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Nachschlag zu Tier und Mensch: Sammelrezension zu Ferrari, Adriana; Petrus, Klaus (Hrsg.): Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen; Borgards, Roland (Hrsg.): Tiere: Kulturwissenschaftliches Handbuch. In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2016/2, S. 413-417.

Authors:
Nachschlag zu Tier und Mensch
Sammelrezension zu Ferrari, Adriana; Petrus, Klaus (Hrsg.): Lexikon
der Mensch-Tier-Beziehungen & Borgards, Roland (Hrsg.): Tiere:
Kulturwissenschaftliches Handbuch
1
Martin Böhnert & Christopher Hilbert
Das gar nicht mehr so junge Forschungsfeld der Human-Animal Studies begann sich spätestens seit
den 1990er Jahren zunächst im anglo-amerikanischen Raum zu etablieren. Im Fokus der interdis-
ziplinären Arbeit steht die zuvor als unterrepräsentiert aufgefasste Komplexität der Beziehungen
von Menschen und nicht menschlichen Tieren. Durch die Breite der beteiligten Forschungsdis-
ziplinen von Soziologie über Philosophie, Geschichts- und Kulturwissenschaften bis hin zu
Medizin oder der modernen Verhaltensforschung sollen diese Verflechtungen aus unterschied-
lichsten Perspektiven beleuchtet werden. Seit etwa 2010 haben sich auch im deutschsprachigen
Raum Forschungszentren und -verbünde gegründet, die sich in Annährung und Abgrenzung mit
diesem Feld beschäftigen. Neben den Veröffentlichungen zahlreicher deutschsprachiger Sam-
melbände und Fachzeitschriften sind nun in kürzester Zeit gleich zwei Nachschlagewerke er-
schienen, die Einblicke in das umfangreiche Forschungsfeld der Human-Animal Studies verspre-
chen. Auch wenn sich beide Bände formal unter die Textsorte des Nachschlagewerkes subsumie-
ren lassen, unterscheiden sie sich allerdings deutlich in ihrer Zwecksetzung und dadurch auch in
ihrem formalen Aufbau.
Das von Arianna Ferrari und Klaus Petrus herausgegebene Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen
erhebt den Anspruch, die Human-Animal Studies im deutschsprachigen Raum bekannter zu ma-
chen und anhand ausgewählter Einträge die vielfältigen Mensch-Tier-Beziehungen zu beleuchten.
Erklärtes Ziel ist es, Tiere aus einem als passiv erachteten Objektstatus zu befreien und stattdes-
sen als Teile der menschlichen Gesellschaft zu verstehen als Gefährten, Feinde, Freunde, Opfer
oder Helfer. Eine vergleichbare Programmatik verfolgt auch das von Roland Borgards herausge-
gebene Kulturwissenschaftliche Handbuch zum Thema Tiere, welches an die Cultural Animal Studies
heranführen soll. Vorgestellt werden diese als kulturwissenschaftliche Methode und Forschungs-
haltung, die durch die Kombination eines »kulturtheoretischen Blicks« auf Tiere und eines »tier-
theoretischen Blicks« auf Kultur, Tiere als Akteure des gesellschaftlichen Miteinanders aufwerten
möchte. Das Handbuch fungiert dabei sowohl als Einführung in die Cultural Animal Studies, als
auch als Überblick über die dort behandelten Forschungsfragen und -inhalte. Als Einführung
wird weitestgehend der Frage nachgegangen, wie sich die unterschiedlichen disziplinären Per-
spektiven auf Tiere gestalten, wie Tiere methodisch erfasst werden und wo mögliche For-
schungsdesiderate ausgemacht werden können. Darüber hinaus bietet das Buch einen Überblick
über die verschiedenen Themenfelder kulturwissenschaftlicher Tierstudien in Philosophie, Ge-
schichte und den Künsten. Das Handbuch ist gegliedert in sechs Kapitel mit insgesamt rund 30
Beiträgen, ergänzt durch einen detaillierten Anhang mit Auswahlbibliographie sowie einem Per-
sonenregister.
Das Lexikon ist hingegen nicht als Einführung konzipiert, sondern als umfangreiche, wenn auch
nicht erschöpfende Sammlung von Stichwörtern zu verschiedenen Themenfeldern und Phäno-
1
In: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2016/2, S. 413-417.
menen der Mensch-Tier-Beziehungen. Jeder einzelne Eintrag besitzt einen Anhang mit zitierter
sowie weiterführender Literatur. Ebenso wie das Handbuch verfügt auch das Lexikon über ein
Personen und zusätzlich einem Sachregister. Vermutlich motiviert durch die programmatische
Absicht, Tiere als Teile der Gesellschaft zu betrachten, gilt es dabei hinsichtlich des Personenre-
gisters hervorzuheben, dass auch tierliche Individuen in diesem gelistet sind. So findet sich unter
dem Eintrag »Kluger, H.« jenes berühmte Pferd Hans als nicht-menschliche Person, von dem
man eine Zeit lang annahm, es könne rechnen. Offensichtlich wird bei der Lektüre des Vorwor-
tes und von manchen Einträgen des Lexikons, aber auch in Abschnitten des Handbuches, dass
die Ausführungen zu den verschiedenen Themenbereichen nicht allein die für Nachschlagewerke
übliche sachlich-deskriptive Darstellung liefern, sondern teilweise parteilich-normativ gehalten
sind. Ein Motiv für diese von der Faktenauflistung abweichende Haltung liefert der so genannte
Animal Turn. Im Handbuch führt Borgards diesen darauf zurück, dass die hierarchische Sonder-
stellung des Menschen gegenüber Tieren im Zuge der jüngeren zoologischen, tierethischen und
kulturtheoretischen Forschung, aber auch im Gefolge der Actor-Network Theory Bruno Latours
oder Donna Haraways Ansatz der Companion Species nicht mehr als feststehende Größe, sondern
als das Ergebnis politischer und kultureller Aushandlungsprozesse wurde. Die parteilich-
normativen Darstellungen lassen sich unter diesem Gesichtspunkt als politische Einmischung
und Parteinahme in einem schon immer politisch besetzten Feld verstehen. Im editorischen
Konzept des Lexikons wird diese Haltung durch die abschließenden Sätze der Einleitung hervor-
gehoben. Es sei die Absicht gewesen, eine Pluralität von methodischen Perspektiven und ethisch-
politischen Standpunkten aufzuzeigen und Teil dessen sei auch die Debatte: Wertneutralität
versus Normativität. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Eintrag zu den »Human-
Animal Studies« von Klaus Petrus, der neben allgemeinen, historischen und institutionellen In-
formationen auch die Kritik der Human-Animal Studies an der bisherigen wissenschaftlichen
Forschung sowie Kontroversen innerhalb des Forschungsfeldes beleuchtet. Allerdings kann auch
dieser Eintrag die grundlegenden Schwierigkeiten der Repräsentationsschleife des epistemischen
Anthropozentrismus und der stets asymmetrischen Beziehung von Erkennendem und Erkann-
tem nicht abstellen, die sich offenbaren, wenn die Herausgebenden des Lexikons hervorheben,
Tiere seien innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion bislang »falsch« repräsentiert worden.
Die Beitragenden des Lexikons stammen aus über 20 verschiedenen, erfreulicherweise auch
nichtakademischen Arbeitsfeldern. Wenn die Multiperspektivität der Human-Animal Studies be-
reits dadurch abgebildet werden sollte, dass Vertretende verschiedener Disziplinen und Haltun-
gen unterschiedliche Themen behandeln, dann ist dieses Anliegen mit der Mehrstimmigkeit der
Beitragenden erfolgreich umgesetzt worden. Zugleich jedoch werden mit den Einträgen weitge-
hend bekannte oder bereits etablierte Methodologien, Standpunkte und inhaltliche Positionen
stabilisiert der Eintrag »Geist der Tiere« etwa wird von Markus Wild (Philosoph), »Kognitive
Ethologie« von Julia Fischer (Kognitive Ethologin), »Tierbefreiung« von Matthias Rude (aktiv in
der Tierbefreiungsbewegung und der Partei der Linken), »Jagd« und »Pelz« von Martin Balluch
(Verein gegen Tierfabriken) dargestellt. Positionale Mehrstimmigkeit und damit thematische Aus-
gewogenheit wird so zwar über das gesamte Buch hinweg, aber nur ausnahmsweise innerhalb
einzelner Einträge erreicht, etwa wenn »Tierversuche« aus unterschiedlichen Perspektiven be-
leuchtet werden. Die Spannung zwischen den einzelnen Zugängen wird ansonsten für die Lesen-
den nur dann bemerkbar, wenn bestimmte Artikel in einer bestimmten Reihenfolge gelesen wer-
den angesichts des charakteristischen Leseverhaltens bei Nachschlagewerken ist dieser Fall je-
doch kaum zu erwarten. Offen bleibt zudem die Auswahl der 142 Einträge des Lexikons. Zwar
heben die Herausgebenden völlig zu Recht hervor, dass ein solches lexikalisches Unterfangen
immer unvollständig bleiben muss und ihnen einige Einträge, wie sie schreiben, auch schlicht
entgangen sein könnten. Doch erläutern sie nicht, nach welchen Kriterien die Auswahl erfolgte
und warum man sich etwa für die Aufnahme von Einträgen wie »Marxismus«, »Meeressäuger«
oder »Milch« entschied, während solche zu »Animal Turn«, »Anthropologische Differenz« beide
im Handbuch zentral oder philosophische Grundbegriffe der Anthropologie wie »Lebenswelt«
oder »Leiblichkeit« fehlen. Zum Verständnis: Nicht das Fehlen der Einträge selbst ist zu bemän-
geln, sondern vielmehr das Fehlen einer transparenteren Darlegung der Stichwortauswahl. Eine
solche wäre gerade dann wünschenswert, wenn die Intention der Herausgebenden erwarten lässt,
dass mit dem Lexikon eine als richtig oder zumindest richtiger angesehene Repräsentation von Tie-
ren angestrebt wird.
Wenden wir uns dem Handbuch zu, dann wird hier hervorgehoben, dass die Cultural Animal
Studies eine theoretische, methodische und begriffliche Neufassung der Prämissen der Kultur-
wissenschaften vornehmen um den Akteurstatus der Tiere und deren Eigenständigkeit in den
verschiedenen Themenfeldern zu untersuchen. Grundsätzlich werde dafür in den unterschiedli-
chen Beiträgen ein »tiertheoretischer Blick« auf Kultur eingenommen und eine »tiergestützte Me-
thodik« angewandt. Wodurch sich dieser Blick und diese Methode auszeichnen, bleibt allerdings
über weite Strecken des Handbuches und insbesondere im Vorwort und der Einführung in Be-
griffe und Grundlagen der Cultural Animal Studies unbestimmt. Dass eine solche Spezifizierung
nicht ausreichend vorgenommen wird, zeigt sich auch darin, dass die »Tier-Agency« gar nicht im
Fokus aller Beiträge steht. Georg Töpfer liefert etwa eine gewohnt solide Geschichte der Zoolo-
gie, Markus Wild einen thematisch an der Anthropologischen Differenz ausgerichteten Durch-
gang durch die Philosophiegeschichte und Axel Hüntelmann einen quellenreichen historischen
Überblick über Tierversuche. Was sich unter einer tiergestützten Methodik verstehen lassen
könnte und wie sich die methodische Herausforderung der Cultural Animal Studies gestaltet, lässt
sich deshalb lediglich in einigen Beiträgen erahnen. Der Beitrag zu »Tiere und Geschichte« von
Aline Steinbrecher etwa stellt heraus, dass eine Tiergeschichte, die tierliches Handeln untersucht,
Tiere nicht nur als von der Geschichte veränderte Wesen, sondern vielmehr ebenfalls als die Ge-
schichte verändernde Wesen in den Blick nimmt. Historiographisch stellt diese tierliche Perspektive
deshalb eine Herausforderung dar, auf die methodisch durch eine Ausweitung der Quellengrup-
pen, so etwa auf tierbezogene bauliche Vorrichtungen wie solche zum Anbinden von Hunden,
oder durch eine Kontextualisierung verschiedener Quellengruppen unter einer Forschungsfrage
reagiert werden könne. An dem Beitrag von Steinbrecher wird sichtbar, wie Tiere als Akteure im
Sinne der Cultural Animal Studies adressiert werden könnten. Durch die von der Autorin vorge-
nommene Kontextualisierung könnte der Hund ex negativo als aktiver Part für eine bestimmte
menschliche Intervention in den Blick geraten. Schließlich wird an dem Beitrag von Steinbrecher
(ebenso wie an dem von Irena Wenk »Die Tiere der Ethnologie«) deutlich, dass dem Handbuch
keine abgeschlossenen Überlegungen zu Methoden, Begriffen und Theorien zugrunde liegen,
sondern, dass es wie das Lexikon einen Überblick über mögliche Facetten eines sich entwickeln-
den Forschungsprogrammes liefert.
Beide vorliegenden Bände skizzieren die Human-Animal Studies als ein dynamisches, ambitio-
niertes und multidisziplinär agierendes Forschungsfeld und liefern einen verdienstvollen Versuch
dieses zu strukturieren. Ob es einer solchen Strukturierung gelingen kann, ein dem Gegenstand
angemessenes Methodenprogramm zu legitimieren, welches ermöglicht Tiere in der gewünschten
Weise jenseits der praktischen Intervention und theoretischen Zurichtung durch Menschen zu
repräsentieren, bleibt jedoch weiterhin offen.
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