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ÖKONOMISCHE BILDUNG:
DIE GEISTIGE MONOKULTUR DER WIRTSCHAFTSWISSEN-
SCHAFT UND IHRE ALTERNATIVEN
Silja Graupe
„Bildung ist nicht bloßer Erwerb kognitiver Inhalte und Kompetenzen,
sondern mehr noch eine Gestaltungsfähigkeit künstlerischer Art. Nicht
sie wird von wirtschaftlichen Werten bestimmt, sondern diese ergeben
sich umgekehrt aus dem Bildungsgeschehen.“1
Vor dem Hintergrund dieser These
2
Die gegenwärtige Bedeutung ökonomischer Bildung
wird der folgende Beitrag ei-
nerseits das Bildungsverständnis der modernen Wirtschaftswissen-
schaft in kritischer Absicht skizzieren und andererseits Alternati-
ven in ihren Grundzügen erarbeiten. Zunächst aber beginne ich
meine Ausführungen mit einem kurzen Hinweis auf den immer
weiter wachsenden Einflusses ökonomischer Bildung, um auf die
Bedeutung des von mir gewählten Themas hinzuweisen.
In den letzten Jahrzehnten hat die ökonomische Bildung immens
an Einfluss gewonnen. Dies gilt für Universitäten und Fachhoch-
schulen gleichermaßen wie für die berufliche und schulische Bil-
dung. Selbst Kindergärten sind mittlerweile von dieser Entwick-
lung erfasst worden, zumindest in den Vereinigten Staaten. Es sei-
en hier zunächst einige Zahlen und Fakten genannt.3
1 Bildung. Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen, 11.
2 Diese These ist eine der sieben „Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen“,
welche 2012 von einer interdisziplinären Gruppe von Wissenschaftlern an der
Kueser Akademie für Europäische Geistesgeschichte verfasst wurden.
3 Die folgenden Zahlen wurden errechnet auf der Grundlage des Fachberichts
„Studierende an Hochschulen“. Vgl. Statistisches Bundesamt 2010.
An deutschen
Hochschulen studieren gegenwärtig ungefähr 360.000 Studenten
wirtschaftswissenschaftliche Fächer. Das entspricht ca. siebzehn
Prozent aller Studierenden. Im ersten Semester sind es gut 89.000
Studenten und damit fast achtzehn Prozent aller Studienanfänger,
In: Coincidentia. Zeitschrift für europäische Geistesgeschichte. Beiheft 2: Bildung und
fragendes Denken (herausgegeben von Harald Schwaetzer), 2013, S. 139-165.
Silja Graupe
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die ‚etwas mit Wirtschaft‘ studieren wollen. Dabei führt seit Jahren
die Betriebswirtschaftslehre unangefochten die Liste der beliebtes-
ten Fächer an. Im Gegenzug mangelt es den Natur- und Ingenieur-
wissenschaften ebenso wie den Geisteswissenschaften an Nach-
wuchs. Doch selbst wenn sich junge Menschen für diese alternative
Disziplinen entscheiden, werden auch dort die originären Studien-
inhalte zunehmend durch ökonomische Bildung verdrängt. Denn
im Zuge der Neuorganisation aller Studiengänge, welche maßgeb-
lich durch die Bologna Reform angestoßen wurde, haben neuartige
Module wie ‚Medizinmanagement‘, oder ‚Wirtschaftswissenschaf-
ten für Juristen‘ Einzug in die Studienpläne vieler nicht-ökono-
mischer Disziplinen erhalten. Eine ähnliche, aber noch konsequen-
tere Entwicklung lässt sich in den Vereinigten Staaten beobachten.
Hier ist mittlerweile jeder College-Student verpflichtet, einführende
Lehrveranstaltungen in die moderne Wirtschaftswissenschaft (Eco-
nomics) zu belegen.4 Nach Schätzungen der New York Times wer-
den auf diese Weise Jahr für Jahr ca. 1,6 Millionen junge Menschen
gleich zu Beginn ihres Studiums mit ökonomischen Fachwissen
konfrontiert – ganz gleich, für welche Disziplin sie sich einschrei-
ben und unabhängig davon, ob sie an den Economics interessiert
sind oder nicht.5
Doch setzt die ökonomische Bildung in den Vereinigten Staaten
nicht erst auf Collegeniveau ein. Sie prägt auch den Alltag an Schu-
len und Kindergärten. Verantwortlich für diesen Prozess ist vor-
nehmlich der Council for Economic Education (CEE), welcher durch
Spenden amerikanischer Großunternehmen, Banken und (politi-
sche) Stiftungen finanziert wird. Nach eigenen Angaben schult der
CEE über 55.000 Lehrer und mehr als 5 Millionen Schüler jährlich.
Zudem nimmt er systematisch Einfluss auf die Lehrpläne aller
4 Den Begriff Wirtschaftswissenschaft (im Singular) verwende ich in diesem
Beitrag tatsächlich als eine Übersetzung des Begriffes Economics. Zwar wird
letzterer oft mit Volkswirtschaftslehre übersetzt, doch halte ich diese Form der
Übersetzung für zu eng, da weder im Englischen noch Amerikanischen strikt
zwischen der VWL und der BWL unterschieden wird.
5 Vgl. Nasar: A Hard Act to Follow?
Ökonomische Bildung
141
Jahrgangsstufen, indem er im Rahmen der sogenannten K-12 Stan-
dards in allen fünfzig US-amerikanischen Bundesstaaten und in je-
der Jahrgangsstufe vom Kindergarten bis zur 12. Klasse Inhalt und
Methode ökonomischer Bildung bestimmt. Um diese Standards
möglichst optimal durchzusetzen, drängt der CEE auf die Einfüh-
rung eines eigenen Faches ‚Wirtschaft‘ an allen Schulen. Fünfund-
zwanzig amerikanische Bundesstaaten haben sich diesem Druck
mittlerweile gebeugt; zweiundzwanzig davon verpflichten alle
Kinder und Jugendlichen, dieses Fach auch tatsächlich zu belegen.
Doch damit nicht genug. Erklärtes Ziel des CEE ist es, seinen öko-
nomischen Bildungskanon wirklich flächendeckend einzuführen.
Kein (Bundes)Staat, kein Distrikt, keine Elternschaft und kein Kind
soll sich ihm auf Dauer entziehen können:
„It is imperative that we close the gap, and that we provide the educators
with the knowledge, tools, and teaching skills they need to help children
develop these essential real world skills. Educator training and assessment
are imperative. Business leaders, media representatives, educators and
parents must demand that their children graduate from school with an un-
derstanding of basic economic and financial concepts, and key decision
makers and policy makers must listen and act.”6
6 Nan J. Morrison zitiert in: Rasimas: The State of Economic and Personal
Finance Education, meine Hervorhebung. Morrison ist President und CEO des
Councils for Economic Education.
Der Einfluss des CEE beschränkt sich nicht auf die Vereinigten Staa-
ten, sondern reicht etwa auch bis nach Deutschland. So stellt etwa der
hierzulande sehr einflussreiche Wirtschaftskundliche Bildungs-Test
(WBT) eine bloße Adaption des Test of Economic Literacy dar, mit dem
der CEE seit den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts die Um-
setzung seiner ökonomischen Wissensstandards mess- und evaluier-
bar macht. Im Gefolge des WBT und weiterer Tests, welche ebenfalls
darauf abzielen, ökonomisches Wissen von Schülern nach allgemein-
gültigen Regeln abzuprüfen, werden in Deutschland nicht nur Re-
formen im Bereich der schulischen Bildung angemahnt, sondern auch
tatsächlich um- und durchgesetzt. So wird auch hierzulande der Ruf
nach einem eigenständigen Fach ‚Wirtschaft‘ immer lauter.
Silja Graupe
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„Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) und die Landesvereini-
gung der Unternehmensverbände NRW fordern die Einführung eines ei-
genständigen Faches ‚Wirtschaft‘ an allen allgemein bildenden Schulen in
Nordrhein-Westfalen. […] In anderen Bundesländern wie Bayern ist
‚Wirtschaft‘ bereits Pflicht.“7
Ähnliches ist vom Gemeinschaftsausschuss der Gewerblichen Wirt-
schaft (GGW) zu hören, welcher die bildungspolitischen Interessen
aller bedeutenden Wirtschaftsverbände vertritt und koordiniert.
8
Auch er fordert ein separates ökonomisches Fach, welches sich
„präzise von anderen sozialwissenschaftlichen Domänen abgren-
zen“ lasse und über klar und eindeutig bestimmte Inhalte verfüge.9
Diese Forderung geht, ähnlich wie es an den Universitäten der Fall
ist, zu Lasten anderer Fächer und damit anderer Wissens- und Bil-
dungsformen. Positiv formuliert heißt es, dass „Schüler und Lehrer
[…] keine Mehrbelastung zu fürchten [hätten], da die entsprechen-
den Inhalte aus anderen Fächern wie Geschichte gestrichen werden
könnten.“10
„Ginge es nach den Wirtschaftsverbänden, erhielten die Schülerinnen von
Klasse 5-10 durchgängig Wirtschaftsunterricht mit schuljährlich 80 Unter-
richtsstunden. Mit insgesamt 480 Unterrichtsstunden läge ‚Wirtschaft‘
dann um den Faktor 4 höher als Politik und umfasste ein Drittel mehr
Stunden als die Fächer Geschichte, Erdkunde und Politik zusammen.“
Konkret aber bedeutet es Folgendes:
11
7 Döring: Wirtschaft als Schulfach.
8 So etwa die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der
Bundesverband deutscher Banken (BdB), der Bundesverband der Deutschen
Industrie (BDI), der Deutsche Industrie und Handelskammertag (DIHK) und der
Bundesverband mittelständischer Wirtschaft (BVMW). Weitere Mitglieder sind:
der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH), der Bundesverband
Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen (BGA), der Bundesverband der
Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR), der Bundesverband
Deutscher Zeitungsverleger (BDZV) und der Deutsche Hotel- und Gast-
stättenverband (DEHOGA), wobei die Liste immer noch nicht vollständig ist.
9 Retzman et al. im Auftrag des GGW: Ökonomische Bildung an allgemein-
bildenden Schulen, 16.
10 Döring: Wirtschaft als Schulfach.
11 Hedkte / Uppenbrock: Atomisierung der Stundentafel, 27.
Ökonomische Bildung
143
Gegenstand und Methode ökonomischer Bildung
Was aber lernen Schüler und Studenten tatsächlich, wenn sie sich
in Sachen ‚Wirtschaft‘ bilden wollen oder bilden sollen? Auf den
ersten Blick mag diese Frage merkwürdig klingen. Erstens scheint
die Antwort auf der Hand zu liegen: Was soll ein solches Fach
schon anderes lehren als etwas ‚über Wirtschaft‘? Und warum soll-
te, zweitens, auf diese Frage eine eindeutige Antwort existieren? Ist
es nicht selbstverständlich, dass die Beschäftigung mit ‚Wirtschaft‘
beispielsweise im Kindergarten etwas anderes bedeutet als an den
Schulen? Müsste zudem nicht etwa zwischen verschiedenen Uni-
versitäten unterschieden werden? Selbstverständlich lässt sich kei-
neswegs ein einheitliches Urteil über alle Vorlesungen und Schul-
stunden fällen. Doch möchte ich eindringlich darauf hinweisen,
dass die ökonomische Bildung seit Mitte des letzten Jahrhunderts
weltweit in einem Ausmaß standardisiert wurde, wie es für andere
sozialwissenschaftliche Fächer nach wie vor unvorstellbar ist.
Maßgeblich für diese Entwicklung war die Einführung weniger
Lehrbücher, welche sich ausgehend von den Vereinigten Staaten
binnen weniger Jahrzehnte rund um den Erdball verbreitet haben
und mittlerweile in den meisten Ländern bestimmen, was unter
ökonomischer Bildung verstanden wird. Besondere Beachtung ist
dabei dem Lehrbuch Economics des Wirtschaftsnobelpreisträger
Paul A. Samuelson zu schenken, welches mittlerweile in über vier-
zig Sprachen übersetzt wurde und weltweit Millionenauflagen er-
zielt.12 Heutzutage orientiert sich fast jedes Lehrbuch an den von
Samuelson entwickelten Inhalten und Methoden. Sie unterscheiden
sich allenfalls noch im Hinblick auf die verwendete Didaktik, ohne
aber ein alternatives Verständnis vom Kern der ökonomischen Bil-
dung zu entwickeln.13
12 Vgl. Samuelson / Nordhaus: Economics.
13 Vgl. Walstad / Watts / Bosshard: The Principles of Economics Textbook, 198f.
Dabei stellt insbesondere die Mikroökono-
mik ein Gebiet dar, „in dem der Sieg der frühen Pädagogik von
Samuelson nahezu vollständig ist und in dem sich die Überzeu-
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144
gungen der Ökonomen am wenigsten gewandelt haben.“14 Diese
Feststellung ist insofern entscheidend, als dass an den meisten Uni-
versitäten heutzutage nicht mehr die Dozenten über die in ihren
Veranstaltungen verwendeten Lehrbücher entscheiden (können),
sondern ihre Lehre umgekehrt an diesen Büchern ausrichten. Die
Wirtschaftswissenschaft ist, um es mit einem Begriff von Thomas S.
Kuhn zu sagen, zu einer wahren Lehrbuchwissenschaft mutiert.15
Neuere Untersuchungen für Großbritannien und den USA etwa
zeigen, dass „die Struktur wirtschaftswissenschaftlicher Abschlüsse
nahezu identisch an allen untersuchten Universitäten sind.“16
Kehren wir zur Ausgangsfrage dieses Abschnittes zurück. Was
lehrt die standardisierte ökonomische Wissenschaft tatsächlich?
Auch wenn es zunächst überraschend klingen mag: Die oben for-
mulierte Vermutung, dies würde etwas mit ‚der Wirtschaft‘ zu tun
haben, ist schlicht unbegründet. Denn erklärtermaßen soll gelten,
dass die „ökonomische Bildung nicht über den Gegenstandsbereich
Wirtschaft definiert ist, sondern durch die spezifisch ökonomische
Perspektive.“
Wie
bereits angedeutet, ist die Situation an den Schulen durchaus ähn-
lich. Soll hier das Fach ‚Wirtschaft‘ doch allen Schüler die gleichen
standardisierten und damit allgemeingültigen Inhalte vermitteln.
17 Diese Forderung lehnt sich an das explizite Selbst-
verständnis der modernen Wirtschaftswissenschaft an, wie es die
Chicago School of Economics seit Mitte des letzten Jahrhunderts ge-
prägt hat: „Das, was die Wirtschaftswissenschaft als Disziplin von
anderen Disziplinen unterscheidet, ist nicht ihr Gegenstandsbe-
reich (subject matter), sondern ihre Vorgehensweise (approach).“18
14 Skousen: The Perseverance of Paul Samuelson’s Economics, 138.
15 Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, 136ff.
16 Wigstrom: Survey of Undergraduate Economics Programmes in the UK, 1.
17 Retzman et al. im Auftrag des GGW: Ökonomische Bildung an allgemein-
bildenden Schulen, 34.
18 Gary S. Becker: The Economic Approach to Human Behavior, 5. Alle
Übersetzungen aus dem Englischen stammen von mir.
Für die Definition einer jeden Bildungsform kommen also
Ökonomische Bildung
145
„zwei Referenzsysteme in Betracht: Der Gegenstandsbereich eines Faches
oder die spezifischen Blickwinkel und Methoden eines Faches. Die ökonomi-
sche Domäne lässt sich über den Gegenstandsbereich nicht präzise von
anderen sozialwissenschaftlichen Domänen abgrenzen, weil diese oft
denselben Gegenstand betrachten. […] Der Rückgriff auf die ökonomische
Perspektive [ist] die verlässlichste Methode, um die Domänenspezifik zu
wahren. Geographie und Politik mögen zwar gleiche Gegenstände in den
Blick nehmen, aber mangels ökonomischer Perspektive tragen sie damit
eben nicht zur ökonomischen Bildung bei.“19
Bevor ich auf die Frage eingehe, was die ökonomische Vorgehens-
weise konkret beinhaltet, sei kurz bei der Frage nach dem Gegen-
standsbereich der ökonomischen Bildung verharrt. Was heißt es,
wenn dieser per Definition gänzlich aus dem Blick gerät? Allge-
mein gesagt, wird damit zunächst der Anspruch aufgegeben, Schü-
ler und Studenten etwas über „die Menschheit in ihren alltäglichen
Geschäften des Lebens“ lehren zu wollen, wie es Alfred Marshall,
einer der einflussreichsten Ökonomen des 18. und 19. Jahrhun-
derts, noch als Aufgabe seiner Wissenschaft ansah.
20 Dies bedeutet
beispielsweise, keinerlei Fakten mehr über die Wirtschaft zu ver-
mitteln. Die ökonomischen Wissensstandards, so formuliert es der
CEE, „enthalten im Allgemeinen weder wichtige grundlegende
Fakten über die amerikanische Wirtschaft noch über die Weltwirt-
schaft.“21
19 Retzman et al: Ökonomische Bildung an allgemeinbildenden Schulen, 16-17.
20 Marshall: Principles of Economics, i.
Fakten oder Tatsachen sind der Definition nach Situatio-
nen, in denen sich Dinge nachweislich befinden. Um sie zu erfor-
schen und zu entdecken, bedarf es eines problemorientierten Ansat-
zes. Auf Fragen, die sich entweder aus dem alltäglichen Wirt-
schaftsleben der Lernenden oder aber von Menschen aus anderen
Regionen und Zeiten ergeben, sind situativ gültige Antworten zu
suchen. Damit wird eine konkrete Wirklichkeit zum Ausgangs-
punkt allen wissenschaftlichen Fragens; ein Fragen, das keine end-
gültigen Antworten kennen kann, eben weil sich die Situationen, in
denen sich die Dinge und Menschen befinden, von Moment zu
21 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, vi.
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Moment wandeln. Doch exakt diesen Ausgangspunkt lehnt die
ökonomische Lehrbuchwissenschaft ab. Ihr ist an keinem echten
Wissen über die ständig wechselnden Fakten der Wirtschaft gele-
gen. So behauptet etwa Samuelson in seinem Standardlehrbuch,
Märkte wie etwa Wochenmärkte, Wohnungsmärkte und Kunst-
märkte (und damit der zentrale Gegenstandsbereich der Wirt-
schaftswissenschaft) erschienen dem gewöhnlichen Menschenver-
stand lediglich als ein „Durcheinander von Verkäufern und Käu-
fern.“22 Doch anstatt den Lernenden zu befähigen, dieses Durchei-
nander in all seiner lebendigen Vielfalt und seinen von Ort zu Ort
verschiedenen, spezifischen Problemen tatsächlich zu durchdrin-
gen, lehrt Samuelson lediglich, von aller konkreten Erfahrung abzu-
sehen und jeden Markt a priori als „Mechanismus, durch den Käu-
fer und Verkäufer interagieren, um Preise zu bestimmen und Güter
und Dienstleistungen auszutauschen“ anzusehen.23
„Wirklich wichtige und bedeutende Hypothesen bestehen aus ‚Annah-
men‘, die völlig falsche deskriptive Beschreibungen der Realität darstellen.
Allgemein gesprochen gilt, dass je bedeutender eine Theorie ist, desto un-
realistischer ihre Annahmen sind (in diesem Sinne). […] Um von großer
Bedeutung zu sein, muss eine Hypothese also falsch in ihren Annahmen
sein.“
Der ökonomi-
schen Bildung geht es damit gerade nicht mehr um die sachgerech-
te Lösung spezifischer Probleme, sondern um die einheitliche Form
einer Antwort, die allen Schülern und Studenten vor jeder konkre-
ten individuellen Frage fest vorgegeben wird. Wie etwa Milton
Friedman, ebenfalls ein Vertreter der Chicago School of Economics,
offen ausspricht, ist das menschliche Streben nach wahren und
richtigen Aussagen über die Realität in der modernen Wirtschafts-
wissenschaft insgesamt bedeutungslos geworden:
24
Die Wirtschaftswissenschaft erörtert die Welt „nicht auf der Basis
von Tatsachen, sondern aufgrund von Annahmen; ja wir kämpfen
22 Samuelson / Nordhaus: Economics, 26.
23 Ebd.
24 Friedman: Essays in Positive Economics, 14-15, meine Hervorhebung.
Ökonomische Bildung
147
dafür, dass sie so vorgehen muss“, so insistierte der britische Öko-
nom John Stuart Mill bereits Mitte des 19. Jahrhunderts.25
„die Eigenschaft zu entwickeln, Schlussfolgerungen zu ziehen, gleich
welche Fakten sachdienlich für die Unzahl der Probleme sind, mit denen
sie in ihrem Leben konfrontiert werden. Indem Studenten den Argumen-
tationsprozess von Ökonomen beobachten und ihn selbst praktizieren,
erwerben sie analytische Fertigkeiten (skills), die sie auf neue entstehende
ökonomische Probleme anwenden können, die zur Zeit, als diese Stan-
dards erstellt wurden, nicht vorhergesehen werden konnten.“
Auf diese Weise gerät einerseits jegliches konkretes Wirtschafts-
verständnis aus dem Blick. Andererseits aber dehnt sich der An-
wendungsbereich der ökonomischen Vorgehensweise nahezu be-
liebig aus. Denn sobald es der ökonomischen Bildung tatsächlich
nicht mehr um ein adäquates und sachgerechtes Verständnis der
Wirtschaft geht, kann sie sich einer gänzlich anderen Aufgabe
widmen. Sie leitet junge Menschen dazu an,
26
Fürs Leben zu lernen bedeutet hier allein noch, die immer gleiche
Art des Denkens auf immer neue Situationen anzuwenden, nicht
aber das Denken selbst an diesen und in diesen Situationen zu ent-
wickeln. Weder steht die Welt mehr in Frage, noch darf sie ihre ei-
genen Fragen stellen. Sie gilt allein noch als Objekt, an dem ein
immer gleicher, vorgefertigter und erklärtermaßen unrealistischer
Denkprozess wieder und wieder erprobt wird. Ein solches Bil-
dungsverständnis deckt sich exakt mit dem Wissenschaftsver-
ständnis der Chicago Schule: „Ich bin ökonomischer Imperialist“,
sagt etwa Becker von sich selbst, „ich glaube, dass gute Techniken
einen weiten Anwendungsbereich haben.“
27
„Tatsächlich bin ich zur Überzeugung gekommen, dass die ökonomische
Vorgehensweise so umfassend ist, dass sie auf alles menschliche Verhalten
anwendbar ist, ob […] reiche oder arme Personen, Männer oder Frauen,
Dieser Bereich aber
soll nicht weniger als alles menschliche Verhalten umfassen.
25 Mill: Essays on some Unsettled Questions of Political Economy, 78, meine
Hervorhebung.
26 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, 5.
27 Becker: Economic Imperialism.
Silja Graupe
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Erwachsene oder Kinder, geniale oder dumme Personen, Patienten oder
Therapeuten, Geschäftsmänner oder Politiker, Lehrer oder Studenten.“28
Diese Überzeugung wird von den ökonomischen Lehrbüchern der
Gegenwart uneingeschränkt geteilt. So finden sich in den unter-
schiedlichen Auflagen von Samuelsons Economics lediglich immer
wieder neue Anwendungsbereiche der ökonomischen Perspektive.
29
„Die Beispiele und Anwendungen haben sich gewandelt, um sicherzus-
tellen, dass es [Samuelsons Lehrbuch, SG] in den Augen der Leser stets
relevant und nützlich blieb. Der Kern der Theorie ist aber stets der glei-
che geblieben.“
In der achten Auflage sind dies etwa die Verschandelung der Städ-
te, Entropie und die Ökologie der Natur. Die zehnte Auflage be-
handelt die Qualität der Zeit, Armut, Ungleichheit, Ökologie und
Wachstum, Liebe und Gerechtigkeit. Die sechzehnte Auflage wid-
met sich dem Schutz der Natur, während spätere Auflagen sich gar
Themen wie Drogenabhängigkeit und Gesundheit zuwenden. Da-
bei gilt stets:
30
„Wirtschaftswissenschaft ist ein Fach, in dem ein geringes Wissen sehr
weit reicht. [...] Ökonomen haben eine einzige Sicht auf die Welt, von der
das meiste in ein oder zwei Semestern gelehrt werden kann. Mein Ziel ist
es, diese Denkweise einem größtmöglichen Publikum zu vermitteln und
Nichts stellt also mehr einen eigenständigen Gegenstandsbereich
ökonomischer Bildung mehr dar, welche seine eigenen Fragen
aufwerfen und damit den Menschen einladen könnte, nach spezifi-
schen Antworten zu suchen. Vielmehr verkommt alles menschliche
Handeln zum bloßen Beispiel, an dem die immer gleiche ökonomi-
sche Vorgehensweise einzuüben ist.
Was aber zeichnet diese Vorgehensweise selbst aus? Wie weiter
oben bereits angedeutet, handelt es sich um einen bestimmten
Blickwinkel, eine bestimmte Perspektive. Sehr deutlich formuliert
dies Gregory N. Mankiw in seinen Principles of Economics, welches
gegenwärtig eines der einflussreichsten ökonomischen Lehrbücher
darstellt:
28 Becker: The Economic Approach to Human Behavior, 8.
29 Vgl. im Folgenden Smith: Samuelson’s Economics through Fifty Years, 3ff.
30 Ebd., 6.
Ökonomische Bildung
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den Leser zu überzeugen, dass sie vieles in der Welt erhellt. Ich bin fest
davon überzeugt, dass jeder das fundamentale Gedankengut studieren
sollte, welches die Wirtschaftswissenschaft bietet.“31
„Es gibt weder eine Wirtschaftstheorie für Republikaner noch eine für
Demokraten, noch eine für Arbeitnehmer oder für Arbeitgeber. Hinsich-
tlich der grundlegenden Preis- und Beschäftigungszusammenhänge be-
stehen denn auch unter den Nationalökonomen heutzutage keine nen-
nenswerten Meinungsverschiedenheiten mehr.“
Ökonomische Bildung schult nicht (mehr) die Vielfalt möglicher
Perspektiven auf die Wirtschaft bzw. auf konkrete wirtschaftliche
Situationen, sondern definiert sich über eine einzige und zumal
unveränderliche Blickweise auf alles in der Welt. Damit gibt sie
den Anspruch, unterschiedliche Ansichten zu vertreten, nicht nur
auf; sie erklärte solche Ansichten innerhalb der Wirtschaftswissen-
schaft schlicht für nicht existent. So schreibt etwa Samuelson:
32
„Häufig erscheint die Ökonomie als eine endlose Abfolge neuer Rätsel,
Probleme und Dilemmata. Aber wie erfahrene Lehrer gelernt haben, exis-
tieren wenige grundlegende Begriffe, welcher der gesamten Ökonomie zu-
grunde liegen. Hat man erst einmal diese Begriffe gemeistert, geht das
Lernen schneller vonstatten und lässt sich mehr genießen. Wir haben uns
deshalb entschlossen, uns auf den zentralen Kern der Ökonomie zu konzen-
trieren – jene dauerhaften Wahrheiten, die im einundzwanzigsten Jahrhun-
dert ebenso wichtig sein werden wie im zwanzigsten.“
Dies meint keineswegs, dass solche Verschiedenheiten nicht mehr
existierten. Sie werden lediglich per Definition aus der Wirtschafts-
wissenschaft und damit von der ökonomischen Bildung ausge-
schlossen. Wer von sich behaupten will, ökonomisch zu denken,
der muss dies auf eine einzige Weise tun, welche damit zu nichts
weniger als der „Kernwahrheit der Ökonomie“ erhoben wird.
33
Kurz gesagt wird die neoklassische Theorie, welche noch im 20. Jahr-
hundert lediglich als eine ökonomische Schule unter vielen galt,
zum „Paradigma“ erklärt, „was die Aufgabe widerspiegelt, ein ein-
31 Mankiw: Principles of Economics, vii, meine Hervorhebung. Das Zitat findet
sich im „Vorwort für Dozenten“. Sein Inhalt ist also offensichtlich nicht für die
Studenten selbst bestimmt.
32 Samuelson: Volkswirtschaftslehre, 6.
33 Samuelson / Nordhaus: Economics, xvii, meine Hervorhebung.
Silja Graupe
150
ziges, stimmiges Set von Standards festzulegen, das die Lehre der
Wirtschaftswissenschaft […] anleitet.“34
Bei diesem Set handelt es sich im Wesentlichen allein um drei er-
fahrungsunabhängige, mathematisch exakt formulierbare Annah-
men, mit denen alles in der Welt ‚erklärt‘ werden muss: Becker zu-
folge sind dies, erstens, die Annahme nutzenmaximierenden Ver-
haltens, zweitens die Annahme der Existenz von Märkten und drit-
tens die Annahme von „Präferenzen, die sich weder wesentlich in
der Zeit ändern sollen, noch sich zwischen reichen und armen Leu-
ten oder zwischen Personen verschiedener Gesellschaften und Kul-
turen unterscheiden sollen.“
35
Mir geht es an dieser Stelle weniger darum, diese Annahmen ge-
nauer zu beleuchten, als um die Frage, welchen Einfluss eine solch
starke Beschränkung der Sichtweise auf den Studierenden hat. Zu-
nächst besteht die Gefahr, dass letzterer die theoretischen Annah-
men über die Welt mit letzterer selbst zu verwechseln lernt, eben
weil ihm nur ein einziger Blick auf diese Welt vermittelt wird.
Theoretische Annahmen erscheinen ihm nicht mehr als spezifische
Werkzeuge des Denkens, mit denen sich Wirklichkeit erschließen
und bearbeiten lässt, sondern als objektive Spiegelungen dieser Wirk-
lichkeit. Dies gilt vor allem, wenn in der ökonomischen Lehre die
Grenze zwischen den theoretischen Begrifflichkeiten und den rea-
len, alltäglichen Geschäften des Lebens bis zur Unkenntlichkeit
verwischt wird. So stellt etwa Mankiw seinem Lehrbuch „zehn
Prinzipien der Ökonomie“ voran, ohne den Leser explizit darüber
aufzuklären, dass es sich bei diesen um jene völlig falschen deskrip-
tiven Beschreibungen der Realität im eben zitierten Sinne von
Friedman handelt.
36
34 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, vi, meine Hervorhebung.
35 Becker: The Economic Approach to Human Behavior, 5.
36 Vgl. Mankiw: Principles of Economics, 3ff.
So lautet etwa sein viertes Prinzip, dass „Men-
schen auf Anreize reagieren“, nicht aber, dass die moderne Wirt-
schaftswissenschaft von jedem ökonomisch Gebildeten verlangt,
alle Menschen ausnahmslos so zu betrachten, als ob sie sich auf die-
Ökonomische Bildung
151
se Weise verhielten.37 Oberflächlich wird so der Anschein erweckt,
ökonomische Bildung vermittle eben doch ein Faktenwissen, wobei
in Wahrheit allein eine bestimmte abstrakte Sichtweise auf die Welt
eingeübt wird. Ein solches Vorgehen findet sich keineswegs nur bei
Mankiw. Es liegt auch den genannten US-amerikanischen K-12
Standards zugrunde. So lautet auch dort der vierte Standard:
„Schüler sollen lernen, dass Menschen normalerweise auf positive
und negative Anreize reagieren.“38
„1.) Reaktionen auf Anreize sind gewöhnlich vorhersehbar, weil Men-
schen normalerweise ihr Eigeninteresse verfolgen oder von diesem in wi-
derspruchsfreier Art und Weise abweichen. 2.) Eine Veränderung der An-
reize führt normalerweise dazu, dass Menschen ihr Verhalten in vorher-
sehbarer Art und Weise verändern. 3.) Anreize können monetär oder
nicht-monetär sein.”
Auf den Wissensstand der
achten Klasse herunter gebrochen, heißt dies beispielsweise, dass
Schüler Folgendes lernen sollen:
39
schreibt ihr wohl einflussreichster Vertreter, der Wirtschaftsnobel-
preisträger Friedrich A. Hayek.
Auf keinerlei Weise wird hier verhindert, dass junge Menschen
diese Standards als mit absolutem Wahrheitsanspruch gültige Be-
schreibungen der Wirklichkeit auffassen lernen. In der Kürze die-
ses Beitrags kann ich nicht näher auf die Frage eingehen, ob ein
solches Missverständnis intendiert ist oder nicht. Doch sei an dieser
Stelle wenigstens darauf verwiesen, dass sich zumindest die Chi-
cago-Schule der Macht und dem Einfluss abstrakter Ideen auf das
Wirklichkeitsverständnis durchaus bewusst ist:
„Die Macht abstrakter Ideen beruht in hohem Maße auf eben der Tatsa-
che, daß sie nicht bewußt als Theorien aufgefaßt, sondern von den meis-
ten Menschen als unmittelbar einleuchtende Wahrheiten angesehen wer-
den, die als stillschweigend angenommene Voraussetzungen fungieren“,
40
37 Ebd., 7.
38 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, 10.
39 Ebd. 12.
40 Hayek: Recht, Gesetzgebung und Freiheit, 100.
Silja Graupe
152
Die ökonomische Bildung beeinflusst aber nicht nur das Weltbild
junger Menschen. Zugleich prägt sie auch deren Selbstverständnis.
Denn ihre wissenschaftliche Perspektive schiebt sich gleichsam
zwischen Welt und Mensch, ohne letzerem dabei rein äußerlich zu
bleiben. Sie fungiert, um es mit einem Begriff von Michael Polanyi
zu sagen, als geistiges Werkzeug. Existiert zu diesem Werkzeug kei-
ne Alternative, so droht der Umgang mit ihm zur Selbstverständ-
lichkeit zu werden. Er wird zur zweiten Natur des Menschen:
„Wenn wir ein bestimmtes Set von Grundannahmen akzeptieren und als
Deutungsmuster verwenden, dann hausen wir gleichsam in ihnen wie in
unserem Körper.“41
Auf die Wirtschaftswissenschaft übertragen, bedeutet dies, dass sie
dem Menschen nicht nur ein einziges Mittel zur Erkenntnis der
Welt anbietet, sondern damit auch unmittelbar Einfluss auf dessen
Persönlichkeit nimmt. Ziel der Bildung ist, so formuliert es der CEE
explizit, dass junge Menschen die „entscheidende Form logischen
Denkens und die Fähigkeit zur Meinungs- und Willensbildung ler-
nen, die ihnen das gesamte Leben in all ihren verschiedenen Rollen
nutzen werden, welche sie als verantwortliche und leistungsfähige
Teilnehmer im amerikanischen Wirtschaftsystem spielen werden.“
42
„Die Schülerinnen und Schüler werden“, so schreibt der Gemein-
schaftsausschuss der Gewerblichen Wirtschaft, „mit einem über-
schaubaren Bündel an Kompetenzen ausgestattet, das sie die öko-
nomischen Anforderungen in unüberschaubar vielen ökonomisch
geprägten Lebenssituationen mündig, tüchtig und verantwortlich
bewältigen lässt.“43
Nach der am meisten zitierten Definition von Weinert sind
Kompetenzen, „die bei den Individuen verfügbaren oder durch sie
erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, sowie die
damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Be-
41 Polanyi: Personal Knowledge, 60.
42 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, ix, meine Hervorhebung.
43 Retzman et al. im Auftrag des GGW: Ökonomische Bildung an allgemein-
bildenden Schulen, 14.
Ökonomische Bildung
153
reitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen
Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“44
Werden solche Kompetenzen zum Ziel von ökonomischer Bildung,
so geht es darum, den Menschen zu beeinflussen, to influence minds,
wie es Samuelson explizit formuliert.45 Ökonomen, so schreibt die
New York Times, „ergreifen immer mehr die Chance, den Geist
(mind) der nächsten Generation politischer Führer, Geschäftsführer,
Meinungsführer und anderer Mitglieder der […] Elite in Form zu
pressen (to mold).“46 Hierbei geht es, wie die Definition des Kompe-
tenzbegriffes deutlich macht, nicht nur um eine bestimmten Art zu
denken. Es werden zugleich auch bestimmte Haltungen antrainiert,
welche etwa Mankiw im Fall der ökonomischen Bildung ausdrück-
lich als leidenschaftslos (dispassionate) charakterisiert.47 Junge Men-
schen lernen, die Welt durch die geistige Brille realitätsferner An-
nahmen zu betrachten und zugleich „auf die Sozialwelt mit dem-
selben kühlen Gleichmut [zu schauen], mit dem der Naturwissen-
schaftler die Ereignisse in seinem Laboratorium verfolgt.“48
Es geht der modernen ökonomischen Bildung also um den gan-
zen Menschen mit all seinem Denken, Wollen und Fühlen. Es ist so,
dass „der Begriff ‚Kompetenzen‘ Wissen, Fertigkeiten, Einstellun-
gen und Wertvorstellungen umfasst.“
49 „Kompetenz bezieht sich
mit einem ganzheitlichen Anspruch auf die ganze Person.“50
44 Weinert zitiert in Krautz: Ware Bildung, 127.
45 Samuelson zitiert in Gottesman / Ramrattan / Szenberg, 98.
46 Nasar: A Hard Act to Follow.
47 Vgl. Mankiw: Principles of Economics, 21.
48 Alfred Schütz zitiert in Brodbeck: Herrschaft des Geldes, 102. Den hier
formulierten Gedanken habe ich genauer entwickelt in Graupe: The Power of
Ideas.
49 OECD: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, 6.
50 Thomas Henschel zitiert in Krautz: Ware Bildung, 127.
Doch
diese ‚Ganzheitlichkeit‘ blendet wesentliche Fähigkeiten des Men-
schen schlicht aus oder unterdrückt diese gar. Allen voran ist dies
Fähigkeit zur Selbstreflexion. Denn Kompetenzen gelten, wie es
der GGW explizit schreibt, „an ihren Träger gebunden, nicht an die
Silja Graupe
154
spezifische Situation, in der sie gebraucht werden. Seine Kompe-
tenzen nimmt das Individuum deshalb auch mit, wenn die Situation
wechselt.“51
„Die oben genannten Anforderungen [stetiger Wandel, Zusammenleben
in einer multikulturellen Gesellschaft, wechselseitige Abhängigkeiten im
Zuge der Globalisierung, SG] stellen die Menschen je nach Ort und Situa-
tion vor verschiedenartige Herausforderungen. […] [Es] handelt es sich
jedoch bei den Schlüsselkompetenzen um solche von besonderem Wert,
die in mehreren Lebensbereichen hilfreich sind und über die alle verfügen sol-
len. So sind Schlüsselkompetenzen nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, son-
dern auch im privaten und politischen Leben usw. erforderlich. Solche
übergreifenden (transversalen) Kompetenzen werden als Schlüsselkom-
petenzen definiert.“
Kompetenzen werden dergestalt antrainiert, dass
Schüler und Studenten sich mit ihnen unabhängig von ihrer konk-
reten (Lebens)Situation auf immer die gleiche Weise identifizieren
lernen. Bildung sucht dem Menschen unveränderliche Eigenschaf-
ten einzuschreiben, die ihm lediglich erlauben, auf die Welt in all
ihrer Mannigfaltigkeit stets nur auf ein und dieselbe Weise inner-
lich zu reagieren. Es steht also nicht der Gehorsam gegenüber äuße-
ren Zwängen im Vordergrund, sondern die innere Anpassung an
bestimmte Sichtweisen und Haltungen vor aller Erfahrung. Eine
solche Anpassung stellt dabei weder die Leistung eines konkreten
Individuums dar, noch entspricht sie den Erfordernissen einer
konkreten Umwelt. Sie wird vielmehr als universale Schlüsselkompe-
tenz verstanden, welche die OECD folgendermaßen definiert:
52
„Bildung vollzieht sich als soziales und verantwortetes Geschehen; die
Fähigkeit verbindlichen ‚Spielens‘ – auf allen Ebenen des Menschseins als
Selbstbildungsfähigkeit in möglicher, Sorgfalt walten lassender und de-
mütiger Beziehung zu Mitmensch, Mitwelt, Mitgeist – ist genuiner Aus-
druck der kreativen, gewissensbildenden Bildnatur des Menschen.“
Bildung kann als Ort verstanden werden, an dem Menschen immer
wieder neu Wirklichkeit bilden und sich zugleich selbst an Wirk-
lichkeit bilden.
53
51 Retzman et al. im Auftrag des GGW: Ökonomische Bildung an allgemein-
bildenden Schulen, 15.
52 OECD: Definition und Auswahl von Schlüsselkompetenzen, 9.
53 Bildung. Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen, 11.
Ökonomische Bildung
155
Doch schafft die ökonomische Bildung gegenwärtig keinen solchen
Spiel-Raum freier Gestaltung mehr. Dies teilt sie dem Lernenden
selbst allerdings nicht mit. So ist in den ökonomischen Lehrbü-
chern weder von motivationalen, volitionalen und sozialen Bereit-
schaften noch von kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten explizit
die Rede. Sie suchen diese lediglich im Zuge der ökonomischen
Perspektive unbewusst anzutrainieren. Wie bereits angedeutet, geht
es darum, eine bestimmte wissenschaftliche Haltung im Sinne ei-
nes Paradigmas zu prägen.54 Paradigmen aber, darauf hat vor al-
lem Thomas S. Kuhn hingewiesen, liegen gerade „all jenen Regeln
voraus, die von ihnen eindeutig abstrahiert werden können. Gera-
de deswegen ist ihre Wirkung verbindlicher und vollständiger.“55
„Fast alle ökonomischen Prinzipien gründen auf Annahmen. Würde man
alle diese Annahmen stets nennen, so schmälerte dies die Wirksamkeit der
Standards. Man überließe dem Leser die Verantwortung, die Grundsätze
[die Voraussetzungen, SG] von den Annahmen zu unterscheiden.“
Paradigmen werden im Bildungsprozess weder explizit erklärt
noch interpretiert. Sie liegen umgekehrt allen Erklärungen und
Interpretationen stillschweigend voraus. Sie formen gewisserma-
ßen einen Sockel unausgesprochener Annahmen, von dem aus alle
Schüler und Studenten einheitlich ihren Blick auf die Welt richten
lernen, ohne jemals über ihn nachzudenken. Eine Organisation wie
der CEE ist sich dieser Wirkungsweise durchaus bewusst:
56
Hier ist ein Mehrfaches gesagt: Erstens geht die moderne ökonomi-
sche Standardlehre offensichtlich davon aus, dass die kritische Ref-
lexion von Annahmen und Voraussetzungen die Wirksamkeit von
Bildung tatsächlich behindert. Sie will, dass aus Gründen der Effi-
zienz ein aufgeklärtes und (selbst)reflektierendes Bildungsver-
ständnis einem bloßen Training weicht, welches den Vorausset-
zungsboden des eignen Denkens nicht mehr bewusst vermittelt.
54 Vgl. erneut etwa Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National
Content Standards in Economics, vi.
55 Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, 46.
56 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, vi.
Silja Graupe
156
Zweitens weiß sie sehr wohl zwischen (teilweise) explizierbaren
Annahmen und ihren zugrundeliegenden, meist unbewussten
Voraussetzungen zu unterscheiden. Doch überträgt sie, drittens,
diese so wesentliche Unterscheidung nicht in den Verantwor-
tungsbereich des Lernenden. Letzterer soll weder verstehen, dass
Voraussetzungen ‚unterhalb‘ der Oberfläche des explizit Gelernten
existieren, noch, dass er sich für oder gegen diese Voraussetzungen
frei entscheiden kann und deswegen eben auch verantwortungs-
voll entscheiden muss. In der Tiefe des Voraussetzungsbodens des
eigenen Denken und Handelns zielt die ökonomische Standardleh-
re also gerade nicht auf Vernunft, Einsicht und Kritikfähigkeit,
sondern, wie es Hans Domizlaff, Begründer der Markentechnik,
formuliert, auf bloße „Richtungsänderungen durch gedanklichen
Nahrungswechsel im Sinne einer Dressur.“57
Neue Orte ökonomischer Bildung
Ich breche an dieser Stelle meine Überlegungen zum Bildungsver-
ständnis der modernen ökonomischen Lehrbuchwissenschaft ab,
um mich der Frage nach ihren Alternativen zuzuwenden. Ich be-
ginne meine Überlegungen mit einem Gedankengang Paul Feyera-
bends. Der österreichische Philosoph und Wissenschaftstheoretiker
geht zunächst auch davon aus, dass unsere Weltsicht meist von ei-
nem gegebenen Voraussetzungsboden aus erfolgt, welcher weder
der Reflexion noch der Gestaltung unmittelbar zugänglich ist. Doch
anstatt wie die ökonomische Lehrbuchwissenschaft auf dieser Ein-
sicht zu beharren, sucht Feyerabend nach Wegen, eine solche Ref-
lexion und Gestaltung trotz aller Schwierigkeiten zu ermöglichen:
„ How can we analyse the terms in which we habitually express our most
simple and straightforward observations, and reveal their presupposi-
tions? How can we discover the kind of world we presuppose when pro-
ceeding as we do? The answer is clear; we cannot discover it from the in-
side. We need an external standard of criticism, we need a set of alterna-
tive assumptions.”58
57 Domizlaff: Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens, 198.
58 Feyerabend: Against Method, 15, Hervorhebung im Original.
Ökonomische Bildung
157
Kurz gesagt, lautet Feyerabends Empfehlung, eben jene Multipers-
pektivität wieder in die Wissenschaft einzuführen, welche die öko-
nomische Standardlehre seit mindestens 60 Jahren nicht einfach
nur vergessen, sondern systematisch verdrängt hat.
„Würde man die Ansichten von Minderheiten über ökonomische Prozes-
se und Begriffe [in die Standards, SG] aufnehmen“, so postuliert der CEE,
„so würde das Lehrer und Studenten verwirren und frustrieren. Letztere
würden mit der Verantwortung alleingelassen, die Voraussetzungen und
Alternativen einzusortieren, ohne hierfür über ein hinlängliches Fundament
zu verfügen.“59
heißt es etwa in einem offenen Brief des Netzwerks Plurale Öko-
nomik, den vierundsechzig Professoren aus Deutschland erstunter-
zeichnet haben.
Hier wird deutlich: Ökonomische Bildung soll dem Mainstream
nach nicht dafür zuständig sein, letzteres Fundament überhaupt
erst zu schaffen. Sie will sich gar nicht erst als Ort verstehen, in dem
sich unterschiedliche Perspektiven auf die Wirtschaft einnehmen
lassen.
Demgegenüber stellt die Befähigung zur Multiperspektivität in
der gegenwärtigen Debatte um Reformen der ökonomischen Bil-
dung ebenso wie bei Feyerabend eine Kernforderung dar.
„Wir fordern ein kritisches Miteinander unterschiedlicher Theorien. Die
Volkswirtschaftslehre ist eine Sozialwissenschaft und muss – wie andere So-
zialwissenschaften auch – vielfältige theoretische Ansätze beherbergen“,
60
„Die Freiheit des Denkens hängt auch davon ab, dass man zwischen un-
terschiedlichen Denkweisen wählen kann. Werden einem aber die Alter-
nativen vorenthalten, weiß man nicht einmal, dass man frei wählen könn-
te, wenn man die unterschiedlichen Denkkonzepte kennen würde.“
61
Hier wird deutlich, dass die Domänenspezifik der ökonomischen
Bildung gerade nicht über eine einzige ökonomische Erkenntnis-
perspektive bestimmt werden muss, wie es die moderne ökonomi-
sche Lehrbuchwissenschaft seit Jahrzehnten festzuschreiben sucht.
59 Siegfried et al. im Auftrag des CEE: Voluntary National Content Standards
in Economics, vi.
60 Vgl. http://www.plurale-oekonomik.de (letzter Zugriff am 21.11.2012).
61 Hedtke: Ökonomische Denkweisen, 6.
Silja Graupe
158
Doch welche Art der Wahlfreiheit kann oder soll an ihre Stelle tre-
ten? Meines Erachtens ist an dieser Stelle entscheidend, den Begriff
der ‚Wahl‘ nicht vorschnell im Sinne der ökonomischen Standard-
definition aufzufassen. Diese lautet, dass jedes Individuum stets
auf der Grundlage gegebener Präferenzen zwischen ebenfalls ge-
gebenen Dingen (d.h. in einem feststehenden Güterraum) zu ent-
scheiden hat. Eine solche Handlung vermag weder das Individuum
noch die Welt, die es umgibt, zu verändern. Damit wird dem Men-
schen die Freiheit abgesprochen, die inneren und äußeren Regeln
selbst zu bestimmen, nach denen er seine Wahl trifft. Auf diese
Weise aber verfehlt die Ökonomie von vornherein den Kern wirkli-
cher Denkfreiheit. Besteht letztere doch nicht darin, sich allein zwi-
schen gleichsam verschiedenen, bereits vorgeschliffenen geistigen
Brillen zu entscheiden. Frei im Denken zu sein, meint eher, den
geistigen Wahrnehmungsraum zwischen Selbst und Welt derart ak-
tiv zu gestalten, dass beide Seiten sich wechselseitig zu ändern be-
ginnen: Die Transformation der eigenen Wahrnehmung mitsamt
den dazugehörigen Haltungen und Einstellungen ermöglicht es,
Wirklichkeitsvollzüge neu zu entdecken, zu gestalten und zu ver-
ändern.62
Multiperspektivität meint also nicht, Schülern und Studenten die
geistige Brille der ökonomischen Lehrbuchwissenschaft einfach ab-
zunehmen, um sie durch eine andere zu ersetzen. Eher sieht sich
Bildung vor die Aufgabe gestellt, Menschen zu befähigen, ihre ei-
gene geistige Brille bewusst und kontinuierlich zu schleifen, sich
also „in möglicher, Sorgfalt waltend lassender und demütiger Be-
ziehung zu Mitmensch, Mitwelt und Mitgeist“ selbst zu bilden.
In diesem freien Prozess des Denkens existieren weder
wir selbst noch die Welt als bloß vorgegebene Größen. Vielmehr
gestalten wir die Welt, indem wir uns selbst schöpferisch bilden.
63
62 Vgl. Elberfeld: Phänomenologie des Lebens als Selbst-Transformation.
63 Bildung. Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen, 11.
Damit ist zugleich gesagt, dass Bildung auch zur Freiheit ermun-
tern sollte, sich motivationale, volitionale und soziale Einstellungen
nicht einfach hinterrücks aufdrücken zu lassen, sondern zu lernen,
diese Einstellungen entweder bewusst anzunehmen oder aber zu-
Ökonomische Bildung
159
rückzuweisen. Damit wird an dieser Stelle der Sinn der am Anfang
dieses Beitrages aufgestellten These deutlich. Meint (ökonomische)
Bildung hier doch tatsächlich eine Gestaltungsfähigkeit künstlerischer
Art. Ihre Aufgabe ist es, sich als Werkstatt des Denkens (Richard
Sennett) zu konstituieren, in der sich Selbst und Welt immer wie-
der neu realisieren und hervorbringen können.
Wie aber muss eine solche Werkstatt im Vergleich zur gegenwär-
tigen ökonomischen Bildung beschaffen sein? Mir geht es hier nicht
um vorschnelle Antworten. Eher ist mir gegen Ende dieses Beitrags
in einer gewissen Grundlegungsabsicht daran gelegen, den Cha-
rakter der ökonomischen Bildung als eines geistigen (Frei)Raumes
zu betonen. Wenn die moderne Wirtschaftswissenschaft davon
spricht, nur eine einzige Sicht auf die Welt vermitteln zu wollen, so
gesteht sie wenigstens implizit zu, dass jedes wirtschaftswissen-
schaftliche Denken stets perspektivisch erfolgt. Perspektivität aber
setzt ihrerseits das Vorhandensein eines Raumes voraus. Im Alltag
ist uns diese Voraussetzung unmittelbar einsichtig: Bewegen wir
uns etwa in einer Landschaft, so stellt sich die Welt um uns herum
von einer Bergspitze aus anders dar, als dies von einer Position tief
im Tal der Fall ist. Phänomene, die von der einen Position mühelos
wahrgenommen werden können, bleiben von der anderen aus ge-
sehen systematisch verdeckt. Jede Position im Raum kann also nur
eine eingeschränkte Über- oder Einsicht vermitteln. Folglich setzt
ein wirklich umfassendes Wissen zumindest ein zweifaches Kön-
nen voraus. Erstens müssen wir fähig sein, von jedem Standpunkt
aus die Perspektiven, welche sich von anderen Positionen aus bie-
ten, nicht nur anzuerkennen, sondern auch gedanklich in ein Ver-
hältnis zu unserer eigenen zu setzen. Zweitens müssen wir lernen,
uns selbst tatsächlich in der Landschaft zu bewegen, also immer
wieder aktiv den Ort zu wechseln, um so die anderen Perspektiven
selbst einzunehmen und zu überprüfen, zumindest probehalber.
Übertragen wir diese Einsichten auf den geistigen Raum, so wird
zunächst deutlich, dass selbst eine dezidiert monoperspektivische
Wissenschaft, wie sie die moderne Ökonomik derzeit darstellt, in
einem Raum des Denkens verortet ist. Doch die selbstgewählte Bil-
dungsaufgabe dieser Wissenschaft besteht nicht darin, junge Men-
Silja Graupe
160
schen zu lehren, diesen Standpunkt bewusst in ein Verhältnis zu
anderen Meinungen zu setzen. Auch versuchen die ökonomischen
Lehrbücher nicht, die Wege des Denkens aufzuzeigen, welche die
Schüler und Studenten zu dem Standpunkt der neoklassischen
Theorie führen. Stattdessen setzen sie mit einer bewussten Schu-
lung des Geistes erst ein, wenn letzterer Standpunkt weitab von
jeglicher konkreten Erfahrung und fernab der Realität lange schon
erreicht ist. Sie schreiben also allem Denken nicht nur zwingend die
gleiche Richtung vor, sondern sorgen auch dafür, dass alle Lernen-
den diese Richtung blindlings einschlagen. In der Konsequenz weiß
kaum ein Schüler oder Student, warum er die ökonomischen Pers-
pektive einnimmt, geschweige denn, wie sich diese wieder aufge-
ben lässt. „Man kann den Berg nicht sehen, wenn man auf seinem
Gipfel steht“, lautet ein chinesisches Sprichwort. Im übertragenen
Sinne geht es dem ökonomischen Denken genauso. Setzt dieses
doch erst bewusst ein, nachdem alle unausgesprochenen Voraus-
setzungen der Lehrbuchwissenschaft stillschweigend akzeptiert
sind und man im Extremfall noch nicht einmal mehr um die bloße
Existenz der eigenen Denkvoraussetzungen weiß. Damit schmilzt
die Wahrnehmung des Denk-Raumes gleichsam auf einen einzigen
Punkt zusammen. Weder wird seine Tiefe im Sinne des eigenen
Voraussetzungsbodens wahrgenommen, noch dessen Ausdehnung
im Sinne anderer Standpunkte. Das Denken weiß also ebenso we-
nig um die ursprüngliche Weite des geistigen Raumes, in dem es
sich aufhält, wie um die Pfade, Wege und Straßen des Denkens, auf
denen sich alternative Standpunkte gewinnen lassen.
In dieser Situation, so scheint es mir, reicht die Forderung kaum
aus, die Wirtschaft lediglich aus verschiedenen Perspektiven zu be-
schreiben. Vielmehr sollte die ökonomische Bildung (wieder) leh-
ren, wie wir uns diese Perspektiven im Denken tätig und bewusst
erarbeiten können. Hierfür aber muss sie den Raum ökonomischen
Denkens selbst zu ihrem Inhalt zu erheben. Anstatt sich auf einen
einzigen Standpunkt oder aber auf mehrere, scheinbar unverbun-
dene solcher Punkte zu konzentrieren, sollte der Bildungsprozess
zur perspektivischen Geschmeidigkeit, zum bewussten und tätigen
Vollzug des Denkens selbst befähigen. Dies meint nicht, einfach nur
Ökonomische Bildung
161
staunend zur Kenntnis zu nehmen, dass sich die Welt aus für die
neoklassische Theorie ungewohnten Perspektiven auf andere Wei-
se darstellt. Es geht vielmehr um eine echte Aufklärung der meist
unbewussten Denkgewohnheiten dieser Theorie, also darum, ihren
eigenen Voraussetzungsboden schrittweise zu erkunden – auch
und vor allem auf „Umwegen des Denkens“ über andere Diszipli-
nen und Theorieströmungen.64
„Die Ideen der Nationalökonomen und politischen Philosophen, gleich ob
sie nun wahr oder falsch sein mögen, sind von weit größerem Einfluss,
als man gemeinhin annimmt. In Wirklichkeit wird die Welt von nichts
anderem regiert. Praktiker, die sich frei jeglichen intellektuellen Einflus-
ses wähnen, sind gewöhnlich die Sklaven eines verstorbenen National-
ökonomen. Verrückte Politiker, die Stimmen in der Luft hören, beziehen
ihren Wahnsinn meist von irgendeinem akademischen Tintenkleckser
früherer Jahre.“
Dabei sind die impliziten Regeln
des Denkens, wie sie die ökonomische Standardlehre bislang ledig-
lich vorschreibt, nicht einfach durch andere, ebenso implizite Re-
geln zu ersetzen, sondern Schüler und Studenten dazu zu ermun-
tern, jegliche Denkvorschriften aktiv nachzuvollziehen und darüber
hinaus zu lernen, andere Denkrichtungen bewusst einzuschlagen.
Es geht, mit anderen Worten, darum, eine fragende Haltung zu ent-
wickeln, welche sich auch und gerade auf den Voraussetzungsboden
des eigenen Denkens erstreckt und damit in dessen Tiefe immer wie-
der neu einen Möglichkeitsraum nicht nur für alternative Antworten,
sondern gerade auch für immer neue Fragen öffnet.
Um diese Aufgabe meistern zu können, wird sich die ökonomi-
sche Bildung meines Erachtens in einem ersten Schritt (wieder) ei-
ner bewusst gepflegten Geistesgeschichte zuwenden müssen. John
Maynard Keynes schrieb einst:
65
Das Problem ist hier nicht die Tatsache, dass wir in unserem Den-
ken meist anderen Menschen folgen. Eher liegt es darin begründet,
dass die ökonomische Lehrbuchwissenschaft genau diese Tatsache
vollständig verschweigt. Sie erzählt nicht von den vielen Pfaden
64 Den Begriff „Umwege des Denkens“ übernehme ich von Francois Jullien.
Vgl. ders.: Der Umweg über China.
65 Keynes: The General Theory of Employment, Interest, and Money, 36.
Silja Graupe
162
und Wegen, entlang welcher die Ökonomen und Philosophen den
Raum des ökonomischen Denkens in der Vergangenheit schritt-
weise erkundeten, ja in gewisser Weise überhaupt erst aufspann-
ten. Sie verschweigt, wie im 19. Jahrhundert die neoklassische
Denkweise zunächst als sehr kleiner Pfad angelegt und erst im 20.
Jahrhundert dann zu jenem Strom ausgebaut wurde, der heutzuta-
ge alles ökonomische Denken mitzureißen droht. Sie weigert sich,
davon zu berichten, welche wichtigen alternativen Wege des Den-
kens zu diesem Strom einst aktiv erkundet und beschritten wur-
den. Ja, sie klärt noch nicht einmal über jene Denkverbote auf, wel-
che Ökonomen in der Vergangenheit vor diesen Alternativen er-
richteten, um sie als wissenschaftlich irrelevant und damit als un-
gangbar zu deklassieren. Kurz: Die moderne Wirtschaftswissen-
schaft verschleiert, wie es für andere reine Lehrbuchwissenschaft
ebenfalls der Fall ist66, ihre eigene Herkunft und bewegte Geschich-
te vollständig. So findet sich etwa in den ersten Ausgaben von Sa-
muelsons Economics gerade einmal eine einzige Seite zur Geschich-
te der Wirtschaftswissenschaften. Diese ist als bloße „Ahnengale-
rie“ formuliert, die John Maynard Keynes und Adam Smith kurz
lobend erwähnt, Karl Marx als „schwarzes Schaf“ bezeichnet sowie
David Ricardo und John Stuart Mill allein dem Namen nach
nennt.67 In den neueren Ausgaben der Economics fehlt selbst diese
rudimentäre Darstellung. Stattdessen finden sich nur noch wenige
verstreute Hinweise auf „wichtige Figuren der Wirtschaftswissen-
schaft“.68 Ist es dem Studierenden auf diese Weise bereits nahezu
unmöglich, die Lehrposition sauber in der ursprünglichen Vielfalt
ökonomischer Meinungen und Perspektiven zu verorten, so ver-
zichten andere Lehrbücher selbst auf diesen sporadischen Bezug zur
Geistes- und Ideengeschichte. Mankiw etwa erwähnt diese Geschich-
te mit keinem Wort, ebenso wenig wie Hal R. Varian es tut.69
66 Vgl. Kuhn: The Structure of Scientific Revolutions, 137ff.
67 Samuelson: Volkswirtschaftslehre, 12-13.
68 Samuelson / Nordhaus: Economics, xx.
69 Vgl. Mankiw: Principles of Economics 2001 sowie Varian: Grundzüge der
Mikroökonomik.
Ökonomische Bildung
163
Auf diese Weise macht die ökonomische Lehrbuchwissenschaft
auf zweifache Weise unfrei. Sie verwehrt erstens die Einsicht, dass
wir uns selbst zwischen verschiedenen Standpunkten entscheiden
können, von denen aus sich wirtschaftliche Realitäten auf je unter-
schiedliche Weise erfassen lassen. Zweitens verschweigt sie, wie
wir im Denken überhaupt zu diesen Standpunkten gelangen kön-
nen, weil sie alle in der Vergangenheit bereits angelegten Denkal-
ternativen verbirgt. Eine bewusst gepflegte Geistesgeschichte hin-
gegen meint, auf jene Kreuzungspunkte des Denkens zu verwei-
sen, an denen Ökonomen einst um die richtige, legitime oder auch
nur angemessene Art und Weise ökonomischen Denkens gerungen
haben. Dabei geht es gerade nicht darum, diese Plätze als in Ver-
gangenheit bestimmt und entschieden zu betrachten, sondern zu
lehren, wie sich diese bewusst und immer wieder neu aufsuchen
lassen, um in der Gegenwart die Regeln des eigenen ökonomischen
Denkens schöpferisch zu bestimmen. Zur Aufgabe von Bildung wird
damit, um es zum Abschluss erneut mit einer These zur Bildung zu
formulieren, „die je individuelle existentielle Frage im sich biogra-
phisch ändernden Spannungsfeld von produktiver Traditionsan-
eignung und kreativer Innovation angemessen zu formulieren.“70
70 Bildung. Thesen zu den 3. Kueser Gesprächen, 11.
Silja Graupe
164
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