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Nachruf auf Axel
Groenemeyer
Autoren: Bernd Dollinger und Holger
Schmidt
Erschienen 2020 in Kriminologisches Journal
(ISSN 0341-1966), Ausgabe 4, 3 Seiten,
(Seite 345)
Alle Artikel dieser Ausgabe
Potenziale narrativer Positionen für eine kritische Kriminologie – Editorial zum
Schwerpunktheft
Narrative Kriminologie? Eine kritische Reflexion neuerer narrativer Positionen der
Kriminologie
Devianz als Diskriminierungseffekt
Alltagsnarrationen über Konflikte und Kriminalität
Narrative Erschöpfung – Stasis im Recht zwischen Erzählen und Argumentieren
Nachruf auf Axel Groenemeyer
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Beltz Juventa | Krim. Journal, 52. Jg. 2020, H. 4 345
Nachruf auf Axel Groenemeyer
Am 29.05.2020 ist Prof. Dr. Axel Groenemeyer im Alter von 64 Jahren ver-
storben. Dem Tod eines Menschen ist zu jeder Zeit etwas nicht Fassliches
beigemischt. Es geht dem erst später einsetzenden Begreifen und Trauern
voran und hinterlässt bei den Hinterbliebenen Fassungslosigkeit und eine ge-
wisse Ungläubigkeit ob des Geschehenen. Axels Tod fällt in eine Zeit, in der
die betriebsame Geschäftigkeit des gesellschaftlichen Lebens zum Erliegen
gekommen ist, eingeschliene Handlungsroutinen ihrer Zweifellosigkeit be-
raubt, die Flure und Büros vieler Arbeitsstätten – so auch der Hochschulen –
verwaist sind. All dies lässt den Eindruck seines Fortgangs weiter entrücken,
noch weniger unmittelbar erscheinen – ganz so, als ob wir in nächster Zu-
kunft an die Universität zurückkehren oder zum Telefonhörer greifen und
an begonnene Gespräche anknüpfen könnten. Zu nah und lebendig sind die
Erinnerungen, zu stark der Eindruck, den Axel Groenemeyer bei vielen Men-
schen hinterlassen hat.
Im Vorwort seiner von Günter Albrecht und Franz-Xaver Kaufmann betreu-
ten und im Jahr 1990 publizierten Dissertation zum Thema „Drogenkarriere
und Sozialpolitik“ schrieb Axel Groenemeyer, dass es ihm um „Grundla-
genforschung im Grenzbereich zwischen Devianzsoziologie und Sozialpo-
litikforschung“ gehe, dies „ohne dabei allerdings den Anspruch eines An-
wendungsbezugs aus den Augen zu verlieren“. Dieses Motto kennzeichnete
seine Arbeiten insgesamt. Er verfolgte den Anspruch dierenzierter grund-
lagentheoretischer Analyse in verschiedenen disziplinären Bezügen. Vor der
Anwendung mussten die genaue Betrachtung und Dierenzierung stehen.
Und diese waren nur einzulösen, wenn disziplinäre Einseitigkeit oder me-
thodologischer Dogmatismus überwunden werden. In dieser Hinsicht war
Axel Groenemeyer im besten Sinne des Wortes ein disziplinärer Grenzgän-
ger. In seinem umfangreichen Schriftenverzeichnis nden sich empirische
wie theoretische Arbeiten über Drogen- und Sozialpolitik, Armut sowie zu
den mannigfachen Formen der Schaung, Kontrolle und Bearbeitung von
gesellschaftlich denierten Phänomenen der Abweichung. Bereits dadurch
reicht sein Schaen in unterschiedliche Disziplinen hinein. Auch mit Blick
auf die Stationen seines wissenschaftlichen Werdegangs wie zudem auf die
diversen akademischen Ämter und Aufgaben, die er im Laufe seines fast vier
Jahrzehnte umfassenden Forscherlebens übernahm, ließe sich von einem
Wissenschaftler sprechen, der zwischen Grenzen pendelte. So führten Gast-
dozenturen und Forschungsaufenthalte ihn u. a. nach Russland, nach Bulga-
rien sowie nach Frankreich, zu dem er zeitlebens eine besondere Beziehung
pegte. Dergestalt publizierte Axel Groenemeyer nicht nur in deutscher und
englischer, sondern eben auch in französischer Sprache, etwa in der Zeit-
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schrift Déviance et Société, dessen Redaktion er einige Jahre leitete. Auch
engagierte er sich für die Groupe Européen de Recherche sur les Normativités
(GERN), deren Summer Schools jungen WissenschaftlerInnen verschiedener
europäischer Universitäten die Möglichkeit bietet, ihre Forschungsarbeiten
einem Fachpublikum vorzustellen, zu diskutieren und zu veröentlichen.
Auch in anderer Hinsicht trit das Sprachbild des Grenzgängers auf Axel
Groenemeyer zu: Er war in der Soziologie beheimatet und bewegte sich zu-
gleich souverän in so unterschiedlichen Disziplinen wie etwa der Sozialen
Arbeit, der Politikwissenschaft oder der Kriminologie. Ein zentraler Aus-
gangspunkt seines Denkens lag im Fokus auf die Denition, Kommunikation
und Institutionalisierung sozialer Probleme. Die Venia Legendi war ihm 1997
für „Soziologie, insbesondere Soziologie sozialer Probleme und Problemin-
tervention“ zuerkannt worden. Diese Perspektive der Problematisierung und
Problembearbeitung entwickelte er als ein oenes, grenzüberschreitendes
Programm. Mit ihm konnte er an Kernfragen unterschiedlicher Fächer eben-
so anschließen wie an aktuelle Diskussionen. Dies nicht mit der Intention,
stets im Mittelpunkt dessen zu stehen, was (fach-)öentlich jeweils verhan-
delt wurde. Vielmehr ging es ihm um sorgsame Analyse und abwägende
Darstellung. Problematisierungen zu analysieren, bedeutete für ihn auch, den
Blick auf die wissenschaftliche Kommunikation selbst zu wenden und zu fra-
gen, wie in ihrem Rahmen Diagnosen des Neuen und Problematischen zum
Thema werden konnten, um dabei ggf. selektive Perspektiven und Einsei-
tigkeiten aufdecken zu können. In diesem Sinne war Axel Groenemeyer ein
genauer und sorgfältig analysierender Beobachter, der deutlich machte, wie
voraussetzungsvoll sich die Rede von und die Arbeit mit sozialen Problemen
darstellt. Diese Sichtweise bezog er auch auf Probleminterventionen in der
fachlichen Praxis. Ein Ansatz, den er im deutschen Sprachraum diesbezüg-
lich bekannt machte, ist das wissenssoziologisch und ethnomethodologisch
fundierte Konzept des doing social problems, also die Institutionalisierung
und organisationale Bearbeitung gesellschaftlicher Phänomene als „proble-
matische“ und „veränderungsbedürftige“ Sachverhalte. Kriminalität ist ein
solcher Sachverhalt, der durch diskursive Zuschreibungen und die unermüd-
liche Arbeit des Kriminaljustizsystems und weiterer Instanzen als Problem
auf Dauer gestellt und so „zugeschnitten“ wird, dass einzelne Menschen als
„Kriminelle“ prozessiert werden. Mit dieser Haltung positionierte sich Axel
Groenemeyer nicht, mit Stanley Cohen gesprochen, against criminology,
sondern brachte sich konstruktiv in viele Debatten und Gespräche der Krimi-
nologie ein. In diesem Kontext stand er der Gesellschaft für interdisziplinäre
wissenschaftliche Kriminologie (GiwK) lange Jahre bis zu seinem Tod vor,
und förderte auch in dieser Funktion die Kriminologie mit kritischem Blick
und praktischem Engagement.
Die Betrachtungsweise des Analytikers in between schlägt sich auch in den
Publikationen nieder, die Axel Groenemeyer im Kriminologischen Journal
veröentlichte. In ihnen zeichnete er insbesondere die wechselnden The-
matisierungskonjunkturen kriminologischer Diskurse nach. Es handelt sich
© Dies ist urheberrechtlich geschütztes Material. Bereitgestellt von: TU Dortmund Sa, Dez 19th 2020,
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um luzide Kommentare zur Disziplin der Kriminologie: Nicht dogmatisch,
polemisch oder – wie in (der Geschichte) der Kriminologie durchaus nicht
unüblich – persönlich im Ton, sondern genau beobachtend und von einer
ihm eigenen Vorliebe zur Dierenzierung angetrieben, analysiert Axel Gro-
enemeyer u. a. die Begriskarriere der Abweichung zwischen Degenerati-
on, Sozialpathologie, Regel- und Normverletzung, Schädigung und Risiko.
Dabei macht er deutlich, dass Kriminalität – und mit ihr die Kriminologie
– eben nur eine Institution (der Analyse) der Produktion von und des Um-
gangs mit als abweichend erkannten Verhalten darstellt. Wie er verdeutlicht,
kann durch disziplinäre und gegenständliche Engführungen der Blick für
die verbindenden Linien zwischen unterschiedlichen Formen von Devianz
und sozialer Kontrolle verloren gehen. Ein Schicksal übrigens, so stellt es
Axel Groenemeyer an verschiedenen Stellen fest, das die Begrie „Devianz“
und „soziale Probleme“ teilen, läuft doch auch Letzterer durch die Vielzahl
an Studien zu „Einzelproblemen“ Gefahr, seinen Status als konzeptioneller
Schirm für komparative Analysen dierierender Problematisierungs- und
Bearbeitungsprozesse einzubüßen.
Was das besagte Grenzgängertum aber nicht mit sich brachte, waren eine
Unnahbarkeit oder Eingenommenheit seiner Person. Im Gegenteil: Dogma-
tismus stand ihm fern. Axel Groenemeyer war nicht nur scharfsinniger Be-
obachter und kritisch denkender Wissenschaftler, sondern auch anregender
wie wertschätzender Hochschullehrer, herzlicher Kollege, geduldiger Ge-
sprächspartner, engagierter Fürsprecher, treuer Freund wie auch lebensbeja-
hender Mensch, der sich selbst noch dann als Optimist bezeichnete, als die
Krankheit diese Zuversicht schon zunehmend infrage stellte. Die Leerstelle,
die Axels Tod im Leben seiner Familie, seiner Angehörigen, seiner Freunde
sowie Kolleginnen und Kollegen hinterlässt, wird sich nicht schließen. Doch
neben dieser bitteren Gewissheit ist ebenso gewiss, dass sein Werk gegen-
wärtige wie künftige (junge) WissenschaftlerInnen noch geraume Zeit zu
eigenen Forschungen inspirieren und von ihnen weiterhin mit Leben gefüllt
wird. Ein Gedanke, der Axel – bei all seiner Bescheidenheit – sicherlich mit
Freude erfüllen würde.
Bernd Dollinger & Holger Schmidt
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