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1. EinlEitung: PolitischE VidEos in sozialEn MEdiEn
1. Einleitung: Politische Videos
in Sozialen Medien
Im Internet hat sich eine neue Macht des bewegten
Bildes entwickelt. Jeden Tag verzeichnen die großen
Plattformen Milliarden von Videosichtungen, jede Mi-
nute strömen Hunderte Stunden neuer Videos in die
Sozialen Medien. Bereits jetzt machen Bewegtbilder
den Hauptteil des globalen Datenvolumens aus, und
Internetfirmen investieren weiter massiv in den Ausbau
ihrer Videotools. Web-, Online- oder Netzvideos dienen
dabei keineswegs nur der Werbung oder Unterhaltung.
Sie sind auch zu einem entscheidenden Mittel der po-
litischen Kommunikation geworden: weil sie Botschaf-
ten schnell und effektiv verbreiten, Zuschauer*innen1
emotional bewegen und sie zum Handeln motivieren.
Unterschiedlichste politische Akteur*innen nutzen
diese Möglichkeiten: Regierungen wie oppositionelle
Parteien, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) wie
Konzerne, Journalist*innen wie Künstler*innen, Gras-
wurzelbewegungen wie paramilitärische Einheiten. Mit
ihren Webvideos klären sie auf, sie klagen an, sie liefern
Beweise, Argumente und Erzählungen, mobilisieren
Verbündete und attackieren Gegner*innen.
Bisher haben die finsteren politischen Videos die
größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Fakes, Ma-
nipulation und Propaganda, die Hetze von Neonazis,
die Terrorvideos selbsternannter Gotteskrieger. Die-
ses Buch richtet den Blick dagegen vor allem auf einen
Einleitung aus: Jens Eder / Britta Hartmann / Chris Tedjasukmana:
Bewegungsbilder. Politische Videos in Sozialen Medien
ISBN 978-3-86505-750-1 © 2020 Bert z + Fischer Verlag | w ww.bert z-fischer.de
bewegungsbilder
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anderen, mindestens ebenso wichtigen Bereich: auf
die Videos des zivilgesellschaftlichen Aktivismus, pro-
duziert von Bürger*innen, NGOs oder sozialen Bewe-
gungen. Videoaktivist*innen machen Probleme sicht-
bar, wo viele wegschauen: wenn etwa Menschenrechte
verletzt werden, wenn Tatsachen wie der Klimawandel
geleugnet werden, wenn Macht missbraucht wird oder
wenn das Leid der gesellschaftlich Schwächsten igno-
riert wird. Der Videoaktivismus ist vielfältig, er kann
reform orientiert oder rad ikal, progressiv oder konservativ
agieren. Seine oft anonymen und losen Organisations-
formen entsprechen der offenen Struktur des Internets.
Mit einem Klick werden Bürger*innen zu User*innen,
beteiligen sich an der Intera ktion und Netzwerkbildung,
am Liken, Teilen und Partizipieren. NGOs, die auf ihre
aktuel le Kampagne aufmerksam machen, Protestbewe-
gungen, die sich um einen Hashtag wie #unteilbar oder
#M eTo o gruppieren, und politische Influencer*innen,
die in persönlichen Videoblogs ihre Meinung vertreten
– sie alle erlangen eine Reichweite, die vor der Etablie-
rung der Sozialen Medien nicht möglich war. Verlinkt
mit anderen Kanälen und Profilen, eingebunden in viel-
gestaltige Med ienumgebungen und in steter Wechselbe-
ziehung z wischen Online- und Offline-Öf fentlich keiten
bilden sie ein Gegengewicht zu den traditionell mäch-
tigen Akteur*innen in Medien, Politik und Wirtschaft.
In den letzten Jahren hat eine Vielzahl aktivistischer
Videos politischen Einfluss entfaltet. Dieser Einfluss ist
oft überregional, doch erlebten zahlreiche Länder ihre
spezifi schen Momente: Aufnahmen vom Tod der Demons-
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1. EinlEitung: PolitischE VidEos in sozialEn MEdiEn
trantin Neda Agha-Soltan während der Grünen Welle in
Iran 200 9 schockierten Menschen in al ler Welt. In Syrien
und anderen L ändern Westasiens und Norda frikas doku-
mentierten Zeugenvideos spätestens seit 2010 Staatster-
ror, Revolution und Krieg. In den USA hielten Webvideos
seit 2009 die Polizeigewalt gegen Afroamerikaner*innen
fest und lösen seit 2013 unter dem Hashtag Black Lives
Matter internationale Proteste aus, mit ne uer Wucht 2020
nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd. In China
erreichte 2015 die Webdoku Under the Dome innerhalb
weniger Tage vor ihrer Sperrung mindestens 160 Milli-
onen Views und befeuerte Debatten über die gravieren-
de Luftverschmutzung. Im selben Jahr erregte das spa-
nische Bürgerbündnis No Somos Delito (»Wir sind kein
Verbrechen«) Aufsehen, indem es Video-Hologramme
Rezo, Die Zer störung der CDU (2019)
bewegungsbilder
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anstelle von Menschen gegen ein Demonstrationsverbot
protestieren ließ. Im Vorfeld der Europawahl 2019 trieb
in Deutschland der YouTuber Rezo die Zerstörung der
CDU faktenreich voran, wofür er später mit mehreren
Journalistenpreisen ausgezeichnet wurde. Das Video er-
hielt bislan g über 17,5 Millionen Views al lein auf YouTube.
Diese Beispiele legen nur offen, was sich in unauf-
fälligerer Form tagtäglich ereignet: Aktivistische Web-
videos machen Politik. Sie sind zu entscheidenden Mit-
teln geworden, die mit Massenmedien, staatlichen Insti-
tutionen oder Interessengruppen interagieren und Pro-
testbewegungen antreiben können. Diese Entwicklung
wirft zahlreiche Fragen auf: Was ist eigentlich das Neue
in diesem Prozess? Wie ist er zu bewerten? Worin beste-
hen Chancen und worin Gefahren? Welche Bedeutung
hat er im Kontext der Digitalisierung? Was bedeutet er
für Politik und Öffentlichkeit, was für die gesellschaftli-
che Teilhabe von Bürger*innen? Worin genau besteht die
behauptete Macht der Videos? Welche rhetorischen und
ästhetischen Formen entfalten sie? Auf welche Weisen
wirken sie? Wo liegen ihre historischen Wurzeln? Aber
auch: Welche ethisc hen, rechtlichen und prak tischen Pro-
bleme tun sich auf? Wie manipulierbar sind Videos, wie
lässt sich ihre Faktizität und Authentizität sicherstellen?
Wie sorgen die Filmer*innen f ür ihre eigene Sicherheit und
den Schutz von Zeug*innen? Wie wahren sie die Privat-
sphäre der Gefilmten und deren Recht am eigenen Bild?
Dieses kleine Buch wird nicht alle diese Fragen be-
ant worten können. Es wird einige wesentliche Fragen
jedoch klarer fassen und Grundlagen zu ihrer Beant-
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1. EinlEitung: PolitischE VidEos in sozialEn MEdiEn
wortung vorstellen. Im Mittelpunkt stehen »Bewe-
gungsbilder« – audiovisuelle Bewegtbilder aus sozialen
Bewegungen, die Menschen emotional und politisch be-
wegen sollen. Doch viele unserer Beobachtungen lassen
sich auf andere Formen politischer Videos übertragen.
In öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen wer-
den bisher vor allem die politischen Akteur*innen, ihre
Anliegen und Aktionen sowie die Reaktionen in den
Massenmedien thematisiert. Die medialen Strukturen
und ästhetischen Formen der Videos dagegen, also die
Basis ihrer politischen Wirkung, werden meist ebenso
vernachlässigt wie ihre Geschichte und ihr spezifisches
Verhältnis zur Öffentlichkeit. Dieses Buch will das än-
dern. Es versteht sich damit als Beitrag zur Medienfor-
schung, aber auch zur allgemeinen politischen Bildung
(mit kompaktem Forschungsstand sowie einer reduz ier-
ten Menge an Referenzen und Fußnoten).
Das folgende Kapitel nimmt die zentrale politische
Rolle von Webvideos in der Gegenwart genauer in den
Blick und bietet eine knappe Übersicht über ihre typi-
schen Funktionen und Medienumgebungen. Das drit-
te Kapitel beschreibt, wie aktivistische Videos durch
ethische und politische Prinzipien ihrer historischen
Vorläufer geprägt sind, und hebt hervor, was man aus
der Geschichte des Film- und Videoaktivismus lernen
kann. Das vierte Kapitel widmet sich den Wirkungs-
weisen aktivistischer Videos und den Gestaltungsstra-
tegien, mit denen sie auf die Aufmerksamkeit und die
Affekte ihres jeweiligen Publikums zielen. Das fünfte
Kapitel untersucht die komplexen Verhältnisse des Vi-
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deoaktivismus zu gegenwärtigen Formen der politischen
Öffentlichkeit und seinen Anteil im Kampf um die
plurale, demokratische Öffentlichkeit. Diese Aspekte
werden durch Beispielanalysen aufschlussreicher oder
wirkmächtiger Videos veranschaulicht und münden im
sechsten Kapitel in ein Plädoyer für die Vielfalt des de-
mokratischen Aktivismus. Abschließend weisen wir mit
einer kommentierten Zusammenstellung von Links zu
videoaktivistischen Gruppen und nützlichen Quellen
auf Möglichkeiten hin, die eigene Medienkompetenz
zu vertiefen. Auch wenn sich die Landschaft politi-
scher Webvideos bereits beim Erscheinen dieses Bu-
ches in vieler Hinsicht geändert haben wird, dürften
seine Grundaussagen relevant bleiben.
Dass es dieses Buch gibt, ist einer Reihe von Perso-
nen und Institutionen zu verdanken: Die Publikation
sowie das dahinterstehende Forschungsprojekt wurden
von der VolkswagenStiftung gefördert. Das Internatio-
nale Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK)
in Wien ermöglichte durch ein Forschungsstipendium
wichtige Vorarbeiten. Katrin Fischer und Dieter Bertz
danken wir für Aufnahme in das Verlagsprogramm und
Maurice Lahde für sein umsichtiges Lektorat. Neben
unseren Kooperationspartner*innen möchten wir hier
besonders Leo Balk, Anja Breljak, Katja Crone, Neal
Graham, Jonathan Guggenberger, Leo Lippert, Chris-
tine N. Brinckmann und Friedrich Thorwald danken –
und nicht zuletzt den Aktivist*innen, mit denen wir
im Austausch standen. Mit ihren wertvollen Hinwei-
sen haben sie unser Buch klüger und lesbarer gemacht.