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Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
Christoph Breuer unter Mitarbeit von Christine Joisten und Werner Schmidt
Einleitung
Auf Anregung der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung legen die Heraus-
geber hiermit den „Vierten Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht“ vor. Er soll,
wie die vorangegangenen Berichte auch, ein umfassendes Bild der aktuellen Situa-
tion des Kinder- und Jugendsports in Deutschland vermitteln und richtet den Blick
auf das Schwerpunktthema: „Gesundheit, Leistung und Gesellschaft“.
Die Arbeiten hierzu begannen im Jahr 2018. Die Gesamtstruktur und die Akzentset-
zungen des Berichts sind nicht nur zwischen den Herausgebern eingehend diskutiert
worden. Im Rahmen eines umfassend angelegten Auftaktsymposiums, einer Prä-
sentation und Evaluation der von den beteiligten Arbeitsgruppen zwischenzeitlich
erarbeiteten Ergebnisse sowie in zahlreichen Autorenworkshops hat der Bericht
schließlich die Form angenommen, in der er nun veröffentlicht wird. Allen Beteiligten
ist herzlich dafür zu danken, dass sie bereit waren, ihre Arbeitshypothesen und
-ergebnisse in einem interdisziplinären Kontext offen zu diskutieren. Ohne diese Be-
reitschaft könnte ein Deutscher Kinder- und Jugendsportbericht nicht entstehen.
Niemand konnte vorhersehen, dass der Kinder- und Jugendsport gerade im Jahr der
Präsentation des Berichts in historisch einmaliger Weise von gänzlich sportfernen
Faktoren geprägt sein würde. Denn nicht nur ist das Jahr 2020 aufgrund der COVID-
19-Pandemie von weitreichenden Einschränkungen des öffentlichen Lebens betrof-
fen – der sogenannte „Lockdown“ hat auch den Kinder- und Jugendsport voll erfasst.
Dieser Umstand konnte in den im Frühjahr 2020 weitgehend vorliegenden Beiträgen
nicht berücksichtigt werden – abgesehen davon, dass eine analytisch fundierte Ein-
ordnung des Geschehens kurzfristig kaum möglich war. Dennoch sollen einige weni-
ge Bemerkungen zu dieser Thematik am Beginn des Berichts stehen.
Alle organisierten Sportangebote von Vereinen und anderen Anbietern waren für vie-
le Wochen untersagt. Für Sportanlagen und Spielplätze gab es Betretungsverbote,
so dass auch viele Formen des informellen Kinder- und Jugendsports zum Erliegen
kamen. Aufgrund der mehrwöchigen Schließung der Schulen konnte kein regulärer
Sportunterricht erteilt werden, Sportförderunterricht und Schulsport-AGs entfielen
ebenfalls. Die Schließung der Kindertagesstätten hatte zur Folge, dass auch im Kin-
dergartenalter keine institutionellen Sport- und Bewegungsangebote stattfinden
konnten und Bewegungserfahrung und Bewegungslernen stark eingeschränkt wa-
ren. Kurzum: Außerhalb der Familie gab es keine Möglichkeiten für Kinder und Ju-
Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen 9
gendliche mehr, Bewegung mit sozialer Begegnung zu verbinden. Sportbezogenes
soziales Lernen war während des Lockdowns kaum möglich.
Auch nach den etwa seit Anfang Juni erfolgten Lockerungen für Schulen, Kitas und
Vereine wurden Teile der Restriktionen im Kinder- und Jugendsport aufrechterhalten.
Davon betroffen waren insbesondere der kontaktintensive Einzel- und Mannschafts-
sport sowie der gesamte Wettkampfsport, für den Leistungsvergleich und regelgelei-
tetes Agieren konstitutiv sind – Aspekte, die für eine mögliche Sozialisation durch
Sport höchst relevant sein können.
Einige Monate im Modus des „social distancing“ mögen im Leben eines Erwachse-
nen nicht so viel bedeuten. Für die physische, psychische, motorische und soziale
Entwicklung von Kindern kann ein solcher Zeitraum womöglich prägend sein.
Inwiefern dieser Lockdown sich auf die Gesundheit und das soziale Miteinander aus-
gewirkt hat, wird die sportbezogene Kinder- und Jugendforschung in den nächsten
Jahren facettenreich aufzuzeigen haben. Ungewollt ist ihr ein Feldexperiment zur
Bedeutung von Sport und Bewegung für die kindliche und jugendliche Entwicklung
zur Verfügung gestellt worden. Mit Blick auf die ersten internationalen Forschungser-
gebnisse zu den Effekten des Lockdowns (Dunton et al., 2020; Pietrobelli et al., 2020;
Zenic et al., 2020; für Deutschland: Mutz & Gerke, 2020) können aber schon heute
einige Annahmen formuliert werden:
(1) Der Lockdown des Kinder- und Jugendsports wirkt im Sinne eines kritischen
Lebensereignisses als sogenannter Kohorteneffekt auf die Kinder und Jugend-
lichen in Deutschland. Möglich ist, dass bewegungsbezogene Entwicklungsauf-
gaben (z. B. das Erlernen der Schwimmfähigkeit) und sportartspezifische Kom-
petenzen im Vergleich zu früheren Generationen verzögert erreicht werden und
dass diese Differenz auch langfristig beobachtbar sein wird.
(2) Die Sozialisation zu Sport und Bewegung ist beeinträchtigt worden. Dies schließt
die Bindung von Kindern und Jugendlichen an die Institution Sportverein mit ein.
Als Konsequenz daraus mag tendenziell ein Rückgang des Anteils sport- und
bewegungsaktiver Kinder und Jugendlicher in Deutschland zu erwarten sein.
(3) Der Ausfall von Sportmöglichkeiten und der Rückgang an Sportaktiven hat zu
weniger sport- und bewegungsbezogenen Bildungs- und Sozialisationsprozes-
sen geführt – ein Umstand, den es für die Hebung der gesellschaftlichen Poten-
ziale des Kinder- und Jugendsports zu beachten gilt.
(4) Die gerade bei Kindern und Jugendlichen zu beobachtende soziale Ungleichheit
in Sport und Bewegung hat in seiner Wirkung zugenommen. Materielle Voraus-
setzungen wie Wohnungsgröße, der Zugang zu einem Garten und die Verfüg-
barkeit von Sportmaterialien, aber auch elterlicher Einfluss und elterliche Bewe-
gungsanregung werden umso entscheidender, wenn alle anderen Sportmöglich-
keiten entfallen. Entsprechend ist zu vermuten, dass Kinder und Jugendliche,
10 Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
die in unterstützungsarmen Familien aufwachsen, stärker unter negativen Kon-
sequenzen des Lockdowns des Kinder- und Jugendsports leiden.
(5) Vorhandene Probleme der Inaktivität von Kindern und Jugendlichen in Deutsch-
land dürften zumindest vorübergehend zugenommen haben. Inwieweit dies
motorische oder gesundheitliche Folgen hat, bleibt zu untersuchen.
Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie auf den Kinder- und Jugendsport tan-
gieren daher zentrale Aspekte, die der Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht seit
seinem ersten Erscheinen im Jahr 2003 regelmäßig beschreibt, analysiert und öf-
fentlich zugänglich macht.
Vielleicht darf man sagen: Die weit vor der Pandemie entwickelten Leitgedanken
des Vierten Deutschen Kinder- und Jugendberichts, die neu gewonnenen Erkennt-
nisse und die formulierten Handlungsempfehlungen haben vor dem Hintergrund der
COVID-19-Pandemie zusätzlich an Bedeutung gewonnen.
Leitgedanken
Der Vierte Deutsche Kinder- und Jugendsportbericht hat als Schwerpunktthema
„Gesundheit, Leistung und Gesellschaft“ im Fokus. Drei Leitgedanken waren hierfür
ausschlaggebend:
(1) Sport und Bewegung werden im Kindes- und Jugendalter zunehmend
gesundheitsrelevant
Die wachsende Ausbreitung von Inaktivität und als Folge davon von Fettleibigkeit
macht sich auch in Deutschland verstärkt bemerkbar und beeinträchtigt die phy-
sische, psychische und soziale Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Die
Abnahme der motorischen Leistungsfähigkeit sowie der Schwimmfähigkeit von
Kindern und Jugendlichen könnte maßgeblich sozial determiniert sein. Darüber
hinaus scheint bei einer erheblichen Zahl von Jugendlichen der Einfluss sozial
und medial vermittelter Körpernormen auf das Körperselbstkonzept und hierüber
auf das Bewegungs- und Sportverhalten zugenommen zu haben; auch Digitali-
sierung und Mediatisierung sowie die Genese des eSports wirken sich aus.
Diese gesellschaftlichen Entwicklungen mögen die Gesundheit von Kindern
und Jugendlichen in Deutschland in steigendem Maße beeinflussen. Eine mög-
liche Folge von zunehmender Inaktivität und Fettleibigkeit könnte ein Rückgang
der Lebenserwartung sein, wie dies beispielsweise in den USA bereits gezeigt
wurde (Borrell, 2014).
Das Wissen um den Gesundheitsnutzen von Bewegung und Sport in Kindheit
und Jugend hat sich in den letzten Jahren erheblich erweitert und in Teilen revo-
lutioniert. Dies gilt etwa im Hinblick auf die neurokognitive Bedeutung von Sport
Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen 11
und Bewegung im Kindes- und Jugendalter, die sogenannten Gen-Umwelt-In-
teraktionen und die Kenntnisse über die Kommunikation der verschiedenen Or-
gansysteme wie Muskel, Gehirn, Fettmasse, die ein neuartiges, interdisziplinä-
res Verständnis verschiedener kindlicher Entwicklungsphasen und der entspre-
chenden individuellen aber auch gesellschaftlichen Bedingungen erfordern.
Gleichzeitig ist aber auch das Wissen um Gesundheitsgefährdungen durch Kin-
der- und Jugendsport stark angewachsen. Hier sind in erster Linie Hirnverlet-
zungen zu nennen, die – wie man mittlerweile weiß – insbesondere in Kontakt-
sportarten wie Fußball, Eishockey, Rugby, American Football oder Kampfsport
oder in Sportarten mit hoher Geschwindigkeit wie Radsport, alpiner Skilauf,
Snowboard, Skateboarding bereits im Kinder- und Jugendsport auftreten. Sie
können zu degenerativen neurologischen Erkrankungen führen.
Auch über den Einfluss von Verhältnissen bzw. Lebensräumen auf das Bewe-
gungsverhalten und die Kinder- und Jugendgesundheit sowie die wechselseiti-
ge Abhängigkeit von Sport- und Ernährungsverhalten bzw. (In)Aktivität und
Übergewicht wissen wir heute mehr als noch vor fünf oder zehn Jahren.
(2) Die Bedeutung von Leistung als eigentliches Kernelement des
Kinder- und Jugendsports verschiebt sich zunehmend.
Dies betrifft sowohl die Leistungsanforderungen im Kinder- und Jugendsport
(etwa in Vereinen und Schul-AGs, aber auch im Sportunterricht) als auch die
Nachfrage nach Leistung durch Kinder, Jugendliche und deren Eltern.
Diese Entwicklungen haben vielfältige Gründe und dürften nicht ohne Folgen
bleiben etwa für die Sportartenvielfalt im Kinder- und Jugendsport, insbesonde-
re für die Vermittlung des gesellschaftlichen Leistungsprinzips, die individuelle
schulische und spätere berufliche Leistung und die Bildung von Eliten im Sport.
Folglich sind Annahmen der Sozialisation im und durch Sport neu zu hinterfra-
gen. Damit tangieren diese Phänomene zentrale Legitimationsformeln der öf-
fentlichen Förderung des Kinder- und Jugendsports.
Auch der Nachwuchsleistungssport, der als Grundlage für den Spitzensport im
Erwachsenenalter und somit für die Generierung öffentlicher Güter wie Natio-
nalprestige und gesellschaftlicher Zusammenhalt eine wichtige Rolle spielt, ist
von dieser Entwicklung betroffen. So kann eine zunehmende Verschiebung des
Leistungsgedankens auch die Attraktivität und Anziehungskraft des Nach-
wuchsleistungssports für Kinder und Jugendliche beeinflussen.
(3) Die neuere Sportentwicklung wirft grundsätzliche Fragen nach dem
gesellschaftlichen Wert des Sports auf, die sich bereits im Kinder- und
Jugendsport manifestieren.
Dies spiegelt sich in Gefährdungs- und Integritätsfragen wider, die sich schon
im Kinder- und Jugendsport stellen (z. B. sexualisierte Gewalt, Spielmanipula-
12 Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
tion, Medikamentenmissbrauch, Doping) und bereits dort präventiv zu bekämp-
fen sind. So sind einerseits Sportorganisationen besonders aufgefordert, einen
sicheren und schützenden Raum für Kinder und Jugendliche darzustellen, in
dem sich diese ausprobieren und entwickeln können. Andererseits spielen
Sportorganisationen wie Vereine und Verbände eine wichtige Rolle in der Auf-
klärung und Vermittlung gesellschaftlicher Themen.
Zudem werfen die neuere Sportentwicklung im Bereich des professionellen
Sports und seiner Vorbildfunktion, aber auch die Nutzung des Mediums Sports
für Zwecke der Jugend- und Jugendsozialarbeit Fragen der Vermittlung sport-
spezifischer (z. B. Fair Play) und allgemeiner gesellschaftlicher Werte (z. B.
Regelorientierung, Bedürfnisaufschub) sowie prosozialen Verhaltens insgesamt
neu auf. Es ist weiterhin zu untersuchen, inwiefern Sportorganisationen und der
Kinder- und Jugendsport allgemein eine Rolle spielen können in der Vermittlung
gesellschaftlicher Werte und Normen und welche Mechanismen hier wirksam
sind. Insgesamt ist demnach weiterhin eine offene Frage, welche Rolle der Kin-
der- und Jugendsport in der Gesellschaft spielt und wie andersherum gesamt-
gesellschaftliche Themen im Kinder- und Jugendsport wirken.
Aufbau
(1) Anliegen des ersten Hauptkapitels „Gegenwärtige Situation“ ist es, die allge-
meine Entwicklung des Kinder- und Jugendsports in Deutschland mit aktuellen
Daten und Informationen darzulegen. Dies beinhaltet zunächst die Fragen, z. B.
wie viele Kinder und Jugendliche überhaupt Sport treiben, welche Kinder und
Jugendliche dies sind, welcher ‚Sport‘ getrieben wird, wie viele und welche Kin-
der und Jugendliche inaktiv sind und wie es um die motorische Leistungsfähig-
keit bestellt ist.
Da diese Befunde Ausgangspunkt sind für eine Vielzahl weiterer Analysen und
Betrachtungen des Kinder- und Jugendsports in Deutschland und zudem un-
klar, aber zugleich von Bedeutung ist, inwieweit sich in den letzten Jahren Ver-
änderungen eingestellt haben, erhält diese Thematik auch im Vierten Deut-
schen Kinder- und Jugendsportbericht einen entsprechenden Stellenwert. In
diesem Kontext werden auch Fragen der sozialen Ungleichheit im Kinder- und
Jugendsport in differenzierter Weise behandelt. Dabei begnügt sich das Kapitel
nicht mit der Analyse klassischer Faktoren der sozialen Ungleichheit wie etwa
Einkommen, Bildung oder Migrationshintergrund, sondern bezieht auch neuere
Aspekte wie die Wohnumgebung mit ein. Zudem wird die Bedeutung weiterer
gesellschaftlicher Einflussfaktoren des Kinder- und Jugendsports erörtert, zu
denen heute auch die Digitalisierung, Mediatisierung sowie die Entwicklung des
eSports zu zählen sind.
Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen 13
(2) Das Hauptkapitel „Gesundheit“ legt auf Basis des aktuellen Forschungsstandes
dar, welche gesundheitlichen Konsequenzen Inaktivität und geringe motorische
Leistungsfähigkeit mit sich bringen (z. B. Fettleibigkeit, geringe Lebenswartung)
und wie hier effektiv präventiv angesetzt werden kann.
Auch weitere zentrale Erkenntnisfortschritte zur gesundheitlichen und gesund-
heitspolitischen Bedeutung von Sport und Bewegung im Kindes- und Jugendal-
ter kommen im Rahmen des Kapitels zur Sprache. Beispielhaft sind hier das
Wissen um die sogenannten Gen-Umwelt-Interaktionen, die Kenntnisse über
die Kommunikation der verschiedenen Organsysteme wie Muskel, Gehirn und
Fettmasse sowie die zentrale Rolle von Sport und Bewegung in diesem Kontext
zu nennen. Gleichzeitig werden neuere medizinische und sportbiologische Er-
kenntnisse zum neurokognitiven Nutzen von Bewegung und Sport für die Ent-
wicklung von Kindern und Jugendlichen dargelegt.
Schließlich werden das neuere Wissen um die Gesundheitschancen durch
Sport und Bewegung für chronisch kranke Kinder und Kinder mit orthopädi-
schen Einschränkungen sowie die daraus folgenden Implikationen für den Kin-
der- und Jugendsport aufgearbeitet.
(3) Im Hauptkapitel „Leistung“ steht die veränderte Rolle und Bedeutung von Leis-
tung im Kinder- und Jugendsport im Mittelpunkt. Dies gilt für die Curricula und
Realitäten von Sportunterricht, aber auch für die Angebote von Sportvereinen
für Kinder und Jugendliche sowie die Angebote im Offenen Ganztag.
Der Nachwuchsleistungssport ist ein spezifisches, aber wichtiges Thema für
den Kinder- und Jugendsport. Dabei werden insbesondere Unterstützungs-
strukturen und -systeme für den Nachwuchsleistungssport, aber auch grundle-
gende Ansätze der Talentförderung kritisch beleuchtet.
(4) Das Hauptkapitel „Gesellschaft“ legt schließlich den Fokus auf neuere Entwick-
lungen, die den gesellschaftlichen Wert des Kinder- und Jugendsports gefährden,
und geht der Frage nach, wie diesen Gefährdungen präventiv zu begegnen ist.
Eine besondere Gefährdung des Kinder- und Jugendsports stellen Fälle sexuel-
len Missbrauchs im Kinder- und Jugendsport dar. Hierzu liegen zwischenzeit-
lich auch neue Befunde vor. Ganz bewusst wendet sich der Bericht diesem
Thema wegen seiner Bedeutung, Tragweite und Dynamik inklusive der systemi-
schen Präventionsarbeit im Kinder- und Jugendsport erneut zu.
Auf allgemeinerer Ebene wird gefragt, inwieweit (und unter welchen Bedingun-
gen) Sport überhaupt positive sportbezogene (z. B. Fair Play) und allgemeine
gesellschaftliche Werte (z. B. Einhalten von Regeln) vermittelt und zu ihnen hin
sozialisiert. Ein solcher Mechanismus dürfte weitaus komplexer wirken als von
Apologeten der Sportförderung unterstellt und wird durch fragwürdige Vorbilder
(sogenannte „Role Models“) im Sport zusätzlich in Frage gestellt. Schließlich
werden auch die Themenbereiche Inklusion, Körper und Kosten aufgearbeitet.
14 Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
Kernaussagen
Aus den Beiträgen der wissenschaftlichen Autor/innen des Vierten Deutschen Kin-
der- und Jugendsportberichts lassen sich die wesentlichen Kernaussagen wie folgt
zusammenfassen:
1. Kinder und Jugendliche in Deutschland bewegen sich im Alltag zu wenig. Die
Mehrheit der Heranwachsenden in Deutschland erfüllt die Bewegungsempfeh-
lungen der WHO nicht. Besonders dramatisch trifft dies auf weibliche Jugendli-
che zu.
2. Bewegungsmangel hat Auswirkungen auf die motorische Leistungsfähigkeit
von Kindern und Jugendlichen. Die motorische Leistungsfähigkeit von Kindern
und Jugendlichen in Deutschland ist heutzutage deutlich geringer als in frühe-
ren Jahren. Dies kann auch Auswirkungen auf die körperliche sowie seelische
Gesundheit haben.
3. Kinder und Jugendliche wachsen heute mit einem dynamisch wachsenden An-
gebot an digitalen Medien und Spielen auf. Zwar steht die Erforschung der Aus-
wirkungen auf den Kinder- und Jugendsport noch am Anfang. Doch scheint
insbesondere das mit dem Medienkonsum unmittelbar einhergehende Sitzver-
halten und der daraus folgende geringe Energieumsatz problematisch. Für ei-
nen systematischen negativen Einfluss auf das Sportverhalten von Kindern und
Jugendlichen in Deutschland insgesamt gibt es bislang keine hinreichenden
Beweise.
4. Sport und Bewegung wirken positiv auf die kognitive Leistungsfähigkeit von Kin-
dern und Jugendlichen. Wirksam sind vor allem Programme, die körperliche
und koordinative Anforderungen kombinieren.
5. Sport und Bewegung müssen auch chronisch kranken Kindern und Jugendli-
chen zugutekommen. Sie sind medizinisch regelrecht erforderlich: In Abhängig-
keit des jeweiligen Zustandes wirken Sport und Bewegung direkt positiv auf den
Krankheitsverlauf und führen zusätzlich zu psychischer Stabilisierung, Steige-
rung der Lebensqualität sowie sozialer Integration.
6. Chronisch kranke Kinder werden vielfach zu stark behütet, vom Sport fernge-
halten und damit gesundheitlich doppelt benachteiligt.
7. Physical Literacy sollte zukünftig als Leitprinzip eines gesundheitsorientierten
Kinder- und Jugendsports in Deutschland dienen. Physical Literacy stellt einen
ganzheitlichen Ansatz der (kindlichen) Bewegungsförderung dar, in dem neben
Partizipation, motorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten auch Motivation und
Selbstwirksamkeit zusammengefasst werden. Es sollte ein Grundpfeiler bzw.
Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen 15
eine fest verankerte Zieldimension von Sportunterricht in Deutschland sein (wie
etwa in Kanada und anderen Ländern bereits üblich).
8. Die Diskussion um die Rolle von Leistung im Kinder- und Jugendsport und die
Bewertung der Situation von Leistung im Kinder- und Jugendsport wird er-
schwert durch teilweise differierende und sich partiell widersprechende Definiti-
onen, Konzepte und Dimensionen von Leistung im Kinder- und Jugendsport.
9. Leistung ist eine zentrale immanente Komponente des Kinder- und Jugend-
sports. Dabei sind Leistungsverbesserung und Leistungsvergleiche für Kinder
und Jugendliche selbstverständliche und attraktive Bestandteile des Sporttrei-
bens. Erfahrungen des Leistens und des Leisten-Könnens stellen zugleich päd-
agogische Grundpfeiler des Schulsports dar. Alternative Definitionen, Konzepte
und Dimensionen von Leistung im Kinder- und Jugendsport betonen dagegen,
dass Leistung etwa im Schulsport weniger an Bedeutung verloren hat, sondern
sich vielmehr die Leistungsperspektive begründet verschoben hat.
10. Sport würde ohne Wettbewerb, Regeln, sportartspezifische Fertigkeiten und
Leistungsorientierung seine Existenzberechtigung als spezifisches Kulturgut
und funktionales Teilsystem der Gesellschaft verlieren, reduzierte sich auf reine
Bewegung und würde zu einer austauschbaren Gesundheits- oder Integrations-
technik werden.
11. Bereits heute ist ein Rückgang der Leistungsorientierung im Kinder- und
Jugend sport zu verzeichnen. Dies betrifft sowohl den Schulsport als auch den
Sportverein.
12. Durch den Ausbau des schulischen Ganztags bestehen wieder vermehrt Mög-
lichkeiten, Sinndimensionen wie Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft oder
Frustrationstoleranz anzusprechen. Tatsächlich stehen aber gesundheitliche
Intentionen im Mittelpunkt sportbezogener Ganztagesangebote.
13. Mittlerweile liegt ein Basiswissen vor, wie im Kinder- und Jugendsport die Ent-
wicklung von Fairness und prosozialem Verhalten erfolgreich gefördert werden
kann.
14. Zahlreiche Aktivitäten im Kinder- und Jugendsport sind in Deutschland in den
letzten Jahren teilweise deutlich teurer geworden (z. B. Schwimmbadbesuche).
Dies gilt allerdings nicht für die Sportvereine. Die Höhe der Mitgliedsbeiträge für
Kinder und Jugendliche in Vereinen ist über die letzten 12 Jahre trotz Inflation
konstant geblieben.
15. Ein erheblicher Anteil der Kinder und Jugendlichen hat Erfahrungen mit emotio-
naler, körperlicher oder sexueller Gewalt in Sportangeboten machen müssen.
So berichten 37 % der deutschen Leistungssportler/innen Erfahrungen mit se-
16 Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
xualisierter Gewalt. Präventionskonzepte wurden erarbeitet, doch werden Prä-
ventionsmaßnahmen bislang nicht von allen Sportverbänden umgesetzt und
kommen zu wenig in Sportvereinen an.
16. Im Kinder- und Jugendsport besteht eine Differenz zwischen gesellschaftlich-
politischen Erwartungen und der tatsächlichen Realität.
17. Entsprechende Differenzen sind auch im Hinblick auf andere Gefährdungen im
Kinder- und Jugendsport zu vermuten, etwa in den Bereichen Doping und
Schmerzmittel, Korruption und Spielmanipulation oder im Hinblick auf den Ein-
fluss durch politische oder religiöse Extremisten. Trotz potenzieller Bedrohungs-
lagen liegen für den Kinder- und Jugendsport in Deutschland hierzu keine Da-
ten vor.
Handlungsempfehlungen
Auf Basis der Befunde ergeben sich Handlungsempfehlungen für den Kinder- und
Jugendsport in Deutschland. Die wichtigsten sind:
1. Bewegungsanreize im Alltag ausbauen
Der Alltag von Kindern und Jugendlichen muss wieder bewegungsaktiver wer-
den. Die Sport- und Bewegungsumwelt der Kinder und Jugendlichen gilt es at-
traktiver zu gestalten, gut organisierte Sportprogramme müssen vermehrt an-
geboten und breit zugängliche Sportanlagen zur Verfügung gestellt werden,
sodass Bewegung niedrigschwellig ermöglicht und gefördert wird. Dazu gehört
auch, dass Wege von Kindern und Jugendlichen zu Schulen und Freizeitein-
richtungen so entwickelt werden, dass sie diese sicher und in vielfältiger Weise
körperlich aktiv zurücklegen können. Eine angemessene urbane Sportraument-
wicklung nutzt dabei auch innovative Bewegungsanreize im Sinne von Urban
Design und Urban Furniture.
2. Nachfrage erhalten
Angesichts steigender Kosten für Kinder- und Jugendsport ist darauf zu achten,
dass die Nachfrage nach Kinder- und Jugendsport nicht sinkt. Dies kann über
eine verstärkte Information der Nachfrager (Eltern) über den Wert von Kinder-
und Jugendsport erfolgen, eine gezielte (stärkere) Subventionierung von be-
stimmten Angeboten des Kinder- und Jugendsports oder aber über die Sicher-
stellung eines hinreichenden öffentlichen Angebots an Kinder- und Jugendsport
im Falle eines gleichzeitigen Markt- und Vereinsversagens. Keinesfalls aber
sollten auf Kosten der Qualität von Kinder- und Jugendsportangeboten Preise
niedrig gehalten werden.
Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen 17
3. System Schule anpassen
Um auch die kognitive Leistungsfähigkeit über Sport und Bewegung zu fördern,
sind der Schulsport auszubauen und Schulsportcurricula anzupassen. Program-
me, die körperliche und kognitive Anforderungen kombinieren, sind systematisch
in das System Schule zu integrieren. Zudem müssen unerfüllte bisherige Forde-
rungen z. B. nach einem Erfüllen der Stundentafel Sport sowie einer Reduktion
des Anteils fachfremd erteilten Sportunterrichts endlich erfüllt werden.
4. Physical Literacy leben
Gesundheitsorientierter Kinder- und Jugendsport in Deutschland sollte sich ver-
stärkt am Konzept der Physical Literacy orientieren wie dies international be-
reits häufig üblich ist. Physical Literacy stellt einen ganzheitlichen Ansatz der
(kindlichen) Bewegungsförderung dar, in dem neben Partizipation, motorischen
Fähigkeiten und Fertigkeiten auch Motivation und Selbstwirksamkeit zusam-
mengefasst werden.
5. Chronisch kranke Kinder unterstützen
Um die Wertschätzung, optimale Behandlung und Integration chronisch kranker
Kinder und Jugendlicher zu verbessern, bedarf es einer entsprechenden Fort-
und Weiterbildung von Ärzten, Gesundheitsexperten, Trainer/innen und Lehrer/
innen hinsichtlich der positiven rehabilitativen, präventiven und therapeutischen
Auswirkungen von Sport und Bewegung in der chronischen Krankheit. Zudem
sollten Leitlinien entwickelt werden, chronisch kranke Kinder nur im Ausnahme-
fall vom Schulsport zu befreien. Darüber hinaus bedarf es einer frühzeitigen und
langfristigen kassenpflichtigen Integration von Sport und Bewegung in das the-
rapeutische Setting von chronisch kranken Kindern. Schließlich ist ein flächen-
deckendes Netz an Sportgruppen für chronisch kranke Kinder zu etablieren.
6. Leistungsbereitschaft vermitteln
Gerade weil sich Inanspruchnahme und Zielsetzungen des Kinder- und Jugend-
sports vervielfacht haben und vermehrt nicht-intendierte negative Folgen des
leistungsorientierten Kinder- und Jugendsports diskutiert werden, dürfen die
grundständigen individuellen und gesellschaftlichen Potenziale und Funktionen
von Leistung im Kinder- und Jugendsport nicht übersehen oder vernachlässigt
werden. Auch zukünftig müssen Leistungs- und Anstrengungsbereitschaft er-
fahrbar gemacht und vermittelt werden. Leistung muss somit einen festen Be-
standteil im Kinder- und Jugendsport behalten. Dies gilt sowohl für den Vereins-
als auch für den Schulsport (und hier auch für Angebote im Offenen Ganztag).
7. Programmentwicklung vorantreiben
Die Mut machende Befundlage zu den Möglichkeiten, Fairness und prosoziales
Verhalten im Kinder- und Jugendsport zu fördern, sollte aufgegriffen werden.
Darauf aufbauend sollten Programme entwickelt und erprobt werden, die glei-
18 Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen
chermaßen sowohl prosoziale Werte als auch Leistungsorientierung vermitteln.
Dies stellt einen Schlüssel dar, um Zielsetzungen prosozialen Verhaltens nicht
nur in Einzelinitiativen, sondern explizit, breit und nachhaltig im Kinder- und Ju-
gendsport zu verankern und anzusteuern.
8. Implementationsschwierigkeiten überwinden
Im Hinblick auf einige Gefährdungen im Kinder- und Jugendsport liegen mittler-
weile wertvolle Präventionskonzepte vor. Umsetzungsambition und -vermögen
an der Basis der Sportanbieter (Vereine, aber auch kommerzielle und öffentli-
che Anbieter) sind jedoch nicht gleichermaßen entwickelt. In der Folge werden
gute Ansätze der Sportjugenden und -verbände nur eingeschränkt umgesetzt
und Gefährdungen werden nicht hinreichend minimiert. Es bedarf somit einer
systematischen Implementationsforschung, welche die Ursachen der Imple-
mentationsschwierigkeiten ermittelt. Auf den Befunden aufbauend sollte dann
ein Anreiz- und Unterstützungsprogramm für die Basis entwickelt werden, um
dort entsprechende Präventionskonzepte systematisch und nachhaltig zu im-
plementieren.
9. Daten zu unerforschten Gefährdungslagen bereitstellen
Während die Gefährdung von Kindern und Jugendlichen durch Gewalt und
Missbrauch im Sport oder durch Körpernormen und Magersucht vergleichswei-
se gut erforscht ist, liegen im Hinblick auf andere Gefährdungen keine oder nur
unzureichende Daten vor. Dies gilt etwa für Gefährdungen durch Doping und
Schmerzmittel, Korruption und Spielmanipulation oder durch den Einfluss durch
politische oder religiöse Extremisten. Hier bedarf es systematischer For-
schungsanstrengungen, um Problemgröße, -wirkung und -verursachung zu er-
mitteln und auf dieser Basis ebenfalls Präventionskonzepte zu entwickeln.
Konsequenzen
Aus den formulierten Handlungsempfehlungen ergeben sich nicht nur Konsequen-
zen im Hinblick auf die Frage, wie diese Empfehlungen denn im Einzelfall konkret
umgesetzt werden können. Die Erfahrung der vorangegangenen Berichte hat auch
gezeigt, dass es sinnvoll sein kann, hierzu einen grundsätzlich angelegten Weg auf-
zuzeigen.
Die Adressaten der Handlungsempfehlungen nämlich sind unterschiedliche Akteure
auf verschiedenen Ebenen des Bildungs-, Gesundheits-, Sport- oder Wissenschafts-
systems. Aufgrund autonomer, föderal-dezentraler selbststeuernder Strukturen und
einem subsidiären Selbstverständnis kann die Umsetzung entsprechender Empfeh-
lungen aber nicht einfach top-down „verordnet“ werden. Die Befunde und Empfeh-
lungen des Vierten Deutschen Kinder- und Jugendsportberichts sind für die Adres-
Einleitung, Kernaussagen und Handlungsempfehlungen 19
saten daher zunächst so etwas wie Irritationen, die nicht zwangsläufig dazu führen,
dass sie aufgegriffen und umgesetzt werden.
Um die Umsetzungswahrscheinlichkeit im Sinne eines gesteigerten Gemeinwohlbei-
trags des Kinder- und Jugendsports in Deutschland zu erhöhen, sollte daher ein
Gremium mit Fachvertretern und Entscheidern aus der Sportministerkonferenz, der
Kommission Sport der Kultusministerkonferenz, Sportjugenden bzw. -bünden sowie
Sportwissenschaft gebildet werden, das mit den Adressaten in einen engen und ziel-
gerichteten Austausch tritt. Ziel sollte darüber hinaus die Erarbeitung von Selbstver-
pflichtungen der Adressaten sein, auf die Umsetzung der jeweiligen Handlungsemp-
fehlungen hinzuwirken und diese idealerweise auch zu evaluieren. Ein entsprechen-
des Implementations management würde die Zeit bis zur Aufnahme der Arbeiten an
einem etwaigen Fünften Deutschen Kinder- und Jugendsportbericht mehr als sinnvoll
nutzen.
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