit
der Handmetapher soll dargelegt werden,
dass die schier babylonische Vielfalt an
Prinzipien, Modellen, psychologischen, neu-
ropsychologischen und psychiatrischen Va-
riablen sowie Materialien auf eine alltags-
taugliche Menge reduziert werden kann. Die
«Realistic Mathematics Education» von
Freudenthal (1991), die Grundfragen des
Mathematikunterrichts von Wittmann
(2002), das Handbuch der produktiven Re-
chenübungen (Wittmann & Müller, 1990)
sowie die Unterrichtsentwicklungen von
Kamii (1985, 2000) bilden das mathematik-
didaktische Fundament. Paulo Freire’s
(1977) problemformulierende Methode so-
wie das Methodenkonzept «l’emozione di
conoscere» (dt. Empathie und verstehen)
von Cuomo (1989; siehe auch Imola, 2010)
stellen die pädagogischen Ecksteine des Dia-
gramms dar.
Die Handmetapher bezieht sich konse-
quent auf Personen, auf Gruppen und Orga-
nisationen. Sie sucht nach konstruktiven
Elementen im Curriculum, in den Lehrmit-
teln oder in der Erfahrung der Lebenswelt.
Das Diagramm fragt nach dem, was Perso-
nen in einer beziehungshaltigen Mathema-
tik fördert und herausfordert. Es nimmt die
Vision von Cantor (1980) ernst, dass das We-
sen der Mathematik in ihrer Freiheit beste-
he. Es beruft sich auf qualitative Forschungs-
strategien und Methoden (Flick, 2006). Das
Diagramm erhielt während der Begleitung
von Entwicklungsprojekten von Studieren-
den oder in Gesprächen mit Pädagoginnen
und Pädagogen stetig klarere Konturen.
Abbildung 2:
Diagramm beziehungs-
haltiger mathematischer
Bildung
Abbildung 2 illustriert die wichtigsten Di-
mensionen eines beziehungshaltigen / syste-
mischen Mathematikunterrichts. Man könn-
te dieses Diagramm betiteln mit «beobach-
ten und bilden». Es wird nun im Uhrzeiger-
sinn portraitiert.
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Die Entwicklungsdimension (Daumen)
Die Entwicklungsdimension ist eine systemi-
sche (Cuomo, 1989; Speck, 1998; siehe Abb.
2). Diese Dimension fragt offen: was kann
sich entwickeln – was soll sich entwickeln?
Entwicklungspsychologische Untersu-
chungen über das Verständnis des dekadi-
schen Stellenwertsystems zeigten, dass die
Mehrheit der Schülerinnen und Schüler eine
vollständige Einsicht erst im Alter von 10–11
Jahren erreichen (Ross, 1986; Kamii, 2004;
Brugger & Sidler, 2005; Moser Opitz, 2007).
Kinder mit einer Lernbehinderung hatten
selbst auf der Oberstufe grösste Probleme mit
dem dekadischen Stellenwertsystem (Ruflin,
2008). Christofidès-Henriques (2003) folgerte
aus den Studien der Genfer Schule sowie aus
Praxisprojekten, dass man die Bruchzahlen
nicht vor dem Alter von 12–13 Jahren unter-
richten sollte. Die Entwicklung in die Ein-
sicht zwischen den Teilen und einem Ganzen,
in die Proportionalität, in die Korresponden-
zen, in die additiven und multiplikativen Be-
ziehungen zwischen Zahlen wird im formal-
abstrakten Denken vollendet. Würde man
diese Ergebnisse in der Forschung und der
Programmentwicklung beachten, könnten
Überforderungen von Lernenden sowie sys-
tematische Fehldiagnosen der Rechenschwä-
che vermieden werden.
Die empirisch abgestützte Passung zwi-
schen dem Unterrichten und den Entwick-
lungsmustern könnte das ganze System ent-
lasten. Es entstünde eine Balance zwischen
den Maximen: nicht zu früh – nicht zu
streng – nicht zu mild – nicht zu spät.
Biedermann (2007) zeigte wie man ei-
nen Aspekt des Mathematikunterrichts
klassen- und stufenübergreifend entwickeln
kann. Zusammen mit einer Arbeitsgruppe
eines Schulhausteams konzipierte sie einen
stufenübergreifenden Übungsunterricht im
Fach Mathematik. Das Gesamtteam bewer-
tete das Konzept positiv. Es wurden ökono-
mische, entwicklungspsychologische, lern-
psychologische und übungsdidaktische Ele-
mente integriert und umgesetzt.
Mast und Ginsburg (2009) beschrieben
ein Entwicklungsprojekt «child study / less-
on study», in dem Forscher und Lehrperso-
nen eine Kombination bestehend aus Fall-
studien, flexiblen Interviews (siehe z. B.
Meyer, 2006) und der japanischen Lesson
Study erproben konnten. Die Lesson Study
organisiert die berufliche Entwicklung von
Lehrpersonen in kleinen Arbeitsgruppen.
Sie besprechen Lernziele, planen gemein-
sam sogenannte Forschungs-Lektionen, de-
ren Umsetzung beobachtet wird. Die Beob-
achtungen werden überprüft und in den Ar-
beitsgruppen erörtert. Mast und Ginsburg
(2009) fanden heraus, dass die Verwendung
des flexiblen Interviews während des Unter-
richts bessere Effekte erbracht hatte als die
blosse Beobachtung des Geschehens.
Der Fall Renzo (Cuomo, 1989) doku-
mentiert eine gelungene Entwicklungsar-
beit und Fallstudie. Lehrpersonen arbeite-
ten gemeinsam mit Fachpersonen der Uni-
versität an einer Fallstudie in einer Schul-
klasse. Es ging dabei um die Integration
eines schwer verhaltensgestörten Knaben
mit Trisomie 21 in die dritte Regelklasse.
Die niederschwellige und nachhaltig gestal-
tete Aktionsforschung erwies sich als Er-
folgsfaktor für die Entwicklung von Renzo
und der Schulklasse.
Die bedeutsamen Inhalte (Zeigfinger)
Die Beschäftigung mit der Frage nach be-
deutsamen Inhalten rechtfertigt den Unter-
richt situativ (Klafki (1996). Man fragt nach
der gegenwärtigen, der zukünftigen und der
exemplarischen Bedeutung eines Lerninhal-
tes. Die rigorose Auseinandersetzung mit
dieser Dimension würde verhindern, dass
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Lernende jahrelang Leerläufen, Sinnkrisen
oder gar Beschämung ausgesetzt wären (Mo-
ser Opitz, 2007; Lichtsteiner Müller, 2011).
Bedeutsame Inhalte werden in Wech-
selwirkungen erzeugt. Nach Laing (1969)
entstehen sie zwischen dem Verhalten und
der persönlichen Erfahrung (Laing, 1969).
Bedeutsamkeit kann etwas Schönes aber
auch etwas Abscheuliches sein. Ein Lehr-
mittel oder eine Lernumgebung sind per se
nie bedeutsam oder beziehungshaltig.
Die Pädagogin ermöglicht bedeutsames
Lernen, wenn sie sich an den Grundsatz
hält: «Zuerst forschen, dann lehren» (Freire,
2008). Bedeutsamkeit von Inhalten schafft
man in der Interaktion (Klafki, 1996). Freire
(1979) bezeichnete das als Suche nach gene-
rativen Wörtern oder Themen. Das Adjektiv
«generativ» bezieht sich auf Inhalte, welche
in der Lebens- und der Erfahrungswelt ver-
ankert sind. Die Sachanalyse und die didak-
tische Analyse prüfen die generativen The-
men. Die subjektiven Erkenntnis- und Lern-
interessen werden mit den mathematischen
Bildungsprozessen verknüpft. Die Projekt-
methode (Frey, 2010) dient als Organisati-
onshilfe. Freire’s (1979) Ansatz hatte sich in
der Alphabetisierung Brasiliens bewährt.
Unterrichtsprojekte an der HfH erforschten
die Tauglichkeit für die Mathematik.
Lanthaler-Schuler (2007) hatte in ei-
nem Projekt beobachtet, dass die Schülerin-
nen und Schüler ihrer Kleinklasse mit Be-
geisterung eine Rampe aus Holz gebaut hat-
ten, von der aus sie ihre Modellautos herun-
ter sausen liessen. Der Wettbewerb um die
längste Fahrt bildete das Fundament für ei-
nen längeren Prozess der Mathematisie-
rung. Die Kleinklässler lernten die Längen-
masse und das Sachrechnen sehr gut.
Franziska Roth, SHP, (persönl. Mittei-
lung, 20.04.2012) hatte ihre Erstklässlerin-
nen und Erstklässler am Anfang des Schul-
jahres aufgefordert, das Zahlenbuch anzu-
schauen und sich zu entscheiden, welches
Thema sie gern behandeln möchten: eine
Gruppe stürzte sich auf das Spiel «Räuber
und Goldschatz», andere Kinder wählten
«die Uhr», eine dritte Gruppe befasste sich
mit dem Geld usf. Die Pädagogin organisier-
te die Lernprozesse mit Hilfe der Projektme-
thode. Die Schülerinnen und Schüler lern-
ten dort Mathematik, wo sie sich für ein
Thema interessierten. In der Klasse berich-
tete man fortlaufend über die Erfahrungen
(siehe Dietschi, 2010). Am Ende des Schul-
jahres erreichte die Klasse die Lernziele ein-
wandfrei. Bedeutsamkeit ist kein leeres Lip-
penbekenntnis, sie kann schöne Erfahrun-
gen erzeugen. Die Beispiele verdeutlichen,
dass bedeutungsvolle Inhalte innerhalb und
ausserhalb des Mathematikunterrichts vor-
kommen. Entscheidend ist, dass man sie im
Dialog mit den Lernenden erkundet.
Die mathematischen Handlungsaspekte
(Mittelfinger)
Diese Dimension definiert die Mathematik
als ein Tun. Man könnte die populäre For-
mel «Liebe ist, wenn…» auf den Mathema-
tikunterricht übertragen. Mathematik ist…,
wenn Lernende Erfahrungen mit Zahlen,
Symbolen, Massen, physikalischen Gestal-
ten und Formen bearbeiten. Wenn sie das
Wissen, das Erkennen und das Beschreiben
entwickeln können. Wenn sie operieren und
berechnen können. Wenn sie Instrumente
und Werkzeuge verwenden können. Wenn
sie Zeit bekommen, um zu mathematisieren
und zu modellieren. Wenn sie im Unterricht
immer wieder argumentieren und begrün-
den. Wenn sie Produkte und Resultate inter-
pretieren und reflektieren können. Und
wenn sie Zeit und Raum bekommen, um ex-
plorieren und erforschen zu können (Smit,
2005).
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Die rigorose Beachtung der Handlungsas-
pekte und der Bildungsziele würde den Ma-
thematikunterricht für die Mathematik öff-
nen. Tebrügge (2001) stellte aber fest, dass
Lehrpersonen in der Unterrichtsplanung die
Lehrpläne und die fachdidaktischen Unter-
lagen und Kommentare fast nicht nutzen.
Die Handmetapher verweist auf Strategien,
welche die Unterrichtsplanung und den Un-
terricht stärken. Bedingung ist allerdings,
dass die Bildungspolitik die Bildungsbüro-
kratie mit ihrem defizitorientierten Panopti-
kum umbaut. Es genügt nicht, bloss die
Fachdidaktik zu verbessern, der Kontext
muss auch umgebaut werden (Bronfenbren-
ner, 1993). Indikator für einen guten mathe-
matischen Unterricht wären Lehrpersonen,
welche mehr Zeit bekommen und sich Zeit
nehmen für die Entwicklung mathemati-
scher Bildung (Mast & Ginsburg, 2010).
Das Üben (Ringfinger)
Übung sollte alle Handlungsaspekte der ma-
thematischen Bildung einbeziehen. Üben
heisst nicht nur berechnen und anwenden.
Schoenfeld (1994) folgerte z. B. , dass das Be-
weisen eine zentrale Rolle spielt. Das bedeu-
tet, dass man vom Kindergarten an bei Irri-
tationen über Aussagen oder bei wider-
sprüchlichen Resultaten zum Beweisen her-
ausfordert: «Was ist an diesen Aussagen
wahr, was nicht? Kommt, wir beweisen es
einander.» Degradiert man Kinder mit Dys-
kalkulie oder Lernbehinderungen aus soge-
nannt «pragmatischen» Gründen nur noch
zum vereinfachten Operieren und Berech-
nen, so verarmen der Mathematikunterricht
und das Lernen der Kinder (Scherer & Mo-
ser Opitz, 2010).
Parallel zum mathematikdidaktisch ge-
stalteten Üben muss den Spieltätigkeiten
der Kinder mehr Raum und Aufmerksam-
keit gegeben werden. Kamii (1985) und Ra-
mani & Siegler (2008) haben bewiesen, dass
viele Spiele den Umgang mit Zahlen si-
chern. Diese Erfahrung erscheint auch in
der Redeweise: «Mit em Jasse lehrsch räch-
ne» (dt. Wer Karten spielt, lernt rechnen).
Spielerfahrungen sind Rohstoffe für das
Mathematisieren. Die Website des flexiblen
Interviews bietet Projektskizzen zu diesem
Verständnis von Üben an (Meyer, 2006). Die
Website «RekenWeb» des Freudenthal-Insti-
tuts (2012) enthält eine Vielzahl von anspre-
chenden und elaborierten Übungsmöglich-
keiten.
Üben soll die Ressourcen und den Fort-
schritt sichern. Aufgesetztes und aufgaben-
didaktisches Üben erinnert an die Defizite
oder an die Behinderung. Auch hier ent-
scheidet erst eine didaktische Analyse, ob
die Übungsziele passen.
Das Abfragen (kleiner Finger)
Faktenwissen jeder Art muss abgefragt wer-
den, wenn es automatisiert werden soll (Kar-
picke & Roediger, 2008). Das ist der Königs-
weg zu stabilen Langzeitspeicherungen. Mit
täglichen, kleinen und wirkungsvollen Ein-
heiten, die über viele Schulstufen verteilt
sind, sollen Erfolge aufgebaut und gesichert
werden. Man kann das Blitzrechnen nicht
einfach spenden oder aus dem Netz herun-
ter laden, man muss es geduldig und schon
vom Kindergarten an kultivieren (Witt-
mann & Müller, 1990 sowie 2009; Bieder-
mann, 2007). Diese Lehr- und Lernformen
erfordern in erster Linie vertrauensvolle Be-
ziehungen, Ermutigung, Fachkompetenz
und Belohnungssysteme (Friedli, 2009).
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>HEILPÄDAGOGIK ALLGEMEIN
Schluss
Platons Sehnsucht nach Bildung ist so aktu-
ell wie vor 2400 Jahren. Der gebundene Ma-
thematikunterricht ist eine bürokratisierte
und aufgabendidaktische Parodie von Ler-
nen und gleichzeitig ein ideologischer Götze
der Schule geworden.
Die Handmetapher erinnert kritisch
und konstruktiv an wesentliche Fragen der
mathematischen Bildung. Die Auseinander-
setzung damit stärkt Pädagoginnen, Päda-
gogen und die Lernenden für den Exodus
aus der Unbildung. Der Essay skizziert ein
Diagramm, das der Entwicklung von Res-
sourcen verpflichtet ist.
Mathematikunterricht soll die Autono-
mie, die Sozialisation und das Lernen (Imo-
la, 2010) von allen fördern. Beziehungshalti-
ge mathematische Bildung trianguliert die
Erfahrungen der Lehrenden und der Ler-
nenden mit Inhalten und Interessen (Freu-
denthal, 1977). Freire (1979) bezeichnete die
Lehrer als Künstler und Politiker. Mit der
«Brille» der Handmetapher erkennt man das
erneut.
Lic. phil. Stefan Meyer
Hochschule für Heilpädagogik
Zürich
Department Heilpädagogische
Lehrberufe
Schaffhauserstrasse 239
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stefan.meyer@hfh.ch
Literatur kann beim Au tor auf Wunsch direk t bezogen
werden.
Themenschwerpunkte der Schweizerischen Zeitschrift für Heilpädagogik 2012
Heft Schwerpunkt Redaktionsschluss
1/2012 Emil E. Kobi in seiner Bedeutung für 11.11.2011
die Heil- und Sonderpädagogik
2/2012 Sinnesbehinderungen 09.12.2011
3/2012 Lebensqualität 13.01.2012
4/2012 Heilpädagogische Früherziehung 10.02.2012
5/2012 Illettrismus 09.03.2012
6/2012 Dyskalkulie-Therapie 13.04.2012
7–8/2012 UN-Behindertenrechtskonvention 11.05.2012
9/2012 Schulische Integration, Rollenverständnis, -konflikte 15.06.2012
10/2012 Berufliche Integration 17.08.2012
11–12/2012 Missbrauch und Vernachlässigung 14.09.2012
Anregungen, Beiträge, Fragen etc. an: redaktion@szh.ch
Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik Jg. 18, 7-8/12 Seite xxxix
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Nicola Cuomo erforschte Integration am Dipartimento di Scienze dell’Educazione „Giovanni Maria Bertin“ der Universität Bologna I mehr als 30 Jahre lang. Das hatte ihn international bekannt gemacht. Nicola Cuomo war im Alter von 20 Jahren ganz erblindet. Sein Werk setzte sich rigoros mit den demütigenden Mechanismen zwischen Defiziten und Behinderung auseinander. Was bedeuten seine Theorie, seine Methoden und die Interventionssysteme? Wie wurden die Entwicklungsprojekte organisiert, um die von einer Behinderung betroffenen Personen und deren Umfeld zu fördern? In diesem Artikel werden die Methode und die Hauptwerke von Nicola Cuomo kondensiert vorgestellt. // For more than 30 years, Nicola Cuomo researched integration at the Dipartimento di Scienze dell'Educazione "Giovanni Maria Bertin" of the University of Bologna I. This had made him internationally known. Cuomo was completely blind at the age of 20. His work dealt rigorously with the humiliating mechanisms between deficits and disability. In this article, the method and the main works of Cuomo are presented in a condensed form: what do his theory, his methods and the strategy of intervention mean? How were the projects organized to promote people with disabilities and their environment?
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Michel Foucault (1926 – 1984) gilt als prononcierter Vertreter des Poststrukturalismus und muss nach Umfang, Reichweite und Rezeption seiner Arbeiten als einer der einflussreichsten sozialwissenschaftlichen Philosophen des 20. Jahrhunderts gelten, was keineswegs heißt, dass seine Thesen und Interpretationen unumstritten geblieben wären. Das trifft weniger auf seine frühen Arbeiten zu, die sich mit dem Wahnsinn und seiner gesellschaftlich-kulturellen Bedeutung („Maladie mentale et Psychologie“, 1954, deutsche Fassung: „Psychologie und Geisteskrankheit“, 1968; „Histoire de la Folie“, 1961; deutsche Fassung: „Wahnsinn und Gesellschaft“, 1969) beschäftigen.
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The subject of this essay is the mathematics curriculum: What should we be teaching in mathematics, and in what ways? This issue has been a focus of my problem solving work for nearly two decades, and I have written about it at length from that perspective. However, I am going to take a different point of view in this essay. Here I shall take a distanced perspective, in order to reflect on some difficult issues. Mathematics education is at a turning point. Some radically new programs are being proposed, and the abolition of some familiar programs is being proposed as well. This is a good time to ask, What do we really know? How much of what we think we know is based on a firm knowledge base, how much on informed guesswork, how much is really just opinion? How much of what we plan to do reflects cultural biases, rather than established fact? These are thorny questions. I shall explore the following four major issues related to curriculum: questions of content, tracking, problem-based curricula, and the role of proof. My goal is to be as honest about what I know, and what I don't know, as I can be.
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Incluye bibliografía e índice