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COINCIDENTIA
Beiheft 5
Bildung gestalten
Akademische Aufgaben der Gegenwart
herausgegeben von Silja Graupe und Harald Schwaetzer
zur Eröffnung der Cusanus Hochschule
Kueser Akademie
Bernkastel-Kues 2015
INHALTSVERZEICHNIS
Seite
Vorwort ................................................................................................. 7
Silja Graupe / Harald Schwaetzer
Bildung gestalten. Akademische Aufgaben der Gegenwart ......... 9
Silja Graupe / Harald Schwaetzer
„Bildung“ – was ist das? ................................................................... 15
Martin Thomé
„Bildung“ – Bemerkungen zu Geschichte
und Aufgabe einer Idee .................................................................... 27
Tilman Borsche
Besonnene Freiheit ............................................................................. 39
Harald Schwaetzer
Kreativität und Bildung .................................................................... 53
Karl-Heinz Brodbeck
Die Erwägung des Entschlusses.
Fragendes Denken – Fragendes Handeln ....................................... 75
Harald Schwaetzer
Zersetzung von Bildung: Ökonomismus als Entwurzelung
und Steuerung. Ein Essay ............................................................... 101
Jochen Krautz
Mathematik und Bildung –
Randnotizen zu einem klassischen Thema .................................. 139
Gregor Nickel
Mensch und Natur in der Antike .................................................. 163
Wolfgang Christian Schneider
Nachhaltigkeit, Bildung und Philosophie:
eine obligatorische Trias im cusanischen Geist ........................... 183
Jürgen H. Franz
Verantwortungsbewusstes Unternehmertum
und die Aufgaben der Bildung
Das Beispiel der Cusanus Hochschule ........................................... 205
Silja Graupe
Freie Bildung und ihre Ermöglichung –
Das Beispiel der Cusanus Hochschule .......................................... 225
Silja Graupe
BILDUNG FÜR
VERANTWORTUNGSBEWUSSTES UNTERNEHMERTUM
Das Beispiel der Cusanus Hochschule
Silja Graupe
Einführung
Trotz aller Härte des ökonomischen, politischen und gesellschaftli-
chen Wettbewerbs realisieren viele Unternehmer auch heute noch
selbstverständlich eine sozial und ökologisch orientierte Unterneh-
mens- und Mitarbeiterführung auf einer soliden wirtschaftlichen Ba-
sis. Für sie liegt es auf der Hand, Unternehmenskulturen zu gestal-
ten, die etwa auf Kooperation, Fairness und Verantwortung beruhen
– sei es in Familienunternehmen, kleinen und mittleren Unternehmen
oder in Großunternehmen. Dabei integrieren sie Vertrauen, Kreativi-
tät, Qualitätsbewusstsein und Eigenverantwortung in die Gestaltung
produktiver Prozesse. Zudem engagieren sie sich im Rahmen der
Gewinnverwendung für Projekte in der Zivilgesellschaft.
Der Soziologe und Historiker Richard Sennett lenkt den Blick auf
ein tieferes Motiv, das einem solchen Engagement oftmals zugrun-
de liegt. Er bezeichnet dieses als „handwerklich“ in einem weiten
Sinn. Gemeint ist damit die Kunst, etwas um seiner selbst willen
gut zu tun.
„Der Schreiner, die Laborantin, der Dirigent – sie alle sind ‚Handwerker‘,
weil sie ihrer Arbeit mit Hingabe nachgehen und sie um ihrer selbst wil-
len gut machen wollen. Sie üben eine praktische Tätigkeit aus, doch ihre
Arbeit ist nicht nur Mittel zu einem anderen Zweck. […] Es ist sicherlich
möglich, ohne Hingabe durchs Leben zu kommen. Der Handwerker steht
für die besondere menschliche Möglichkeit engagierten Tuns.“1
Ich bin sicher, dass für viele Unternehmer ein solches engagiertes
Tun von grundlegender Bedeutung ist – gleichgültig, ob es sich da-
1 Sennett: Handwerk, 31, Hervorhebung im Original.
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bei um die Herstellung von konkreten Dingen wie Blechbauteilen,
Drucktüchern, Faltenbälgen, Stiften und Waschmittel oder um die
Gestaltung sozialer Prozesse etwa im Handel oder der betrieblichen
Altersvorsorge geht. Auch kann es sich um eine gemeinnützige Tä-
tigkeit handeln. In unserer Gesellschaft gerät das engagierte Tun
aber zunehmend in Gefahr. Nicht nur wächst die Einsamkeit derer,
die sich inmitten der Konkurrenzgesellschaft für Fairness, Vertrau-
en und eine ethische Ausgestaltung betrieblicher Prozesse einset-
zen. Jene scheinen auf verlorenem Posten zu stehen, die qualitäts-
volle Arbeit nicht rein monetären Zielen opfern wollen. Die hand-
werklichen Praktiken (in dem oben genannten Sinne), so formuliert
es der französische Philosoph Michel de Certeau, sind stumm ge-
worden; sie verfügen in Zeiten einer zunehmenden Ökonomisie-
rung, die stets mit einer Standardisierung und einer auf reine Quan-
titäten fokussierten Rationalität einhergeht, über keine eigene Spra-
che und entschwinden deswegen dem gesellschaftlichen Bewusst-
sein.2 Teilweise wird bereits behauptet, der sozial und ökologisch
engagierte Unternehmer sei eine ‚aussterbende Spezies‘. Viele Un-
ternehmer spüren dies, wenn sie sich auf die Suche nach geeigneten
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen begeben. Spätestens wenn sie an
ihre eigene Nachfolge denken, stellen sich Fragen wie: Wer wird in
Zukunft ein starkes Traditionsbewusstsein mit einer ebenso starken
Offenheit für Innovationen, eine lokale Verwurzelung mit globaler
Geschäftstätigkeit, eine ethische Überzeugung mit ökonomischem
Gelingen verbinden können? Wer wird Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeiter in diesem Sinne führen und ihnen Vorbild sein können?
Wer wird Wirtschaft und Gesellschaft so gestalten können, dass sie
einem engagierten Unternehmertum einen guten Boden bereiten?
Wer wird dem engagierten Unternehmertum eine Stimme in Politik
und Gesellschaft verleihen?
2 Vgl. Certeau: Kunst des Handelns, 141ff.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 207
Bildung als Chance
Für mich liegt in der Bildung eine wesentliche Quelle, um diese
Fragen produktiv zu bearbeiten. Damit meine ich auch und gerade
die höhere Bildung, also das Studium an Hochschulen und Univer-
sitäten. Gewiss benötigten viele engagierte Unternehmer bislang
keinen Hochschulabschluss. Ihnen konnten die unternehmerische
Praxis und die betriebliche Ausbildung als entscheidende Bil-
dungsorte dienen. Doch in Zeiten, in denen das vormals Selbstver-
ständliche engagierten Unternehmertums verlorenzugehen droht,
bedarf die Praxis mehr und mehr einer bewussten Reflexion und
sprachlichen Ausdrucksfähigkeit. Was vormals im praktischen All-
tag stillschweigend vermittelt und von einer Generation auf die
nächste übertragen wurde, ist heutzutage erklärungsbedürftig ge-
worden. Engagierte Unternehmer müssen folglich vermehrt be-
gründen und argumentieren, auf was es ihnen tatsächlich an-
kommt. Auch geht es für sie darum, in einem zunehmend komple-
xen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umfeld Freiräume
wahrzunehmen und zu gestalten, in denen sich ihre Visionen von
guter Arbeit realisieren lassen. Dazu braucht es Bildungsformen,
die das unternehmerische Know-how um persönliche Fähigkeiten
wie die explizite Kommunikation und Vermittlung von traditionel-
lem Wissen sowie ethischen Überzeugungen, Werten und Haltun-
gen bereichern. Gerade die Wirtschaftswissenschaften, eingebettet
in das weitere Feld der Geistes- und Sozialwissenschaften, sind ge-
fordert, solche Formen zu entwickeln und auszugestalten.
Etwas um seiner selbst willen gut zu tun, bedeutet, die eigene Tä-
tigkeit zugleich „intensiv zu empfinden und tief zu durchdenken.“3
Hierzu bedarf es eines beständigen Wechselspiels „zwischen still-
schweigendem Wissen und bewusster Überlegung, wobei das still-
schweigende Wissen als Anker fundiert, während das bewusste
Überlegen der Kritik und Korrektur dient.“4 Nur in diesem Wech-
selspiel können schöpferische Routinen entstehen, in denen Gewohn-
3 Sennett: Handwerk, 33.
4 Ebd., 73.
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heiten und Innovation, Denken und Handeln, Theorie und Praxis in
einem beständigen, sich vertiefenden und ergänzenden Austausch
stehen.5 Meines Erachtens bedarf es heutzutage einer besonderen
Förderung der Verstandesseite, damit unser Denken der engagier-
ten Praxis tatsächlich ein gleichberechtigter Partner wird. Wichtig
ist dabei zu lernen, das vormals Selbstverständliche engagierten
Tuns – spezifische Formen von Kooperation, Kreativität und Inno-
vation, Vertrauen und Transparenz etwa – soweit zu reflektieren
und zu artikulieren, dass Menschen es bewusst wertschätzen und
weiterentwickeln können. Kurz gesagt sehe ich es als Aufgabe und
zugleich als Chance der Bildung an, ein Denk- und Empfindungs-
vermögen zu schulen, das gemeinsam mit einer engagierten Praxis
schöpferische Routinen ermöglicht; Gestaltungsprozesse also, die
nicht komplett mit Erfahrungen und sozialen Gewohnheiten bre-
chen, sondern helfen, diese bewusst, respektvoll und kontinuierlich
weiterzuentwickeln – sei es im Dialog mit Mitarbeitern innerhalb
des Unternehmens oder im partnerschaftlichen Verhältnis mit Zu-
lieferern und Kunden. Bildung sollte dazu beitragen, das engagierte
Unternehmertum hin zu einem verantwortungsbewussten Unter-
nehmertum zu entwickeln, dessen Wahrnehmungs- und Gestal-
tungshorizonte nicht zuletzt auch jene wirtschaftlichen und politi-
schen Rahmenbedingungen einbeziehen, die es selbst befördern o-
der behindern.
Zu der hier gemeinten Bildung gehört meines Erachtens auch,
den Dialog zwischen dem engagierten Unternehmertum und der
heute vorherrschenden ökonomischen Theorie und Praxis zu su-
chen. Ich selbst wurde, bevor ich in die Volkswirtschaftslehre wech-
selte und mich dann weiter in Richtung Philosophie entwickelte, an
der TU Berlin zur Wirtschaftsingenieurin für Technische Chemie
ausgebildet. Einst wurde das Wirtschaftsingenieurwesen an den
deutschen Universitäten etabliert, um die zunehmende Kluft zwi-
schen technischem Wissen und Können auf der einen Seite und be-
triebswirtschaftlichen Vorgaben auf der anderen zu überwinden.
5 Ich übernehme diesen Begriff von Ikujiro Nonaka. Vgl. ders. u.a.: Managing
Flow, 43f.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 209
Man wollte (und will immer noch) Menschen befähigen, zwischen
den verschiedenen Visionen und Ansprüchen beider Seiten zu ver-
mitteln und einen Raum des gemeinsamen Austauschs und Aus-
gleichs zu schaffen. Heute scheint mir, dass solche ‚Brückenbauer‘
auch und gerade andernorts gebraucht werden: Mehr denn je wer-
den in der Gesellschaft Persönlichkeiten benötigt, die das qualitäts-
volle Tun, wie es sich aus der Kraft zwischenmenschlicher Begeg-
nung sowie der konkreten Begegnung von Mensch und Natur
speist, gleichberechtigt gegenüber einer wirtschaftlichen Theorie
und Praxis behaupten können, die vorwiegend auf Anonymität,
Standardisierung und rein quantitative Wertmaßstäbe setzen. Bil-
dung sollte Menschen helfen, sich zu solchen Brückenbauern entwi-
ckeln zu können.
Die Probleme herkömmlicher Hochschulbildung
Leider wird die herkömmliche Bildung dieser Aufgabe immer we-
niger gerecht. Auch wenn ich hier eine komplexe Thematik stark
verkürzen mag, liegt dies meines Erachtens an jenem tiefen Spalt
zwischen Wissenschaft und Praxis, der insbesondere die Wirt-
schaftswissenschaften prägt. Ökonomische Theorie vermittelt heute
vorwiegend abstrakte Konzepte, die nicht der Erfahrung entsprin-
gen, sondern einem quantitativen Denken der Welt der reinen Ma-
thematik. Studierende lernen zunehmend, sich allein in konstruier-
ten Modellen und Fallstudien zu bewegen, die mit den komplexen
qualitativen Aspekten menschlicher Kooperation und dem konkre-
ten Herstellen von Dingen und der Bereitstellung von Diensten we-
nig zu tun haben. Die Folge ist, dass das erworbene Wissen für en-
gagierte Unternehmer oft nutzlos erscheint. Absolventen können
zwar über Praktiker urteilen, nicht aber mit ihnen sprechen. Dies gilt
insbesondere, weil ökonomische Modellwelten oft ein Denken in
Konkurrenz, Eigennutz und Effizienzsteigerung voraussetzen und
so die zentralen qualitativen Fragen des engagierten Unternehmer-
tums zu ‚blinden Flecken‘ verkommen lassen, die allenfalls am
Rande aufscheinen. Zudem besteht die Gefahr, dass Absolventen
ihr theoretisches Wissen trotz dessen Weltfremdheit einfach auf den
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unternehmerischen Alltag anwenden und ihn damit stillschwei-
gend verändern: Langjährig eingeübte kooperative Praktiken oder
dialogische Entscheidungsstrukturen können durch die Durchset-
zung rein quantitativ orientierter Maßstäbe etwa im Bereich des
Controlling nicht nur verändert, sondern auch zerstört werden. Es
gilt einmal mehr, was Georg Wilhelm Friedrich Hegel allgemein
formuliert hat: „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen,
heißt Wirklichkeit zerstören.“6 Insgesamt droht akademische Bil-
dung so dazu beizutragen, das engagierte Unternehmertum in eine
„zweifach schweigende Welt“7 zu verwandeln: Erstens bietet sie
diesen Unternehmern keinen verbalen Diskurs und verschafft ihnen
keine sprachliche Ausdruckskraft. Zweitens sorgt die Übertragung
des in der Bildung erworbenen theoretischen Wissens in die kon-
krete wirtschaftliche Praxis dafür, dass den alltäglichen Praktiken
des engagierten Unternehmertums der Nährboden entzogen wird:
Es fehlen diesen Praktiken die notwendigen konkreten Mittel und
Produkte, weil die an Universitäten ausgebildeten Manager sie
nicht zu erkennen und zu pflegen vermögen.
Ein neuer Bildungsort. Das Beispiel der Cusanus Hochschule
Vor diesem Hintergrund komme ich zu dem Ergebnis, dass das en-
gagierte Unternehmertum neuer Bildungsformen bedarf. Mit dieser
Ansicht stehe ich keineswegs alleine dar. Insgesamt ist in der deut-
schen Bildungslandschaft und speziell in den Wirtschaftswissen-
schaften nicht zuletzt aufgrund der vielen negativen Erfahrungen
im Zusammenhang mit den gegenwärtigen Wirtschafts-, Wäh-
rungs- und Finanzkrisen vieles in Bewegung. In diesem Artikel
kann ich den Wandel, der sich vielerorts andeutet, nicht in seiner
Gänze beleuchten. Es geht mir eher darum, exemplarisch aufzeigen,
wie eine Gemeinschaft von Akademikern und Praktikern versucht,
einen Beitrag dazu zu leisten, indem sie gemeinsam eine gesamte
neue Hochschule gründen und aufbauen: die Cusanus Hochschule.
6 Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, 553.
7 Certeau: Kunst des Handelns, 144.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 211
Die Cusanus Hochschule ist eine staatlich anerkannte Hochschule
in freier Trägerschaft, in der nicht nur innovativ über ein verantwor-
tungsbewusstes Unternehmertum gelehrt und geforscht werden
soll, sondern die zudem selbst praktisches Beispiel für einen reflek-
tierten Unternehmergeist in der Bildungslandschaft geben möchte.
Das Anliegen ihrer Initiatoren ist, Bildung sowohl dem Inhalt als
auch der Form nach zu erneuern, um zu einem neuen „Reflexions-
ort“ (Uwe Schneidewind) in der Gesellschaft zu werden. Einige
Punkte sollen dies im Folgenden veranschaulichen.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum
Zentrales Anliegen der Cusanus Hochschule ist, Bildung um ihrer
selbst willen gut zu gestalten. Als ein Ausgangspunkt kann dabei
der folgende Satz des Nikolaus von Kues (latinisiert Nicolaus
Cusanus; 1401-1464) gelten: „Der freie Geist bewegt sich selbst.“
Dieser Satz, der das Motto der Cusanus Hochschule darstellt, macht
deutlich, dass Menschen nicht durch einen anderen bewegt werden
können. Innerhalb einer sozialen Gemeinschaft kann sich jeder in
moralischer und intellektueller Freiheit nur selbst bilden. Wilhelm
von Humboldt formuliert es so:
„Das höchste Ideal des Zusammenexistierens menschlicher Wesen wäre
mir dasjenige, in dem jedes nur aus sich selbst und um seiner selbst wil-
len sich entwickelte.“8
Im Umkehrschluss heißt dies, dass kein Mensch einen anderen
Menschen formen, ihm ein bestimmtes Wissen oder vorgegebene
Fertigkeiten einpflanzen darf. Dies erstickte jegliches wirkliche Bil-
dungsanliegen im Keim.
„Jeder Versuch, einen anderen Menschen unmittelbar (d.h. nicht im aus-
schließlichen Bezug auf sein Bewusstsein) zu ändern, ist Manipulation.“9
Persönlichkeitsbildung. Tatsächlich herrscht heute eine andere Vorstel-
lung von Bildung vor. So heißt es bei der OECD, welche die soge-
nannten PISA- und Bologna-Reformen maßgeblich mitverantwortet:
8 Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats
zu bestimmen, 67.
9 Schwaetzer: Widerständige Bildung, 202f.
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„Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den
Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Men-
schen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen.
Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahl-
werken und Kunstdüngerfabriken.“10
Bildung soll Menschen demnach nicht zur Selbstbildung in konkre-
ter Wirklichkeit anleiten, sondern ihnen einen vorgegebenen Stem-
pel aufdrücken. Nichts könnte schädlicher für eine Bildung für ver-
antwortungsbewusstes Unternehmertum sein. Glaubt man wirk-
lich, engagierte und verantwortliche Menschen einer Massenware
gleich produzieren und sie mit Fähigkeiten wie etwa Eigenverant-
wortung, wertorientiertem Handeln oder Kreativität versehen zu
können, wie die industrielle Produktion Gummibärchen mit Ge-
schmacksverstärkern ausstattet? Das Bildungsverständnis, dem sich
die Cusanus Hochschule verpflichtet fühlt, setzt diesem Konzept
eine andere, begründete Überzeugung entgegen: Als Hochschulleh-
rerin kann und soll ich andere Menschen zur Selbstbildung befähi-
gen und ermutigen. Dazu gehört die Fähigkeit, Freiräume zu öff-
nen, in denen sich junge Menschen selbst zu ihrer je eigenen Per-
sönlichkeit entwickeln dürfen und auch können.
Diese Freiräume sind nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Das
handwerkliche Können, etwas um seiner selbst willen gut zu ma-
chen, geht stets mit einer „Verankerung in der greifbaren Realität“11
einher. Studierenden Freiräume zu öffnen kann folglich weder mei-
nen, ein ‚Wissen ohne Können‘ noch ein ‚Können ohne Wissen‘ zu
vermitteln. Es bedeutet, zu lehren, beide Seiten – Können und Wis-
sen – in der konkreten Gestaltung von Selbst und Welt verantwort-
lich zu verbinden.12 Im Japanischen findet diese Verbindung im Be-
griff kata Ausdruck. Dieser meint
10 Wirtschaftswachstum und Bildungsaufwand, 40. Dass diese Ansicht in der
OECD keineswegs veraltet ist, sondern gegenwärtigen Reformprogrammen
immer noch zugrunde liegt, zeigt sehr fundiert Jochen Krautz auf. Vgl. ders.:
Ware Bildung.
11 Sennett: Handwerk, 33.
12 Ausführlicher habe ich mich mit diesem Thema beschäftigt in: Graupe:
Bildungskunst und Ökonomie.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 213
„den Prozess, Denken und Handlungsweisen in konkreter Tätigkeit ge-
konnt zu vereinigen; eine Metawahrnehmung geistiger Reflexion im
Handeln. […] In der Praxis stellt kata einen Lern- und Wachstumsprozess
dar, der sich über die drei Stadien shu (von anderen lernen, nachahmen
imitieren), ha (durchbrechen, aufbrechen), und ri (erschaffen, gestalten,
neu hervorbringen) entfaltet.“13
Hier wird deutlich, dass wirklich freies Lernen beinhaltet, sich zu-
nächst ein bestimmtes tradiertes Wissen und Können anzueignen,
um es erst dann situationsgerecht zu verändern. Es stellt sich – auch
und gerade im Hinblick auf die damit verbundenen ethischen Fra-
gen – erst „auf dem Niveau meisterlicher Beherrschung“ ein.14 Eine
ähnliche Einsicht in das Verhältnis von Können und Wissen hat Ni-
kolaus von Kues mit seiner Gestalt des „Idiota“ geschaffen. Vorder-
gründig handelt es sich um einen unwissenden, ungelehrten Men-
schen, bei näherem Zusehen entpuppt sich dieser aber als ein meis-
terlicher Handwerker, der eben, indem er eine einfache Sache um
ihrer selbst willen gut macht – im Falle des Cusanus: Löffel schnit-
zen – materielle Schaffenskraft und gedankliche Entwicklung, pro-
duktive Tätigkeit und höchste Einsichten in Voraussetzungen und
Sinn von Wirklichkeit in Einklang bringt.15 Vor diesem Hintergrund
wird deutlich, dass Freiräume in der akademischen Bildung zu
schaffen, meint, Studierende mithilfe theoretischer Reflexion zur
vertieften und verantwortungsvollen Teilhabe an jenen gesellschaft-
lichen Kontexten zu befähigen, die sie selbst angehen und in denen
sie unmittelbar tätig sind. Theoretisches Wissen soll sie gerade nicht
von ihren eigenen beruflichen oder privaten Aufgaben und Anlie-
gen distanzieren, sondern ihnen erlauben, umfassender und aus-
drücklicher für sie einzustehen. Dies bedeutet unter anderem, an
Hochschulen Begegnungsorte von Wissenschaft und Praxis etwa im
Rahmen eines Projekt-Studiums zu schaffen, in dem sich Studie-
rende einzeln oder in Gruppen ein Wissensfundament für die
schöpferische Bearbeitung praxisrelevanter Themenstellung im
13 Ikujiro Nonaka u.a.: Managing Flow, 43-44.
14 Sennett: Handwerk, 33.
15 Vgl. Nicolaus Cusanus: Idiota de mente („Der Laie über den Geist“) (1450).
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Austausch etwa mit Unternehmen zunehmend selbständig erarbei-
ten. Es meint auch, Studierende zu ermuntern, Frage- und Themen-
stellungen aus ihrem eigenen persönlichen Umfeld zum Ausgangs-
punkt von Forschungsfragen und -projekten zu machen.
Bildung in und für Gemeinschaft. Eine solche Persönlichkeitsbil-
dung lässt sich nicht in egoistischer Isolation vollziehen. Vielmehr
ist es ihre Aufgabe, zur vertieften Wahrnehmung und verantwor-
tungsvollen Teilhabe und Gestaltung zwischenmenschlicher Be-
gegnung zu befähigen. Hierfür müssen Studierende Beziehungs-
formen, die auf Vertrauen, Kooperation, Transparenz und Fairness
beruhen, tatsächlich erfahren dürfen. Sie müssen aber auch lernen
können, für diese Formen eine angemessene Sprache zu finden, ihre
Werte anderen gegenüber zu begründen und in Unternehmen und
der Gesamtgesellschaft ausdrücklich für sie einzustehen. Hierfür ist
auch wichtig, Studierende zu befähigen, diese Beziehungsformen
explizit ins Verhältnis zu Handlungsformen zu setzen, die auf Kon-
kurrenz und Effizienz beruhen, um so zwischen grundsätzlich ver-
schiedenen (Unternehmens)Kulturen unterscheiden und vermitteln
zu können. Auf einer grundlegenden Ebene heißt dies beispielswei-
se, sich mit Phänomenen des Geldes zu beschäftigen, die in der
herkömmlichen Wirtschaftswissenschaft meist ausgeblendet blei-
ben. Der Philosoph Georg Simmel hat das Geld als „fürchterlichsten
Formzerstörer“ beschrieben.16 Sein Gebrauch hat eine „zersetzende
und isolierende Wirkung“ auf persönliche Beziehungen und ver-
fügt zugleich über die Fähigkeit, „den Zusammenhang zwischen
sonst ganz zusammenhanglosen Elementen her(zu)stellen“.17 Diese
beiden Seiten des Geldes gilt es zu erkennen und für den Erhalt und
Entwicklung von (Unternehmens)Kulturen bewusst zu gestalten.
Bildung zur Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft. Über die in-
dividuelle und zwischenmenschliche Ebene hinaus sollte Bildung
auch zur Wahrnehmung jener politischen, gesellschaftlichen und
wirtschaftlichen Kontexte befähigen, in die jegliches engagierte Tun
heute eingebettet ist. Im Rahmen der Geldwirtschaft wirken mehr
16 Simmel: Die Philosophie des Geldes, 285.
17 Ebd., 375.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 215
denn je standardisierte und anonymisierte Phänomene der Rechts-
ordnung und des marktwirtschaftlichen Wettbewerbs auf die un-
ternehmerische Praxis ein. Studierende sollten deswegen lernen
können, diese Kontexte in ihren förderlichen oder hinderlichen Ei-
genschaften einzuschätzen und die dahinterliegenden Macht- und
Verantwortungsstrukturen zu erkennen. Sie müssen die Chance be-
kommen, Verhältnisse, welche der freien Entfaltung eines sozial
und ökologisch engagierten Unternehmertums entgegenstehen,
ausdrücklich zu benennen, zu kritisieren und konkrete Vorschläge
ihrer Umgestaltung zu erarbeiten. Dazu ist auch und gerade auf der
Ebene der geistigen Voraussetzungen für ein Umdenken in Wirt-
schaft und Gesellschaft anzusetzen.
Neue Bildungsformen. Zweifelsohne sind die gerade genannten An-
sprüche an Bildung sehr hoch. Es existieren jedoch sehr konkrete
Vorstellungen davon, wie sie sie sich in der Bildungspraxis tatsäch-
lich einlösen lassen.18 Stichwortartig gesagt, orientiert sich die Cusa-
nus Hochschule an Bildungsformen und entwickelt diese weiter, die
sich in Forschung und Lehre an unternehmens- und gesell-
schaftsrelevanten Themen und konkreten Handlungsvollzü-
gen orientieren, statt sich in reinen Modellwelten zu bewegen;
ein plurales und dialogorientiertes Wissenschafts- und Me-
thodenverständnis vertreten, statt eine „Monokultur des Den-
kens“ zu lehren;
die komplexen Beziehungen von theoretischem Fachwissen
und realen Phänomenen kritisch reflektieren, statt die Theorie
über die Praxis zu stellen;
Kulturen und Traditionen im Rahmen der Geistes- und Kul-
turgeschichte erforschen, um unternehmerische und gesell-
schaftliche Entwicklungsprozesse gleichsam rückwärts zu ver-
stehen und auf Zukunft hin, also nach vorne, zu gestalten,
18 Im Umfeld der Cusanus Hochschule und ihres An-Instituts, der Kueser
Akademie für Europäische Geistesgeschichte, ist in den letzten Jahren einiges
zu diesem Thema entstanden. Vgl. etwa Hangert u.a. (Hgg.): Bildung. Das
Erbe des Nikolaus von Kues; Schwaetzer (Hg.): Bildung und Fragendes
Denken; ders. (Hg.): BildungsFragen; ders. (Hg.): Der andere Blick.
Silja Graupe
216
statt eine nahezu vollständige Geschichtsvergessenheit zu
pflegen,
die Lehre in einen echten Dialog mit universitären sowie au-
ßeruniversitären Kooperationspartnern etwa im Rahmen von
Praxis- und Forschungsprojekten einbetten, statt Wissenschaft
gleichsam im Elfenbeinturm zu betreiben.
Die Cusanus Hochschule als Ort
verantwortungsbewussten Unternehmertums
Richtig ist, dass vieles im Sinne einer Bildung für verantwortungs-
bewusstes Unternehmertum entwickelt, etabliert, erprobt und ge-
wiss auch immer wieder verändert werden muss. Aber genau darin
sehe ich die Herausforderung für einen Bildungsort wie die Cusa-
nus Hochschule, die nicht nur für ein verantwortungsbewusstes
Unternehmertum da sein will, sondern sich selbst als Beispiel eines
solchen Unternehmertums begreift: Es kann nicht darum gehen, fer-
tige, für alle Zeiten gültige Patentrezepte zu erstellen, sondern be-
wusst im Spannungsfeld zwischen anspruchsvollen Visionen einer-
seits und der bodenständigen, konkreten Entwicklung einer Institu-
tion andererseits zu arbeiten. Um an dieser Stelle eine persönliche
Bemerkung einfließen zu lassen, ist dies genau das, was mich als
Mitgründerin der Cusanus Hochschule begeistert und bewegt. Ich
bin in einer mittelständischen Unternehmerfamilie groß geworden;
das Unternehmen, das unseren Namen trägt, ist auch heute noch in
der Blechbearbeitung tätig. Auch wenn ich mich selbst nicht zur
Nachfolge entschlossen habe, so ist mir das unternehmerische En-
gagement dennoch selbstverständlich. Was also könnte es für mich
Wichtigeres geben, als nicht nur eine Bildung für verantwortungs-
bewusstes Unternehmertum zu schaffen, sondern in der Hochschul-
landschaft selbst Beispiel für ein solches Unternehmertum zu ge-
ben? Die folgenden Abschnitte skizzieren einige Gestaltungsfelder,
die mir dabei besonders wichtig erscheinen.
Forschung und Lehre. Immer wieder wird gefordert, „dass die …
geistes- und sozialwissenschaftlichen Kapazitäten im Wissen-
schaftssystem erhalten bleiben“ oder sogar ausgebaut werden müs-
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 217
sen, soll Bildung ihre „Reflexionsaufgaben“ für die Gesellschaft er-
füllen.19 Dennoch werden diese Wissensgebiete im gegenwärtigen
Bildungssystem zunehmend an den Rand gedrängt; sie drohen zu
sogenannten Orchideenfächern zu werden. Diesem Trend stellt sich
die Cusanus Hochschule entgegen, indem sie die Bewahrung und
Weiterentwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften zu ihrem
Kernanliegen macht. Konkret möchten ihre Initiatoren auf diesem
weiten Feld insbesondere a) die Philosophie als gesellschaftlich
wirksame Grunddisziplin ausüben und deren Positionen in ihrer
Relevanz für die Gegenwart und die konkrete Lebensgestaltung er-
fassen und fruchtbar machen; b) die Ökonomie als Wissenschaft
(Volkswirtschaftslehre, Betriebswirtschaftslehre und Management)
in ihren dynamischen Wechselbeziehungen zur wirtschaftlichen
Praxis erforschen und sie hin zu einer am wirtschaftlichen und ge-
sellschaftlichen Leben orientierten Wissenschaft entwickeln und c)
beide, Philosophie und Ökonomie, in den Dialog mit weiteren Wis-
senschaften sowie mit Akteuren aus Wirtschaft, Politik und Gesell-
schaft stellen. Bereits aus dieser groben Auflistung wird ersichtlich,
dass die Einheit von Lehre und Forschung für ein verantwortungs-
bewusstes Unternehmertum an der Cusanus Hochschule nicht eine
Art ‚Anhängsel‘ oder ‚Add on‘ an eine ansonsten zahlen- und quanti-
tätsorientierte Betriebswirtschaftslehre darstellen kann. Stattdessen
ist diese Einheit von Lehre und Forschung in einen weiteren Wissen-
schaftskontext eingebettet, der existentielle Fragen nach Sinn- und
Werthorizonten ebenso selbstverständlich umfasst wie die Aufgabe,
zwischen verschiedenen wirtschaftlichen Positionen und ihren Ver-
tretern auch und gerade bezüglich ansonsten nur stillschweigend
eingenommener Vorstellungen und Haltungen zu vermitteln.
Dazu haben die Initiatoren der Cusanus Hochschule bislang vier
Studiengänge entwickelt. Dies sind zunächst der Masterstudien-
gang Ökonomie mit seinen beiden Schwerpunkten „Wirtschaftsge-
staltung“ und „Gesellschaftsgestaltung“ und der Masterstudien-
gang „Philosophie“. Diese sollen in der Lehre den eben angedeute-
ten ‚weiteren Kontext‘ bilden, in den ab dem Jahr 2016 ökonomisch
19 Schneidewind: Transformative Wissenschaft, 94.
Silja Graupe
218
und philosophisch orientierte Bachelorstudiengänge eingebettet
werden. In diesen Bachelorstudiengängen werden dann Fragen
nach Formen und Möglichkeiten des verantwortungsbewussten
Unternehmertums unmittelbar im Zentrum der Lehre stehen. Wei-
tere Studiengänge können sich entwickeln, wo immer sich Aufga-
ben- und Möglichkeitsfelder für eine freie und verantwortungsbe-
wusste Bildung ergeben, die einen geistes- und sozialwissenschaft-
lichen Umraum benötigen.
Staatliche Anerkennung. Alle vier genannten Studiengänge sind
akkreditiert; ihre Abschlüsse sind denen an staatlichen Hochschu-
len gleichgestellt. Zudem ist die Cusanus Hochschule selbst eine
staatlich anerkannte Hochschule in freier Trägerschaft. Dieser ‚offi-
zielle Rahmen‘ ist keineswegs selbstverständlich. Es hat viel Über-
zeugungskraft sowie politisches und juristisches Geschick erfordert,
um staatliche und halbstaatliche Institutionen entweder von der
Richtigkeit und Wichtigkeit einer freien und verantwortungsbe-
wussten Bildung zu überzeugen oder sie zumindest an ihre Pflicht
zu erinnern, einer solchen Bildung nicht im Wege zu stehen. Jetzt,
nach erfolgreicher staatlicher Anerkennung, gibt die Cusanus
Hochschule im Bildungssektor ein konkretes Beispiel, wie sich in-
novative soziale Prozesse im Rahmen des Anerkannten und Vorge-
gebenen gestalten lassen, ohne sich dabei externen Vorgaben ein-
fach zu beugen. Nicht nur Studierende erfahren so unmittelbar,
dass niemand vermeintliche Sachzwänge einfach akzeptieren muss,
sondern denkend und handelnd überwinden kann.
Institutionelle Voraussetzungen. Die Cusanus Hochschule ist nicht-
staatliche, freie Hochschule. Sie gehört sich selbst, d.h. der Gemein-
schaft von Lehrenden und Lernenden, während sie für die Gestal-
tung ihres Wirtschafts- und Rechtslebens eine gemeinnützige
GmbH in ihre Dienste nimmt. Ermöglicht wird dies durch eine
Rechtsform als gemeinnützige Treuhandstiftung in Trägerschaft der
Cusanus Treuhand gGmbH. Eine solche Rechtsform ist in Deutsch-
land einmalig. Sie ist dafür geschaffen, die höchstmögliche Freiheit
zur Selbstgestaltung von Forschung und Lehre zu ermöglichen.
Denn sie beinhaltet, dass der Träger der Hochschule tatsächlich als
echter Treuhänder agiert: Er verwaltet die Cusanus Hochschule im
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 219
eigenen Namen, aber nicht im eigenen Interesse. Er dient der Bil-
dung, ohne über die Macht zu verfügen, sie zu beeinflussen. Immer
wieder bemängeln Politiker und Gesellschaft ein „Durchregieren“
von Großsponsoren privater Hochschulen, die via Trägerstruktur
Forschung, Lehre und Selbstorganisation einer Hochschule zu be-
einflussen suchen. Die Rechtsstruktur der Cusanus Hochschule
schließt dies konsequent aus. Selbstverständlich entbindet das ihre
Mitglieder nicht davon, ökonomisch zu wirtschaften. Aber es gibt
ihnen die Freiheit, diesen Prozess selbst zu gestalten und den öko-
nomischen Erfolg nicht zum Selbstzweck werden zu lassen – und so
Beispiel für das Gelingen einer schöpferischen Tätigkeit zu geben,
die sich nicht zum reinen Mittel degradieren und schon gar nicht
kapitalisieren lässt.
Regionale Verankerung. Auf den ersten Blick scheint es unverständ-
lich: Warum siedelt sich die Cusanus Hochschule ausgerechnet in
Bernkastel-Kues an, einer der kleineren Städte Deutschlands, einge-
bettet in die ländlichen Regionen von Eifel, Mosel und Hunsrück?
Wie bei vielen mittelständischen Betrieben hat dies nichts mit abs-
trakter Logik und rein kaufmännischem Kalkül zu tun. Die Initiato-
ren der Cusanus Hochschule haben nicht erst am Reißbrett einen
Plan entworfen, um diesen dann in die Realität umzusetzen. Viel-
mehr ist die Hochschule aus konkreten Beziehungen und Aufga-
benfeldern entstanden – regionalen Anliegen, vorhandenen Institu-
tionen (insbesondere der Kueser Akademie für Europäische Geis-
tesgeschichte) sowie zwischenmenschlichen Begegnungen. Diese
Beziehungen werden die Initiatoren der Hochschule nicht einfach
strategischen Überlegungen opfern. Sie sehen es vielmehr als ihre
Aufgabe an, partizipativ zur Entwicklung eines konkreten Ortes
und seiner Region beizutragen. Zudem erkennen sie im Raum
Bernkastel-Kues eine gewachsene Kulturregion Europas, deren Er-
be sie zeitgemäß mitgestalten möchten. Kurz: die Hochschule will
ein Beispiel in der Bildung geben, wie verantwortungsbewusstes
Unternehmertum die Zivilgesellschaft stärken und Selbstorganisa-
tion und bürgerschaftliches Engagement an einem bestimmten Ort
fördern kann, statt sich einen Platz zu suchen, an dem lediglich sie
selbst von positiven Standortfaktoren profitieren kann.
Silja Graupe
220
Voraussetzungen einer freien Bildung
„Die schöpferische Tätigkeit muss immer wieder durch das Nadelöhr der
betriebswirtschaftlichen Kostenrechnung. Der laut Humboldt wahre
Zweck des Menschen, ‚die höchste und proportionierlichste Bildung sei-
ner Kräfte zu einem Ganzen‘, konnte und kann dabei nur im Ausnahme-
fall herauskommen“,
schrieb bereits im Jahre 2009 Die Welt.20 Mit dieser Einschätzung
sieht sich heutzutage wahrscheinlich jeder engagierte Unternehmer
konfrontiert. Die Aufgabe und Chance der Cusanus Hochschule se-
he ich darin, dieses Nadelöhr bewusst zu reflektieren und so seine
tatsächlichen Begrenzungen auszuloten und es, wo immer es mög-
lich ist, zu weiten. Konkret gilt es, stillschweigende Vorstellungen
der herrschenden Marktlogik aufzubrechen, um angemessene For-
men für die Finanzierung freier Bildung aufzuzeigen.
Wider die Käuflichkeit von Bildung. Sowohl für die Lehre als auch
die Forschung ist eine Freiheit wesentlich, die gerade keine Freiheit
von Beziehungen, sondern die Freiheit zur Gestaltung von Bezie-
hungen meint. Weder darf Bildung den Erfordernissen des Staates
dienen, noch sich Zwecken der Gewinnerzielung im Rahmen des
marktwirtschaftlichen Wettbewerbs unterwerfen. Dadurch aber
entsteht eine besondere Herausforderung: Die Bildung, wie sie etwa
die Cusanus Hochschule zu entwickeln und zu praktizieren sucht,
hat gegenwärtig kaum eine Lobby. Wie viele engagierte Unterneh-
mer auch, scheint sie fast auf verlorenem Posten zu stehen. Dies gilt
insbesondere, weil Bildung andernorts tatsächlich zu einem Pro-
dukt im Sinne einer industriell zu fertigenden Massenware zu ver-
kommen droht, ja als solches mitunter sogar kräftig beworben wird.
Bildung, wie sie an der Cusanus Hochschule exemplarisch ge-
pflegt wird, kann keine Ware sein, da sie nicht das Produkt, son-
dern die Grundlage schöpferischer und engagierter Arbeit bildet.
Schon eher lässt sie sich als Innovationprozess in einem sehr grund-
sätzlichen Sinne verstehen. Als solcher zielt sie allerdings nicht al-
lein auf die Ermöglichung rein technischer Innovationen, sondern
20 Gürtler: Bildungsreform.
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 221
hätte gleichsam als Innovation zweiter oder gar dritter Ordnung zu
gelten. Denn ihr Anliegen ist, im Menschen die Voraussetzungen
für eine freie, schöpferische Selbst- und Weltgestaltung anzulegen.
Da eine solche Form der Innovation immer auch das Potential ent-
hält, geltende Wertmaßstäbe zu reformulieren oder sogar außer
Kraft zu setzen, ist ihr eigener Wert unmöglich in der Gegenwart zu
bemessen. Dies wiederum bedeutet, dass sie sich nicht verkaufen
lässt, weil sie über keinen sinnvollen Preis verfügen kann.
Formen der Ermöglichung. Daraus ergibt sich eine weitere Heraus-
forderung: In meinem Verständnis müssen wir lernen, Bildung jen-
seits der Logik des marktförmigen Tauschs wahrzunehmen. Natur-
gemäß zeigen Konzerne, die sich am kurzfristigen Erfolg und Ge-
winn orientieren, daran wenig Interesse. Und auch der Staat in sei-
ner gegenwärtigen Verfasstheit vermag diese Aufgabe kaum zu er-
füllen, obwohl die Förderung der gemeinsamen Grundlagen der
Gesellschaft und deren kontinuierliche Erneuerung eigentlich zu
seinen Kernaufgaben zählen. Eine Konsequenz ist, dass Reflexions-
orte wie die Cusanus Hochschule kaum oder keinerlei Mittel aus
diesen Quellen erhalten. Am Anfang der unternehmerischen wie
gesellschaftlichen Innovations- und Wertschöpfungskette stehend,
sind sie deswegen darauf angewiesen, dass engagierte Unterneh-
mer und andere gesellschaftliche Akteure ihr eigentliches Anliegen
verstehen und ihnen finanzielle Mittel freilassend und im Vertrauen
zur Verfügung stellen. Es handelt sich dabei nicht um die Gabe von
Almosen. Zwar können Bildungsorte wie die Cusanus Hochschule
keinen konkreten Gegenwert für ihre Leistungen im Sinne der
Tauschlogik bieten, weil sich der Wert einer wirklich schöpferi-
schen Bildung, wie gesagt, nicht beziffern lässt. Deswegen braucht
es Menschen, die in die zukunftsgestaltende Kraft einer solchen
Bildung vertrauen und ihr im Rahmen von Schenkungen ermögli-
chen, Sinn zu stiften und Sinn zu erfüllen. Es braucht Zuwendun-
gen, die keinen konkreten Gegenwert erwarten, sondern im Be-
wusstsein gegeben werden, Möglichkeitsräume für die freie Ent-
wicklung von Menschen und die zukünftige Gestaltung der Gesell-
schaft zu schaffen.
Silja Graupe
222
Eine solche Form der Finanzierung, welche die Initiatoren der
Cusanus Hochschule als Schenkung bezeichnen, liegt zwar jenseits
der gewöhnlichen Marktlogik, steht aber nicht außerhalb des Berei-
ches des wirtschaftlich Vernünftigen. Dies wird vielleicht am ehes-
ten deutlich, wenn man das Ganze von Seiten des Gebenden be-
trachtet: Jeder engagierte Unternehmer weiß, dass sich Innovatio-
nen weder einfordern noch erzwingen lassen. Im Zentrum der
Marktlogik, wie wir sie heute gewöhnt sind, steht allein das fertige
Produkt, bewertet zu einem bestimmten Preis. Die Entstehung die-
ses Produkts liegt ebenso im Dunkeln wie die Zukunft, die es stiftet.
Verantwortungsbewusstes Unternehmertum bedeutet, das Licht
der Erkenntnis auf den gesamten Prozess zu richten und so zu er-
kennen, dass sein Anfang und sein Ende immer notwendig ver-
bunden sind. Bei technologischen (Re)Investitionen ist es selbstver-
ständlich, die Erträge eines Unternehmens dazu zu verwenden,
dessen produktive Substanz beständig zu erhalten und zu verbes-
sern. Und Investitionen in Innovationsprozesse sind dazu da, Erhalt
und Neuerung innerhalb des Unternehmens möglich zu machen.
Jeder Unternehmer weiß, dass dies im Grunde nur durch eine frei-
lassende Geste möglich ist: Er kann und muss Möglichkeitsräume
fördern, ohne dabei das Ergebnis vorwegnehmen zu können. Bei
Bildungsprozessen verstärkt sich diese Tendenz: Auch sie sind
notwendig, aber, da sie beim Menschen ansetzen, zugleich noch
freilassender zu gestalten. Sie sind der Nährboden für jegliche In-
novationsfähigkeit – und liegen zugleich im Menschen selbst und
damit außerhalb des Einflusses Dritter. Allein Schenkungen aus
erwirtschaftenden Erträgen können diesen Boden ermöglichen – auf
dass das Neue sich auf seine Weise frei entfalten möge.
Neue Partnerschaften von Unternehmen und Hochschule: Zusammen-
fassend gesagt bin ich überzeugt, dass inmitten des gegenwärtigen
ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Wettbewerbs mit
allen seinen Härten und Krisen, die hier dargestellte Bildung not-
wendig ist, dem engagierten Unternehmertum eine Stimme in der
Gesellschaft zu geben, die Einsamkeit von Unternehmerpersönlich-
keiten zu überwinden und die junge Generation zur Übernahme
von Verantwortung und zur schöpferischen Weiterentwicklung un-
Bildung für verantwortungsbewusstes Unternehmertum 223
ternehmerischer Traditionen zu befähigen. Die Cusanus Hochschu-
le sehe ich als einen möglichen Ort, Bildung sowohl ihrem Inhalt als
auch ihrer Form nach so zu entwickeln und auszugestalten, dass sie
diesen Herausforderungen entspricht. Ich bin überzeugt, dass Bil-
dung sowohl dem Menschen als auch der Gesellschaft dienen sollte,
sich dabei aber nicht auf ein reines Mittel zu einem festgelegten
Zweck degradieren lassen darf. Sie kann der Gesellschaft nur dann
wirklich dienen, wenn sie darin frei und unabhängig bleibt. Bil-
dungsorte wie die Cusanus Hochschule können ihren Aufgaben
deswegen nur in freiwilliger Verantwortung für Mensch, Gesell-
schaft und Natur gerecht werden. Hierzu müssen sie das Vertrauen
von gesellschaftlichen Akteuren gewinnen, um wiederum selbst
genährt und unterstützt zu werden. Meine Hoffnung ist, dass Un-
ternehmer dieses Vertrauen in Bildungsorte wie die Cusanus Hoch-
schule setzen und ihnen die notwendige finanzielle Sicherheit und
Unabhängigkeit geben. Eine Bildung für ein verantwortungsvolles
Unternehmertum wird es nur geben, wenn dieses Unternehmertum
sie selbst will und ihr einen tragfähigen Boden bereiten wird.
Silja Graupe
224
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