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Abstract

Zunehmend wird die ökonomische Standardbildung für ihre Weltfremdheit, Einseitigkeit und Unreflektiertheit kritisiert. Die Autorin fragt nach den möglichen Wirkungen und gesellschaftlichen Bedeutungen dieses kritisierten Zustandes: Vermag er einer blinden Marktgläubigkeit Vorschub zu leisten, die selbst wiederum als wesentlich für die öffentliche Meinungsbildung in den letzten Jahrzehnten anzusehen ist? Welche Kriterien spielen hierfür eine Rolle? Der Artikel geht diesen Fragen nach, indem er in historischer Perspektive wesentliche Zusammenhänge zwischen Strategien der Beeinflussung der »öffentlichen Meinung« einerseits sowie der Wissenschaft und Lehre andererseits herausarbeitet, wie sie am Neoliberalismus und seinen Protagonisten Walter Lippmann und Friedrich A. Hayek beobachtet werden können. Zudem wird eine Skizze einer grundlegend alternativen Bildungsform, einer Bildung für ökonomische Mündigkeit, entworfen.
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Während sowohl an Schulen als auch
in der Erwachsenenbildung häug ein
bloßes Mehr an ökonomischer Bildung
gefordert wird, wächst an den Hoch-
schulen die Kritik an Form und Inhalt
dieser Bildung selbst. Zunehmend wird
die ökonomische Standardlehre, wie sie
global vermittelt wird, dafür kritisiert,
dass sie weltfremd und einseitig sei
und zudem die Selbstreexion der Stu-
dierenden verhindere (vgl. u.a. Hedtke,
2011; Ötsch & Kapeller, 2010; Rear-
don, 2012). Ohne auf diese Kritik im
Detail einzugehen,1 skizziere ich im vor-
liegenden Beitrag, welche Aufgaben die
Wirtschaftswissenschaft im Rahmen
jenes Marktliberalismus einnehmen
kann, wie er u.a. durch Walter Lipp-
mann und Friedrich A. Hayek im letzten
Jahrhundert begründet und durch die
Arbeit von Think Tanks wie dem Insti-
tute of Economic Affairs bis zum heu-
tigen Tage verbreitet und durchgesetzt
wird. Vor diesem Hintergrund werde
ich argumentieren, dass ein dringender
Forschungs- und Diskussionsbedarf
besteht, der auch und gerade in der
Erwachsenenbildung einen breiten
Raum einnehmen sollte: Kann einer
1 Dies habe ich an anderer Stelle bereits aus-
führlich getan (vgl. etwa Graupe, 2015).
Ausgehend von einer Beschreibung der ökonomischen Standardlehre
zeigt die Autorin nicht nur deren Mängel – Weltfremdheit, Einseitigkeit
und Unreektiertheit – auf, sondern auch, welche Rolle die Wissen-
schaft bei ihrer Verbreitung spielt. Ihre Skizze einer Bildung für ökonomi-
sche Mündigkeit stellt einen Gegenentwurf zur Marktgläubigkeit dar, die
bis heute ein Ergebnis ökonomischer Bildung ist.
Plädoyer für eine Bildung zur ökonomischen Mündigkeit
ZWISCHEN MARKTGLÄUBIG-
KEIT UND MARKTKRITIK
Silja Graupe
weltfremden, einseitigen und unreek-
tierten ökonomischen Bildung innerhalb
des Marktliberalismus tatsächlich eine
fundamentale Bedeutung zugespro-
chen werden? Vermag sie, genauer
gefragt, einer blinden Marktgläubigkeit
Vorschub zu leisten, die als wesentli-
cher Baustein der Beeinussung der
»öffentlichen Meinung« anzusehen ist?
Zum Schluss dieses Beitrags werde ich
zudem einen Gegenentwurf ökonomi-
scher Bildung – eine Bildung für ökono-
mische Mündigkeit, wie ich sie nenne
– skizzieren.
Hintergründe
Beispielsweise das wohl wichtigste öko-
nomische Lehrbuch, die »Economics«
von Paul A. Samuelson, gibt vor, »dau-
erhafte Wahrheiten« zu vermitteln (vgl.
Samuelson & Nordhaus, 2005, S. xvii).
Doch was bedeutet »Wahrheit« im Kon-
text ökonomischer Bildung? Friedrich A.
Hayek, einer der wichtigsten Vertreter
des Liberalismus und Neoliberalismus
im 20. Jahrhundert, war sich in dieser
Frage mit seinem sonstigen Gegen-
spieler John Maynard Keynes einig.
Dieser sagt: »Die Ideen der Ökonomen
und politischen Philosophen, gleich
ob sie richtig oder falsch sind, sind
mächtiger als allgemein angenommen
wird. In Wirklichkeit wird die Welt von
kaum etwas anderem regiert« (Keynes,
1936, S. 383). Bei der »Wahrheit«
ökonomischer Theorien geht es hier
nicht um die Frage eines »Richtig« oder
»Falsch« etwa im Sinne empirischer
Überprüfbarkeit. Vielmehr meint Hayek:
»Die Macht abstrakter Ideen beruht in
hohem Maße auf eben der Tatsache,
daß sie nicht bewußt als Theorien
aufgefaßt, sondern von den meisten
Menschen als unmittelbar einleuch-
tende Wahrheiten angesehen werden,
die als stillschweigend angenommene
Voraussetzungen fungieren« (Hayek,
1980, S. 100). Den Menschen sollen
ökonomische Theorien als wahr gelten,
ohne dass sie die Richtigkeit von deren
Geltung überprüfen könnten. So ver-
standen, vermag »Wahrheit« eine Funk-
tion im Rahmen eines Machtsystems
auszuüben: Wessen Theorie anderen
unreektiert als Wahrheit gilt, kann, so
Hayeks Ansicht, die Welt regieren.
Ein kurzer Blick in die Theorie und Pra-
xis der Beeinussung der öffentlichen
Meinung, wie sie sich seit Beginn des
letzten Jahrhunderts entwickelt hat,
hilft, dieses Verständnis zu konkreti-
sieren. In seinem grundlegenden Werk
»Propaganda« aus dem Jahr 1928
schreibt Edward Bernays:
»Die bewusste und intelligente Manipulation
der organisierten Gewohnheiten und Mei-
nungen der Massen ist ein wichtiges Ele-
ment in der demokratischen Gesellschaft.
Wer die ungesehenen Gesellschaftsmecha-
nismen manipuliert, bildet eine unsichtbare
Regierung, welche die wahre Herrscher-
macht unseres Landes ist« (Bernays, 1928,
S. 37).2
Bernays gilt als wesentlicher Entdecker
des Unbewussten und insbesondere
seiner politischer Bedeutung und
Nutzbarmachung. Er schuf die Vorstel-
lung, das Unbewusste der Vielen (»der
Masse«) sei durch einige wenige (»die
2 Alle Übersetzungen aus dem Englischen in
diesem Beitrag stammen von mir.
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Elite«) zu beeinussen und zu kontrol-
lieren. Walter Lippmann, enger Wegge-
fährte Hayeks, baut diese Grundidee in
seinem Werk »Public Opinion« (1922)
aus. Er sagt zunächst: »Wir sind alle
Sklaven der Bilder in unseren Köpfen.«
Sodann schreibt er: Es geht um
»das Einfügen einer Scheinwelt (pseudo-
environment) zwischen den Menschen und
ihrer Umwelt. Zu dieser Scheinwelt ist sein
Verhalten eine Reaktion. Aber weil es ein
Verhalten darstellt, vollziehen sich seine
Konsequenzen, wenn sie Akte darstellen,
nicht in der Scheinwelt, in der sein Verhal-
ten stimuliert wird, sondern in der realen
Umwelt, in die seine Tätigkeiten eintreten«
(Lippmann, 1922, S. 15).
Der Mensch soll nicht inmitten der
Welt bewusst leben und aus diesem
Engagement seine Wahrnehmung
formen. Vielmehr soll er durch vorge-
gebene Vorstellungsbilder von dieser
Welt getrennt sein. Das Markenzeichen
des Stereotyps, wie Lippmann diese
Bilder auch nennt, ist, »dass es dem
Gebrauch des Verstandes vorausgeht;
es ist eine Form der Wahrnehmung und
zwingt den Sinneseindrücken einen
bestimmten Charakter auf, bevor diese
Eindrücke den reektierenden Verstand
erreichen« (ebd., S. 70). So errichtet
es eine kognitive Barriere zwischen
Mensch und Welt. »Der reale Raum, die
reale Zeit, reale Zahlen, reale Beziehun-
gen, reale Gewichte gehen verloren. Die
Perspektiven und die Hintergründe und
die Dimensionen der Handlung werden
abgeschnitten und eingefroren im Ste-
reotyp« (ebd., S. 110). Alle Entscheidun-
gen sollen damit gleichsam automa-
tisch auf der Basis einer bestimmten
Weltanschauung getroffen werden.
»Mentale Gewohnheiten«, schreibt
Bernays, »sollen in der gleichen Weise
Stereotype hervorbringen, wie physi-
sche Gewohnheiten reexartige Hand-
lungen stimulieren« (Bernays, 1961, S.
162) Dieser Auffassung nach soll dem
Menschen nichts anderes bleiben, als
aufgrund von vorgegebenen Bewusst-
seinsinhalten auf äußere Anreize zu
reagieren. Die einfache Tatsache, dass
Menschen über die Fähigkeit verfügen,
sich dieser Inhalte bewusst zu werden,
diese aktiv zu verändern und in der
Folge Entscheidungen anders zu tref-
fen, wird somit übergangen bzw. ausge-
schlossen.
Die Rolle der Wissenschaften
Während nach Lippmann die verhal-
tensleitenden Scheinwelten von »der
Masse« also nicht reektiert werden
können, soll »die Elite« diese Welten
gezielt prägen und damit das Verhalten
der Vielen kraft der Erzeugung und
Beeinussung unbewusster Vorstel-
lungsbilder steuern können. Dabei
kommt der Wissenschaft allgemein und
speziell den Wirtschaftswissenschaften
eine besondere Bedeutung zu. Ob wahr
oder falsch, sollen ihre Theorien und
Methoden helfen, den menschlichen
Verstand zu prägen, ohne dass es den
Vielen aufele. Wissenschaft soll, so
Lippmann, »eine Form des Experten-
tums zwischen den privaten Bürgern
und die unermesslichen Lebensum-
stände schalten, in die er eingebunden
ist« (ebd., S. 251) und auf diese Weise
den Raum des Denk- und Wahrnehmba-
ren fest umreißen (ebd., S. 249).
Hierfür bedarf es, so macht wiederum
Hayek deutlich, der Herausbildung
eines besonderen Typus des Intellek-
tuellen, der »alle Angelegenheiten nicht
aufgrund ihrer spezischen Verdienste
und Leistungen, sondern (…) allein im
Licht bestimmter, modischer allgemei-
ner Ideen beschreibt« (Hayek, 1949, S.
12). Hayek nennt ihn einen »second-
hand dealer in ideas«, den »eine Abwe-
senheit direkter Verantwortung für
praktische Angelegenheiten und eine
daraus folgende Abwesenheit eines
Wissens aus eigener Erfahrung prägt«
(ebd., S. 13). Der Wissenschaftler soll
sich allein im Bann festgefügter Stereo-
type bewegen, auf dem alle seine Aus-
sagen und Entscheidungen basieren. In
sozialer Resonanz, d.h. im Zusammen-
spiel der vielen »second-hand dealers
in ideas«, mag ein bestimmtes »Mei-
nungsklima« entstehen – »ein Set sehr
allgemeiner vorgefasster Meinungen
(…), mit deren Hilfe der Intellektuelle die
Wichtigkeit neuer Fakten und Meinun-
gen einschätzt« (ebd., S. 17). »Sobald
der eher aktive Teil der Intellektuellen
zu einer bestimmten Reihe von Glau-
benssätzen konvertiert wurde, verläuft
der Prozess, in dessen Verlauf diese
Sätze allgemein akzeptiert werden,
nahezu automatisch und unaufhalt-
sam« (ebd., S. 13). Anders gesagt, sol-
len Wissenschaftler auf der Grundlage
bestimmter Stereotype denken, aber
niemals über sie, und so als »gatekee-
per of ideas« wirken (vgl. Blundell 2015,
S. 56ff.). Sie sollen darüber entschei-
den, »welche Ansichten und Meinungen
uns erreichen, welche Fakten so wichtig
erscheinen, dass sie uns mitgeteilt
werden und in welcher Form und aus
welcher Perspektive sie uns präsentiert
werden« (Hayek, 1949, S. 11).
Anders formuliert, soll Wissenschaft
die Aufgabe übernehmen, die Wahrneh-
mungsfähigkeit des Wissenschaftlers
auf wenige Abstraktionen einzuschrän-
ken, die »nicht ein Produkt des Geistes
(sind), sondern eher, was den Geist
ausmacht« (ebd., S. 48). Sie hat für
ein blindes Vertrauen in und einen
absoluten Gehorsam gegenüber einer
bestimmten Form der Weltanschau-
ung zu sorgen – und zwar »nicht durch
bewusste Wahl oder absichtliche Selek-
tion, sondern mittels eines Mecha-
nismus, über den wir nicht bewusst
Kontrolle ausüben« (ebd., S. 49).
Spezisch für die Ökonomie als Wis-
senschaft heißt dies, »den Markt« nicht
als ein reales Phänomen umfassend
zu erforschen, sondern eine bestimmte
Art und Weise des Denkens im Sinne
des Lippman‘schen Stereotyps in den
Köpfen der Menschen zu verankern.
Sie soll abstrakte und weltfremde
Modelle über die Wirtschaft zwischen
den normalen Menschen und seine rea-
len Lebensumstände sowie zwischen
den Politiker und seinen tatsächlichen
Verantwortungsbereich schieben (vgl.
Blundell, 2015). Wie Lippmann deutlich
macht, lässt sich hierfür das wissen-
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schaftliche Denken früherer Zeiten inst-
rumentalisieren: Die alten Ökonomen
»konstruierten etwas, von dem sie ernsthaft
hofften, dass es ein vereinfachendes Dia-
gramm sei, nicht nennenswert verschieden
in Prinzip und Aufrichtigkeit von jenem
Parallelogramm mit Beinen und Kopf, das
ein Kind von einer komplizierten Kuh zeich-
net. (…) Das Modell funktionierte. Jene Art
von Menschen, die das Modell voraussetzt
und die in jener Art von Welt leben, die das
Modell voraussetzte, kooperierten in den
Büchern, in denen das Modell beschrieben
wurde, unweigerlich harmonisch miteinan-
der. Mit Abwandlungen und Ausschmückun-
gen wurde diese reine Fiktion, ursprünglich
von den Ökonomen genutzt, um ihr Denken
zu vereinfachen, solange weiterverkauft
und popularisiert, bis es für große Teile
der Bevölkerung die geltende ökonomische
Mythologie wurde« (Lippmann, 1922, S. 84).
Abstrakte ökonomische Konzepte,
etwa des »Marktgleichgewichts« oder
des »Marktmechanismus«, wie sie
Gegenstand und Ergebnis theoretischer
Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts
waren, sollen also helfen, Stereotype
in den Köpfen der Menschen zu veran-
kern. Genau dies lässt sich m.E. unter
einer modernen Form der Marktgläu-
bigkeit verstehen, mit der kaum mehr
Reexivität und freie Entscheidungsfä-
higkeit einhergehen.
Ökonomische Lehre
und Marktgläubigkeit
Dem Marktliberalismus zufolge stellt
diese Marktgläubigkeit kein natürli-
ches, gegebenes Phänomen dar; sie ist
durch einen »Krieg der Ideen« herzustel-
len, wie es das von Hayek mitgegrün-
dete Institute of Economic Affairs (IEA)
martialisch nennt (vgl. Blundell, 2015).
»Grundlegend für den Kampf, die individu-
elle Freiheit zu propagieren, ist die Aufgabe,
unsere Mitmenschen davon zu überzeugen,
dass die freie Marktallokation von Waren
und Dienstleistungen nicht nur ökonomisch
efzient und wohlstandssteigernd ist, son-
dern auch, und dies ist wesentlich wichti-
ger, dass die Marktallokation jeder anderen
Form des Austausches moralisch überlegen
ist« (Williams, 2015, S. xiii).
In diesem Kampf soll die Erziehung
(education) neben der Überredung
(persuasion) eine wesentliche Rolle
spielen. Sie soll Menschen zu »second-
hand dealers in ideas« machen
(Blundell, 2015, S. 21). Vor diesem
Hintergrund ist dringend zu diskutie-
ren, ob und ggf. wie der gegenwärtigen
ökonomischen Standardlehre in die-
sem »Krieg der Ideen« tatsächlich eine
Bedeutung zukommen kann. Im Folgen-
den möchte ich einige systematische
Ansatzpunkte für die Beantwortung
dieser Fragen skizzieren. Zu Beginn
dieses Beitrags nannte ich Weltfremd-
heit, Einseitigkeit und Unreektiertheit
als wesentliche Kritikpunkte an der
heutigen ökonomischen Standardlehre.
Hier nun soll deutlich werden, dass
genau diesen Punkten im Hinblick auf
ihre mögliche Bedeutung im »Krieg der
Ideen« genauere Beachtung zu schen-
ken ist.3
Weltfremdheit: Die ökonomische
Standardlehre beruht heutzutage über-
wiegend auf einer Form der Volkswirt-
schaftslehre (»neoklassische Theorie«),
die sich seit dem 19. Jahrhundert
dezidiert als »reine Wissenschaft« nach
dem Vorbild der exakten Physik und der
Mathematik geriert. Als solche lassen
sich ihre Erkenntnisse zwar auf die Welt
wirtschaftlicher Erfahrung anwenden,
als Grundlage von Erkenntnissen aber
akzeptiert sie diese Welt nicht. Studie-
rende lernen in der Folge, sich allein in
mathematisch-abstrakten Modellwelten
zu bewegen, die sich eindeutig berech-
nen und beherrschen lassen und ein
harmonisches und gleichförmiges Bild
von der Wirtschaft vermitteln. Was
Schülerinnen und Schüler oder Stu-
dierende auf diese Weise nicht lernen,
ist erstens diese Modellwelten an ihrer
eigenen, tatsächlichen Erfahrungswelt
zu überprüfen und zweitens sich kon-
3 Die weitere Frage, ob die Instrumentalisierung
der ökonomischen Standardlehre tatsächlich
intendiert, d.h. bewusst geschaffen wurde,
lasse ich dabei außer Acht.
textabhängig eigene Urteile über wirt-
schaftliche Situationen zu bilden. Mehr
noch: Folgt man etwa dem Council for
Economic Education (CEE), einem der
wichtigsten Akteure der Standardisie-
rung der ökonomischen Lehre weltweit,
so soll es überhaupt kein Anliegen
ökonomischen Unterrichts sein, grund-
legende Fakten über die amerikanische
Wirtschaft oder die Weltwirtschaft zu
vermitteln (vgl. Siegfried et al., 2012,
S. vi). Die Realität bleibt auf diese
Weise in der Lehre gänzlich außen vor.
Dies macht dringenden Forschungsbe-
darf sichtbar: Droht der reale Raum in
einer ökonomischen Standardlehre, die
sich nahezu ausschließlich auf erfah-
rungsunabhängige mathematische
Modelle stützt, tatsächlich verloren zu
gehen? Lassen sich im Rahmen der
Lehre ökonomische Modelle (etwa vom
Markt und dem homo oeconomicus) als
Stereotype im Bewusstsein von Men-
schen verankern?
Einseitigkeit: Der ökonomischen Stan-
dardlehre liegt heute ein »ökonomi-
scher Imperialismus« zugrunde, der
besagt, dass die Volkswirtschaftslehre
nicht mehr durch ihren Gegenstand
(»die Wirtschaft«) bestimmt sein soll,
sondern allein durch ihre Methode,
d.h. durch eine einzige »Vorgehens-
weise« (vgl. etwa Becker, 1990) oder
eine »einzige Sicht auf die Welt« (vgl.
etwa Mankiw 2001, S. vii). Dies
bedeutet, kurz gesagt, dass es nicht
mehr darum geht, aus einer Vielzahl
von Perspektiven auf die Wirtschaft
blicken zu lernen, sondern aus einer
einzigen, im Vorhinein feststehen-
den Perspektive – eben der abstrakt
mathematischen – die ganze Welt
wahrzunehmen und zu beurteilen.
Die ökonomische Lehre solle junge
Menschen dazu anleiten, heißt es bei-
spielsweise beim CEE, »die Eigenschaft
zu entwickeln, Schlussfolgerungen zu
ziehen, gleich welche Fakten sachdien-
lich für die Unzahl von Problemen sind,
mit denen sie in ihrem Leben kon-
frontiert werden« (Siegfried & Krueger,
2010, S. 5). Es geht darum, eine ein-
zige Theorie (eben die neoklassische)
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zum »Paradigma« zu erheben, »was die
Aufgabe widerspiegelt, ein einziges,
stimmiges Set von Standards festzu-
legen, das die Lehre der Wirtschafts-
wissenschaft (…) anleitet« (ebd., S. vi).
Wie drohen sich auf diese Weise die
Lernenden diese Konzepte tatsächlich
unbewusst und kritiklos anzueignen?
Wie können so mentale Gewohnheiten
im Sinne von Bernays entstehen, die
menschliche Entscheidungen nahezu
automatisch prägen, gleich in welcher
realen Umwelt sie getroffen werden?
Wie kann das Denken auf diese Weise
in Stereotypen einfrieren?
Unreektiertheit: Schaut man in die
ökonomischen Standardlehrbücher
der Gegenwart, so fällt auf, dass sie
die ökonomische Theorie selbst kaum
zum Gegenstand bewusster Reexion
erheben. So fehlt ihnen etwa jeglicher
Bezug zur Geschichte der Wirtschafts-
wissenschaften selbst; ebenso ist
ihnen eine explizite Thematisierung
der Voraussetzungen ökonomischen
Denkens fremd. Hier muss genauer
erforscht werden, ob und ggf. wie sich
auf diese Weise ökonomische Vorstel-
lungsbilder tatsächlich im Sinne von
Lippmann unsichtbar zwischen den
Menschen und seine Umwelt schieben.
Lernen Menschen, in diesen Bildern zu
denken, nicht aber, über sie zu reek-
tieren?
Bildung für
ökonomische Mündigkeit
Es ist die eine Frage, wie sich die
Wirkungsweisen ökonomischer Stan-
dardlehre im Kontext von Strategien
zur Beeinussung der »öffentlichen
Meinung« besser erforschen und auf
dieser Grundlage kritisieren lassen.
Die andere – und vielleicht wichtigere
– Frage ist, wie ein wirklicher Gegen-
entwurf zu einer ökonomischen Lehre
für Marktgläubigkeit aussehen kann.
Hierfür möchte ich an dieser Stelle
lediglich eine Stoßrichtung aufzeigen.
Diese ist gewiss nicht neu; sie lässt
sich vielmehr beziehen auf das, was
sich als Humboldt‘sches Bildungsideal
grob umreißen lässt (vgl. Graupe &
Schwaetzer, 2015). Auch steht sie in
engem Zusammenhang etwa mit For-
derungen nach Formen sozioökonomi-
scher Bildung (vgl. Fischer & Zurstras-
sen, 2014).
Im Kern geht es darum, Freiräume für
konkrete Erfahrungsbezüge, Perspektiv-
vielfalt und die Befähigung zur Selbst-
reexion in der ökonomischen Lehre zu
schaffen. Interessanterweise lassen
sich bei Hayek selbst wesentliche
Ansatzpunkte für einen solchen Vorstoß
nden, die im deutlichen Gegensatz
zur bloßen Erziehung von Menschen zu
»second-hand dealer in ideas« stehen.
Hayek nennt diese die Befähigung zum
»originären Denker« (original thinker)
und zum »Gelehrten oder Experten auf
einem bestimmten Feld des Denkens«
(Hayek, 1949, S. 10). Der originäre
Denker verfügt über die Fähigkeit, die
Voraussetzungen seiner Überlegungen
und Meinungen zu reektieren und
damit jene Unreektiertheit, wie sie
das Markenzeichen des Hayek’schen
Intellektuellen ist, aufzuheben oder
doch zumindest zu verringern. Er ver-
mag geltende Stereotype ins Licht des
kritischen Urteils zu rücken und zu
erkennen, dass diese keineswegs alter-
nativlos sind. Wie Lippmann bemerkt,
kann gerade die Bildung Menschen zu
einem solch originären Denken befähi-
gen. Denn diese kann ihn »scharfsin-
nig darauf aufmerksam machen, wie
vorgefasste Meinungen uns über die
Welt informieren, bevor wir sie sehen,
und wir die meisten Dinge imaginieren,
bevor wir sie erfahren haben« (Lipp-
mann, 1922, S. 65). Sie kann ihm hel-
fen zu erkennen, dass Stereotypen nie-
mals die Qualität von unumstößlichen
Wahrheiten besitzen:
»Menschen sind oftmals bereit zu akzep-
tieren, dass es ‚zwei Seiten‘ einer Frage
gibt, aber sie glauben einfach nicht, dass
es zwei Seiten dessen geben könnte, was
sie als ‚Tatsache‘ ansehen. Und sie werden
es solange nicht glauben, bis sie nach
einer langjährigen kritischen Bildung sich
vollständig darüber bewusst sind, wie ihre
Auffassung sozialer Tatsachen von anderen
geprägt (second-hand) wurde und zugleich
subjektiv ist« (Lippmann, 1922, S. 90).
Eine aufgeklärte ökonomische Lehre
sollte also etwa ein Geschichtsbe-
wusstsein vermitteln, das ausdrück-
lich die Entstehung von Stereotypen
selbst in den Blick nimmt. Denn dies
befähigt dazu, »zu wissen, welches
Märchen, welches Schulbuch, welche
Tradition, welcher Roman, welches
Theaterstück oder welche Redewen-
dung eine bestimmte vorgefasste Mei-
nung in diesen und eine alternative in
einen anderen Geist eingepanzt hat«
(ebd., S. 66).
Wenden wir uns dem zweiten Ansatz-
punkt Hayeks zu, der Befähigung zum
Experten auf einem bestimmten Feld
des Denkens. Kurz gesagt, ist dessen
Kennzeichen genau jene Verantwortung
für reale Zusammenhänge und jenes
Wissen um konkrete Dinge, die dem
»second-hand dealer in ideas« fehlen.
Der Experte entwickelt seine Erkennt-
nisse und Einsichten unmittelbar an
Fragestellungen des Lebens. Er urteilt
nicht unbewusst auf der Grundlage
vorgefertigter Vorstellungsbilder über
Menschen und Situationen, sondern
formt seine eigene Meinung im direkten
Umgang mit diesen Menschen und Situ-
ationen. Somit vermag er die kognitive
Barriere, welche die ökonomischen
Scheinwelten zwischen ihm und seinen
Erfahrungen zu errichten versuchen,
einzureißen und sich selbst und die
Welt in einen fruchtbaren, die Wahrneh-
mung stets verändernden Austausch zu
bringen.
Ökonomische Bildung kann zu einer
solchen Form der Mündigkeit befä-
higen, indem sie explizit Bezüge zur
Lebenswirklichkeit der Lernenden her-
stellt, ohne die Wahrnehmung dieser
Wirklichkeit in vorgegebene Modelle
zu pressen. Hierfür braucht es nicht
zuletzt die Vermittlung einer expliziten
Methodenvielfalt, damit die Welt immer
neu aus unterschiedlichen Perspekti-
ven erscheinen und der Mensch sich so
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ein der Situation angemessenes Welt-
verständnis immer wieder neu bilden
kann.
Schlussbemerkung
Gewiss bedürfen meine rudimentären
Bemerkungen zu einer »Bildung für
ökonomische Mündigkeit« genauerer
Ausarbeitungen. Doch sollte zumin-
dest deutlich geworden sein, dass die
Anliegen einer aufgeklärten Bildung
zur Mündigkeit denen einer Bildung für
Marktgläubigkeit diametral entgegen-
gesetzt sind. Wer Selbstreexion, Rea-
litätsbezug, Kontroversität und Metho-
denvielfalt fordert (und praktisch in der
ökonomischen Bildung umsetzt), will
nicht einfach marktliberale Stereotype
durch andere ersetzen. Vielmehr unter-
gräbt er aktiv die Voraussetzungen des
von marktradikalen Think Tanks pro-
pagierten war of ideas. Denn er erteilt
der Manipulation des menschlichen
Geistes selbst eine Absage, um an
dessen Stelle die Befähigung zur freien
und bewussten Reexion in konkreten
sozialen Erfahrungsbezügen zu setzen.
Hayek und Lippmann kannten noch
diese Alternative zu manipulativen For-
men der Bildung. Doch in Sachen Wirt-
schaftsbildung propagieren die Think
Tanks, die sie schufen, allein eine öko-
nomische Lehre für Marktgläubigkeit.
Damit sich in der ökonomischen Bil-
dung etwas ändert, sollten wir zumin-
dest ein Geschichtsbewusstsein pe-
gen und entwickeln, das die Ziele und
Mittel der ökonomischen Standardlehre
selbst thematisiert. Die Erwachsenen-
bildung kann hierbei eine wichtige Rolle
spielen. Da Institutionen in diesem
Bereich gerade erst Formen und Inhalte
ökonomischer Bildung entwickeln,
können sie Spielräume für reexiven,
kritischen und erfahrungsbezogenen
Unterricht schaffen, die aufgrund der
fortschreitenden Standardisierung und
Ökonomisierung der Bildung an Schu-
len und Hochschulen momentan kaum
mehr existieren.
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Edition. J. Blundell. Waging the War of Ideas
(4. Au.). London: The Institute of Economic
Affairs.
Abstract
Zunehmend wird die ökonomische
Standardbildung für ihre Weltfremd-
heit, Einseitigkeit und Unreektiertheit
kritisiert. Die Autorin fragt nach den
möglichen Wirkungen und gesellschaft-
lichen Bedeutungen dieses kritisierten
Zustandes: Vermag er einer blinden
Marktgläubigkeit Vorschub zu leisten,
die selbst wiederum als wesentlich für
die öffentliche Meinungsbildung in den
letzten Jahrzehnten anzusehen ist?
Welche Kriterien spielen hierfür eine
Rolle? Der Artikel geht diesen Fragen
nach, indem er in historischer Per-
spektive wesentliche Zusammenhänge
zwischen Strategien der Beeinussung
der »öffentlichen Meinung« einerseits
sowie der Wissenschaft und Lehre
andererseits herausarbeitet, wie sie am
Neoliberalismus und seinen Protago-
nisten Walter Lippmann und Friedrich
A. Hayek beobachtet werden können.
Zudem wird eine Skizze einer grundle-
gend alternativen Bildungsform, einer
Bildung für ökonomische Mündigkeit,
entworfen.
Dr. Silja Graupe ist Professorin für Ökonomie
und Philosophie sowie Vizepräsidentin der
Cusanus Hochschule in Bernkastel-Kues.
Kontakt: silja.graupe@cusanus-hochschule.de
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While the current financial crisis had an overwhelming impact on the global economy, its effect on economics as an academic discipline has been negligible. This paper explores the relationship between the financial crisis, mainstream economic theory and the education of economists. In a nutshell it shows that (a) current economic education leaves students illiterate with respect to events like the financial crisis, (b) mainstream economic theory is unable to systemically explain the financial crisis and (c) this situation will be unaffected by the recent events. On the contrary economic education will stay pretty much the same, since it incorporates a set of ideas, perceived as influential, well-established and important by the economic community.
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The General Theory of Employment, Interest, and Money / John Maynard Keynes Note: The University of Adelaide Library eBooks @ Adelaide.
Waging the War of Ideas (4. Aufl.). London: The Institute of Economic Affairs
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