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POLITISCHES FEUILLETON | Beitrag
vom 23.09.2020
Bibliotheken und Corona
Zerbrechliche Orte des öffentlichen Raums
Beobachtungen von Melike Peterson
Für viele sind Bibliotheken Orte des Kontaktes. Der übliche Aufenthalt dort war we-
gen Corona lange unmöglich, nun kann man sie wieder besuchen. Die Stadt-
geografin Melike Peterson beschreibt, wie die Krise diese öffentlichen Räume
beschädigt hat.
Corona hat öffentliche Orte zur Sperrzone oder Opfer strikter Regulationen gemacht. Ziel
ist es, dichte Menschenansammlungen und eine weitere Ausbreitung des Virus zu verhin-
dern. Jedoch haben die Krisenmaßnahmen städtisches Leben vielerorts schlagartig
verändert. Trägt Corona so womöglich zum weiteren Verfall oder gar Tod des öffentlichen
Raums bei?
Die These vom Verfall der Öffentlichkeit besteht seit den 1990er-Jahren. Gemeint waren
damit bislang vor allem die Zunahme von wirtschaftlichem Denken sowie Event- und Mar-
ketingstrategien bei der Planung und Entwicklung von Städten. Corona gefährdet diese
Grundqualitäten des öffentlichen Raums auf neue Weise.
Kontrollierte Orte mit distanzierter Atmosphäre
Der öffentliche Raum hat sich durch Corona verändert. In vielen Städten wurden öf-
fentliche Orte wie Bibliotheken zwar wiedereröffnet, allerdings mit zahlreichen Ein-
schränkungen. Besuchende sollen sich nicht länger als nötig in der Bibliothek aufhalten
und verweilen – eine wichtige Motivation vieler Bibliotheksgänger – und der Besuch ist
weitestgehend auf die Ausleihe und Rückgabe von Medien beschränkt.
Bibliotheken sind durch diese neuen Regeln auffallend ruhig und geordnet geworden. Sie
haben sich von Orten des Verweilens in rein funktionale Orte verwandelt. Es sind „gere-
inigte“ Orte: schwierig und unbequem zu nutzen, mit wenig Raum für Spontaneität und Zu-
fall.
Die kontrollierte Bibliothek fühlt sich auch anders an und viele Menschen erschrecken über
die nun distanzierte und misstrauische Atmosphäre, die ihnen auch in anderen öffentlichen
Orten entgegenschlägt. Dankbar, weiterhin Zugang zur Bibliothek und ihren Dienstleistun-
gen zu haben, wünschen sich die meisten dennoch die normale Bibliothek – sozial und
zugewandt – zurück.
Bedürfnis nach sozialen Infrastrukturen
Regierungen und Behörden greifen in Krisenzeiten oft zu Maßnahmen der Steuerung und
Kontrolle. Die Steuerungs- und Kontrollmaßnahmen im Rahmen der Coronakrise haben
dennoch dafür gesorgt, dass sich unser Verhalten und Umgang miteinander in Biblio-
theken und im öffentlichen Raum allgemein und fundamental geändert hat.
Aber es ist noch nichts verloren. Denn Krisen rücken die Bedeutung städtischer Wohnz-
immer, das Bedürfnis nach ihnen und deren Erhalt weiter in den Vordergrund: Gerade
dann, wenn soziale Infrastrukturen wie Bibliotheken unerwartet und sichtbar wegbrechen,
wird uns als Gesellschaft bewusst, wie wichtig diese Orte für unser Zusammenleben sind.
Was können wir als Gesellschaft aus den letzten Monaten lernen? Das Coronavirus hat
normales Verhalten in Bibliotheken und anderen öffentlichen Räumen stark verzerrt. Es ist
gut möglich, dass selbst der vorübergehende Wegfall dieser städtischen Wohnzimmer
bleibende Spuren in unserem Umgang miteinander hinterlassen wird.
Zerbrechliche Öffentlichkeit braucht Schutz
Die Coronakrise zeigt aber auch, dass der öffentliche Raum ein wichtiges Stück sozialer
Infrastruktur ist und eine unabkömmliche Begegnungsstätte in der Stadt darstellt, die es
sich lohnt zu schützen und zu stärken. Die Stadt der Zukunft braucht Wohnzimmer, da sich
Städte zunehmend baulich verdichten, es weniger private Außenräume gibt und die
soziale Diversität steigt.
Und Corona zeigt, wie schützenswert insbesondere Bibliotheken sind. Bibliotheken sind
wichtige Orte des Zusammenlebens und der Öffentlichkeit, denn sie erfüllen zentrale
Funktionen im Gewebe jeder Stadtgesellschaft: Sie sind Orte der Begegnung zwischen
Menschen unterschiedlicher Herkunft und Gesinnung. Sie sind Orte der Bildung und des
Lernens, wichtig gerade für Menschen, die sonst keinen Zugang zu einem Computer oder
Bildungsmöglichkeiten haben.
Und sie sind Orte des Aufenthalts, in denen man Zeit verbringen kann, auch ohne Geld
auszugeben.
Welche Krisen auch kommen, Bibliotheken helfen uns, sie zu überstehen.