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Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik Jg. 18, 6 /12
DYSKALKULIE-THERAPIE •
Illusionäre oder
beziehungshaltige Mathematik
Personen mit Dyskalkulie erwecken den
Eindruck, dass sie vor lauter mathemati-
schen Bäumen den Wald nicht sehen. Guten
Mathematikern gelingt es, dass sie wie von
selbst bei Zahlen und Figuren beziehungs-
reiche Muster erkennen. Sie erscheinen als
Zahlenkünstler (=Arithmetiker; siehe Leu-
ders, 2010), welche alles mit allem verbin-
den und weiter entwickeln können. Jeder
Umstand beeinflusst die pädagogischen
Aufgaben in der Bildung der Mathematik
(Freudenthal, 1977). Umso wichtiger ist,
dass die Pädagogen klare Begriffe von Ma-
thematik und den Beziehungen zu ihr ver-
wenden.
Freudenthal (1977) schärfte den Blick für
Beziehungsfragen in der Mathematik als pä-
dagogische Aufgabe sehr rigoros:
Stefan Meyer
Die Höhlenkrankheit oder was Rechenschwache lehren
Zusammenfassung
Was geht um in der Schule, dass die Rechenschwächen seit mehreren Jahrzehnten den Lernenden, den
Schulen und den Bildungspolitikern wiederkehrende pädagogische und finanzielle Probleme stellen? Hat
die Forschung das Problem wirklich erkannt oder übersieht sie die Bedürfnisse der Praxis? – Der Artikel
richtet sich an Fachpersonen, welche der Dyskalkulie und den gängigen Hilfsangeboten skeptisch gegen-
über stehen. Eine schwierige und widersprüchliche Sache in der mathematischen Bildung wird heiter er-
örtert.
Résumé
Que se passe-t-il au sein de l’école? Pourquoi, depuis plusieurs décennies, la dyscalculie entraîne-t-elle
des problèmes pédagogiques et financiers récurrents, tant chez les élèves, que dans les écoles et auprès
des politiques en charge de l’éducation? La recherche a-t-elle réellement saisi toute l’ampleur du pro-
blème ou ne tient-elle pas suffisamment compte des besoins existant sur le terrain ? Cet article s’adresse
aux professionnel-le-s faisant preuve d’une attitude sceptique face à la dyscalculie et aux offres de sou-
tien courantes. La question de l’enseignement des mathématiques, certes difficile et comprenant des as-
pects contradictoires, est abordée ici de manière humoristique.
Abb. 1
Hans Freudenthal, Mathematiker
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•DYSKALKULIE-THERAPIE
Das sind natürlich nicht die Beziehungen, die ich
meine. Ich meine überhaupt kaum die Beziehung
innerhalb des Faches, d. h. innerhalb der Mathe-
matik. Soweit sie natürlich sind, ergeben sie sich
von selber; wenn sie künstlich sind, sind sie didak-
tisch wertlos; und ob sie künstlich sind, soll vom
Standpunkt des Schülers entschieden werden. Der
vollkommenste Ausdruck der innermathemati-
schen Beziehungen ist das System. Wo alles so aus-
balanciert ist, dass man nichts herausziehen kann,
ist alles beziehungsvoll. Nur fragt es sich eben, ob
ein Schüler solch ein mit Mühe konstruiertes Sys-
tem verstehen kann. Es fragt sich nicht nur, es ist
ganz unwahrscheinlich. Und es ist noch unwahr-
scheinlicher, wenn das System selbst eine Illusion
ist. Aber es ist das Schlimme, dass diese interne Be-
ziehungshaltigkeit auf Kosten der externen Bezie-
hung erreicht wird. (ebd., S. 76)
Freudenthal (ebd.) skizziert auf der einen
Seite das vollkommene System der inner-
mathematischen Beziehungen. Auf der an-
dern Seite fragt er nach der Verständlich-
keit des Systems für die Schülerinnen und
Schüler. Auf der einen Seite steht die von
den Mathematikern oder Mathematik-
didaktikern konstruierte interne Bezie-
hungshaltigkeit. Auf der andern Seite sollen
die Pädagogen und die Lernenden die ex-
ternen Beziehungen herstellen können. Er
zieht den Schluss, dass es unwahrschein-
lich ist, dass Schülerinnen und Schüler das
innermathema tische System verstehen wer-
den, vor allem dann nicht, wenn es eine Il-
lusion ist.
Freudenthals Unterscheidung beein-
flusst die Auseinandersetzung mit Dyskal-
kulie entscheidend. Nach Selvini Palazzoli
(1978) sind auch die Symptome der Dyskal-
kulie systemisch betrachtet Versuche von
Forschenden, Schulpsychologen, Lehrperso-
nen und Eltern, das Gefüge der mathemati-
schen Bildung stabil zu halten. Die Sympto-
me der Dyskalkulie weisen folglich auf dys-
funktionale Wechselwirkungen in einem il-
lusionären System mathematischer Bildung,
das nach Freudenthal (ebd.) «didaktisch
wertlos» ist.
Zunächst wird der Frage nachgegan-
gen, ob die Dyskalkulieforschung das, was
Freudenthal (1977) als illusionäres System
bezeichnet hat, erkennt und überwindet?
Danach wird die Frage erörtert, ob die Pra-
xis der Dyskalkuliebehandlung mathemati-
sche Bildung vermittelt, oder ob sie einfach
versucht, mathematische Unbildung zu nor-
malisieren?
Das Höhlengleichnis und die Dyskalkulie
Illusionäre Systeme wurden bereits in der
griechischen Antike unter die Lupe ge-
nommen, etwa im Höhlengleichnis von
Platon oder zuvor im Menon-Dialog. Nach
Merkelbach (1988) konnten die Lernenden
in der Akademie Platons mit der Lektüre
und dem Studium der Dialoge auf offene,
lustvolle und ironische Art und Weise
üben, wie man sich Einsichten erarbeiten
kann.
Abbildung 2 stellt die platonische Höhle
(lat. Antrum Platonicum) dar. Der Kupfer-
stich wurde von Jan Saenredam (1565–
1607) hergestellt (siehe Wikipedia). Im
Höhlengleichnis (Politeia, VII, 517b1-7)
schildert Platon Menschen, welche seit ih-
rer Kindheit in einer Höhle festgebunden
sind. Sie können sich nicht bewegen. Sie bli-
cken geradeaus an eine Wand der Höhle. Im
Rücken dieser Menschen befindet sich eine
Mauer, hinter der ein Feuer brennt. Bilder
und Gegenstände werden am Feuer vorbei-
getragen und deren Schatten werden an die
Wand projiziert. Wenn die Träger sprechen,
so widerhallt es von der Wand, als sprächen
die Schatten selber. Die Menschen halten
die Schatten und den Widerhall für die
wahre Welt.
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DYSKALKULIE-THERAPIE •
Die Höhle wäre eine Schule, die nicht nur die
Angebundenen, sondern auch das Hilfsper-
sonal gefangen hält. Im Gleichnis kämen
auch Schattenbilder von Mathematik. Eine
Aufgabe nach der andern würde an die
Wand projiziert. Die Bildung in der Höhle,
die eigentlich eine Unbildung ist, pflanzt
sich wie ein Virus fort. Die Angebundenen
wären die Wirte dieser Viren. Das Virus der
mathematischen Unbildung wäre ein Pro-
gramm der Vermehrung und Ausbreitung.
Würde ein Angebundener zum Träger auf-
steigen, gar zum Therapeuten oder zum
Höhlenverwalter, so müsste er perfekt unge-
bildet sein. Er wäre derjenige, welcher die
Kunst der Projektionen mit dem künstlichen
Licht, den künstlichen Klängen und den At-
trappen am besten meisterte, kurz gesagt ein
regelrechter Höhlendidaktiker.
Wenn ein Angebundener die mathemati-
schen Belehrungen und Aufgaben nicht wie-
dererkennen, wenn er sie nicht ordnen und
einsehen könnte, so würde man ihn als Dys-
kalkuliker bezeichnen und entsprechend be-
handeln.
Ich gehe davon aus, dass eine Existenz
wie im Höhlengleichnis etwas Normales, et-
was Alltägliches, ja etwas Gewöhnliches ist.
Es wäre überzeichnet, es als Horrorszenario
aufzufassen. Durch die Auseinanderset-
zung mit dem Höhlengleichnis kann man
das Ensemble bestehend aus Lehrplänen,
Standards, Lehrmitteln, Aufgaben, Arbeits-
formen und Therapieansätzen hinterfra-
gen. Das Höhlengleichnis stellt die Ganz-
heit und die Logik der Unbildung zur Dis-
kussion. Unbildung bedeutet nach Platon
das Verharren im Angebundensein, in den
Abbildung 2: Antrum Platonicum von Jan Saenredam (1565–1607)
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•DYSKALKULIE-THERAPIE
falschen Meinungen sowie das Festhalten
an den Notwendigkeiten der Höhle. Alles ist
künstlich und muss konsumiert werden.
Das Wertlose (nach Freudenthal, 1977) er-
scheint als das Normale. Im Gleichnis von
Platon gibt es keine Kommunikation, nur
Information. Im folgenden Abschnitt sollen
drei Wesenszüge der Unbildung beleuchtet
werden.
Das Höhlenvirus befällt das ganze System
Der erste Wesenszug bringt zum Ausdruck,
dass Dyskalkulie in erster Linie Defizit einer
Person ist. Die willkürlich eingestellten
Überwachungssysteme schlagen Alarm,
wenn Lernende nicht mehr richtig funktio-
nieren. Man glaubt feststellen zu können,
dass sie kein Gefühl für Zahlen und Opera-
tionen haben. Die Zahlbegriffe sind unter-
entwickelt. Die Zuordnung der Zahlwörter
zu den schriftlichen Zahlensymbolen oder
zu Mengen von Objekten ist gestört. Das
Einspluseins und das Einmaleins harzen.
Die Möglichkeiten zum Strukturieren und
zur Verwendung von Strategien sind einge-
schränkt. Das Zehnersystem bleibt ein Buch
mit sieben Siegeln. Neuropsychologische
Untersuchungen ergeben, dass deren «men-
tal number line» unterentwickelt ist (Kucian
et al., 2011). Schulpsychologen diagnostizie-
ren eine Dyskalkulie im Sinne der Definiti-
on der ICD-10 oder eines andern Klassifika-
tionssystems.
Fokussiert man bei der Dyskalkulie
ausschliesslich auf die Rechenleistungen
oder auf psychischen Funktionen der Ler-
nenden (Intelligenz, Arbeitsgedächtnis, In-
formationsverarbeitung, Wahrnehmungs-
funktionen, Selbstwahrnehmung, Motivati-
on), so bleiben die pädagogischen und die
institutionellen Fragen aussen vor. Man ver-
harrt in der Ideologie von Berufszweigen,
«die in erheblichem Masse von einem «Defi-
zit-Modell» der Funktion und der Entwick-
lung des Menschen geprägt ist» (Bronfen-
brenner, 1993, S. 266). Die Ursache des Defi-
zits wird im Individuum selber und dessen
unmittelbarer Umgebung gesehen. Die Or-
tung und die Korrektur der Defizite sind die
Aufgaben der Fachpersonen dieses Berufs-
zweiges.
Das heilpädagogische, neuropsycholo-
gische oder schulpsychologische Bemühen
bezüglich der Dyskalkulie ist in den letzten
achtzig Jahren zum Kampf gegen eine Hyd-
ra geworden (vgl. (ICD 10; F 81.2, Dilling et
al., 2011; siehe auch Moser Opitz, 2007;
Meyer, 1993). Kaum hat eine wissenschaftli-
che Studie eine vermeintlich signifikante
Ursache gefunden, wachsen wie in der My-
thologie zwei neue Hypothesen nach.
Es wird einem nicht bewusst, dass das
Defizit-Modell der Dyskalkulie selber Teil
der Höhlenkrankheit ist. Die Diagnostik er-
fasst nicht nur die von Dyskalkulie Geplag-
ten, sondern sie streut die Indikatoren der
Dyskalkulie in alle Himmelsrichtungen.
Kuhn (2012) nannte diesen Mechanismus
«Epidemie durch Diagnosen».
Das Höhlenvirus entfremdet
Der zweite Wesenszug besteht aus einer Rei-
he von Spaltungen. Der Anti-Psychiater Ro-
nald Laing (1969, S.13) entwirft die Sozi-
alphänomenologie als Wissenschaft, die…
«sich mit der Relation zwischen meiner Er-
fahrung von dir und deiner Erfahrung von
mir» (ebd., S.13) … befasst. Im Idealfall ver-
hält es sich so wie in der Abbildung 3, es be-
steht eine Wechselwirkung.
Abbildung 3 illustriert die Wechselwir-
kung zwischen dem Verhalten (= das Beob-
achtbare) und der Erfahrung (= die Seele)
von zwei Personen. Die Abkürzung « EM
»steht für die Erfahrung von Mathematik.
Wenn man im Mathematikunterricht die
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DYSKALKULIE-THERAPIE •
Erfahrungen der Lernenden nicht integ-
riert, so spricht man in Anlehnung an Freu-
denthal (1977) von einem beziehungslosen,
illusionären System. Das bewirkt Entfrem-
dung zwischen dem Verhalten und der Er-
fahrung. Im ungebildeten Zustand, so legt
das Höhlengleichnis nahe, ist es normal, ei-
ne entfremdete Person zu sein, welche Ar-
beitsblatt um Arbeitsblatt löst und von ei-
nem Posten zum anderen zieht. Die Schwein-
welt des Höhlenbetriebes führt zu einer Zer-
störung der Erfahrung. Dies kann nach
Laing aktiv und passiv geschehen. Daraus
folgert Laing (1969, S. 22): «Wenn unsere Er-
fahrung zerstört ist, wird unser Verhalten
zerstörerisch sein.»
Das Defizitmodell der Dyskalkulie ist
hauptsächlich eine variablenpsychologische
Angelegenheit. Darunter versteht Holz-
kamp (1985) das experimentell-statistische
Design von Untersuchungen. Die Variablen-
psychologie bildet «das Kernstück der Wis-
senschaftlichkeitsvorstellungen gerade der
akademischen Psychologie» (ebd., S. 19).
Die Variablenpsychologie spaltet die Person
in Variablen auf. «Man kann zahlreiche Ver-
haltenseinheiten zusammenfassen und sie
statistisch als Bevölkerung ausgeben», resü-
miert Laing (1969, S. 19). Gemeint sind hier
die mit Hilfe von Variablen konstruierten
Eigenschaften der Gruppe der Dyskalkuli-
ker oder der normalen Schüler (Swanson &
Jerman, 2006; Moser Opitz, 2007). Die Vari-
ablenpsychologie erzeugt künstliche Konst-
rukte.
Die variablenpsychologische Spaltung
hat zur Folge, dass die Pädagogik durch die
Psychologie als Hilfswissenschaft entfrem-
det anstatt gefördert wird. Die Sozialphäno-
menologie ist hingegen eine Wissenschaft
von Personen. Sie arbeitet mit Fallgeschich-
ten über Beziehungen zwischen Personen,
Lebenswelten und der Erfahrung von Ma-
thematik.
Abbildung 3: Interpersonale Erfahrung und interpersonales Verhalten
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•DYSKALKULIE-THERAPIE
Das Defizitmodell ist einseitig
Der dritte Wesenszug des Defizit-Modells
bewirkt eine selektive Wahrnehmung der
Wechselwirkungen in der Pädagogik und in
der Forschung. In Anlehnung an Cuomo
(1989) und Imola (2010) wird ein Gedanken-
experiment vorbereitet. Darin würden die
Lehrenden, die Schulpsychologen und die
Forscher von Lernenden mit Hilfe des fol-
genden Rasters befragt.
1. Ihnen sind über hundert Faktoren unse-
rer Schwäche bekannt (vgl. Swanson &
Jerman, 2006). Kennen Sie die Ressour-
cen der Lernenden, ihrer Eltern, ihrer
Kolleginnen und Kollegen eigentlich
auch? Und was geschieht mit diesen Res-
sourcen?
2. Meistens gibt es Wartefristen bis die Pro-
bleme von Lernenden angepackt werden.
Und wenn es los geht, wird man von ei-
ner Fachstelle zur andern delegiert. Wel-
che fruchtbareren Kooperationsformen
könnten Sie sich zwischen den Pädago-
gen und den Fachstellen vorstellen (Lien-
hard et al., 2011)?
3. Aus unserer Sicht bewegt sich der Unter-
richt oder die Therapie in einer künstli-
chen Sphäre. Es wimmelt von Arbeits-
blättern, von variablenpsychologischen
Modellen wie das Konzept der Vorläufer-
fertigkeiten (Krajewski, 2008) und von
Förderprogrammen und Hilfsmitteln.
Verfügen Sie über mathematische Bil-
dung, welche man in und mit der Lebens-
welt der Lernenden aufbauen könnte
(Quartier,Familie,Freizeit,Arbeit,Kame-
raden)?
4. Viele von uns sehen im Mathematikun-
terricht keinen Sinn. Wie unterscheiden
Sie zwischen wertvoller und wertloser
Fachdidaktik (Freudenthal, 1977).
5. Wenn wir miteinander über Eltern, Lehr-
personen und Fachpersonen sprechen, so
unterscheiden wir zwischen denjenigen,
die uns aktiv Erfahrungen machen lassen
und denjenigen, bei denen man Erzie-
hung und Bildung einfach erdulden muss.
Was kommt heraus, wenn Sie ihre Lehre
nach dem Schema «aktiv-passiv» unter-
scheiden?
6. Im Mathematikunterricht wird uns jahre-
lang erklärt, wie man es mit der Mathe-
matik anstellen soll. Der Stoff wird auf
verschiedenen Niveaus «durchgenom-
men». Wir verstehen schwerlich, worum
es geht. - Überlegen Sie sich ab und zu,
worum es in der mathematischen Bil-
dung oder in diesem oder jenem Thema
geht? Wann haben Sie das letzte Mal eine
didaktische Analyse durchgeführt (vgl.
Wittmann, 2002)?
7. Sie glauben nicht, wie viele Tipps, Tricks
und Programme erfunden worden sind,
damit man uns helfen kann. Was sind Ih-
rer Meinung nach die Ursachen dafür,
dass wir Dyskalkuliker kaum aussterben
werden?
8. Gewisse Lehrpersonen, Schulpsychologi-
sche Dienste und Fortbildner scheinen
vor allem Funktionäre des Defizit-Mo-
dells zu sein. Kennen Sie Projekte, in de-
nen sich diese Fachstellen für eine bezie-
hungsreiche mathematische Bildung ein-
gesetzt haben?
Am Ende der Befragung würden die Dyskal-
kuliker den Befragten danken und die fol-
genden Zeilen vorlesen: «Fast alles in unse-
rer Zeit geht darauf aus, diese Realität zu ka-
tegorisieren und zu segregieren von objekti-
ven Fakten. Dies präzise ist die Betonmauer»
(Laing, 1969, S. 132). Man blickt gebannt auf
die Taten und Daten der Dyskalkuliker und
vergleicht sie mit denjenigen der «Norma-
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DYSKALKULIE-THERAPIE •
len». Als Betroffene kooperieren wir gern
bei der Erforschung der Splitter in unseren
Augen. Auf Wunsch machen wir auch auf
die Balken im Auge der Experten aufmerk-
sam (vgl. Lukas, 6,14).
Was die Dyskalkulie lehrt
Am Beispiel der Rechenschwäche / Dyskal-
kulie wurden drei Wesenszüge des Defizit-
Modells herausgearbeitet. Da ist zunächst
der Teufelskreis der Lernstörung. Die anti-
psychiatrische und die systemische Sicht-
weise deuten die Dyskalkulie nicht nur als
Lernschwierigkeit einer Person, die sich im
Teufelskreis einer Lernstörung befindet
(Betz & Breuninger, 1998). Sie ist auch Aus-
druck für einen kollektiven, unbewussten
Befall von Spaltungen und dysfunktionalen
Wechselwirkungen. Das Höhlengleichnis
weist darauf hin, dass die Funktionäre selber
ungebildete Verantwortliche sein können.
Über dem ersten Teufelskreis schwebt
ein zweiter, der Teufelskreis der Unbildung.
Das «Defizit-Modell» (Bronfenbrenner,
1993) prägt jede Tätigkeit und bildet einen
Teufelskreis der Unbildung. Therapien, wel-
che auf das Defizitmodell und die Variab-
lenpsychologie abstützen, führen zu einer
Parodie der mathematischen Bildung (Freu-
denthal, 1991). In Anlehnung an Freu-
denthal (1977) und Gruschka (2009, S. 308)
wird der didaktische Betrieb paradoxerwei-
se durch die Perfektionierung der internen
Beziehungshaltigkeit von Programmen
ausgehöhlt. Das heisst für das Bildungssys-
tem: je perfekter das Innenleben einer
Fachdidaktik ist, desto unwahrscheinlicher
wird es, dass man sich gute Bildung als
Aufgabe mit externen Beziehungen vorstel-
len kann.
Zwischen diesen Teufelskreisen mäan-
dern Integrationsprojekte (Lienhard-Tugger
et al., 2011). Auf der einen Seite arbeiten die
Funktionäre des Defizitmodells, auf der an-
dern die Funktionäre der Integration. Beide
propagieren die Individualisierung. Die
wachsende Zahl von Lern- und Verhaltens-
gestörten Kindern ist der Indikator dafür,
dass Individualisierung der beziehungshal-
tigen Pädagogik zuwider läuft und dass man
im Defizit-Modell verharrt. Der Kontra-
punkt zum Sozialen ist die Autonomie,
nicht die Individualisierung (Imola, 2010).
Beziehungshaltiges mathematisches Lernen
ist ein Interaktionsgeschehen.
Das Defizit-Modell muss verworfen
werden zugunsten von Transformations-
experimenten (Bronfenbrenner, 1989). In
Anlehnung an Bronfenbrenners Lehrer,
Walter F. Dearborn, soll gelten: Wir müssen
den Umgang mit der Dyskalkulie verän-
dern, wenn wir sie verstehen wollen. Die ers-
te Veränderung beginnt mit der Entdeckung
von Ressourcen. Sie gründet nach Laing
(1969) auf einem existenziellen und sozialen
Standpunkt. Pädagoginnen oder Schulpsy-
chologen müssen bezüglich der Dyskalkulie
zuerst selber einen Einschätzungs- und Ent-
wicklungsprozess durchlaufen, damit sie
ein kritisches und freieres Verhältnis zur
mathematischen Bildung und deren Stö-
rung aufbauen können. In diesem neuen
Verhältnis werden andere Methoden Ver-
wendung finden müssen als diejenigen des
Defizitmodells. Dies generiert nach Ba-
chelard (1988, S. 138) neue Praxisformen
und Begriffe: «Stets haben wir es mit dersel-
ben methodologischen Definition zu tun:
‹Sage mir, wie man dich sucht, und ich sage
dir, was du bist.›»
Wer beziehungshaltige Mathematik
sucht, integriert und fördert alle auf faire
Weise. Die Rechenschwachen oder die Dys-
kalkuliker zeigen indirekt auf die Vision ei-
ner mathematischen Bildung.
50 Schweizerische Zeitschrift für Heilpädagogik Jg. 18, 6 /12
•DYSKALKULIE-THERAPIE
Wege realistischer, beziehungshaltiger ma-
thematischer Bildung werden in einem
nachfolgenden Essay skizziert.
Lic. phil. Stefan Meyer
Hochschule für Heilpädagogik
Zürich
Department Heilpädagogische
Lehrberufe
Schaffhauserstrasse 239
8050 Zürich
stefan.meyer@hfh.ch
Literatur
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Geist. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag.
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