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Humankapital. Wie der ökonomische Imperialismus das Denken über Bildung bestimmt

Authors:
Deutscher Philologenverband (DPhV)
Verband Deutscher Realschullehrer (VDR)
Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an beruflichen Schulen (BLBS)
Bundesverband der Lehrerinnen und Lehrer an Wirtschaftsschulen (VLW)
Wozu
Bildungsökonomie?
FACHTAGUNG 2011
2
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3
Inhalt
Jörg-Dieter Gauger und Josef Kraus
Vorwort ................................................................................................... 5
Manfred Becker
Bildungsökonomie ................................................................................... 7
Volker Bank
Vom Wert der Bildung ........................................................................... 21
Silja Graupe
Humankapital ........................................................................................ 35
Jochen Krautz
Bildungsreform und Propaganda: .......................................................... 51
Rainer Dollase
Sinn und Unsinn des Qualitätsmanagements ........................................ 83
Andrea Liesner
Bildungsökonomie am Beispiel von europäischen Bildungsinitiativen ... 95
Autoren und Herausgeber ................................................................... 104
35
Humankapital
Wie der ökonomische Imperialismus das Denken über Bildung bestimmt
Prof. Dr. Silja Graupe
Humankapital, Bildung, wirtschaftlicher Erfolg, Wachstum. Diese vier Begriffe beherr-
schen die Bildungsdiskussion etwa seit den sechziger Jahren des letzten Jahrhun-
derts in zunehmendem Maße. Im Folgenden argumentiere ich, dass wir gut daran
täten, nochmals intensiv über ihren gemeinsamen Ursprung nachzudenken, anstatt
einfach nur mit ihnen zu argumentieren. Dafür ist zunächst festzuhalten, dass diese
Begriffe in der gegenwärtigen Bildungsdiskussion zumeist keineswegs gleichrangig
nebeneinander stehen. Vielmehr wird ein funktionaler Zusammenhang postuliert:
Humankapital und Bildung gelten als Mittel für ökonomische Zwecke. Bereits 1966
bringt die OECD dies unmissverständlich auf den Punkt:
„Heute versteht es sich von selbst, daß auch das Erziehungswesen in den Kom-
plex der Wirtschaft gehört, daß es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirt-
schaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht
nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken. Wir
können nun, ohne zu erröten, und mit gutem ökonomischen Gewissen versi-
chern, daß die Akkumulation von intellektuellem Kapital der Akkumulation von
Realkapital an Bedeutung vergleichbar auf lange Dauer vielleicht sogar überle-
gen ist. Und man hört auch schon von Bankfachleuten, zumindest von den
Wagemutigeren, daß die Erziehung und die Entwicklung des menschlichen Fä-
higkeitsreservoirs ein geeignetes Feld für produktivere Anleihen sein könnte.“
1
Doch unter welchen Voraussetzungen erfolgt die Funktionalisierung von Bildung?
Diese Frage ist, wie das vorherige Zitat deutlich macht, nicht nur für unser Bildungs-
verständnis entscheidend, sondern auch für unser Menschenbild. Was heißt es,
wenn wir Bildung wie Autobahnen, Stahlwerke und Kunstdüngerfabriken und Men-
schen wie Sachgüter und Maschinen denken? Welche impliziten wie expliziten
Denkanweisungen werden damit formuliert? Um auf diese und ähnliche Fragen Ant-
worten zu geben, empfiehlt es sich, einen Schritt zurückzutreten und eingehend zu
analysieren, was sich eigentlich genau unter der Oberfläche des Begriffs «Humanka-
pital» verbirgt.
«Humankapital» und das Selbstverständnis der modernen Wirtschaftswissen-
schaft
Unstrittig ist, dass der Begriff des Humankapitals durch die Wirtschaftswissenschaft
geprägt wurde. Genauer gesagt entspringt er einer bestimmten Schule dieser Wis-
senschaft: der Chicago School of Economics. Vor allem deren Vertreter Theodore W.
Schultz und Gary S. Becker, beide Nobelpreisträger der Wirtschaftswissenschaften,
entdecken in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts Bildung als Feld öko-
1
OECD 1966, S. 46.
36
nomischer Analyse und prägen in diesem Zuge den Begriff des Humankapitals.
2
Man
mag zunächst meinen, dass es unbedeutend sei, wessen Feder dieser Begriff ent-
stammt. Schließlich können wir auch Autobahnen nutzen ohne zu wissen, wer sie
einst geschaffen hat, oder Stahl verarbeiten, ohne dessen Herstellungsprozess in
einem Stahlwerk zu kennen. Doch solche Vergleiche beruhen auf einem Trug-
schluss, genauer gesagt auf einer Unkenntnis des Selbstverständnisses der moder-
nen Wirtschaftswissenschaft, wie es die Chicago School maßgeblich begründet hat.
Denn letztere zielt nicht primär darauf, wirtschaftliche Phänomene zu entdecken und
sorgfältig zu beschreiben. Sie will vielmehr umfassend die Art und Weise prägen, wie
alle sozialen Phänomene, nicht nur die ökonomischen, wahrzunehmen sind. Ziel ist,
alles menschliche Leben von vornherein durch einen bestimmten Wahrnehmungsfil-
ter, eine bestimmte methodische «Brille» wahrzunehmen. Folglich ist es ein Irrtum zu
meinen, beim Begriff «Humankapital» handele es sich um die Entdeckung einer blo-
ßen Tatsache. Vielmehr soll er unseren Blick immer schon auf eine bestimmte Weise
einfärben und so dem Denken a priori eine bestimmte Richtung und Gestalt verlei-
hen, bevor wir mit seiner Hilfe das Bildungswesen zu beobachten und zu reflektieren
beginnen. Mit Ludwik Fleck gesagt ist der ökonomische Begriff des Humankapitals
also Bestandteil der Herausbildung und Verteidigung eines hochgradig selektiven
Denkstiles. Durch ihn soll unsere Wahrnehmung sowie gedankliche und sachlich
Verarbeitung des Wahrgenommenen auf eine ganz bestimmte Weise gerichtet wer-
den, ohne dass wir uns dessen notwendig bewusst wären.
3
«Humankapital» ist
dies kann nicht häufig genug betont werden also gerade kein einfacher Gegen-
stand wie eine Kunstdüngerfabrik, sondern ein methodisches Instrument. Er stellt ein
Werkzeug des Denkens dar, geschaffen, um unserem individuellen Entdeckergeist
vorzugeben, was im Bildungsbereich überhaupt als interessantes wissenschaftliches
Problem oder relevante Fragestellung erscheinen kann. Anders gesagt stellt er ein
„Zwange für Individuen [dar], der bestimmt, ‚was nicht anders gedacht werden
kann‘.“
4
Dieser Zwang begründet sich aus einer entscheidenden Kehrtwendung des wirt-
schaftswissenschaftlichen Selbstverständnisses im letzten Jahrhundert. Die Wirt-
schaftswissenschaften, so gibt selbst Gary Becker zu, bestimmten sich einst über
ihren Gegenstandsbereich: Wie selbstverständlich galten sie als Wissenschaften von
der Wirtschaft.
5
Auf diese Weise war relativ eindeutig festgelegt, mit was sich Ökono-
men zu beschäftigen hatten. Sie sollten analysieren, was gemeinhin als «wirtschaft-
lich» galt.
6
Dieser Einschränkung im Bezug auf das Objekt der Forschung stand aller-
dings eine große Freiheit im Hinblick auf die Art und Weise des Forschens gegen-
über. Jeder Ökonom konnte über seinen methodischen Zugang, also über das Wie
seines Forschens frei bestimmen. In der Folge verstanden sich die Wirtschaftswis-
senschaften tatsächlich als Wissenschaft im Plural: Sie vereinigten eine Vielzahl von
Perspektiven auf das Phänomen «Wirtschaft». Die moderne Wirtschaftswissenschaft
2
Das Bildungswesen war selbstverständlich schon zuvor Gegenstand
wirtschaftswissenschaftlicher Diskussionen. Vgl. für eine Überblick Zacher 2005.
3
Vgl. Fleck 1980, S. 130.
4
Ebd.
5
Vgl. Becker 1990, S. 3.
6
Unter «wirtschaftlich» wird genauer etwa die Allokation materieller Güter zur Befriedigung
materieller Bedürfnisse, der Marktsektor oder die Allokation knapper Mittel zur
Befriedigung sich wechselseitig ausschließender Ziele verstanden. Gemein ist diesen
Definitionen, dass sie allesamt Objekte ökonomischer Forschung darstellen, nicht aber die
Methode benennen, mit denen diese Objekte erforscht werden sollen.
37
nun negiert dieses plurale Wissenschaftsverständnis und verkehrt das Verständnis
von der Freiheit des Forschers in sein exaktes Gegenteil. Denn spätestens seit Gary
Becker gilt: „Das, was die Wirtschaftswissenschaft als Disziplin von anderen Diszipli-
nen unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstandsbereich (subject matter), sondern ihre
Vorgehensweise (approach).“
7
Wissenschaftliche Freiheit bedeutet nun, grundsätz-
lich alle gesellschaftlichen Bereiche zu analysieren von Fruchtbarkeit, Bildung und
die Nutzung von Zeit über Kriminalität, Ehe und andere soziale Interaktionen bis hin
zu weiteren «soziologischen», «legalen» und «politischen» Problemen.
8
Es wird
nichts weniger als alles menschliche Verhalten zum ökonomischen Forschungsge-
genstand erhoben:
„Tatsächlich bin ich zur Überzeugung gekommen, dass die ökonomische Vorge-
hensweise so umfassend ist, dass sie auf alles menschliche Verhalten anwend-
bar ist, gleich ob Verhalten, das sich auf Geldpreise stützt oder nur auf kalkulato-
rische Schattenpreise, wiederholte oder unregelmäßige Entscheidungen, wich-
tige oder geringfügige Entscheidungen, emotionale oder routinemäßige Ziele,
reiche oder arme Personen, Männer oder Frauen, Erwachsene oder Kinder, ge-
niale oder dumme Personen, Patienten oder Therapeuten, Geschäftsmänner
oder Politiker, Lehrer oder Studenten.“
9
Auf diese Weise beansprucht die moderne Wirtschaftswissenschaft im Hinblick auf
die Wahl ihres Forschungsgegenstandes absolute Freiheit. Doch diese Freiheit er-
kauft sie mit einer substantiellen Einschränkung bei der Wahl ihrer wissenschaftli-
chen Vorgehensweise, bei der Wahl ihrer Methodik also. Der Ökonom darf (und soll!)
zwar über alles in der Welt forschen. Aber er hat dies allein aus einem einzigen
Blickwinkel heraus zu tun: dem der modernen Mikroökonomie bzw. der neoklassi-
schen Theorie. Allein „die kombinierten Annahmen maximierenden Verhaltens,
Marktgleichgewichten und stabilen Präferenzen, schonungslos und unnachgiebig
angewendet, sollen das Herzstück ökonomischer Analyse bilden.“
10
Auf diese drei
Annahmen und ihre Implikationen für das ökonomische Bildungsverständnis werde
ich zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher eingehen. Hier sei zunächst festge-
halten, dass auf der Basis von allein drei methodischen Grundannahmen soziale
Phänomenen unterschiedlichster Art analysiert werden sollen. Der Ökonom mag frei
geworden sein, alles in der Welt zu analysieren. Aber er hat keine Wahl mehr, nach
welchen Regeln des Denkens er diese Analyse durchzuführen hat. Um die Einheit
der Wirtschaftswissenschaft zu gewähren, hat er der Vielfalt von Reflexionsmöglich-
keiten zugunsten einer einzigen Denktechnik zu entsagen. Auf diese Weise wird eine
Monokultur im Denken begründet und gefestigt, die sich weit über die Grenzen des-
jenigen erstreckt, was wir gewöhnlich unter «wirtschaftlich» oder «ökonomisch» ver-
stehen. Es ist exakt diese Monokultur, die das Herzstück des ökonomischen Imperia-
lismus ausmacht, des Vordringens der ökonomischen Sicht- und Denkweise in immer
mehr Bereiche der Gesellschaft also. Bei dieser Form des Imperialismus handelt es
sich dabei keineswegs um ein von Kritikern erfundenes Schimpfwort, sondern um
das explizite Selbstverständnis einer durch die Chicago School geprägten Wissen-
schaft:
„Der Horizont der Wirtschaftswissenschaft muss erweitert werden. Ökonomen
können nicht nur über die Nachfrage nach Autos sprechen, sondern auch über
7
Becker 1990, S. 5. Diese wie alle weiteren Übersetzungen englischsprachiger Quellen sind
die meinigen.
8
Ebd., S. 8.
9
Ebd.
10
Ebd., S. 5.
38
Angelegenheiten wie Familie, Diskriminierung, Religion, Vorurteile, Schuld und
Liebe. (…) In diesem Sinne ist es richtig: Ich bin ökonomischer Imperialist. Ich bin
überzeugt davon, dass gute Methoden ein weites Anwendungsfeld haben.”
11
Auf den ersten Blick mag man geneigt sein, Beckers Aussagen als Ansichten eines
Extremisten abzutun. Doch hieße dies zumindest zweierlei zu übersehen. Erstens
entspricht die gegenwärtige Praxis ökonomischer Bildung überwiegend den Maßga-
ben Beckers, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit: Die Art und Weise wie Wirt-
schaftswissenschaft in Universitäten rund um den Erdball gelehrt wird, etabliert exakt
jene Monokultur im Denken, von der eben die Rede war. Zweitens dringen im Zuge
des ökonomischen Imperialismus immer mehr Ökonomen im Gefolge von Gary Be-
cker und Theodore Schultz auch in den vormals nicht-ökonomischen Bereich der
Bildung vor und verändern so nachhaltig, wie über diesen Bereich gedacht wird. Be-
vor ich mich ausführlicher dem zweiten Punkt zuwende, sei zunächst kurz auf erste-
ren eingegangen.
Die Bildungspraxis der modernen Wirtschaftswissenschaft
Paul Samuelson, ebenfalls Vertreter der Chicago School und Nobelpreisträger der
Wirtschaftswissenschaften von 1970, formulierte einmal: I don’t care who writes the
nation’s laws or crafts its advanced treaties if I can write its economics text-
books.”
12
Tatsächlich fand auf der Grundlage von Samuelsons Lehrbüchern ein
Mainstreaming der ökonomischen Bildung in zuvor unbekanntem Ausmaße statt.
Seine Principles of Economics, übersetzt in mehr als vierzig Sprachen, avancierten
weltweit zum Standardlehrbuch an Universitäten und prägten damit das ökonomische
Verständnis Millionen Studierender.
13
Mittlerweile haben ihn zwar Autoren wie Hal R.
Varian und Gregory Mankiw abgelöst, deren Bücher ebenfalls Millionenauflagen er-
reichen und in ihren zahlreichen Übersetzungen rund um den Globus diktieren, was
in volkswirtschaftlichen Seminaren und Vorlesungen gelehrt und gelernt wird.
14
Doch
auch für diese Autoren gilt: Ziel der Wirtschaftswissenschaft ist nicht mehr die Ver-
mittlung eines vielfältigen Analyseinstrumentariums, einer Perspektivenvielfalt auf die
Wirtschaft, sondern eines unique way of thinking, mit dessen Hilfe es die gesamte
Welt zu erforschen gilt:
„Ökonomen haben eine einzigartige Art und Weise, die Welt zu sehen und vieles
davon kann in ein oder zwei Semestern gelehrt werden. Es ist das Ziel meines
Buches, diese Denkweise (way of thinking) der größtmöglichen Zuhörerschaft zu
vermitteln und den Leser davon zu überzeugen, dass sie vieles in der Welt er-
hellt.“
15
Es ist bezeichnend, dass Mankiw seine Ziele zwar dem Lehrenden mitteilt das vo-
rangegangene Zitat ist seinem Preface to the Instructor entnommen keineswegs
aber den Studierenden. Mikroökonomische Standardlehrbücher trainieren letztere
faktisch von der ersten Seite an in die ökonomische Weltsicht, ohne je über diese
Sicht, geschweige denn ihre möglichen Alternativen aufzuklären. Zweck ist, eine be-
stimmte Wahrnehmung der Welt möglichst rasch und effizient „in ein oder zwei
Semestern“ zu vermitteln, ohne dabei auch nur ansatzweise deutlich zu machen,
dass es sich dabei lediglich um eine mögliche Weltsicht handelt. So verzichten na-
11
Becker 1993.
12
Paul Samuelson zitiert in: Mankiw 2001, S. VII.
13
Vgl. für eine Analyse: Pearce/Hoover 1995.
14
Vgl. etwa: Nasar 1995.
15
Mankiw 2001, S. XI.
39
hezu alle ökonomischen Standardlehrbücher auf Hinweise zur historischen und me-
thodischen Kontingenz der heutigen Volkswirtschaftslehre. Es sei, so formuliert es
Varian explizit auf der ersten Seite seines Lehrbuches, „eher unangebracht, das Stu-
dium der Ökonomie damit zu beginnen.“
16
Faktisch werden dann solche Überlegun-
gen zu keinem Zeitpunkt angestellt; sie passen nirgends mehr in das moderne Bil-
dungskonzept der Ökonomie. Ob intendiert oder nicht, in jedem Falle werden Studie-
rende auf diese Weise dazu angeleitet, einen bestimmten Blick auf die soziale Wirk-
lichkeit unkritisch mit der sozialen Wirklichkeit zu verwechseln oder gleichzusetzen.
Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum etwa der Personalchef der Deut-
schen Telekom, Thomas Sattelberger, die gegenwärtige ökonomische Bildung expli-
zit als Gehirnwäsche bezeichnet und zugleich die fehlende Befähigung zur Reflexion
des eigenen Standpunktes bemängelt.
17
Im Vordergrund, so Sattelberger, stünden
lediglich abfragbare Rezepturen, nicht aber die Fähigkeit zum ständigen Perspektiv-
wechsel, um offen und auf vielfältige Weise an Probleme heranzugehen:
„Im neoklassischen Paradigma werden bestimmte Themen gar nicht mehr infrage
gestellt: etwa, dass der Markt transparent sei. Dass er sich austariere. Dass er
berechenbar und mathematisch abbildbar sei. Wer sich gegen diese scheinbar
ehernen Gesetze stellt, wird als Esoteriker abgetan. Selbst die Fallstudien chine-
sischer Business Schools, die vor zehn Jahren noch eine Konsenskultur einfor-
derten, sind inzwischen voll auf das angelsächsische Modell homogenisiert wor-
den. Die deutschen Schulen machen da leider wenig Ausnahmen.“
18
Hier zeigt sich, dass die moderne Wirtschaftswissenschaft eines entscheidende Bil-
dungsaufgabe verfehlt: die Aufgabe nämlich, das Denken selbst zu lehren. Auf dieser
Grundlage gehen dann auch weitere Bildungsaufgaben verloren. Denn Denkenler-
nen impliziert
„gleichzeitig ein Prozess der Befreiung von Vorurteilen, der unkritischen Bindung
an Autorität und Zeitgeist. Denkenlernen schließt das Fragenlernen, das Bemü-
hen um methodisch diszipliniertes Argumentieren ein und stiftet gleichzeitig auch
akademische Gemeinschaft in der Suche nach Wahrheit.“
19
Das theoretische Bildungsverständnis der modernen Wirtschaftswissenschaft
Kommen wir zu meinem zweiten Punkt, der Umgestaltung und Verengung des theo-
retischen Bildungsverständnisses im Zuge des ökonomischen Imperialismus. Wirt-
schaftswissenschaftler zitieren gerne die Aussage Joan Robinsons, „ein Modell, das
die ganze Buntheit der Wirklichkeit berücksichtige, würde nicht nützlicher sein als
eine Landkarte im Maßstab eins zu eins.“
20
Weil keine Wissenschaft ohne Abstrak-
tion auskommen kann, so wird hier suggeriert, gebe es keine Alternative zur hoch-
selektiven Wahrnehmungsweise der Ökonomie. Aber haben wir tatsächlich nur die
Wahl zwischen der ungefilterten Wahrnehmung der gesamten Realität einerseits
(was der Landkarte im Maßstab 1:1 entspräche) und einem einzigen Modell, einer
einzigen Landkarte andererseits? Im Ursprungsgebiet dieser Metapher, dem der
Kartografie, läge wohl jedem Wissenschaftler dieser Gedanke fern. Liegt doch der
Sinn seiner Disziplin gerade darin, unterschiedliche Möglichkeiten und Formen der
Abstraktion aufzuzeigen, um so zu einem kritischen wie kreativen Umgang mit ver-
schiedenen Weltsichten zu befähigen. Doch dem ökonomischen Imperialismus ist
16
Varian 2007, S. 1.
17
Engeser 2010.
18
Ebd.
19
Heitger 2002.
20
So etwa in Felderer/Homburg 1999, S. 10.
40
eine solche differenzierte Sichtweise fremd. Mehr noch: Er will tatsächlich glauben
machen, eine einzige «Karte», eine einzige Methode reiche zur Orientierung in der
gesamten sozialen Welt aus. Anstatt zu fragen, aus welchen vielfältigen Perspektiven
Bildung betrachtet, erklärt und verstanden werden kann, wendet er sein bereits fest-
stehendes Analyseinstrumentarium schlichtweg auf diesen Gesellschaftsbereich an:
Zu den Economics of Crime, den Economics of Discrimination, den Economics of
Marriage, Fertility and the Family, den Economics of Law and Politics gesellt er die
Economics of Education.
21
Es ist in etwa so, als deklarierte die Kartografie die einzig
wahre Weltkarte gefunden und damit alle anderen Orientierungshilfen ein für alle
Male überflüssig gemacht zu haben. Angesichts dieser Lage scheint es angebracht,
nicht weiter darauf zu hören, was Ökonomen beständig an neuen Daten und Fakten
über Bildung produzieren und präsentieren, sondern sich darauf zu besinnen, unter
welchen Voraussetzungen, also wie sie dies tun: Was sind die Prämissen, auf denen
die Economics of Education ihre Ansichten über Bildung gründet, ohne diese selbst
explizit zu machen? Was macht den Kern der «Brille» oder der «Landkarte» aus, mit
deren Hilfe sie Bildung als Humankapital erscheinen lässt?
Um hier Licht ins Dunkel zu bringen, wird im Folgenden derjenige Abstraktionspro-
zess in seinen Grundzügen herausgearbeitet, der allen Spielarten des ökonomischen
Imperialismus gemeinsam zugrunde liegt und zudem dargestellt werden, wie dieser
das ökonomische Bildungsverständnis prägt. Dabei werden vor allem drei Punkte zur
Sprache kommen: Erstens gilt, dass jede Theorie von der komplexen Wirklichkeit
abstrahiert. Um Orientierungshilfe bieten zu können, filtert sie aus verschiedenen
Situationen das Allgemeine, das allen Gemeinsame heraus. Dies ist Aufgabe der
positiven Abstraktion: Der Wissenschaftler isoliert die ihm bedeutsam erscheinenden
Eigenschaften und hebt sie hervor. Was aber erachtet der ökonomische Ansatz zur
Erklärung menschlichen Verhaltens, wie er durch Gary Becker geprägt ist, a priori als
«bedeutsam» und wie prägt dies das Verständnis von Bildung? Zweitens reicht es
nicht, lediglich von positiver Abstraktion zu sprechen. Denn Abstraktion beinhaltet
stets auch ein gedankliches Verfahren, in dessen Zuge von bestimmten vorhande-
nen, jedoch als unwesentlich erachteten Merkmalen abgesehen wird. Man abstra-
hiert von etwas.
22
Was aber erachtet der ökonomische Ansatz von vornherein als
«unwesentlich» und wie prägt dies wiederum das ökonomische Verständnis von Bil-
dung? Drittens gilt spätestens seit dem Werk Milton Friedmans, ebenfalls Professor
an der University of Chicago und Wirtschaftsnobelpreisträger von 1976, dass öko-
nomische Theorie vollkommen unrealistisch sein darf, solange sie ihren Zweck erfüllt.
Vor diesem Hintergrund muss dann ein weiterer Fragebereich lauten: Welches Ziel
verbirgt sich hinter dem Ansinnen, Bildung ebenso wie alle anderen Gesellschaftsbe-
reiche durch die methodische Brille des ökonomischen Ansatzes zu betrachten und
wem dient dieses Ziel?
Die Wirkkraft positiver Abstraktion
Wenden wir uns dem ersten Themenbereich zu: der positiven Abstraktion. Hier seien
nun die bereits genannten Annahmen des ökonomischen Ansatzes ausführlicher
diskutiert. Zunächst gilt:
21
Diese Liste ließe sich nahezu beliebig verlängern. So kennen Ökonomen mittelweile etwa
auch eine Economics of Arts und eine Economics of Religion.
22
Wie Immanuel Kant bereits bemerkt hat, ist diese negative Abstraktion gar als
bedeutsamer einzuschätzen als die positive Abstraktion: "Eigentlich sollte man nämlich
sagen: ‚von etwas abstrahieren‘, nicht ‚etwas abstrahieren‘.“ Immanuel Kant (1770).
41
„Der ökonomische Ansatz setzt maximierendes Verhalten ausdrücklicher und
umfassender voraus als andere theoretische Ansätze, seien es Nutzen- oder
Besitzfunktionen (utility or wealth function) von Haushalten, Firmen, Gewerk-
schaften oder staatlichen Stellen, die maximiert werden.“
23
Zudem hebt der ökonomische Ansatz Märkte nicht nur als entscheidende, sondern
gar einzige Form menschlichen Zusammenlebens hervor. Damit setzt er u.a. die
Existenz des Preismechanismus als alleinigen Koordinationsmechanismus in allen
Gesellschaftsbereichen voraus:
„Der ökonomische Ansatz setzt die Existenz von Märkten voraus, die mit ver-
schiedenen Graden der Effizienz die Handlungen der verschiedenen Beteiligten
Individuen, Firmen, ja gar Nationen koordinieren, so dass ihr Verhalten wech-
selseitig vereinbar wird. (…) Preise und andere Instrumente des Marktes vertei-
len die knappen Ressourcen innerhalb der Gesellschaft und schränken damit die
Wünsche der Teilnehmer ein und koordinieren ihre Aktionen.“
24
Sodann wird ein ganz spezifischer Aspekt der inneren Verfasstheit des Menschen
herausgefiltert und zur unumstößlichen Handlungsgrundlage erhoben: Es sollen die
Präferenzen, also die Vorzugswürdigkeit einer Alternative bzw. die Vorlieben von
Menschen, nicht nur als gegeben, sondern auch als stabil und unveränderlich gelten:
„Es wird vorausgesetzt, dass Präferenzen sich weder wesentlich in der Zeit ver-
ändern, noch dass sie wesentlich zwischen reichen und armen Menschen unter-
scheiden oder sogar zwischen Menschen aus verschiedenen Gesellschaften und
Kulturen (…) Die als stabil angenommenen Präferenzen beziehen sich nicht auf
marktförmige Güter und Dienstleistungen wie Orangen, Autos oder medizinische
Versorgung, sondern auf die zugrundliegenden Objekte der Wahl… Diese zu-
grundeliegenden Präferenzen beziehen sich auf die fundamentalen Aspekte des
Lebens wie Gesundheit, Prestige, sinnliche Freuden, Wohlwollen oder Neid, die
nicht notwendig eine stabile Beziehung zu Waren und Dienstleistungen aufwei-
sen müssen.“
25
Diese drei positiven Abstraktionsformen werden nun im Zuge der Economics of Edu-
cation auf den Bildungsbereich angewendet, ebenso wie er allen anderen Bereichen
sozialen Lebens übergestülpt wird. Damit wird der Wahrnehmungsfokus substantiell
eingeschränkt, bevor man überhaupt über Bildung nachzudenken beginnt. Geht man
etwa a priori vom Preismechanismus als einziger gesellschaftlicher Koordinations-
form aus, so scheint es unabdingbar, für jede Bildungsaufgabe eine marktkonforme
Lösung finden zu müssen; nicht, weil man nach eingehender Analyse und Diskussion
diese Lösungsform als die gesellschaftlich beste oder sinnvollste anerkannt hätte,
sondern weil bereits vor jeglicher Analyse und Diskussion feststeht, keine andere
Weise gesellschaftlicher Koordination anerkennen zu wollen. Damit einher geht dann
wie selbstverständlich auch die Ansicht, Bildung müsse nicht nur über einen Preis
verfügen, sondern sei als knappes Gut anzusehen, das die gegebenen Präferenzen
der Marktteilnehmer zu befriedigen habe. Damit kann, kurz gesagt, von vornherein
nur das als Bildung erkannt und anerkannt werden, was auf der einen Seite einen
Ertrag abliefert und auf der anderen Kosten verursacht:
„Was den Einzelnen betrifft, so sind die ökonomischen Erträge des Humankapi-
tals wie z.B. ein höheres Einkommen zunächst einmal den Kosten gegen-
überzustellen, die beim Erwerb dieses Kapitals verursacht wurden. Diese Kosten
umfassen die während der Ausbildungszeit entgangenen Einnahmen sowie die
23
Gary Becker 1990, S. 5.
24
Ebd.
25
Ebd.
42
durch die Bildung selbst anfallenden Kosten, wie Schul- und Hochschulgebühren
usw.“
26
A priori werden individuelle Fähigkeiten als bloße Form von Kapital angesehen, d.h.
wie ein „Produktionsfaktor, der wie ein Spinnrad oder eine Getreidemühle, einen Er-
trag bringen [kann].“
27
Mehr noch: der Mensch selbst wird zum Kapital: „Aus der abs-
trakten und mathematischen Perspektive [der ökonomischen Theorie] gelten Men-
schen unbestreitbar als Kapital.“
28
Konkreter gesprochen gilt der Mensch als Ma-
schine; ein Gedanke, der bereits auf Adam Smith zurückgeht: „Ein Mensch“, schreibt
der Begründer der Wirtschaftswissenschaften bereits 1776, „der unter großem Ar-
beits- und Zeiteinsatz für Tätigkeiten ausgebildet wird, die außerordentliche Ge-
schicklichkeit und Fähigkeit verlangen, ist mit einer teuren Maschine zu verglei-
chen.“
29
Wie Theodore Schultz offen zugibt, bedeutet dies, den Menschen als
markthiges Gut zu denken. Da ein Gut aber nur dann marktfähig ist, insofern sich
die Eigentumsrechte an ihm erwerben lassen, impliziert dies, Menschen im Grunde
wie Sklaven zu denken:
„Es ist richtig, dass Humankapital über besondere Eigenschaften verfügt. Unab-
hängig von seiner konkreten Form kann es weder gekauft noch verkauft werden,
es sei denn Menschen gelten als Sklaven. Während materielles Kapital über den
rechtlichen Status verfügt, Eigentum zu sein, ist Humankapital nicht durch diesen
rechtlichen Rahmen ‚geschützt‘.“
30
Hier wird deutlich: Die methodischen Vorannahmen der Ökonomie führen, sobald sie
unkritisch auf den Bildungsbereich übertragen werden, zu einem inhumanen Men-
schenverständnis. Doch diese von Ökonomen der Chicago School selbst gewonnene
Einsicht führt nicht dazu, diese Vorannahmen aus der bildungspolitischen Diskussion
zu verbannen. Im Gegenteil: Man hält unerschütterlich an ihnen fest, so etwa Theo-
dore Schutz, der meint, man müsse sich Menschen nicht direkt als Sklaven, sondern
lediglich als mit Preisschildern im Sinne von Löhnen und Gehältern ausgestattetes
Humankapital vorstellen.
31
Auf diese Weise aber wird die grundlegende Frage nach
den Eigentumsrechten an dem Träger dieses Kapitals, also dem Menschen, und so
nach dem problematischen Bezug zur Sklaverei keineswegs gelöst, sondern lediglich
kaschiert mit erheblichen Konsequenzen nicht nur für unser Menschenbild, sondern
auch für unser Bildungsverständnis. Denn Bildung kann hier nur noch insofern zäh-
len, als dass sie gleichsam den Preis für Sklaven oder höflicher ausgedrückt den
Betrag auf Schultz´ imaginären Preisschildern unablässig in die Höhe zu treiben
vermag. Dabei gilt, wie überall in der modernen Wirtschaftswissenschaft, dass nur
das zählen kann, was zuvor auf Maß und Zahl zurechtgestutzt wurde:
32
Bildung lässt
sich selbst nur noch als Zahlenwert abbilden. So wird Bildung in den herrschenden
ökonomischen Wachstumstheorien, auf die sich etwa Studien des Ifo-Instituts im
Auftrag der Bertelsmann Stiftung stützen, tatsächlich als eine einzige Zahl modelliert:
26
Keeley 2007, S. 37.
27
Ebd. S. 32.
28
Schultz 1976, S. 7.
29
Smith 1910, S. 90.
30
Schultz 1976, S. 7.
31
Ebd.
32
„Wir glauben, daß alles in allem zu beziffern ist. Mein Leben ist sehr viel wertvoller als ein
Waffelhörnchen mit Eis, genauso wie ein Berg sehr viel größer ist als ein Sandkorn, aber
das Leben und Eiskrem, wie Berg und Sandkorn, werden mit demselben Maßstab
gemessen.” D. Friedman 1999, S. 30.
43
„Demzufolge wird im Basisszenario als konkreter Schwellenwert für unzu-
reichende Bildung ein Wert von 420 PISA-Punkten verwendet. Dazu benutzen
wir einen einfachen Mittelwert der Mathematik- und Naturwissenschaftsergeb-
nisse in PISA 2000 und PISA 2003.“
33
Bildung wird schlicht auf einen Betrag an PISA-Punkten reduziert ermittelt in nur
zwei Fächern. Zugleich wird Bildungsfortschritt als Erhöhung dieses Betrags definiert.
Auf Basis dieser Abstraktionsleistung kann sodann scheinbar zwingend ein Zusam-
menhang zwischen volkswirtschaftswirtschaftlichem Wachstums einerseits und Bil-
dung andererseits postuliert werden. Es soll r die konstante langfristige Wachs-
tumsrate gelten:
„Δ = Wachstumskoeffizient * ΔPISA“
34
Dabei wird der Wachstumskoeffizient ebenfalls mit einen einzigen Zahlenwert be-
messen, im Falle von Wößmann und Piopiunik mit dem schlichten Wert von 1,265.
35
Es wäre interessant zu erfahren, über welche Fähigkeiten und Fertigkeiten die bei-
den Autoren selbst verfügen, um einen solch heroischen Prozess der Abstraktion
überhaupt zu denken, ja zu rechtfertigen. Doch die Economics of Education lenken
den Blick niemals auf den Denkprozess der Ökonomen selbst, sondern stellen Bil-
dung lediglich als Gegenstand dieses Prozesses dar. Wirtschaftswissenschaftler wie
Wößmann und Piopiunik bringen also Bildung für gewöhnlich nicht in Zusammen-
hang mit ihren eigenen sinngebenden Visionen und Aktivitäten, sondern sprechen
lediglich auf der unreflektierten Grundlage dieser Visionen und Aktivitäten über Bil-
dung.
Die Wirkkraft negativer Abstraktion
Es sind exakt diese Formen positiver Abstraktion, die gerade im bildungspolitischen
Alltag so selbstverständlich geworden sind, dass wir sie oft nicht einmal mehr als
besondere Denkleistungen wahrzunehmen, geschweige denn zu kritisieren vermö-
gen. Doch die Bedeutung von Abstraktionen liegt keineswegs nur in dem, was eine
Wissenschaft als bedeutsam hervorhebt, sondern vielmehr auch in dem, was sie ver-
schweigt. Sie liegt in jenen ungestellten Fragen und übersehenen Aspekten, die von
vornherein als «unbedeutende» oder «verwirrende Begleitumstände» ausgeblendet
und damit der weiteren Betrachtung entzogen werden. Dies gilt es im Folgenden
exemplarisch aufzuzeigen. Eben stellten wir fest, dass der ökonomische Ansatz nicht
nur Bildung, sondern auch Menschen wie marktfähige Güter betrachtet. Er macht uns
glauben, dass beide auf messbare Einheiten reduziert und preisförmig bewertet wer-
den können. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Was nicht in mess- und berechenbare
Einheiten gleichsam marktförmig abzupacken ist, gerät zwangsläufig aus dem Acht-
samkeitsfokus. Somit gilt auch: Bildung, die keinen Preis kennt, weil sie über andere
gesellschaftliche Prozesse als den marktwirtschaftlichen Preismechanismus koordi-
niert wird beispielsweise über den Diskurs, über familiäre und/oder gemeinschaftli-
che Konventionen und Traditionen wird entweder gar nicht, oder nur als Mittel für
andere preisförmig bewertbare Zwecke wahrgenommen. Auf dieses Problem hat, in
einem anderen Zusammenhang, nicht zuletzt Elinor Ostrom hingewiesen, die Nobel-
preisträgerin der Wirtschaftswissenschaften von 2009: Die moderne Wirtschaftswis-
33
Wößmann/Piopiunik (2009, S. 24.
34
Ebd., S. 30.
35
Ebd., S. 28: „Ein konservativer Schätzwert für den Wachstumskoeffizienten beträgt, wie
oben berichtet, 1,265 Prozentpunkte zusätzliches Wirtschaftswachstum für eine
Kompetenzerhöhung von 100 PISA Punkten.“
44
senschaft setzt a priori voraus, dass Menschen ausschließlich über Preise miteinan-
der kommunizieren. Sie verbannt damit andere Kommunikations- und Koordina-
tionsformen von vornherein sowohl aus der wissenschaftlichen als auch aus der poli-
tischen Wahrnehmung, ohne deren Grenzen und Möglichkeiten zuvor überhaupt ge-
prüft zu haben.
36
Auf Bildungsfragen übertragen bedeutet dies: der interpersonale
Kontext, in dem und aus dem Bildung ursprünglich hervorgeht das „Dreieck von
Lehrer, Schüler und Sache“, wie etwa Jochen Krautz es nennt
37
, kann als solcher gar
nicht mehr bewusst werden. Es gilt zwar nach neueren Erkenntnissen der Hirnfor-
schung:
„Gelernt wird, wenn positive Erfahrungen gemacht werden. Dieser Mechanismus
ist wesentlich für das Lernen der verschiedensten Dinge, wobei klar sein muss,
dass für den Menschen die positive Erfahrung schlechthin in positiven Sozial-
kontakten besteht (…) Menschliches Lernen vollzieht sich immer schon in Ge-
meinschaft, und gemeinschaftliche Aktivität bzw. gemeinschaftliches Handeln ist
wahrscheinlich der bedeutendste ‚Verstärker‘“.
38
Der ökonomische Blick auf die Bildung zwingt aber, von dieser Bedeutung gelebter
Beziehungen und gemeinschaftlicher Kontexte zu abstrahieren.
Sobald man Bildung und individuelle Fähigkeiten als bloße Kapitalform betrachtet,
scheinen marktförmige Lösungen zu ihrer «Produktion» und «Bereitstellung» zwin-
gend. Doch in dieser Sichtweise verbirgt sich ein weiteres Problem der negativen
Abstraktion. Ökonomische Erklärungsansätze sind vor allem dann bedeutsam, wenn
es um die Allokation gegebener Ressourcen sowie die effiziente Produktion vorhan-
dener Produkte geht. Märkte selektieren bereits bestehende Güter und Dienstleis-
tungen nach Kosten und Ertrag, und in der Beschreibung eben dieses Selektionspro-
zesses liegt die Kernkompetenz der Wirtschaftswissenschaft. Doch marktwirtschaftli-
che Selektion kann stets nur auf der Grundlage bereits existierender Güter erfolgen.
Aus ihr kann unmöglich Neues hervorgehen. Insbesondere gilt: Märkte erzeugen
keine neuen Güter; letztere entstehen vielmehr durch Ideen und deren Realisierung,
die systematisch dem Wettbewerb vorausliegen. Neue Güter und Dienstleistungen,
so sagt man, kommen auf den Markt. Sie sind Voraussetzung, nicht aber Ergebnis
marktwirtschaftlichen Wettbewerbs. Dies impliziert auch, dass Märkte stets ihnen
vorgängiger Kreativität und Innovation bedürfen. Sie sind gleichsam «Kreativitätszeh-
rer». Doch woher soll die Kreativität, das Neue kommen? Vor den Zeiten des öko-
nomischen Imperialismus ließ sich hier auf eine Art wissenschaftliche Arbeitsteilung
verweisen: Wenn das Neue, Innovative außerhalb der Wirtschaft, also gleichsam in
deren «Datenkranz» entsteht, so brauchte es auch nicht Aufgabe der Wirtschaftswis-
senschaften zu sein, diesen Entstehungsprozess zu erklären. Doch in dem Maße,
wie der ökonomische Imperialismus schrittweise alle Bereiche auch außerhalb des
eigentlich Ökonomischen zu betrachten und auszugestalten versucht, bleibt er zu-
nehmend die Antwort schuldig, aus welchen Quellen sich das Neue und Kreative
noch speisen soll mit schwerwiegenden Konsequenzen vor allem im Bereich der
Bildung. Denn verkommt Bildung selbst in unserem Denken immer mehr zu einem
Bildungsmarkt, so lässt sie sich zumindest implizit nur noch im Sinne bereits vorhan-
denen Wissens verstehen, das seinerseits wiederum an je schon vorgegebenen
Standards (Stichwort PISA!) zu messen ist. Auf diese Weise zählt nur das als Bil-
dung, was heute bereits bekannt und wichtig erscheint. Ausgeblendet hingegen wer-
36
Ostrom 1990, insb. Kapitel 1.
37
Krautz 2007, S. 13.
38
Manfred Spitzer zitiert in: Krautz 2007, S. 26.
45
den all jene Bildungsprozesse, aus denen tatsächlich Neues hervorzugehen ver-
spricht:
„Der wichtigste Wirtschaftsfaktor ist die Kreativität. Eine bloße Aus-Bildung pro-
duziert vieles, aber keine kreativen Menschen. Man kann Inhalte und Umfang der
»produzierten Ausbildung« ziemlich genau an die Erfordernisse der momentanen
Nachfrage aus der Wirtschaft anpassen (und viele der Studierenden orientieren
sich daran). Doch in fünf oder zehn Jahren werden diese ausgebildeten Inhalte
zu einem großen Teil wertlos sein. (…) Bevor neue Produkte auf die Märkte ge-
bracht werden, müssen neue Ideen in Köpfen entstehen. Und dazu sind kreative
Köpfe erfordert. Es mangelt an Bildung, die Kreativität fördert. (…) Kreativität
entsteht sicher nicht durch Beschwörung, aber auch nicht durch ein vom ersten
Semester an eingezwängtes, verschultes Wissen. Kreativität braucht Freiräume.
Aber Freiräume sind nicht kosteneffizient und deshalb auch nicht als privates Gut
verfügbar. Das war das eigentliche Anliegen Humboldts - durch Bildung eine
»Mannigfaltigkeit der Situationen« zu ermöglichen.“
39
Märkte sind nun allerdings nicht nur «Kreativitätszehrer»; sie zehren auch von ande-
ren gesellschaftlichen Bereichen. So geben selbst Vertreter der Chicago School zu,
dass Wirtschaft bestimmter rechtlicher und moralischer Rahmenbedingungen bedarf,
die sie umgekehrt nicht selbst hervorbringen kann. Wirtschaft sei, so etwa Milton
Friedman, wie ein Spiel, bei dem ein unabhängiger Schiedsrichter über die Festset-
zung der Regeln ebenso zu wachen habe wie über deren Einhaltung.
40
Diesem Bilde
nach muss es Instanzen in der Gesellschaft geben, die selbst nicht der Logik des
marktwirtschaftlichen Wettbewerbes unterworfen sind, um dessen Regeln gestalten
und durchsetzen zu können. Wo aber sind diese Instanzen zu lokalisieren? Wo sol-
len Menschen für diese Gestaltungsaufgabe gebildet werden, wenn alle Bildung nur
noch auf employability im Sinne der Wirtschaft angelegt ist? Die Economics of Edu-
cation abstrahieren auch von dieser entscheidenden Frage, insofern sie die Selektion
aller Bildungsinhalte a priori dem marktwirtschaftlichen Wettbewerb überlassen und
damit eine der wichtigsten Quellen außerökonomischer Innovation zum Versiegen
bringen. Letztlich untergräbt dies am Ende das Fundament der Wirtschaft selbst.
Denn nochmals: Ohne die Bildung kompetenter Schiedsrichtern, das hatte sich einst
selbst an der Chicago School herumgesprochen, kann auf lange Sicht auch kein
Wettbewerb individueller Interessen, kein Konkurrenzkampf mit Preisschildern aus-
gestatteter homines oeconomici existieren. Doch damit nicht genug: Die Economics
of Education blenden systematisch den gesamten verfassungsgemäßen Auftrag der
Bildung aus, wie er etwa in der Verfassung von Nordrhein-Westfalen im Artikel 7 for-
muliert ist:
„Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie
und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des an-
deren, zur Verantwortung für die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in
Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.“
41
Ein letzter Punkt sei hier noch im Hinblick auf die im bildungspolitischen Diskurs
weitgehend vernachlässigte ökonomische Annahme stabiler Präferenzen herausge-
arbeitet. Dieser Annahme zufolge sollen sich Menschen in ihren entscheidenden
Merkmalen weder im Verlauf der Zeit noch durch einen Ortswechsel verändern. Sie
dürfen zwar im Lauf ihres Lebens ihre Wahl von Gütern variieren, nicht aber die Re-
39
Brodbeck 1998, S. 34.
40
Vgl. Friedman 1971, S. 48ff.
41
zitiert in: Krautz 2007, S. 29.
46
geln, nach denen sie diese Wahl treffen.
42
Dies besagt, dass Menschen sich zwar
alle Informationen über die äußere Welt aneignen, nicht aber sich selbst bilden kön-
nen: A priori wird ihnen jegliches Potential zur Selbstreflexion abgesprochen.
43
Zu-
dem werden jegliche transformativen Wechselbeziehungen zwischen Marktteilhabe
einerseits und Akteur andererseits ausgeschlossen. Dem ökonomischen Ansatz zu-
folge können wir zwar alles in der Welt auf Märkten erwerben und sodann konsumie-
ren. Doch all dies soll auf die grundlegende Struktur unserer Persönlichkeit keinerlei
Auswirkungen haben, eben weil die Präferenzstruktur von vornherein als unabänder-
lich postuliert wird. Der ökonomische Ansatz entzieht damit selbst so alltägliche Phä-
nomene wie das Lernen und Bedauern der wissenschaftlichen Wahrnehmung.
44
Trotzdem degradiert Gary Becker etwa den berechtigten Einwand, Bildung habe
doch gerade den die selbstbestimmte Herausbildung individueller Präferenzen zum
Ziel, als „bequeme Ad-hoc-Annahme, um verwirrendes Verhalten zu erklären“. Es
handele sich dabei lediglich um „das Eingeständnis einer Niederlage im Gewand ei-
nes wohlüberlegten Urteils“.
45
Doch was bleibt von Bildung übrig, wenn die Fähigkeit
zur Selbstreflexion und transformation lediglich als «überflüssiger Nebenumstand»
angesehen und sodann konsequent aus der Betrachtung ausgeschlossen wird?
Oder anders gefragt, macht Bildung nicht gerade den Kern jenes Sozialisationspro-
zess aus, den die Ökonomen stets schon als abgeschlossen voraussetzen müssen,
um ihre Annahme der „Gegebenheit der Präferenzen“ überhaupt plausibel erschei-
nen zu lassen?
46
Wenn dem so ist, müsste der ökonomische Imperialismus spätes-
tens vor den Toren der Bildung halt machen. Doch ist dies nicht der Fall. So er-
scheint Bildung zunehmend nur noch als eine Art fertig geschnürter Pakete, mit der
sich Individuen im Laufe ihres Lebens äußerlich wie etwa mit Schmuck umgehen,
ohne sich davon in ihrem eigentlichen Wesen, in ihrer Menschlichkeit berühren zu
lassen. Das Verständnis von Bildung im Sinne eines offenen Prozesses der Selbst-
bildung und -bestimmung geht so zugunsten eines gegebenen, antrainierbaren Sets
von Fertigkeiten verloren.
Die Annahme gegebener Präferenzen, dies sei zumindest kurz erwähnt, impliziert
keineswegs nur eine Negation individueller Selbstbildung; sie verkennt systematisch
auch alle gesellschaftlichen Transformationspotentiale der Bildung. Denn indem auch
alle gesellschaftlichen Präferenzen immer schon als gegeben angenommen werden,
scheint es die alleinige Aufgabe menschlicher Aktivitäten zu sein, diese Präferenzen
zu bedienen: „Das Herzstück der ökonomischen Analyse ist es, dass Präferenzen
gegeben sind und dass es die Funktion ökonomischer Aktivitäten ist, diese Präferen-
zen so gut es geht zu bedienen.“
47
Diesem Verständnis nach kann Bildung junge
Menschen niemals dazu befähigen, auf die unvorhergesehenen und neuen Bedürf-
nisse der Zukunft angemessen zu reagieren, geschweige denn diese Bedürfnisse
selbst kritisch auszuprägen und zu gestalten.
Die Instrumentalisierung ökonomischen Denkens
Welche Ziele verfolgen nun die Economics of Education nun mit ihren positiven und
negativen Abstraktionsprozessen? Zunächst ist festzustellen, dass diese Theo-
42
Baurmann 1996, S. 325.
43
Vgl. Graupe 2005, Kapitel 3.2.
44
Ebd., S. 72ff.
45
Becker 1990, S. 12.
46
Vgl. etwa Kirchgässner 1991, S. 1314.
47
Schultz 1976, S. 9, meine Hervorhebung.
47
rieströmung keinerlei Wert auf die Realitätsnähe ihrer Annahmen legt, wie Milton
Friedman explizit formuliert:
„Wirklich wichtige und bedeutende Hypothesen treffen ‚Annahmen‘, die heftigst
fehlerhafte deskriptive Repräsentationen der Wirklichkeit darstellen. Im Allgemei-
nen gilt, dass je bedeutender die Theorie ist, desto unrealistischer die Annah-
men. (…) Um also wichtig zu sein, muss eine Hypothese deskriptiv falsch in ihren
Annahmen sein.“
48
Der Wirtschaftswissenschaft also vorwerfen zu wollen, sie verfehle das Ziel der
Schaffung eines möglichst wirklichkeitsnahen Menschen- und Weltbildes, hieße, sich
außerhalb ihres eigenen wissenschaftlichen Diskurses zu stellen. Worin aber liegt
dann der Wert ihrer Vorannahmen? Auch hierauf findet sich eine Antwort bei Fried-
man:
„Um diesen Punkt weniger paradox zu formulieren, ist die entscheidende Frage
im Hinblick auf die ‚Annahmen‘ einer Theorie also nicht, ob sie deskriptiv ‚realis-
tisch‘ sind in Wahrheit sind sie es nie , sondern ob sie ausreichend gute An-
näherungen für den vorliegenden Zweck darstellen.“
49
Für die moderne Wirtschaftswissenschaft steht also nicht das Ringen um Wahrheit,
sondern reine Nützlichkeitserwägungen im Vordergrund: Eine Theorie ist gut, inso-
fern sie dienlich ist. An dieser Stelle möchte ich dieses Wissenschaftsverständnis
nicht weiter problematisieren, sondern gerade umgekehrt ernst nehmen, um so den
ökonomischen Imperialismus an seinen eigenen Maßstäben zu messen. Gehen wir
auf diese Weise vor, so wird deutlich, dass wir alle Erkenntnisse der Economics of
Education keinesfalls als unmittelbare Aussagen über die Wirklichkeit aufzufassen
brauchen, ja strenggenommen nicht einmal dürfen. Wenn also etwa gesagt wird, In-
dividuen oder die Gesellschaft im Ganzen maximierten ihr Wohlergehen durch die
Akkumulation von Humankapital, so stellt dies dem ureigenen Selbstverständnis der
Economics of Education gerade keine Aussage über einen Ist-Zustand dar. Allge-
meiner gesagt, geht es dem ökonomischen Imperialisten überhaupt nicht um die Be-
schreibung von Tatsachen. Vielmehr will er möglichst inexakte Aussage treffen, so-
lange sie seinen Zielen dienen. Im Fokus des Interesses steht also eine bewusst ver-
zerrte Abbildung der Realität, wobei der Verzerrungsgrad allein durch Nützlichkeits-
erwägungen des Wissenschaftlers bestimmt wird. Es wäre ein erster wichtiger
Schritt, wenn wir uns in den gegenwärtigen Bildungsdiskussionen diesen grundsätzli-
chen Sinn ökonomischer Aussagen stets vor Augen hielten.
Warum und zu welchem Zwecke aber modellieren die Economics of Education nun
Bildung ausschließlich auf der Basis der Annahmen von Nutzenmaximierung, der
Existenz von Märkten und stabilen Präferenzen? Und wer teilt diese Ziele? Es geht
mir hier nicht darum, diese Fragen abschließend zu beantworten. Entscheidend
scheint mir vielmehr, sie zunächst überhaupt in aller Eindringlichkeit zu stellen. Für
ihre nochmalige Zuspitzung möchte ich abschließend zwei Richtungen markieren,
indem ich eine meines Wissens bislang im bildungsökonomischen Diskurs weitge-
hend vernachlässigte Unterscheidung hervorhebe: die Unterscheidung zwischen
Ökonomie als Wissenschaft (science) einerseits und als Engineering andererseits.
Wenden wir uns zunächst ersterer zu. Die Frage nach der Nützlichkeit einer Theorie
im Sinne der Wissenschaft, science, so formuliert es Milton Friedman, „kann nur
dadurch beantwortet werden, indem man sieht, ob die Theorie funktioniert, d.h. ob
48
Friedman 1953, S. 1415.
49
Ebd.
48
sie hinlänglich genaue Vorhersagen bringt.“
50
Seit ihren Ursprüngen im 18. Jahrhun-
dert strebt die Ökonomie danach, eine Wissenschaft zu sein, „die den physikalisch-
mathematischen Wissenschaften in jedem Aspekt gleicht.“
51
„Man hat die Gesetze
der gesellschaftlichen Kooperation zu erforschen, wie die Physiker die Gesetze der
Mechanik erforschen.“
52
Diese Aufforderung nehmen Ökonomen spätestens seit dem
19. Jahrhundert wörtlich, indem sie das Formelinstrumentarium der Mechanik und
damit deren Konzept der Energie und die Differentialrechnung eins zu eins auf die
soziale Welt übertragen.
53
„Die volle Wahrheit ist, daß die Volkswirtschaftslehre in
ihrer heutigen professionellen Ausübungsweise in jenem strengen Sinne eine me-
chanistische Wissenschaft ist, wie sonst nur noch die klassische Physik.“
54
Eine sol-
che Art der Science muss rigide Annahmen über die soziale Welt treffen, um ihrem
eigenen Anspruch gerecht werden zu können. Nur wenn etwa der Mensch ohne in-
nere Freiheit und jegliche kreativen Fähigkeiten gedacht wird, nur dann kann sein
Verhalten mit den gleichen Formeln beschrieben werden, mit denen Physiker bei-
spielsweise den Lauf von Kugeln berechnen.
55
Man muss, mit anderen Worten, a
priori davon überzeugt sein, „das die Erscheinungen des wirthschaftlichen Lebens
sich strenge nach Gesetzen regeln, gleich jenen der Natur.“
56
Exakt diese Überzeu-
gung liegt auch dem ökonomischen Imperialismus Gary Beckers zugrunde, etwa
wenn dieser meint, allein „die Annahme stabiler Präferenzen liefert eine stabile Basis
für Prognosen.“ Hier wie anderswo gilt: Es ist nicht die Frage, ob Mensch oder Welt
bestimmte Eigenschaften tatsächlich aufweisen. Vielmehr werden beide auf be-
stimmte Weise modelliert, damit der Ökonom rechnen kann. Kann es aber tatsächlich
Ziel einer Wissenschaft sein, immer weiter ein zur Karikatur geratenes Bild der Ge-
sellschaft zu zeichnen, nur um weiterhin einem Anspruch an Wissenschaftlichkeit aus
dem 18. und 19. Jahrhundert gerecht zu werden?
Lassen wir diese Fragen bewusst offen und wenden uns der Ökonomie im Sinne des
Engineering zu:
„Ökonomen generieren sich gerne als Wissenschaftler. Ich weiß dies, weil ich es
selbst tue. Wenn ich Bachelor-Studenten unterrichte, beschreibe ich das Feld der
Ökonomie sehr bewusst als Wissenschaft (science) damit kein Student von Be-
ginn an denkt, er würde sich auf ein unsicheres [wörtlich: matschiges] akademi-
sches Unternehmen einlassen. (…) [Doch] muss ich daran erinnern, dass die
Disziplin der Makroökonomie nicht als Wissenschaft begründet wurde, sondern
eher als eine Art Engineering. Gott hat uns Makroökonomen nicht auf die Welt
gebracht, damit wir elegante Theorien aufstellen und testen, sondern um prakti-
sche Probleme zu lösen. Und die Probleme, die er uns gegeben hat, sind nicht
gerade bescheiden.“
57
50
Ebd., S. 15.
51
Walras 1969, S. 71, meine Hervorhebung. Walras gilt als einer der Begründer der
neoklassischen Theorie.
52
Mises 1940, S. 2.
53
Vgl. für eine ausführliche Beschreibung dieses Prozesses: Mirowski 1989.
54
Georgescu-Roegen, Nicholas: The Entropy Law and the Economic Process.
Cambridge/London 1971, S. 1.
55
Vgl. für eine eingehendere Kritik: Brodbeck 2007, insbesondere das Kapital zur „Sozialen
Physik“.
56
Menger 1871, S. VIII.
57
N. Gregory Mankiw: The Macroeconomist as Scientist and Engineer. Journal of Economic
Perspectives, Vol. 20, No. 4 (2006), S. 2946, meine Hervorhebung.
49
Naturwissenschaft, so lässt sich verkürzt formulieren, trifft Aussagen über die natürli-
che Welt, während die Ingenieurwissenschaften diese Aussagen nutzen, um diese
Welt menschlichen Zwecken gemäß zu gestalten. Die Ökonomie, so macht das vo-
rangegangene Zitat von Gregory Mankiw deutlich, macht sich beide Aufgaben zu
Eigen. Ihr Ziel war und ist keineswegs allein die reine, desinteressierte Beschreibung
der sozialen Welt, sondern immer auch Erklärung zwecks Gestaltung. Doch welche
Gestaltungsabsicht verbirgt sich hinter den Economics of Education? Welcher politi-
sche Vision von Bildung dient deren verkürztes und erklärtermaßen unrealistisches
Menschen- und Gesellschaftsbild? Auch auf diese Fragen können hier keine Ant-
worten gegeben werden. Doch eines hoffe ich deutlich gemacht zu haben: Bildung
sollte dazu befähigen, diese und ähnlich Fragen überhaupt wieder als Fragen sicht-
bar zu machen. Sie sollte, anders gesagt, uns die Freiheit schenken, bewusst über
eine immer stärker um sich greifende Monokultur im Denken zu reflektieren, anstatt
unbemerkt selbst zum bloßen Gegenstand, ja zur Geisel dieser Monokultur zu ver-
kommen.
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wirtschaftspädagogischer Perspektive neu gedacht. Bern 2005, S. 4159.
Book
Full-text available
Lehrerinnen und Lehrern klagen verstärkt über Dauerüberlastung durch Zeitdruck, ausufernde unterrichtsferne Bürokratie, Dokumentationspflichten, Koordinierungsaufgaben und Außendarstellungsrituale. Daneben wachsen die realen pädagogischen Herausforderungen. Unterricht und Erziehung geraten dabei immer mehr an den Rand der täglichen Arbeit. Man wähnt sich im Hamsterrad: Es herrscht rasender Stillstand. In dieser Not seufzen Viele: „It’s time for change!“ Hier scheinen die Programme von „Schulentwicklung“ und „neuen Lernformen“ verheißungsvolle Auswege zu bieten. Doch diese Maßnahmen bereiten nicht nur zusätzliche Arbeit, sondern lösen auch die Schule als Ort des Lehrens und Lernens und die professionelle Rolle von Lehrerinnen und Lehrern zunehmend auf. These dieses Bandes ist, dass die Überlastungsphänomene zu guten Teilen inszeniert sind, gerade um die Bereitschaft zu wecken, den Prozessen des „Change-Managements“ zu folgen. Diese Programme sind aber im Kern apädagogisch und undemokratisch. Sie untergraben die pädagogische Freiheit und zeigen totalitäre Tendenzen, weil sie von außen gesetzte Konzepte in manipulativen Prozessen durchsetzen. Der Band beleuchtet in Vertiefung seines ersten Teils, wie die Steuerung von Schule durch Change-Management und Schulentwicklung mit den konkreten Belastungserfahrungen des Schulalltags zusammenhängt, denn die Beiträge verknüpfen wissenschaftliche Analysen mit kritischen Einblicken in die Praxis. Die Offenlegung der Hintergründe hilft dabei, die Vorgänge im Bildungswesen auch im eigenen Handlungsfeld einzuordnen. Dies kann Lehrerinnen und Lehrer darin stärken, ihre pädagogischer Freiheit und Verantwortung wieder im Sinne der jungen Generation sowie von Freiheit, Demokratie und Kultur wahrzunehmen. Teachers are increasingly complaining about permanent overload due to time pressure, excessive bureaucracy that is not part of the teaching process, documentation obligations, coordination tasks and external presentation rituals. In addition, the real educational challenges are growing. Teaching and education are becoming more and more marginalised in daily work. One imagines oneself on a hamster wheel: there is a frantic standstill. Many people sigh in this distress: "It's time for change!" Here the programmes of "school development" and "new forms of learning" seem to offer promising ways out. However, these measures not only create additional work, but also increasingly dissolve the school as a place of teaching and learning and the professional role of teachers. The thesis of this volume is that the overload phenomena are to a large extent staged, precisely in order to awaken a willingness to follow the processes of "change management". However, these programs are essentially pedagogical and undemocratic. They undermine pedagogical freedom and show totalitarian tendencies because they enforce concepts set from outside in manipulative processes. In the first part of the volume, which is more in-depth, the author examines how the control of school through change management and school development is related to the concrete stress experiences of everyday school life, because the contributions combine scientific analyses with critical insights into practice. The disclosure of the background helps to classify the processes in the educational system also in one's own field of action. This can strengthen teachers in their ability to exercise their pedagogical freedom and responsibility again in the spirit of the young generation and of freedom, democracy and culture.
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The article written by a prominent American expert analyzes the development of macroeconomic ideas. The author considers the history of macroeconomics as an interaction between applied ("engineer") and theoretical traditions. Although modern theoretical approaches, as he argues, didnt have a serious impact on economic policy, their emergence helped creating rigorous analytical tools used to develop a new generation of models ("New Neoclassical Synthesis"). The latter are to form the basis of new macroeconometric approaches and new macroeconomic engineering.
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The governance of natural resources used by many individuals in common is an issue of increasing concern to policy analysts. Both state control and privatization of resources have been advocated, but neither the state nor the market have been uniformly successful in solving common pool resource problems. After critiquing the foundations of policy analysis as applied to natural resources, Elinor Ostrom here provides a unique body of empirical data to explore conditions under which common pool resource problems have been satisfactorily or unsatisfactorily solved. Dr Ostrom uses institutional analysis to explore different ways - both successful and unsuccessful - of governing the commons. In contrast to the proposition of the 'tragedy of the commons' argument, common pool problems sometimes are solved by voluntary organizations rather than by a coercive state. Among the cases considered are communal tenure in meadows and forests, irrigation communities and other water rights, and fisheries.