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Jasmin Donlic/Georg Gombos/Hans Karl Peterlini (Hrsg.)
Lernraum Mehrsprachigkeit
Verö entlicht mit Unterstützung des Forschungsrates der
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt und der Fakultät für
Kulturwissenschaften der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt
In Zusammenarbeit mit
DRAVA VERLAG • ZALOŽBA DRAVA GMBH
9020
Klagenfurt/Celovec, Gabelsbergerstraße 5
Telefon +43(0)463 501099
of ce@drava.at
www.drava.at
Copyright © dieser Ausgabe 2019 bei Drava Verlag
Klagenfurt/Celovec
Alle Rechte dieser Ausgabe vorbehalten
ISBN 978-3-85435-846-6
ISBN 978-88-7223-335-1
Jasmin Donlic/Georg Gombos/Hans Karl Peterlini (Hrsg.)
LERNRAUM
MEHRSPRACHIGKEIT
Zum Umgang mit Minderheiten- und
Migrationssprachen
DRAVA VERLAG
Inhalt
Vom Önen der Räume – ein Vorwort 7
Theoriebausteine 10
Sprache und Macht – Hans Karl Peterlini 11
Sprache und (hybride) Identität – Jasmin Donlic 27
Sprache und Bildung – Hans Karl Peterlini 40
Sprache und Biographie – Georg Gombos 60
Sprache und Leib – Hans Karl Peterlini 74
Sprache und systemisches Denken – Georg Gombos 92
Perspektive Minderheitensprachen 106
Miha Vrbinc
Slowenisch lernen wollen – und können
Durchgängige und nachhaltige zweisprachige Bildung
(Slowenisch-Deutsch) im Kärntner Schulwesen. Ein Überblick 107
Georg Gombos
Zwei- und Mehrsprachigkeit früh fördern
Sprachpädagogische Arbeit in elementarpädagogischen
Einrichtungen im Kontext von autochthonen Minderheiten am
Beispiel der Kärntner Slowenen 123
Hans Karl Peterlini
Wenn Vielfalt Raum bekommt
Unterrichtsmomente und Lehr-Lern-Erfahrungen an der
slowenisch-deutschsprachigen Modellschule VS24 in
Celovec-Klagenfurt 144
Roland Verra
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
Zur Geschichte, Lage und Zukunsfähigkeit der ladinischen
Sprache 169
Luca Melchior
Ein Steinchen im Mosaik der Mehrsprachigkeit
Gesetzlicher Rahmen, Erfahrungen und Herausforderungen
des Friaulischunterrichts in Schulen der Region Friaul Julisch
Venetien 185
Hans Karl Peterlini
Magari mehrsprachig
Das Sprachenmodell Südtirol – von ungenutzten Möglichkeiten,
alarmierenden Befunden und jugendlichem Pragmatismus 199
Perspektive Migrationssprachen 220
Jasmin Donlic
… weil es gibt keine schlechte Sprache …
Umgang mit sprachlich-kultureller Vielfalt an Volksschulen.
Ergebnisse und Perspektiven im urbanen Raum 221
Dietmar Larcher
Parkisch
Selbstermächtigung und Neukonstruktion als Antwort auf
sprachliche Unterernährung 237
Irene Cennamo
Sprache performiert – aber wie orientiert sie den
(wissenschalichen) Diskurs?
Eine Zusammenschau kritischer Erwachsenenpädagogik
und sprachbezogener Bildungsaspekte zur Begründung eines
erwachsenengerechten Rahmens für Lernen und Forschen 253
Angelika Hrubesch/omas Fritz
Mehrsprachig die Welt lesen und schreiben
Mehrsprachige Basisbildung für Migrantinnen und Migranten 277
Autorinnen und Autoren 290
7
Vom Önen der Räume - ein Vorwort
Lernraum Mehrsprachigkeit meint einen gleichwohl symbolischen wie
sozialen Raum (vgl. Lefebrve 1974 und Bourdieu 1989), der von Mit-
menschen, Familie, Freunden, sprachlich-kulturellen oder auch schu-
lischen oder beruichen Gruppen bevölkert und durchwirkt ist. In so
gedachten Räumen, die sich von physischen Räumen unterscheiden
und sich trotzdem mit diesen überschneiden, wirken Personen, soziale
Gruppen, Normierungen, kulturelle, ökonomische und machtstruktu-
relle Bedingungen jeweils aufeinander ein und auf den Raum zurück,
den sie zugleich hervorbringen. Lernraum Mehrsprachigkeit meint da-
mit auch einen Raum, den die Lernenden betreten können, mitgestal-
ten können und in dem sie auf die anderen Verbindungen und Rela-
tionen einwirken können. Dies kann in stärkerem oder schwächerem
Ausmaß möglich sein, das Individuum wird hier einerseits als einge-
bunden und beeinusst von allen anderen Faktoren im symbolischen
und sozialen Raum betrachtet, zugleich aber als Mitgestalter/in dieser
Raumwelt verstanden. Es antwortet im Zusammenwirken mit ande-
ren auf den durch gesellschaliche, kulturelle Regelungen, Konven-
tionen, Atmosphären geprägten Lernraum, erndet, erprobt, macht
eigene Erfahrungen, verändert dadurch den Raum und wird von die-
sem verändert. Das heißt, das Verhältnis der Beteiligten zueinander
ist dynamisch und nicht statisch. Umgekehrt gilt es zu fragen, wie der
Lernraum – über seine nicht im Detail steuer- und planbaren Prozesse
hinaus – für das Individuum und seine Bezugsgruppen bewusst ge-
staltet werden kann – im Sinne förderlicher emotionaler Lernbedin-
gungen (Akzeptanz, Beziehungen, Vertrauen, Haltung), förderlicher
kognitiver Lernbedingungen (lebensweltlich relevante Inhalte), struk-
tureller Lernbedingungen (Zeit, Begegnungsraum) und politischer
Lernbedingungen (Gleichberechtigung, Teilhabe). Der Lernraum
Mehrsprachigkeit soll einladen zum Betreten, zum Mitmachen, Mit-
spielen, das Individuum soll sich gerne und mit Neugierde in den und
im Raum bewegen, nicht sich zurückziehen oder verängstigt iehen.
Für ein Verständnis von Sprache und Mehrsprachigkeit als Lern-
raum bieten sich unterschiedliche Ansätze an, so vor allem systemi-
sche, konstruktivistische, phänomenologische, praxeologische. Der
vorliegende Band setzt einerseits theoretisch an, wichtige Aspekte von
Mehrsprachigkeit zu reektieren, andererseits werden Beispiele aus
der Forschung und pädagogischen Praxis dargestellt und diskutiert.
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Ein wesentliches Ziel dieses Buches ist, die Erfahrungen und Pers-
pektiven von autochthonen und allochthonen Minderheiten in einem
Band darzustellen – nicht zuletzt in der Honung, dass damit Verbin-
dungslinien sichtbar und Anregungen für gegenseitige Befruchtung
möglich werden.
Der Band ist in drei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird versucht,
Sprache mittels thematisch fokussierter eoriebausteine in ihrem
Zusammenwirken mit gesellschalich wichtigen Einüssen (Macht,
Bildung), Bedingtheiten und persönlichen Gestaltungen (Biographie,
Identität) sowie fruchtbaren Denkansätzen (Leibphänomenologie,
Systemisches Denken) in Verbindung zu setzen. Alle diese Beiträge
folgen in der Struktur ihres Titels dem Muster von „Sprache und …“,
sie thematisieren mögliche Zugänge und Verständnisweisen von Spra-
che(n) und ihrer Bedeutung für das Menschsein.
Der zweite Teil betrachtet das ema Mehrsprachigkeit aus der
Perspektive von autochthonen Minderheiten, wobei insbesondere
auf den Alpen-Adria-Raum fokussiert wird. Es nden sich Beiträge
zu Kärntner Slowenen (Vrbinc, Gombos, Peterlini), zur sprachlichen
Situation in Südtirol (Peterlini) und speziell zu jener der Südtiroler La-
diner (Verra) sowie zur Situation des Friulanischen (furlan) in Friaul
(Melchior).
Der dritte Teil ist der Mehrsprachigkeit in der Perspektive von Migra-
tion gewidmet. Die Beiträge reichen von schulischen Beispielen gelun-
gener Integration (Donlic) über kreative Sprachaneignung migran-
tischer Jugendlicher (Larcher) bis zum ema Alphabetisierung und
Erwachsenenbildung (Cennamo, Fritz/Hrubesch). Die Unterschied-
lichkeit der Ansätze und Zugänge entspricht dem ema – Mehr-
sprachigkeit ist nicht Einförmigkeit und sprengt per se auch formale
Einheiten. So kann und will das Buch nicht eine einheitliche eorie
von Sprache und eine lexikale Bearbeitung von Sprachräumen bieten,
sondern versucht, vielfältige Ansichten von Mehrsprachigkeit exemp-
larisch und aus unterschiedlichen Positionen aufzuzeigen und Einbli-
cke in Sprachwelten, Sprachforschung, Sprachtheorie, Sprachpolitik zu
gewähren. Wir laden Leserinnen und Leser dazu ein, den Lernraum
Mehrsprachigkeit zu betreten und – sich darin umschauend – diesen
mit eigenen Aha-Erlebnissen, Erkenntnissen oder auch Befremdungen
und Widersprüchen zu entdecken und weiter mitzugestalten.
Jasmin Donlic, Georg Gombos, Hans Karl Peterlini
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Literatur
Bourdieu, Pierre (1989): Sozialer Raum, symbolischer Raum. In: Dünne, Jörg/Günzel,
Stephan (Hg.) (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kultur-
wissenschaen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 354-368.
Lefebvre, Henri (1974): Die Produktion des Raums In: Dünne, Jörg/Günzel, Stephan
(Hg.) (2006): Raumtheorie: Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissen-
schaen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, S. 330-340.
10
Theoriebausteine
11
Hans Karl Peterlini
Sprache und Macht
Es ist die füne Unterrichtsstunde. Frau Baldini, die Italienischleh-
rerin, bespricht mit den Schülerinnen und Schülern einen Film, den
sie sich in der letzten Woche gemeinsam angesehen haben. Benjamin
liegt mit seinem Oberkörper auf dem Tisch und verbirgt das Gesicht
in seinen Armen. Frau Baldini wird auf ihn aufmerksam. [Wiederholt
fragt die Lehrkra, was Benjamin hat und ob er vielleicht krank ist, er
sagt immer nur „no“], legt seine Arme übellaunig auf den Tisch und
verbirgt erneut seinen Kopf darin. Frau Baldini wendet sich wieder
der Klasse zu und stellt den Kindern einige Fragen über den Film.
Plötzlich richtet sich Benjamin abrupt auf, schiebt seinen Stuhl mit
einem Ruck nach hinten und lehnt sich so weit zurück, bis nur noch
die hinteren Stuhlbeine den Boden berühren. Dabei schüttelt er seine
Haare. Nach einigen Sekunden beugt er sich völlig unvermittelt wie-
der nach vorne, so dass sein Stuhl mit einem lauten Knall wieder den
Boden berührt. Durch den Aufprall wird der Tisch nach vorne ge-
schoben, Benjamins Federpennal fällt auf den Boden. Sämtliche Stie
kullern heraus. Wütend steht Benjamin auf, wir sich zornig auf den
Boden und bleibt vorerst regungslos liegen. Frau Baldini und die Kin-
der beobachten Benjamin irritiert. Da sich Benjamin oensichtlich
nicht verletzt hat, fährt sie mit dem Unterricht fort. Nach einiger Zeit
steht Benjamin geräuschvoll auf und beginnt seine Stie einzusam-
meln. Als er damit fertig ist, setzt er sich wieder mürrisch an seinen
Platz. Mit nsterer Miene starrt er vor sich hin. Nach einiger Zeit stellt
Frau Baldini Benjamin eine Frage. Benjamin sieht sie weder an, noch
gibt er ihr eine Antwort. Griesgrämig blickt er ins Leere. (BB2_01, aus
Peterlini 2015, S. 159)
Frau Brunner wiederholt mit den Schülerinnen und Schülern den
Sto der letzten Geschichtestunden, indem sie Fragen über das Rö-
mische Reich stellt. Benjamin arbeitet auallend eifrig mit und zeigt
beinahe bei jeder Frage auf. Frau Brunner nimmt ihn immer wieder
dran. Als sie wissen möchte, woher der Name Europa kommt, bleibt
es vorerst still. Niemand scheint die Antwort zu wissen. Plötzlich hört
man ein lautes „Ah! Ich weiß es!“ Gleichzeitig hebt Benjamin begeis-
tert mit einem Ruck seine Hand. „Ja, Benjamin“, fordert die Lehrerin
12
freundlich lächelnd auf. „Das geht auf eine Sage zurück“, erwidert er
enthusiastisch. „Ja, genau. Sehr gut, Benjamin“, lobt ihn die Lehrerin.
„Weißt du noch mehr darüber?“ Benjamin überlegt angestrengt. „Ja“,
meint er gedehnt. „Das war eine, die diesen Namen hatte!“ „Ganz ge-
nau“, erwidert die Lehrerin. „Das war die Tochter des phönizischen
Königs Agenor, die Europa geheißen hat. Nach ihr wurde unser Kon-
tinent benannt. Sehr gut!“ Benjamin strahlt. (BB2_03, aus Peterlini
2015, S. 177)
Der Zusammenhang von Sprache und Macht erschließt sich am leich-
testen, wenn er von seinem negativen Extrem her gedacht wird, von
Momenten, in denen uns die Worte fehlen, die Sprache abhanden-
kommt. Das kann der Fall sein, wenn wir von Ereignissen überwäl-
tigt werden, gegen die wir nichts ausrichten können, Nachrichten der
Endgültigkeit empfangen wie der Abschied eines geliebten Menschen
in den Tod oder in die Trennung, das Erfasst- oder Mitgerissen-Wer-
den von Ereignissen, Katastrophen oder Mächten, die alle verfügbaren
Antwortmöglichkeiten übersteigen, das Ausgesetzt-Sein einer Unge-
rechtigkeit oder Gewaltsituation, gegen die kein Widerstand möglich
scheint, oder auch nur eine scheinbar grundlose Verstimmung wie im
Falle Benjamins in der ersten Vignette aus einem Lernforschungspro-
jekt (Baur/Peterlini 2016). Mit dem Sprechen-Können gewinnen wir
dagegen Spielräume zurück, zur Gegenwehr oder Verteidigung, zum
Einnehmen eines eigenen Standpunktes, zur Mitteilung und damit
auch Teilung der eigenen Überwältigung, der eigenen Not, der eige-
nen Bedürfnisse, zur Verarbeitung der erfahrenen Situation von Ohn-
macht und Machtlosigkeit, zur Positionierung in einer Gemeinscha
(wie vielleicht Benjamin in der zweiten Vignette). Mit dem Sprechen
gewinnen wir Macht zurück und gelangen in die Ermächtigung, wo
vorher Sprachlosigkeit und Ohnmacht herrschten.
Sprache verleiht Macht, und Macht verleiht Sprache. Sie ermöglicht,
zuallererst wohl, die Benennung, Mitteilung und damit zumindest
teilweise auch Aneignung, Kontrolle und Beherrschung von Dingen,
Gefühlen, Gedankeninhalten. Wofür es Worte gibt, das wird aus-
sprechbar, es geht ein in das Begrien-Werden, in die Begriichkeit
menschlicher Ordnungen (vgl. Foucault 1974). Dies gilt für Gegen-
stände und Tiere ebenso wie für Imaginationen der Honung (z.B.
Himmel und Götter) oder Schreckensbilder der Angst (z.B. Hölle und
Teufel). In der Einleitung für „Die Ordnung der Dinge“ grei der fran-
Hans Karl Peterlini
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zösische Philosoph und Soziologe Michel Foucault eine von Jorge Luis
Borges zitierte chinesische Enzyklopädie auf, in der die Tiere nach fol-
genden Kriterien gruppiert werden: „a) Tiere, die dem Kaiser gehören,
b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f)
Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i)
die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus
Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug
zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen.“ (Borges
1966, S. 212) Eine solche Ordnung führt für Foucault in eine Welt-
wahrnehmung, die nicht möglich ist, „außer auf der Buchseite, die sie
wiedergibt [...], außer in der Ortlosigkeit der Sprache“ (Foucault 1974,
S. 12).
Sprache befähigt und ermächtigt dazu, Wirklichkeiten zu erschaf-
fen, die nicht begreiar sind, Ordnungen zu verlassen, die uns ge-
geben scheinen, die vermeintliche Natur der Zusammenhänge zu
überwinden und neue Zusammenhänge einer ebenso vermeintlichen
Kultur zu erstellen. Die Sprache erscha und ordnet die Welt, wie wir
sie erleben. Dies scha noch nicht zwingend ein Begreifen des Un-
begreiichen wie des Todes oder des Rätselhaen wie der Entstehung
des Universums, aber es ermöglicht einen Umgang damit – und damit
wächst Macht zu, wo sonst Ohnmacht wäre. Allein schon die Mög-
lichkeit, gegenüber den Sinnfragen unserer Existenz, gegenüber Un-
gerechtigkeiten, Grausamkeiten, Ausbeutungssituationen, gegenüber
der Tyrannei bedrückender Gefühle Worte auieten zu können, lin-
dert die Not des Ausgeliefertseins zugunsten von Handlungsmöglich-
keiten, und seien diese noch so prekär. Nicht umsonst nannten Josef
Breuer und Sigmund Freud (1990/1895, S. 23) in den Pionierjahren
der Psychoanalyse ihre neue Methode eine „Redekur“, mittels derer
unbewusste existenzielle Ängste des Menschen, abgespaltene Trauma-
tisierungen, verdrängte und daher quälende psychische Anteile des
eigenen Selbst ausgesprochen und damit bearbeitbar würden.
Dies verweist zugleich darauf, dass Sprechen per se in Beziehungs-
geschehen eingebettet ist und des Zuhörens bedarf, somit konstitutiv
auf eine/n Andere/n angewiesen ist. In seinem Aufsatz „Ueber die all-
mähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“ präzisiert Heinrich
von Kleist (1986 [1805]), dass selbst inneres Monologisieren immer
ein Sprechen zu jemandem sei, auch wenn die oder der Zuhörer/in
nur imaginiert wird oder eine externalisierte Ich-Vorstellung ist. So ist
es um die Sprache ähnlich bestellt wie um die Macht. Diese existiert
Sprache und Macht
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nach Foucault nicht für sich selbst, ist kein irgendwie zu hortender
Besitzstand, sondern entsteht und entfaltet sich erst in Beziehungs-
und Kräeverhältnissen (vgl. Foucault 1976, S. 113f), die sie zugleich
mithervorbringt, durchwirkt und gestaltet. Auf ähnliche Weise ist
Sprache – im weitesten, auch nonverbalen Sinne – Voraussetzung für
zwischenmenschlichen Austausch, der wiederum Bedingung für das
Entstehen von Sprache ist. Nur im Miteinander-Handeln von Men-
schen, wie der Philosoph Ludwig Wittgenstein in seinen „Philosophi-
schen Überlegungen“ (Wittgenstein 1985 [1953]) anschaulich darlegt,
konnte Sprache entstehen und ihre – wandlungsfähigen – Bedeutun-
gen erwerben. In diesem erst posthum veröentlichten Werk verlässt
Wittgenstein weitgehend seine ursprüngliche, im Tractatus logico
philosophicus (Wittgenstein 1984 [1921], S. 85, TLP 7) begründete
Sprachtheorie einer völligen Übereinstimmung zwischen den sprachli-
chen Zeichen und der von ihnen bezeichneten Wirklichkeit. In seinem
späten Ansatz dagegen ist Sprache geschichtlich gewachsen und stän-
dig neu im Werden: Wie in einer alten Stadt seien in der Sprache ältere
Schichten und Inhalte durch neue überlagert, die sich immer weiter in
Vororten und Randbezirken verzweigen (ebd., S. 245). Wortreichtum,
Architektur, grammatikalische Feinstruktur und inhaltlicher Gehalt
von Sprache verdanken sich den Sprachspielen von Menschen in ih-
ren Sprechhandlungen. Sprache geht somit aus dem hervor, was Men-
schen miteinander tun, und wird Ausdruck für eben dieses Handeln.
Die vielzitierte Sentenz im Tractatus, dass es jenseits der Sprache keine
Möglichkeit des Verstehens und der Aneignung von Welt gibt, bleibt
damit zwar aufrecht – „wovon man nicht sprechen kann, darüber muß
man schweigen“ (Wittgenstein 1984 [1921], S. 85, TLP 7). Das damit
verbundene Axiom „Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Gren-
zen meiner Welt“ (Wittgenstein 1984 [1921], S. 67, TLP 5.6., Herv.i.O.)
ist aber im Zusammendenken mit der späteren Sprachtheorie insofern
geönet, als dass im Sprachspiel – also im konkreten Umgang von
Menschen miteinander mittels des Sprechhandelns – die Grenzen der
durch Sprache verstehbaren Welt jeweils aufs Neue ausgehandelt und
bestimmt werden können. Mit seiner Sprachphilosophie leitete Witt-
genstein den linguistic turn in Philosophie und Geisteswissenschaen
ein, wonach Erkenntnis nur durch sorgfältiges Reektieren darüber
erreicht werden kann, wie Sprache die vermeintliche Wirklichkeit
gestaltet oder verunstaltet. Eben weil Sprache Wirklichkeit nicht eins
zu eins abbildet, ermöglicht sie Reexion, Kritik und Verständnis da-
Hans Karl Peterlini
15
rüber, wie Menschen ihre Wirklichkeit wahrnehmen, benennen und
konstruieren.
So geht das Verstehen von Welt mit Erweiterungen, Ausfaltungen,
Wandlungen der Sprache einher. Hinter die „Sprachmauer“ dagegen,
wie Jaques Lacan in seiner Weiterentwicklung der Freud’schen Psy-
choanalyse das Eingesperrtsein des Menschen in das Netz aus Bezie-
hungsmustern, Verständnisstrukturen, Grammatiken des Denkens
und Sprechens nennt, führt kein Weg (vgl. Ragland-Sullivan 1989, S.
77). Unabhängig voneinander haben Lacan und der für die jüngere
Linguistik wegbahnende Ethnologe Claude Lévi-Strauss die Sprache
in einem zweischneidigen Sinne als „Gabe“ bezeichnet. So präfor-
miert Sprache für Lévi-Strauss die gesamte Erfassungsmöglichkeit
des Menschen gegenüber seiner Welt (vgl. Lévi-Strauss 2009 [1964],
S. 26), Sprache stellt als Gabe und Gegebenes die Grundstruktur der
erfassbaren Welt dar (vgl. Horlacher 2006, S. 265). Für Lacan ist die
Gabe der Sprache jener „Ermöglichungsgrund“ von Welt (ebd.), der
den Menschen so erscha, wie er sich in der Welt erfahren kann, da
es „die Welt der Worte ist, die die Welt der Dinge scha“ (Lacan 1991
[1953-1954], S. 117). Das Reale hinter der durch Sprache erfahrbaren
Welt, der sogenannte Seinshintergrund, ist den Menschen entzogen,
da sie nur über die Sprache und deren Wirklichkeitskonstruktionen
Zugang zur Welt haben.
Das Zusammenwirken von Sprache und Macht bedeutet in einem
solchen Verständnis, dass der Mensch, wiewohl er durch Sprache zu
Macht über die Dinge der Welt gelangen kann, selbst unter der Macht
der Sprache steht. Er verdankt ihr das Verstehen und reektierte Han-
deln in der Welt und ist doch ihren Einbahnungen von Denken und
Handeln ausgesetzt. Weiterführend für ein solches Verständnis von
Sprache, wonach ihre Inhalte nicht deckungsgleich mit der von ihr
beschriebenen Wirklichkeit sind, war die Entkoppelung von Zeichen
und Bedeutung durch den Linguisten Ferdinand de Saussure (vgl.
Nöth 1985, S. 59-67). Die Buchstaben eines Wortes – ob Wald oder
Blut – sind als Zeichen, Symbole, Signikanten zu verstehen, die sich
nicht mit den benannten Inhalten oder Bedeutungen, den Signika-
ten, decken. So ist jedes Sprechen mit einem Überschuss und einer
Unschärfe von Bedeutungen ausgestattet, die ein sicheres Beherrschen
der Inhalte durch die Sprache nicht nur verunmöglichen, sondern die
Menschen selbst der Sprache und ihren sich teils überlagernden, teils
verborgenen Inhalten ausliefern. Claude Lévi-Strauss spitzt das Gefan-
Sprache und Macht
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gensein des Denkens in den – vielfach imaginierten, zu großen Erzäh-
lungen und Mythen verdichteten Inhalten von Sprache – soweit zu,
dass es gar nicht so sei, dass die Menschen in Mythen denken, sondern
dass „sich die Mythen in den Menschen ohne deren Wissen denken“
(Lévi-Strauss 2009 [1964], S. 26).
Wiewohl Sprache damit die Wirklichkeit hinter den Dingen ver-
hüllt, scha sie zugleich jene Wirklichkeit, in der Menschen sich be-
wegen und leben. In einer Fußnote zu den „Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie“ erzählt Freud, wie ein Dreijähriger im dunklen Zim-
mer seine in Rufweite liegende Tante bittet, sie möge mit ihm spre-
chen, weil er sich vor der Dunkelheit fürchte. Die Tante antwortet
verwundert, dass ihm ihr Sprechen wenig helfen würde, da er sie ja
in der Dunkelheit doch nicht sehe. Das mache nichts, sagt das Kind,
„wenn jemand spricht, wird es hell“ (Freud 1972 [1905], S. 128). In der
von Freud nicht weiter ausgeführten Anekdote erhellt das Sprechen
die Dunkelheit des Raumes und des menschlichen Daseins. Sprache
kann Menschen auelfen und sie in ihre Macht bringen, sie aus der
Ohnmacht der Dunkelheit befreien. Findet das Sprechen aber keine
Zuhörer/in und keine Antwort, bleibt es nster.
Sprache ermächtigt Menschen nicht nur zum Verstehen, Erschlie-
ßen und Aneignen von Welt, sondern setzt die Sprechenden auch
der „Macht des Irrtums“ aus, wie die phänomenologische Pädago-
gin Käte Meyer-Drawe (2000, S. 73-87) den Widerspruch benennt,
dass Sprache einerseits ein unverzichtbares Instrument des Denkens
und Begreifens von Welt ist und andererseits nie eindeutig ist und die
Angewiesenheit auf den/die Andere/n bedingt, da weder Sprechen
noch Zuhören autonome Prozesse sind, sondern immer von einem
Gegenüber mitbestimmt werden. „Sprechen, das ist nicht nur mei-
ne eigene Initiative; Zuhören, das heißt nicht nur, die Initiative des
Anderen über sich ergehen lassen.“ (Merleau-Ponty 1984 [1969], S.
158) Auch hier zeigt sich, wie Sprache und Macht grundlegend auf
Sozialität angelegt und angewiesen sind und wohl auch dadurch in
ihrer Wirkung wechselseitig verochten, teilweise kaum voneinander
zu unterscheiden sind: dass Macht Sprache stiet und Sprache Macht
verleiht. Eine ähnliche Wechselwirkung zeigt Foucault am Wissen auf,
das nicht nur – wie landläug verstanden – Macht verleiht, sondern
durch Macht überhaupt erst hervorgebracht wird (vgl. Foucault 1976,
S. 39), da jene, die Macht haben, auch bestimmen können, welches
Wissen mehr oder weniger relevant ist. Analog lässt sich zum Verhält-
Hans Karl Peterlini
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nis von Sprache und Macht sagen, dass Sprache einerseits Macht ver-
leiht, Macht aber auch bestimmt, welche Sprache in einer Gesellscha
mehr oder weniger oder gar keine Gültigkeit hat, mehr oder weniger
oder gar kein Prestige genießt – siehe allein die Wertungen gegenüber
Minderheitensprachen, Dialekten, Sprachen von Migrantinnen und
Migranten, Milieusprache vs. Bildungssprache. Zum Beispiel lässt
sich durchaus darüber nachdenken, dass die zunächst von Jugend-
lichen begonnene Verwendung des Dialekts in digitalisierten Nach-
richten (SMS, Whatsapp), mittlerweile teilweise auch in Werbung,
Talkshows, Radioformaten übernommen, auf Ermächtigungsprozes-
se verweist, die in Abgrenzung von der etablierten und vorgegebenen
Hochsprache erfolgen.
Der gesellschaliche Stellenwert einer Sprache entscheidet mit, ob
sie ermächtigen kann oder nicht. Die radikalste Verbindung zwischen
Sprachlosigkeit und Ohnmacht stellt die postkolonialistische eore-
tikerin Gayatri Chakravorty Spivak her, indem sie provokativ die Frage
stellt, ob Subalterne überhaupt sprechen können: „Can the subaltern
speak?“ (Spivak 2008) Spivak entwickelt diese Fragestellung an einem
extremen Beispiel, nämlich der Witwenverbrennung (satī/englisch
suttee) in Indien, die unter der Zeit der britischen Administration zwar
verfolgt wurde, andererseits aber gerade dadurch in ausgegrenzten
Gruppen dazu (ver)führte, durch die – nun verbotene – Wiederauf-
nahme des Rituals ein Bekenntnis zur eigenen Kultur abzulegen (vgl.
ebd., S. 83). Dies könnte als Zeichen eines Sprechens aus äußerster
Ohnmacht gelesen werden, als ein Protest der Unterdrückten durch
Selbstverbrennung, weil es der Fremdbestimmung einen – wenn auch
suizidalen – Akt entgegensetzt. In den Diskursen über Macht und
Ohnmacht ist eine solche Freiheit, den Tod als Widerstand gegen die
Unterdrückung zu wählen, ein oener Streitfall. Für Foucault ist selbst
ein Sklave nicht ohnmächtig, da er sich prinzipiell den Befehlen seines
Herrn entziehen kann, etwa durch Flucht (vgl. Foucault 1994, S. 255f).
Auf diese Weise grenzt Foucault Machtbeziehungen von Gewalt- und
Herrschasbeziehungen ab, in denen es keine Spielräume für Ermäch-
tigung mehr gibt. Der Gegenwartsphilosoph Byung-Chul Han zieht
dies in seiner Analyse westlicher Machttheorien durch bewusste Über-
drehung ins Absurde: Stringent gedacht wäre dann der Sklave solange
nicht machtlos, solange er zu seiner Versklavung um den Preis, getötet
zu werden, Nein sagen könne (vgl. Han 2005, S. 125f). Nein-Sagen
können (und den Tod hinnehmen) wäre dann ein Ausdruck von Spre-
Sprache und Macht
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chen-Können und damit ein Hinweis auf eine wenn auch noch so pre-
käre Machtbeziehung in Abgrenzung von Gewaltverhältnissen.
Das Paradoxon – Spivak nennt es eine „gründliche Ironie“ (Spivak
2008, S. 93) – liegt darin, dass die Selbstverbrennung kein selbstbe-
stimmter Akt zur Freiheit ist, sondern dem Ritual einer asymmetri-
schen Machtverteilung entspringt, nach der die Frau (auch ökono-
misch bedingt) ein Objekt des Mannes ist, dem sie in den Tod folgen
muss, weshalb sie sich mit seiner Leiche verbrennen lässt. Unter der
Diskursmacht einer Fremdherrscha, die gegen das Ritual normativ
ankämp, es zugleich aber auch als Legitimation seiner Entkultura-
lisierungsstrategien benutzt, wandelt sich die tödliche Unterordnung
zynisch in eine Befreiungstat wider die Besatzer: Die absolute Ohn-
machtshandlung der Frau gewinnt oder erweckt zumindest den An-
schein eines mutigen Sprechens und wird dadurch erst sprachlos. Ihre
Ohnmacht wird von einem Diskurs aufgesaugt und in den Dienst
genommen, der die Frauen als Grabbeigaben ihres Mannes nicht zu
einem eigenen Sprechen kommen lässt, ja all das, was sie sprechen
könnten und müssten, ins Gegenteil verkehrt. Opfern sie sich, handeln
sie unter den Zwängen einer patriarchalen Subalternität, die von den
Besatzern gegen ihre Herkunskultur gewendet wird; verweigern sie
sich der Verbrennung, werden sie von den Besatzern vereinnahmt, so
dass für Spivak in dieser Subalternität kein eigenes Sprechen möglich
ist, da immer über oder für die Frauen, nicht mit ihnen gesprochen
werde.
Das konkrete Fallbeispiel Spivaks macht die doppelte Bevormun-
dung der Frau in kulturalisierten und patriarchalen Unterdrückungs-
situationen deutlicher: 1926 verübte die 16- oder 17jährige Bhunaves-
wari Bhaduri in der Wohnung ihres Vaters Selbstmord, was sowohl in
den traditionellen, als auch in den von außen zuschreibenden Diskur-
sen als Folge einer unerlaubten Liebe und Schwangerscha gedeutet
worden wäre – aber die junge Frau hatte zum Zeitpunkt ihres Todes
menstruiert. Für Spivak ist dies ein Versuch des Sprechens: Bhunaves-
wari habe mit dem Suizid bewusst auf die Menstruation gewartet, um
„den sozialen Text des satī-Selbstbewusstseins vielleicht auf interven-
tionistische Weise um[zuschreiben]“ (ebd. 104). Der Diskurs, der im
Suizid der Frau eine kulturell sich ziemende Selbstbestrafung und Auf-
opferung aufgrund ihres Verfehlens sieht, wurde durch die Menstru-
ation zwar irritiert, aber nicht nachhaltig verändert. Nicht einmal die
Aulärung der Geschichte rund zehn Jahre später konnte den Mythos
Hans Karl Peterlini
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entlarven: Bhunaveswari hatte einer Widerstandsgruppe angehört, für
die sie einen politischen Mord verüben hätte müssen; weil sie davor
zurückschreckte, aber nicht zur Verräterin werden wollte/konnte, ent-
schied sie sich für den Suizid, aber mit einer Botscha, die wenigstens
die Vereinnahmung durch den traditionalistischen Diskurs verhin-
dern sollte. Und genau dies gelang ihr nicht: Spivak, die von Bhunaves-
waris Geschichte aus Familienverbindungen wusste, sah sich auch un-
ter indischen Intellektuellen weiterhin mit der hartnäckigen Annahme
konfrontiert, „dass es sich um einen Fall von unerlaubter Liebe gehan-
delt hat“ (ebd.). Diese scheinbar unentrinnbare Vereinnahmung durch
kulturelle Muster führt zur Frage, inwieweit Bhunaveswari sich nicht
doch geopfert hat und einem ethnisierten patriarchalischen Diskurs
folgte, gegen den sie zwar das manifeste Zeichen der Menstruation
hinterließ, der aber auch ihr nur die Freiheit zum Tode gelassen hatte.
Sprechen dürfen ist nach Hannah Arendt eine „unerläßliche Vor-
bedingung politischen Handelns“ (Arendt 2014, S. 81). Was bisher für
Sprache in der Einzahl argumentiert wurde, gilt um nichts weniger für
Sprachen im Plural, jenem „Babylon“ (Gombos 2007) der Vielfalt und
der Verstreuung der Sprachen dieser Welt. So kann das Erlernen einer
Fremdsprache zwar eine Brücke des Verstehens sein, gewährt aber ver-
lässlich weder Verständigung noch die Überwindung von Exklusion.
Die Forderung etwa, dass Migrantinnen und Migranten so schnell und
so gut wie möglich die vorherrschende Landessprache lernen sollten,
um integriert zu werden, grei denn auch zu kurz: „Die Sprachkom-
petenz, die ausreicht, um Sätze zu bilden, kann völlig unzureichend
sein, um Sätze zu bilden, auf die gehört wird“, wie der französische
Soziologe Pierre Bourdieu „Sprechen“ deniert (Bourdieu 2005, S. 60,
Herv. i.O.), da „soziale Akzeptabilität nicht auf die Grammatikalität“
beschränkt ist (ebd.). Diejenigen, deren Sprechen – als politisches
Mitreden – einer Gesellscha nicht gehört wird, sind nach Bourdieu
von den entsprechenden sozialen Welten „ausgeschlossen oder zum
Schweigen verurteilt“ (ebd.). Es rührt an Spivaks Frage, ob Subalterne
überhaupt sprechen können. Sie können Sprachen lernen, sie können
reden, aber Sprechen im Sinne von Mitreden, Mitgestaltung, Ermäch-
tigung ist damit nicht gesichert.
Erst das Verständnis, dass es bei Sprache und Sprechen auch, aber
nicht nur um die Beherrschung von Buchstaben-, Laut-, und Bedeu-
tungssystemen geht, sondern um eine Frage auf Leben und Tod, von
Sein-Dürfen und Nicht-Sein-Dürfen, von Sprechen oder Nicht-Spre-
Sprache und Macht
20
chen, kann die emotionale Auadung der sprachpolitischen Diskur-
se in Vergangenheit und Gegenwart einigermaßen nachvollziehbar
machen (vgl. Peterlini 2016, S. 144). Sprache war und ist Instrument
der Teilhabe an Macht und Gemeinscha, ebenso wie sie daraus aus-
schließen kann. Das müssen nicht einmal Sprachen aus unterschied-
lichen Sprachregionen sein, es kann eine ebenso tiefe Klu zwischen
Sprachen einfacher Herkun und akademischen Aufstiegs klaen,
zwischen Sprachen der Herrschenden und der Beherrschten (siehe
Beitrag „Sprache und Bildung“ in diesem Buch). Nicht jede Sprache
ermöglicht gleiches Sprechen im Sinne gesellschalicher Teilhabe
und Positionierung. Wo Menschen subaltern sind, keinen Zugang zur
Macht haben, können sie letztlich tatsächlich nicht sprechen. Sie ha-
ben keine Sprache für ihre Anliegen, auf die gehört würde.
In einem anthropologischen Rückgri ist es genau die Gabe der
menschlichen Sprache, komplexe Wirklichkeitskonstruktionen auch
jenseits des Greiaren zu erschaen und Imaginationen zu erzeugen,
die homo sapiens über alle anderen Tiere ebenso wie über menschli-
che Vorgänger hinauskatapultiert hat (vgl. Harari 2011, S. 3-44). Diese
Begabung erlaubte die Organisation in viel größeren Gruppen, als es
etwa den Neandertalern möglich war. Diese waren in ihren Gruppen-
bildungen auf unmittelbaren Kontakt durch face-to-face-Kommunika-
tion angewiesen, so dass ihre Gruppen verhältnismäßig klein blieben.
Die Bildung immer größerer Verbünde, Reiche, Staaten, Konzerne, in
denen Kommunikation über gemeinsame Sinn-, Werte- und Bedeu-
tungskonstruktionen funktioniert (etwa Kultur, nationale Identität,
Konfession), war erst durch die komplexe Sprache von homo sapiens
möglich: „Homo sapiens conquered the world thanks above all to its
unique language.“ (Ebd., S. 21) Die Macht des Menschen ist wesentlich
auf seine Sprache gegründet, in deren Konstruktionen er sich zugleich
auch verloren und ohnmächtig fühlen kann.
Die Wechselwirkung zwischen Sprache und Macht, auch im Sin-
ne der Herausbildung und Stabilisierung von Gesellschasstrukturen,
erfährt noch einmal eine Steigerung im Übergang von oraler zu ver-
schrilichter Sprache. Diese entstand zunächst aus der Notwendigkeit
des Zählens – und gar nicht des Erzählens – in komplexen Gesell-
schas- und Wirtschassystemen, um Weizenmengen, Waren, Besitz-
tümer zu ordnen und zu regeln, vor allem aber für die Erinnerung
kollektiv zu speichern, da sie das individuelle Erinnerungsvermögen
weit überstiegen (ebd., S. 134-148). Die ersten Funde von Schrizei-
Hans Karl Peterlini
21
chen sind sumerische Tontafeln mit Symbolen für Waren und Mengen
aus der Zeit 3.400-3000 v.Ch. (ebd., S. 138). Zum selben Zweck wur-
den in den prä-kolumbianischen Anden Fäden auf komplexe Weise zu
Quipus verbunden und mit Knoten versehen, die anfangs sogar noch
von den spanischen Eroberern benutzt wurden. Weil sie dabei aber auf
einheimische Hüter des Quipu-Lesens angewiesen waren, ersetzten sie
diese nach und nach durch lateinische Ziern und Buchstaben. Diese
frühen Hervorbringungen und Festigungen von Ordnungsstrukturen
durch verschriliche Sprache begleiten die Menschheit in ihrer sozi-
alen Entwicklung bis in die Gegenwart – als Dominanz der mathe-
matischen Sprache über das Erzählen von Geschichten, als Mittel von
Verwaltung von Besitz, Waren und Gütern, als Instrument von Herr-
schasstrukturen und Regelungen politischer Macht.
Damit erklärt sich auch die Tendenz zur Vereinheitlichung von
Sprache in den jeweiligen Ordnungssystemen. Unterschiedliche
Denk-, Glaubens-, Sprach- und Zählsysteme erschweren das Zählen,
Verwalten und Regieren in komplexen politischen und administrati-
ven Gebilden. Diese Bedeutung von Sprache für Herstellung und Auf-
rechterhaltung von Herrscha vermag die Auadung von Sprache als
Container für ein nationales „Wir“ im Europa des 19. Jahrhunderts zu
erklären, die schließlich im Konstrukt des Nationalstaates mündet. Es
ist dabei kein Paradoxon, sondern ein tiefer Zusammenhang, dass die
nationale und bald nationalistische Einteilung und Teilung der Welt in
sprachliche Dominanzzonen zunächst mit liberalen Bewegungen ein-
herging. Die erstarkende Partizipation breiterer Bevölkerungsschich-
ten durch die bürgerlichen Revolutionen im 19. Jahrhundert, vorher
aber schon durch den erhöhten Verschrilichungsbedarf der verstäd-
terten Gesellschaen (urban literacy) wertete jene Sprachen auf, die –
vordergründig betrachtet – das „Volk“ sprach, in denen aber vor allem
das aufstrebende Bürgertum Kompetenz und Kundigkeit erworben
hatte. Die Exklusivsprachen der Mächtigen – besonders das Latein in
der Kirche und in den Amtsvorschrien, das Französische der hö-
schen Kreise – wurden abgelöst von der im jeweiligen Gebiet domi-
nanten Sprache. Die „nationalen“ Sprachen traten als bestimmendes
Identikationsmerkmal an die Stelle der dynastischen Zugehörigkeit,
das „Wir“ der nationalen Sprachgemeinscha löste das „Wir“ der
Dynastien und Monarchien ab, die zwangsläug nach und nach in
Krise gerieten. Ob es um Minderheiten, migrantische Bevölkerung,
Bildungsschichten, soziale Gruppen, Generationen, Subkulturen, Cli-
Sprache und Macht
22
quen und vieles andere mehr geht: Wo immer die Sprache der Ande-
ren als Bedrohung für Identität, Einheit, Kultur, Nation empfunden
wird, zeigen sich diese Zusammenhänge von Sprache und Macht in
ihrer gemeinschasbildenden und damit potenziell abgrenzenden und
spaltenden Bedeutung.
Demgegenüber steht die Befähigung von Sprache zur Kommuni-
kation, zum Verstehen, zum Erreichen des oder der Anderen über die
Trennung hinweg. Ein solches Verständnis von Sprache knüp an je-
nen Machtbegri an, mit dem Foucault sein weitgehend repressives
Verständnis von Macht zu önen versucht. Dabei geht er von „drei
Technologien der Macht“ (Foucault 1976, S. 170) aus: die Souveräni-
tätsmacht, die sich mit dem Schwert, dem Krieg, der Todesstrafe, der
Folter durchsetzt (ebd., S. 175f), jene des Gesetzbuches, die – mit dem
Griel, also der geschriebenen Sprache – über die Zeichen herrscht
und die Deutungshoheit über das Recht innehat; diese Technologie
reicht weit in das Private hinein und kontrolliert die Vorstellungen der
Menschen, wie sie zu leben haben, was sie für richtig oder falsch zu hal-
ten haben, wie ihre Körper sein sollen (ebd., S. 129-131); und als dritte
Technologie jene der Disziplinarmacht, die am tiefsten in das Subjekt
eindringt, indem sie ihren Einuss hinter vermeintlicher Alltäglichkeit
und über etablierte Gewohnheiten ausübt; sie erfasst den gesamten
Körper, führt zur Selbstdisziplinierung und Anpassung des „Gehor-
samssubjekts“ (ebd., S. 167). Trotz der damit verbundenen Kritik an
Institutionen der Macht wie dem Gefängnis, der Anstalt, der Kaserne,
dem Strafapparat des Staates, birgt Macht für Foucault „strategischen
Reichtum und [...] Positivität“ (ebd., S. 106), da Macht grundsätzlich
die Seite wechseln kann, solange sie nicht – wie bereits angesprochen
– in Gewalt- und Herrschasverhältnisse eingefroren ist.
Brücken zur Vorstellung einer damit prinzipiell auch emanzipatori-
schen Macht haben Jürgen Habermas und Hannah Arendt in je unter-
schiedlichen, aber sich berührenden Konzepten geschlagen. In seiner
eorie des kommunikativen Handelns analysiert Habermas (1981a)
strategische Machteingrie aus der Systemebene (Politik, Ökonomie)
auf die Lebenswelt von Menschen, wodurch er deren Befähigung zum
kommunikativen Handeln einer „Kolonialisierung“ (ebd., S. 9) ausge-
setzt sieht. Als Ausweg grei Habermas auf einen gedanklichen Ent-
wurf von Arendt zurück, der zunächst in einem Akt zivilgesellschali-
cher Selbstbestimmung besteht: „An emanzipatorischen Bewegungen
interessiert sie“, schreibt er zu Arendts Vita activa (1981), „die Macht
Hans Karl Peterlini
23
der gemeinsamen Überzeugung: die Auündigung des Gehorsams
gegenüber Institutionen, die ihre Legitimation eingebüßt haben.“ (Ha-
bermas 1981b, S. 238) Es ndet sich darin ein zweifacher Gedanke:
jener des Zusammenschlusses von Menschen, die den Kampf gegen
Herrscha wagen und den Gehorsam verweigern, wofür die Bedin-
gung gilt, dass die angestrebte Macht kommunikativ ausgehandelt
wird, also durch sprachlichen Austausch.
Pädagogisch bedeutungsvoll ist an Arendts kommunikativem Pro-
gramm, dass sie die Macht in einem „Zwischen“ ansiedelt, das sowohl
sozialräumlich-öentlich als auch zwischenmenschlich zu verstehen
ist. Dieses Zwischen, das auf einen zwischenmenschlichen, sozialen
Raum pädagogischen Handelns und Verantwortens verweist, ist nicht
von vornherein gegeben, kann aber geschaen werden: „Macht besitzt
eigentlich niemand, sie entsteht zwischen Menschen, wenn sie zusam-
men handeln, und sie verschwindet, sobald sie sich wieder zerstreu-
en.“ (Arendt 1981, S. 194) Im Zusammenschluss und im kooperativen
Aushandeln von Menschen entsteht ein „Erscheinungsraum“, der „als
ein Zwischen jedesmal aueuchtet, wenn Menschen handelnd und
sprechend beieinander sind“ (ebd., S. 192). Damit setzt Arendt der Re-
signation durch Machtlosigkeit und einer rein aggressiven Auehnung
das Konzept praktizierbarer Honung durch gemeinsames zivilgesell-
schaliches Sprechen und Handeln entgegen. Über die Teilhabe an der
Macht durch Menschen, die sich zusammentun und ihre Bedürfnisse,
Vorstellungen, Wünsche, Interessen aushandeln, werden für Arendt
„Lebensgefühl“ und „Wirklichkeitsgefühl“ belebt (ebd.).
In seiner theoretischen Ausführung zur kommunikativen Macht
grei Habermas den Diskurs-Begri auf, nuanciert ihn aber anders
als Foucault. Diskurse bei Foucault sind, wenngleich sich auch bei ihm
der Begri wandelt, weitgehend hegemonial deniert, der Diskurs be-
stimmt, wer wie worüber in einer Gemeinscha spricht (vgl. Foucault
2004, S. 164f). Habermas erkennt eine Chance darin, dass Diskurse
aus kommunikativer Praxis heraus entstehen können und wieder in
die Praxis zurückwirken (vgl. Høibraaten 2001, S. 160). Kommunika-
tive Macht unterscheidet sich von Herrscha oder auch nur von stra-
tegischer Kommunikation durch das Aushandeln sozialer Regeln und
Normen; auf diesem Wege könnten sich Einsichten über einen „eigen-
tümlich zwanglosen Zwang“ durchsetzen (Habermas 1981b, S. 231).
So scha die kommunikative Aushandlung Macht, indem sie sich auf
Diskursethik, Regeln und Normen stützt, die nicht über den Druck
Sprache und Macht
24
von Sanktionen wirken, sondern weil sie auf dem im Diskurs erzielten
Konsens beruhen. In einer vielleicht utopischen Gegenbewegung zur
realen Utopielosigkeit von Clausewitz, wonach der Krieg die Fortset-
zung der Politik mit anderen Mitteln sei, die Macht ergo zur Gewalt
eskalieren kann, deniert Habermas „den Diskurs als eine Fortsetzung
des kommunikativen Handelns mit anderen Mitteln“ (1981a, S. 137).
Eine solche Vorstellung von Sprechen geht über eine linear und
monodirektional gedachte Kommunikation von A nach B hinaus,
sie nimmt Kommunikation wörtlich als Mit-Teilung, als Teilhabe im
Zwischen (zwischen Menschen, Gruppen, Gemeinschaen, Schichten,
Nationen, Systemen). Sie meint die Macht, natürliche und kulturelle,
ökonomische und soziale, private und politische Ordnungen umzu-
stellen, zu verändern, neu zu gestalten und nach eigenen Bedürfnissen
auszurichten. Sprache wird in diesem Sinne verstanden als Befähigung
zur Aneignung und Gestaltung von Welt, als Medium des Lernens,
Verlernens, Umlernens, Neulernens. Sprache befähigt zur Macht, der
sie sich freilich auch verdankt, da es ohne Macht kein Sprechen gäbe.
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subalterne Artikulation. Mit einer Einführung von Hito Steyerl. Texte zur eorie
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stein, Ludwig: Werkausgabe Bd. 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 225-618.
107
Miha Vrbinc
Slowenisch lernen wollen – und können
Durchgängige und nachhaltige zweisprachige Bildung
(Slowenisch-Deutsch) im Kärntner Schulwesen. Ein Überblick
Vorbemerkungen
Das Minderheitenschulwesen in Kärnten ist Teil des österreichischen
Schulsystems und seiner gesetzlichen Vorgaben (Schulunterrichtsge-
setze, Schulverordnungen, Lehrpläne).
Zweisprachig – Deutsch und Slowenisch in annähernd gleichem
Ausmaß – ist der Unterricht in den zweisprachigen Volksschulen (1.
bis 4. Schulstufe) und an der Zweisprachigen Bundeshandelsakademie
(seit 1990) sowie der privaten Höheren Lehranstalt für wirtschaliche
Berufe in St. Peter bei St. Jakob im Rosental (seit 1989) organisiert.
Slowenisch wird ab der 5. Schulstufe als alternativer Pichtgegenstand,
Wahlpichtgegenstand und Freigegenstand an Neuen Mittelschulen
sowie allgemein- und berufsbildenden höheren Schulen unterrichtet.
Am BG/BRG für Slowenen (seit 1957) ist Slowenisch Unterrichtsspra-
che, Deutsch und Slowenisch werden als Fachgegenstände im selben
Stundenausmaß unterrichtet und in beiden Sprachen muss bei der
Reifeprüfung eine standardisierte Klausur absolviert werden.
Die Möglichkeiten einer durchgängigen und nachhaltigen zwei-
sprachigen Bildung in Kärnten sind gegeben, sie sind jedoch stark vom
Willen der Erziehungsberechtigten abhängig, da der Besuch des zwei-
sprachigen Unterrichts an das Anmeldeprinzip gebunden ist. eo-
dor Domej meint zu den Rollen und Positionen des Slowenischen und
Deutschen in den Kärntner Schulen: „Der größte Unterschied besteht
darin, dass Deutsch von allen Schülerinnen und Schülern ge-/erlernt
werden muss und im Gegensatz dazu der Unterricht der slowenischen
Sprache von den Erziehungsberechtigten gewählt wird – oder eben
nicht.“ (Domej 2012/13, S. 34)
Warum ich hier die Zweisprachigkeit Deutsch und Slowenisch
so betone? Weil Englisch als überregionale Sprache heutzutage eine
Selbstverständlichkeit darstellt. Weil gelebte Zweisprachigkeit das Er-
lernen weiterer Sprachen unterstützt. Weil der regionale (sprachliche)
Schwerpunkt (Deutsch, Slowenisch, Italienisch) auch reelle Chancen
108
für die weitere Zukun der Kinder und Jugendlichen in der Region
ermöglicht.
Gesetzliche Bestimmungen des Minderheitenschulwesens in
Kärnten
Grundlage ist das Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten vom 19.
März 1959, ein Bundesgesetz, mit dem für das Bundesland Kärn-
ten Vorschrien zur Durchführung der Minderheiten-Schulbestim-
mungen des Österreichischen Staatsvertrages getroen werden. Hinzu
kommt das Ausführungsgesetz des Landes Kärnten vom 10. Juli 1959,
mit dem die Grundsatzbestimmungen des Minderheiten-Schulgeset-
zes für Kärnten ausgeführt werden5.
Die Verabschiedung dieser Gesetze bedeutete die Auebung der
bis dahin geltenden Regelung, die von der provisorischen Landes-
regierung im Oktober 1945 beschlossen worden war. Alle Schüler/
innen im zweisprachigen Gebiet Kärntens erhielten in den ersten
drei Klassen der Volksschule zweisprachigen Unterricht, jeweils zur
Häle Deutsch bzw. Slowenisch; ab der 4. Schulstufe wurde Slowe-
nisch als eigener Gegenstand mit 4 bzw. 3 Wochenstunden unterrich-
tet: „Verordnung der Prov. Kärntner Landesregierung vom 3.10.1945
Verordnung „zur Neugestaltung der zweisprachigen Volksschulen im
südlichen Gebiete Kärntens (in der Fassung des Beschlusses vom 31.
Oktober 1945): Im südlichen Gebiet des Landes Kärnten bestehen
zweisprachige Volksschulen. Der Unterricht wird hier in den ersten
drei Schulstufen grundsätzlich in der Muttersprache des Kindes er-
teilt, doch wird die zweite Landessprache auch schon vom Schulbe-
ginn an in mindestens sechs Wochenstunden gepegt. Auf der vierten
Schulstufe erfolgt der Übergang zur deutschen Unterrichtssprache,
die nun bis zum Schluss der Schulpicht verbleibt. Daneben werden
auf der vierten Schulstufe vier und weiterhin drei Wochenstunden in
slowenischer Sprache gegeben. Der Religionsunterricht ist ausschließ-
lich in der Muttersprache zu erteilen. Auf den ersten drei Schulstufen
wird der Gesamtunterricht zur Häle in deutscher und in sloweni-
5 Eine umfangreiche Darstellung der Geschichte des slowenisch- bzw. zweisprachi-
gen Unterrichts in Kärnten ist im Buch von Tatjana Feinig, Slovenščina v šoli /
Slowenisch in der Schule (2008) zu nden, eine kompakte Darstellung – eodor
Domej, Zeitleiste: zweisprachiges Schulwesen in Kärnten – im Sammelband Na-
türlich zweisprachig (2013).
Miha Vrbinc
109
scher Sprache erteilt. […]“ (Domej 2009/10, S. 11) Diese Regelung
kann durchaus als eine Art Wiedergutmachung der in den Jahren vor
dem Zweiten Weltkrieg und während des Zweiten Weltkriegs von
der slowenischen Volksgruppe erfahrenen und erlittenen Repressali-
en (Verbot des Slowenischen, Zwangsaussiedlungen etc.) verstanden
werden.
Im Österreichischen Staatsvertrag lautet der das Schulwesen betref-
fende Absatz 2 des Artikels VII: „Sie [= österreichische Staatsangehö-
rige der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, Bur-
genland und Steiermark] haben Anspruch auf Elementarunterricht in
slowenischer oder kroatischer Sprache und auf eine verhältnismäßi-
ge Anzahl eigener Mittelschulen; in diesem Zusammenhang werden
Schullehrpläne überprü und eine Abteilung der Schulaufsichtsbe-
hörde wird für slowenische und kroatische Schulen errichtet werden.“
(Österreichischer Staatsvertrag, Artikel VII)
Zwei Jahre nach Unterzeichnung des österreichischen Staatsvertra-
ges kam es am 9. Mai 1957 zur Gründung eines „Slowenischen Bun-
desrealgymnasiums“ in Kärnten.6
Drei Jahre nach Unterzeichnung des österreichischen Staatsver-
trages kam es in Kärnten zu von den Heimatverbänden organisierten
Protesten gegen die zweisprachige Schule und den obligatorischen
zweisprachigen bzw. Slowenischunterricht. „Der „Kärntner Schulver-
ein Südmark“ und der Kärntner Abwehrkämpferbund (KAB) überzo-
gen das zweisprachige Gebiet mit einem Netz von Ortsgruppen, die
Protestversammlungen durchführten und die Abschaung der sog.
„Zwangsschule“ forderten. Dazu wurden an einigen Schulen Schul-
streiks organisiert /…/. Als zu Beginn des Schuljahres 1958/59 mit wei-
teren Schulstreiks in ganz Kärnten gedroht wurde, erließ der damalige
Landeshauptmann Ferdinand Wedenig am 22. September 1958 einen
Erlass, mit dem die Eltern ihre Kinder vom Slowenischunterricht ab-
melden konnten.“ (Wakounig 2008, S. 181) Dieser wurde 1959 durch
das Anmeldeprinzip ersetzt, das heißt, dass das Recht, die slowenische
Sprache als Unterrichtssprache zu gebrauchen oder als Pichtgegen-
stand zu erlernen, jedem Schüler zu gewähren ist, sofern dies der Wille
des gesetzlichen Vertreters ist. Ein Schüler kann nur mit Willen seines
gesetzlichen Vertreters verhalten werden, die slowenische Sprache als
6 Die heutige Bezeichnung und Organisationsform der Schule lautet Bundesgymna-
sium und Bundesrealgymnasium für Slowenen in Klagenfurt.
Slowenisch lernen wollen – und können
110
Unterrichtssprache zu gebrauchen oder als Pichtgegenstand zu erler-
nen. (vgl. Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten)
Hinsichtlich des Geltungsbereiches wurden jene Gemeinden fest-
gesetzt, in denen zu Beginn des Schuljahres 1958/59 der Unterricht
an Volks- und Hauptschulen zweisprachig erteilt wurde. Im Ausfüh-
rungsgesetz des Landes werden diese Schulen taxativ aufgezählt: Die
im Jahr 1959 erstellte Liste von Schulen im Geltungsbereich des Min-
derheiten-Schulgesetzes bestimmt die Region mit zweisprachigem
Unterrichtsangebot.
Bezirk Hermagor
Volksschulen: Egg, Görtschach-Förolach, Mellweg, St. Paul i. G., St.
Stefan i. G., Vorderberg
Bezirk Klagenfurt-Land
Volksschulen: Bärental, Feistritz i. R., Ferlach, Glainach, Göltschach,
Grafenstein, Gurnitz, St. Johann i. R., Kappel a. d. Drau, Keutschach,
Köttmannsdorf, Loibltal, Ludmannsdorf, St. Margareten i. R., Maria
Rain, Mieger, Radsberg, Schieing am See, Suetschach, Wabelsdorf,
Waidisch, Windisch-Bleiberg, Zell ob Ferlach, Zell-Winkl,
Hauptschulen: Viktring, Ferlach
Bezirk Villach-Land
Volksschulen: Arnoldstein, Damtschach, St. Egyden/Drau, Feistritz/
Gail, Fürnitz, St. Georgen i. G., Gödersdorf, Göriach i. G., Gottestal,
St.Jakobi.R., Kerschdorf i. G., Köstenberg ob Velden, Latschach ob
Faaker See, Ledenitzen, St. Leonhard b. S., Lind ob Velden, Mallestig,
Maria Elend i. R., Maria Gail, St. Niklas/Drau, Nötsch-Saak, Rosegg,
Rosenbach, örl-Maglern, Velden am Wörther See
Hauptschulen: Arnoldstein, Finkenstein, St. Jakob i. R., Nötsch-
Saak, Velden am Wörther See
Bezirk Völkermarkt
Volksschulen: Abtei, Bach, Bleiburg, Diex, Eberndorf, Ebriach, Ed-
ling i. J., Eisenkappel, Gallizien, St. Georgen a. W., Globasnitz, Gra-
fenbach, Greutschach, Grien, Haimburg, Heiligengrab, St. Kanzian,
Klein St. Veit, Kömmelgupf, Kühnsdorf, Leppen, Lippitzbach, St. Mar-
garethen ob Bl. St. Margarethen ob T., St. Michael ob Bl. St. Michael
a. d. Gurk, Mittertrixen, Möchling, Neuhaus, Oberloibach, St. Peter a.
Miha Vrbinc
111
W., St. Philippen o. S., St. Primus i. J., Remschenig, Rinkenberg, Ruden,
Sittersdorf, Schwabegg, Tainach, Untermitterdorf, Bad Vellach, Kna-
benvolksschule Völkermarkt, Mädchenvolksschule Völkermarkt
Hauptschulen: Völkermarkt (Knabenhauptschule), Völkermarkt
(Mädchenhauptschule), Bleiburg, Eisenkappel, Markt Grien
(Anführungsgesetz des Landes Kärnten)
In der doch sehr polemisch geführten Kampagne, die zur Auebung
der ursprünglichen Regelung aus dem Jahr 1945 führte, und in einem
Klima, das dem Slowenischen ablehnend gegenüberstand, war die Fol-
ge ein massiver Rückgang der Schülerzahlen. „Von 12.774 schulpich-
tigen Kindern wurden 10.375 abgemeldet (das waren 81 %) und auf
Grund des Erlasses vom November 1958 nur 213 wieder angemeldet.
Über 80 % der Schüler/innen verloren, quasi von einem Tag auf den
nächsten, jeglichen schulischen Kontakt zur slowenischen Sprache.
Für die slowenische Volksgruppe war dies ein massiver Rückschlag, da
viele Eltern dem öentlichen Bekenntnisdruck nicht gewachsen waren
und sich deshalb vom Slowenischen abwandten.“ (Ogris 2014, S. 43)
Auf dem Papier war das Recht, sich zum zweisprachigen Unterricht
anzumelden, deniert – in der Praxis verlief es anders. Das kann man
auch aus den Titeln dreier Studien über das Minderheitenschulwesen
in Kärnten herauslesen, die da lauten: Zwangha Deutsch (Gstettner
1988), Der heimliche Lehrplan (Wakounig 2008), Schule = šola? (Ogris
2014).
Aus diesem gegen das Slowenische gerichteten Bestreben – ver-
stärkt durch von den Heimatverbänden organisierten Befragungsakti-
onen am Beginn der 1980er Jahre – resultierte die Novelle des Minder-
heiten-Schulgesetzes im Jahre 1988, indem der Paragraf 16a eingefügt
wurde; darin werden die Klassenerönungs- bzw. Teilungszahlen für
zum zweisprachigen Unterricht angemeldete und nicht angemeldete
Schüler/innen bestimmt. In Klassen der 1. bis 4. Schulstufe, in denen
zum zweisprachigen Unterricht angemeldete Schüler/innen gemein-
sam mit nicht angemeldeten Schülerinnen und Schülern unterrichtet
werden, sind weitere Lehrkräe zur eigenständigen und verantwort-
lichen Unterrichts- und Erziehungsarbeit in Pichtgegenständen
für durchschnittlich 14 Wochenstunden zu bestellen. Die im Gesetz
„Teamlehrer“ genannten zusätzlichen Lehrkräe sind für die nicht an-
gemeldeten Schülerinnen und Schüler zuständig, sie sollten mit der
zweisprachigen Klassenlehrerin bzw. dem zweisprachigen Klassen-
Slowenisch lernen wollen – und können
112
lehrer im Team unterrichten. Eingeführt wurde ein Zweilehrersystem.
Die Teamlehrer/innen, die freiwillig einen Slowenischkurs absolvie-
ren, erhalten dafür auch eine Zulage.
Am Beginn der 1990er Jahre kam es zu einer weiteren Änderung
des Minderheiten-Schulgesetzes: Der Wille von Eltern, die ihr Kind
außerhalb des Geltungsbereichs des Minderheiten-Schulgesetzes für
Kärnten in eine zweisprachige Schule schicken wollten, nämlich in
Klagenfurt, führte zu zwei Initiativen: Es kam zur Gründung der pri-
vaten zweisprachigen Volksschule Hermagoras/Mohorjeva ljudska
šola (1989) sowie der Öentlichen zweisprachigen Volksschule 24/
Javna dvojezična ljudska šola 24 (vergleiche auch Beitrag von Peterli-
ni in diesem Buch), auf deren Homepage die Genese der Schule fol-
gendermaßen beschrieben wird: „Jahrelange Aktivitäten waren der
Gründung unserer Schule vorausgegangen. Bereits 1982 setzte sich
eine Elterngruppe für die Errichtung einer öentlichen zweisprachi-
gen Schule in Klagenfurt ein. Nach langjährigen Vertröstungen durch
die öentlichen Stellen Kärntens folgte 1988 der Gang zum Verfas-
sungsgerichtshof. Erst mit Hilfe des Verfassungsgerichtshofes gelang
es, die Gründung der Schule durchzusetzen (1989). Mit dem Schul-
jahr 1991/92 wurde unsere Schule zur Freude vieler Kinder, Eltern
und Lehrer/innen erönet.“ (Öentliche zweisprachige Volksschule
24)
Diese Änderung des Minderheiten-Schulgesetzes erfolgte aufgrund
eines Erkenntnisses des VfGH am 28. Juni 1990; § 11 besagt, dass
neben den gemäß §10 festgelegten Schulen jene Schulen als für die
slowenische Minderheit in Betracht kommende Volks- und Haupt-
schulen festzulegen sind, bei denen ein nachhaltiger Bedarf nach zwei-
sprachigem bzw. Slowenischunterricht besteht. „Hierbei genügt für
Volksschulen ein nachhaltiger Bedarf an einer Klasse (auch Schulstu-
fen übergreifend), für Hauptschulen gemäß § 12 lit. a an einer Klasse
auf jeder Schulstufe und für Abteilungen an Hauptschulen gemäß § 12
lit. c an einer Abteilung auf jeder Schulstufe.“ Bei der Feststellung des
Bedarfes ist davon auszugehen, dass eine Klasse auf der 1. bis 4. Schul-
stufe ab sieben Anmeldungen, eine Klasse ab der 5. Schulstufe ab neun
Anmeldungen, eine Abteilung an Hauptschulen ab fünf Anmeldungen
geführt werden darf (vgl. Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten).
Ein Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. März 2000
führte zur Auebung der Bestimmung, dass der Unterricht auf den
ersten drei Schulstufen zweisprachig, ab der vierten Slowenisch als
Miha Vrbinc
113
Gegenstand angeboten wird. Seit 2001 lautet § 16 des Minderhei-
ten-Schulgesetzes folgendermaßen: „An den zweisprachigen Volks-
schulen (Volksschulklassen, Volksschulabteilungen) ist der gesamte
Unterricht auf der Vorschulstufe sowie auf den ersten vier Schulstu-
fen in annähernd gleichem Ausmaß in deutscher und slowenischer
Sprache zu erteilen; von der 5. Schulstufe an ist der Unterricht – un-
beschadet des Abs. 2 – in deutscher Sprache zu erteilen, doch ist die
slowenische Sprache mit vier Wochenstunden als Pichtgegenstand zu
führen.“ (Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten)
Weitere Änderungen betreen die Berücksichtigung neuer Bezeich-
nungen – z.B. Neue Mittelschule statt Hauptschule.
Die im Juni 2017 beschlossene Schulrechtsreform wird in den kom-
menden Jahren umgesetzt werden – das Minderheitenschulwesen wird
dementsprechend auf die Neuerungen im Rahmen der Schulautono-
mie, aber auch der Organisation der Schulverwaltung (Bildungsdirek-
tionen) neue Herausforderungen zu bewältigen haben. Im Mittelpunkt
steht die Schulautonomie: „Schulautonome Freiheiten benötigen […]
ein gutes Qualitätsmanagement, die besten Schulleiterinnen und
Schulleiter sowie eine bedarfsgerechte Fortbildung der Pädagoginnen
und Pädagogen. Die Reform sieht eine bundesweit einheitliche und
standardisierte Vorgehensweise bei der Auswahl von Schulleiterinnen
und Schulleitern sowie Clusterleiterinnen und Clusterleitern vor. Bei
Besetzungen von Schulleiterstellen im Geltungsbereich des Minderhei-
tenschulwesens ist die Schulaufsicht für das Minderheitenschulwesen
als beratende Stimme in die Begutachtungskommission aufzunehmen.
Wer sich um eine Leitungsfunktion an einer zweisprachigen Volks-
schule im Geltungsbereich des Minderheitenschulwesens bewerben
will, muss über die Lehrbefähigung für den zweisprachigen Unterricht
verfügen. Eine Schulleitung wird zunächst auf fünf Jahre befristet be-
stellt und danach bei positivem Nachweis über die Funktionsausübung
unbefristet. Schulleiterinnen und Schulleiter können als Schlüsselgu-
ren für das Gelingen von Veränderungsprozessen bezeichnet werden
und tragen die Hauptverantwortung für die Qualitätsentwicklung an
ihren Schulen. Bei der Personalauswahl werden Schulleitungen neu
hinzukommende Lehrerinnen und Lehrer selbst auswählen können
und Fortbildungsveranstaltungen für ihre Lehrerinnen und Lehrer,
die sich nach den Bedürfnissen am Standort richten, mitbestimmen.“
(Sandrieser 2016/17, S. 31f)
Slowenisch lernen wollen – und können
114
Zweisprachige Erziehung – ein durchgängiges Modell?
Eine zweisprachige Erziehung in der Familie erfordert ein bewusstes
Umgehen mit Sprache und sprachlichen Erziehungsmethoden, z. B.
in zwei- oder mehrsprachigen Partnerschaen – mit diesem ema
beschäigte sich beispielsweise die 2008 gegründete Initiative „Zwei-
und Mehrsprachigkeit in der Familie“ und organisierte mehrere Dis-
kussionsabende, deren Ergebnisse in einer Broschüre mit Vorschlägen
zu sprachbezogenen Familiensituationen zusammengefasst wurden.
(vgl. Piko-Rustia et al. 2011).
Wenn dann der Schritt aus der Familie heraus erfolgt – Tagesmut-
ter, Kindergarten –, beeinusst diese Entscheidung die Wahl der dem
sprachlichen Erziehungswunsch entsprechenden Einrichtung, privat
oder öentlich. Josef Blajs meint zum Kindergartenwesen und seiner
Entwicklung: „Als Übergangslösung in den einzelnen Orten und Städ-
ten, wo wenig Honung auf die Einführung einer zweisprachigen Er-
ziehung in den öentlichen Kindergärten bestand, wurde mit großen
Anstrengungen und mit viel Risiko ein sehr weitmaschiges privates
zweisprachiges Kindergartennetz geknüp.“ (Blajs 2013, S. 105f)
Der Entscheidung für eine slowenisch- oder zweisprachige Ta-
gesmutter oder einen zwei-/mehrsprachigen Kindergarten folgen weite-
re, denn bei der Fortsetzung des Bildungsweges beeinussen drei „Ein-
schnitte“ oder Übergänge das Slowenisch-Lernen ab der Volksschule:
Das Anmelde-Prinzip erfordert eine bewusste Entscheidung der Eltern
(Erziehungsberechtigten), das Kind zum zweisprachigen Unterricht an-
zumelden. Die Entscheidung darüber, welche Schule das Kind nach den
vier Volksschuljahren besuchen wird, bedeutet auch eine Entscheidung,
ob und in welcher Form Slowenisch im weiteren Bildungsweg gelernt
wird: als Unterrichtssprache am BG/BRG für Slowenen in Klagenfurt,
als alternativer Pichtgegenstand oder als Freigegenstand an der Neuen
Mittelschule bzw. am Gymnasium. Die Zahlen zeigen, dass an dieser
Nahtstelle viel Potenzial verloren geht, was die Entwicklung einer geleb-
ten Zweisprachigkeit mit Deutsch und Slowenisch erschwert, da das im
Rahmen des zweisprachigen Unterrichts an der Volksschule erworbene
(Sprach-)Wissen nicht entsprechend weiter ausgebaut, erweitert, ver-
tie, gefördert wird. „Nach der Statistik der Abteilung für das Minder-
heitenschulwesen beim Landesschulrat für Kärnten nimmt auf der Se-
kundarstufe I nur die Häle der Schüler/innen, die auf der 4. Schulstufe
der Volksschule zum zweisprachigen Unterricht angemeldet waren, das
Miha Vrbinc
115
Angebot in Slowenisch an.“ (Sandrieser 2013, S. 116) Im Rahmen der
Einführung der Neuen Mittelschule wurden neue Wege beschritten, um
hier an dieser Nahtstelle kontinuierlichen Sprachunterricht zu ermögli-
chen, z. B. Verankerung der Slowenisch-Stunden im regulären Stunden-
plan, Reform des Lehrplans, Slowenisch als Arbeitssprache in anderen
Unterrichtsgegenständen. (vgl. Sandrieser 2013, S. 117)
Die Anmeldezahlen zum zweisprachigen Unterricht und zum Slo-
wenischunterricht an der Primarstufe und an der Nahtstelle zur Se-
kundarstufe I (NMS/Unterstufe AHS) im Schuljahr 2018/19:
Auch die Nahtstelle zur Oberstufe, nach der Pichtschule, kann einen
Abbruch des zweisprachigen Lernweges bedeuten. Es gibt die Fort-
setzung der Unterstufe des BG/BRG für Slowenen, die Zweisprachige
Bundeshandelsakademie und die Höhere Lehranstalt für wirtschali-
che Berufe St. Peter des Konvents der Schulschwestern mit der Unter-
richtssprache Slowenisch bzw. den Unterrichtssprachen Deutsch und
Slowenisch. Slowenisch wird als alternativer Fachgegenstand, Wahl-
pichtfach oder Fachgegenstand auch an anderen AHS und BHS an-
geboten, eine zweisprachige Ausbildung mit Deutsch und Slowenisch
1. Stufe 2. Stufe 3. Stufe 4. Stufe 5. Stufe
618 553 561 506 261
NMS 109
AHS 51
BG/BRG f. Sl. 101
1. Stufe 2. Stufe 3. Stufe 4. Stufe 5. Stufe
0
100
200
300
400
500
600
700
618
553 561
506
261
Anmeldungen 1. bis 5. Schulstufe 2018/19
Schülerzahlen
Slowenisch lernen wollen – und können
116
gibt es im Bereich der höheren technischen Lehranstalten oder der
Bildungsanstalt für Elementarpädagogik (noch) nicht.
Slowenisch ist auf der Sekundarstufe I bzw. II in verschiedenen For-
men präsent, was sich auch in meiner Arbeit als Fachinspektor für Slo-
wenisch an AHS und BMHS am LSR Kärnten zeigt und auch an der
ab 1. 1. 2019 neu eingerichteten Bildungsdirektion des Landes Kärnten
im Rahmen des Schulqualitätsmanagements fortgesetzt werden wird:
Slowenisch als Unterrichtssprache (BG/BRG für Slowenen,
Zweisprachige BHAK, priv. HLW St. Peter)
• Vorsitzführung der Prüfungskommission unter den Vorgaben der
standardisierten Reifeprüfung bzw. Reife- und Diplomprüfung
(SRDP) an AHS (seit 2014/15) bzw. BHS (seit 2015/16)
• Begleitung der Klausur in Slowenisch als Unterrichtssprache – Re-
visionstätigkeit hinsichtlich der Entstehung neuer Aufgaben, Pro-
beschularbeiten – Erstellung und Koordination, Entwicklung von
Unterrichtsmaterial (Textsorten; Arbeit an einem Lesebuch der
Kärntner slowenischen Literatur)
• Standardisierte Reife und Diplomprüfung (SRDP): Erstellung von
entsprechendem didaktischen Begleitmaterial einschließlich slowe-
nischsprachiger Formulare
• Administration: Einführung der Verwaltungssoware Sokrates an
AHS und BHS – zweisprachige (Zeugnis-)Formulare
• Modularisierung: Begleitung an der Zweisprachigen BHAK – Ent-
wicklung am BG/BRG für Slowenen und an der HLW St. Peter. Es
geht dabei auch um die Adaptierung der Lehrpläne und ihrer ent-
sprechenden slowenischen Variante.
• Erarbeitung von Kompetenzbeschreibungen für Slowenisch auf der
12./13. Schulstufe
• Entwicklung eines regionalen Sprachenportfolios für die Oberstufe
• zweisprachiger Unterricht: Förderung von Slowenisch hinsichtlich
der individuellen Lernstände der Schüler/innen (dies gilt auch für
Deutsch als Zweit/Drittsprache)
Slowenisch als 2./3. lebende Fremdsprache
Im Rahmen der SRDP sind hier (noch) keine standardisierten Klau-
suraufgaben vorgesehen; die Klausuren müssen demnach von den Pro-
Miha Vrbinc
117
fessorinnen und Professoren erstellt werden und den Vorgaben Hören
– Lesen – Sprache im Kontext – Schreiben entsprechen. Aufgrund
meiner Erfahrung aus dem Unterricht des Slowenischen als Zweit-/
Drittsprache bzw. der Externistenprüfungskommission kann ich mir –
in Absprache mit den betroenen Kolleginnen und Kollegen eine Teil-
standardisierung z. B. in den Teilen Hören und Lesen vorstellen, wo-
bei entsprechende Klausuraufgaben vorgegeben werden könnten (ein
ähnliches Modell gibt es für das nichtstandardisierte Fach Russisch).
Slowenisch als Arbeitssprache
An einigen NMS im Geltungsbereich des Minderheiten-Schulgesetzes
für Kärnten wird Slowenisch in ausgewählten Gegenständen als Ar-
beitssprache verwendet – dieser Bereich ist sicherlich noch ausbaubar
und dabei kann ich als Fachinspektor – da der Lehrplan der realgym-
nasialen Unterstufe entspricht – sicherlich unterstützend tätig werden.
Vorstellbar ist auch ein Modell für Slowenisch als Arbeitssprache an
anderen Schultypen – unter der Voraussetzung geeigneter Lehrperso-
nen und wohl durchdachter (zwei- und mehrsprachiger) Unterrichts-
modelle.
Slowenisch – grenzüberschreitend
Von großer Wichtigkeit ist natürlich die Zusammenarbeit mit dem
slowenischen Bildungsministerium bzw. -institut (Zavod za šolstvo)
im Rahmen der Aus- und Weiterbildung, Sprachassistentinnen und
–assistenten für Slowenisch und der bilateralen Zusammenarbeit.
Der regionale Aspekt des (Sprachen-)Lernens wird auch durch die
Entwicklung von Kompetenzbeschreibungen für Slowenisch auf der
4., 8. und 12./13. Schulstufe sowie regionale Sprachenportfolios für
die Primarstufe und die Sekundarstufe I gefördert. In vom Bildungs-
ministerum unterstützen Arbeitsgruppen wurden diese Unterlagen
als Instrument der Unterrichtsentwicklung und des Qualitätsmanage-
ments entwickelt, erprobt und im Bereich des Minderheitenschulwe-
sens sowohl an den Schulen als auch in der Lehrer/innenausbildung
implementiert. Das Portfolio für die Sekundarstufe I stellt gemeinsam
mit dem Sprachenportfolio Kajpataj für die 6- bis 10-Jährigen die Mög-
lichkeit des bewussten Umgangs mit zwei und mehr Sprachen dar:
„Ein wichtiger Aspekt der Arbeit mit dem Sprachenportfolio ist, das
Slowenisch lernen wollen – und können
118
Beschreiben von Sprachen zu lernen bzw. ein entsprechendes Beschrei-
bungsvokabular anzuwenden, um den Lernerinnen und Lernern mehr
Sensibilität für ihr eigenes Sprachlernen, aber auch für die Sprachen
anderer in ihrer Umgebung zu ermöglichen. Ein Europa der Sprachen-
vielfalt ist nur dann möglich und lebenswert, wenn sich die Europä-
erInnen dieser Vielfalt auch bewusst sind und sie als Teil ihrer euro-
päischen Identität begreifen. Gerade deshalb ist die Aufmerksamkeit
für kleine und kleinere europäische Sprachen ein wertvoller Beitrag
für den europäischen Gedanken des Miteinanders in der Vielfalt. Das
Regionale Sprachenportfolio, das für die Regionen Kärnten und Bur-
genland erarbeitet wurde, soll das Bewusstsein der regionalen Spra-
chidentität stärken, indem es sowohl den Lernenden als auch deren
LehrerInnen (und Erziehungsberechtigten) ein lebendiges Sprach(en)
lernen, Nachdenken mit und über Sprache(n) ermöglicht.“ (Pörtsch/
Vrbinc 2013, S. 698f)
Dabei möchte ich auf den Begri der Sprachmittlung verweisen,
der die Kompetenz des Vermittelns zwischen Sprachen, die eine be-
sondere Kompetenz aufgrund der Zwei- und Mehrsprachigkeit der
Lernenden und Lehrenden beschreibt. Der Begri stammt aus den
Kompetenzbeschreibungen Slowenisch für die 8. Schulstufe und wird
dort folgendermaßen beschrieben: „Zu den Kompetenzbereichen
Hörverstehen und Sprachen, Lesen, Schreiben und Sprachbewusst-
sein wurde der Kompetenzbereich Sprachmittlung hinzugefügt, da
der Slowenischunterricht – unabhängig davon, in welcher Intensität er
erfolgen mag, ob als Unterrichtssprache oder Unterrichtsgegenstand –
in einem sprachlichen Umfeld stattndet, in dem es Gelegenheit gibt,
unter verschiedensprachigen Menschen als Sprachmittler in Aktion zu
treten.“ (Domej et al. 2013, S. 8)
Nachhaltigkeit der zweisprachigen Bildung
Die Möglichkeiten, in Kärnten Slowenisch zu lernen, sind vielfältig
(geworden). Hierher gehören im Bildungsangebot das zweisprachige
Schulwesen wie auch die zweisprachigen Kindergärten oder die slowe-
nische Musikschule des Landes Kärnten. Natürlich unterscheiden sich
die Lernformen voneinander, sie beeinussen auch den Lernertrag,
wie viel und was man nach einer gewissen Lernzeit kann, beherrscht.
Es ist ein Unterschied, ob Slowenisch Unterrichtssprache (Bildungs-
sprache) ist oder als Sprach-Fachgegenstand mit drei Wochenstun-
Miha Vrbinc
119
den gelehrt wird, ob im zweisprachigen Unterricht übergangslos und
schnell zwischen den Sprachen gewechselt wird oder längere Immersi-
onsphasen konsequent realisiert werden.
Je klarer das (Sprachlern-)Konzept eines Kindergartens, einer Schu-
le ist, desto klarer ist auch der Einuss auf die Qualität des Erreichten,
wobei natürlich auch die individuelle Entwicklung des Kindes und
der/des Jugendlichen eine Rolle spielt.
Als Bildungsangebot ist der zweisprachige Unterricht ein Ausdruck
der Zweisprachigkeit der Region, in der Deutsch und Slowenisch als
Sprachen des unmittelbaren Nachbarn koexistieren. Gleichzeitig ist
Slowenisch die Staatssprache des Nachbarlandes, der Republik Slo-
wenien, und der slowenischen Volksgruppen in Italien, Kroatien und
Ungarn. Tatsächlich fungiert und funktioniert Slowenisch als verbin-
dende Sprache in dieser Region.
Aufgrund des Anmeldeprinzips gehe ich davon aus, dass die Eltern
eine bewusste Entscheidung treen, wenn sie ihr Kind zum zweispra-
chigen Unterricht, am BG/BRG für Slowenen oder zum Slowenischun-
terricht an anderen Schulen anmelden, durchaus auch mit der Erwar-
tungshaltung, dass das Kind, das bereits beide Sprachen beherrscht,
sein Sprachwissen erweitert und vertie bzw. jenes Kind, das eine der
beiden Sprachen (noch) nicht kann, in beiden Sprachen entsprechen-
de Lernzuwächse erfahren kann. Diese bewusste Entscheidung ist für
die Pädagoginnen und Pädagogen Ansporn und Herausforderung zu-
gleich, um jedes Kind auf seinem (sprachlichen) Bildungsweg zu be-
gleiten. Dies bedeutet, dass individuell festgestellt werden muss, wie
sich die sprachliche Ausgangslage des einzelnen Kindes darstellt, um
sodann eine individualisierte Form des Sprachlernens zu ermöglichen.
Dies unterscheidet die zweisprachigen Volksschulen von allen anderen
Schulen, da ja das Lehren und Lernen in zwei Sprachen umfassend
erfolgen soll und erfolgt. Als Metapher: Im Lauf des Bildungsweges
werden zwei Gläser mit Wasser (= Sprache) gefüllt. Und nach der
Volksschule ist die Situation ähnlich, ist doch auch in der Fortführung
auf den jeweiligen Wasserstand (= Sprachstand) in den beiden Gläsern
zu achten. Weitere Gläser (= Sprachen) folgen natürlich …
Neben dieser auf den Schüler, die Schülerin bezogenen pädagogi-
schen Herausforderung ist das zweisprachige Schulwesen Teil des ös-
terreichischen Schulwesens und unterliegt demnach allen Schulrefor-
men und Neuerungen, wobei die besonderen Herausforderungen des
Minderheitenschulwesens ihre Berücksichtigung nden müssen. Als
Slowenisch lernen wollen – und können
120
ein Beispiel führe ich die standardisierte, kompetenzorientierte Dip-
lom- und Reifeprüfung an, die im Jahr 2012 verordnet wurde. Für die
höheren Schulen mit slowenischer bzw. deutscher und slowenischer
Unterrichtssprache wurde ein entsprechendes Prüfungsmodell erar-
beitet, das diese Schulen einerseits mit allen anderen österreichischen
Schulen durch die standardisierten Aufgaben vergleichbar macht, an-
dererseits Slowenisch als Unterrichtssprache so berücksichtigt, dass
der regionale Ausbildungsschwerpunkt dieser Schulen zum Ausdruck
kommt – die Absolventinnen und Absolventen sollen demnach ihre
besonderen, zusätzlichen sprachlichen Kompetenzen in der abschlie-
ßenden Prüfung präsentieren. Hierbei wird besonders auf die Kompe-
tenz der Sprachmittlung, des Vermittelns zwischen – zwei – Sprachen
Wert gelegt, indem zum Beispiel ein auf Deutsch verfasster Fachtext
auf Slowenisch erklärt wird (und umgekehrt).
Und wenn es schon um das Vermitteln geht: Im Aurag des Bil-
dungsministeriums wurde seitens des Demokratiezentrums eine
Wanderausstellung zum österreichischen Minderheitenschulwesen7
erarbeitet; sie ist im Schuljahr 2017/18 an Schulen im Burgenland „un-
terwegs“ und steht ab dem Schuljahr 2018/19 für Schulen in Kärnten
zur Verfügung. Die Ausstellung kann und soll österreichweit einge-
setzt werden, sind doch ihre Ziele „die verstärkte Wahrnehmung der
Minderheiten / die Erweiterung der Kenntnisse über Minderheiten-
politik und Minderheitenrechte / Akzeptanz, Wertschätzung und Res-
pekt sowie die Bekämpfung von Vorurteilen gegenüber allen Gruppen
/ eine Stärkung der Mehrsprachigkeit.“ (Internetquelle: Minderhei-
tenschulwesen)
Literatur
Blajs, Josef (2013): Die slowenische Volksgruppe und das zweisprachige Kindergarten-
wesen. In: Wolf, Willi/Sandrieser, Sabine/Vukman-Artner, Karin/Domej, eodor
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Domej, eodor (2009/10): Historische Entwicklung des zweisprachigen Schulwesens-
Miha Vrbinc
7 Die Ausstellungsstationen sind im Internet auf der Homepage des Demokratiezen-
trums nachzulesen bzw. -hören: http://www.demokratiezentrum.org/ausstellun-
gen/minderheiten.html (Datum des letzten Abrufs: 6. 3. 2018).
121
In: Jahresbericht der Abt. VII – Minderheitenschulwesen am LSR Kärnten für das
Schuljahr 2009/10, S. 9-21.
Domej, eodor (2012/13): Einige soziolinguistische Bemerkungen zu „Bildungs-
standards“ für Volksgruppensprachen. In: Jahresbericht der Abt. VII – Minderhei-
tenschulwesen am LSR Kärnten für das Schuljahr 2012/13. S. 25-38.
Domej, eodor/Kušej, Maria/Millonig-Kupper, Maja/Pečnik, Daniela/Pichler, Iris/
Steharnig, Simone (2013): Kompetenzbeschreibungen für den Unterrichtsgegen-
stand „Slowenisch“ Sekundarstufe I/8. Schulstufe. Herausgeber: BMUKK (Stabsstel-
le für das österreichische Minderheitenschulwesen) in Kooperation mit dem LSR
Kärnten (Abteilung VII – Minderheitenschulwesen) und der PH Kärnten – Vik-
tor Frankl Hochschule (Institut für Mehrsprachigkeit und Interkulturelle Bildung.
Wien/Klagenfurt.
Feinig, Tatjana (2008): Slovenščina v šoli. Zgodovina pouka slovenščine na Koroškem/
Slowenisch in der Schule. Die Geschichte des Slowenischunterrichts in Kärnten.
Klagenfurt-Celovec: Drava Verlag.
Gstettner, Peter (1988): Zwangha Deutsch? Über falschen Abwehrkampf und ver-
kehrten Heimatdienst Klagenfurt-Celovec: Drava Verlag.
Ogris, Katharina (2014): Schule = šola? Zur Gleichwertigkeit der Unterrichtssprachen
Deutsch und Slowenisch an Kärntner Volksschulen. Klagenfurt-Celovec: Drava
Verlag.
Piko-Rustia, Martina/Rosenzopf-Jank, Anton/Wakounig, Vladimir/Zablatnik, Pavel
(2011): Dvo- in večjezičnost v družini / Zwei- und Mehrsprachigkeit in der Familie.
Klagenfurt: Mohorjeva.
Pörtsch, Maria/Vrbinc, Michael (2013): Das Regionale Sprachenportfolio. In: Erzie-
hung und Unterricht. Österreichische pädagogische Zeitschri 7–8/2013, S. 698-
704.
Sandrieser, Sabine (2013): Kärnten – Schatzkiste der Möglichkeiten zum Sprachen-
lernen. In: Wolf, Willi/Sandrieser, Sabine/Vukman-Artner, Karin/Domej, eodor
(Hg.): Natürlich zweisprachig. Graz: Leykam, S. 110-118.
Sandrieser, Sabine (2016/17): Die Eckpfeiler der Bildungsreform und deren Auswir-
kungen auf das Minderheitenschulwesen. In: Jahresbericht der Abt. VI – Minder-
heitenschulwesen am LSR Kärnten für das Schuljahr 2016/17, S. 31f
Wakounig, Vladimir (2008): Der heimliche Lehrplan der Minderheitenbildung. Die
zweisprachige Schule in Kärnten. Klagenfurt-Celovec: Drava Verlag.
Internetquellen
Ausführungsgesetz des Landes Kärnten. URL:
https://w ww.r is.bka.g v.at/GeltendeFass ung .wxe?Abfrage=Lr K&Gesetzesnum-
mer=10000020 (Datum des letzten Abrufs: 05.03.2018).
Minderheiten-Schulgesetz für Kärnten. URL: http://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFas-
sung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10009246 (Datum des
letzten Abrufs: 05.03.2018).
Minderheitenschulwesen. URL:
https://bildung.bmbwf.gv.at/schulen/unterricht/ba/minderheitenschulwesen.html
(Datum des letzten Abrufs: 06.03.2018).
Slowenisch lernen wollen – und können
122
Öentliche zweisprachige Volksschule 24. URL:
https://volksschule24.zweisprachig.at/uns_de (Datum des letzten Abrufs: 04.03.2018).
Österreichischer Staatsvertrag, Artikel 7. URL:
www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnum-
mer=10000265 (Datum des letzten Abrufs: 05.03.2018).
169
Roland Verra
Überleben zwischen den großen
Kultursprachen
Zur Geschichte, Lage und Zukunftsfähigkeit der ladinischen Sprache
Einleitung
Die Dolomitenladiner bewohnen die Täler Gröden (lad. Gherdëina),
Abtei (Badia), Fassa (Fascia), Buchenstein (Fodom) und Ampezzo
(Anpezo) um den Sellastock am Rande Südtirols, des Trentino und der
Provinz Belluno. Gegenwärtig beträgt die Anzahl der Ladinischspre-
cher ungefähr 30.000 (vgl. Moroder 2016, S. 34), genaue Angaben sind
lediglich für Südtirol und das Trentino möglich, da es in der Provinz
Belluno keine Sprachgruppenzugehörigkeitserklärung gibt.
Dabei gilt es zu bedenken, dass sich auch außerhalb des traditio-
nellen ladinischen Gebiets verschiedene Gemeinden im Cadore und
im Cordevole-Gebiet (Belluno) als ladinisch erklärt haben, auch auf
Grund des staatlichen Gesetzes Nr. 482 über die historischen Minder-
heiten in Italien, welches diese Eigenerklärung von Seiten des Gemein-
derates ermöglicht, um gewisse Förderungen, besonders im Gebrauch
der Minderheitensprache in der Verwaltung und im Unterricht zu er-
möglichen.
Auch im Nonstal (Trentino) gibt es eine beträchtliche Anzahl an
ladinischen Eigenerklärungen, obwohl das Gebiet eher zu den sprach-
lichen Übergangsgebieten gerechnet wird.
Darüber hinaus muss man die ladinische Sprachgruppe im grö-
ßeren Kontext der Alpenromania sehen, als Teil jener größeren „la-
dinischen“ bzw. „rätoromanischen“ Einheit, die nach der klassischen
eorie von Graziadio Iasia Ascoli vom Gotthardpass in Graubünden
bis zur Adria im Friaul reicht. Allerdings sind die Beziehungen zwi-
schen den drei ladinischen Sprachinseln Graubünden, Dolomiten und
Friaul nicht sehr konstant und sogar die gemeinsamen sprachlichen
Verbindungselemente werden nicht von allen Linguisten als so präg-
nant beurteilt, wie es die eorie der „unità ladina“ vorsehen würde.
Dialektometrische Messungen von Hans Goebl (2006) haben diese en-
gere sprachliche Verbindung zweifelsfrei untermauert, was fehlt ist der
170
politische Zusammenhalt der drei ladinischen Sprachinseln und auch
ein kontinuierlicher kultureller Austausch.
Die kleine, exponierte ladinische Sprachgruppe bendet sich seit
vielen Jahrhunderten im Einussbereich zweier großer europäischer
Kultursprachen, der italienischen im Süden und der deutschen im
Norden, und gerade diese Beziehung bedingt in vielen Fällen die Her-
ausbildung einer sogenannten „natürlichen“ Dreisprachigkeit (vgl. Eg-
ger 2001, S. 13), die aber je nach Ortscha und Talscha verschieden
stark ausgeprägt ist. So beobachtet man ein klares Nord-Süd-Gefälle in
der Dreisprachigkeitskompetenz wobei diese besonders stark in Grö-
den und im Gadertal (auch auf Grund des dort bestehenden Mehr-
sprachen-Bildungsmodells) ausgeprägt ist, im Fassa-Tal abnimmt
und in den ladinischen Tälern in der Provinz Belluno nur mehr als
ladinisch-italienische Bilinguität im besten Falle vorkommt (vgl. De-
ll’Aquila/Iannàccaro 2006, S. 56).
Als Teil der Habsburgermonarchie mussten die Dolomitenladiner
die jeweilige Sprache der Obrigkeit zusätzlich zu ihrer Muttersprache
beherrschen; die Amtssprache war aber je nach Talscha verschieden:
in Gröden und im Gadertal deutsch, in den anderen Tälern italienisch.
Dies führte schon sehr früh zu einer unterschiedlichen kulturellen
Ausrichtung der Dolomitenladiner, auch bedingt durch die wirtscha-
lichen Kontakte der Ampezzaner und Buchensteiner zu Venedig und
der anderen Ladiner eher in Richtung Tirol.
Die Ereignisse und die Folgen des ersten Weltkriegs mit den Aus-
weisungen der örtlichen Bevölkerungen aus den Frontgebieten in Bu-
chenstein und teilweise in Ampezzo, mit den sprachlich-kulturellen
Assimilierungsmaßnahmen des Faschismus und des Nationalsozialis-
mus, mit den wirtschalichen und sozialen Umwälzungen des Mas-
sentourismus brachten das kulturelle Gefüge der ladinischen Einheit
gehörig durcheinander und bedingten eine Trennung der Ladiner ent-
lang den Verwaltungsgrenzen der drei Provinzen, die unterschiedliche
politische und rechtliche Rahmenbedingungen zum Umgang mit den
Sprachminderheiten aufwiesen. Besonders die Ladiner in der Pro-
vinz Belluno, die zur Region mit Normalstatut Venetien gehört, wur-
den demzufolge von den Schutzmaßnahmen des Autonomiestatuts
von Trentino-Südtirol ausgeschlossen, die an sich nur teilweise dem
sprachlichen Erosionsprozess des Ladinischen Einhalt bieten konnten.
Während in den ladinischen Ortschaen in Südtirol ein eigenes
mehrsprachiges Schulmodell, mit Deutsch und Italienisch als Unter-
Roland Verra
171
richtssprachen und einigen wenigen Ladinischstunden, unter großen
Anstrengungen und Anfeindungen aufgebaut werden konnte, wurde
dies anfänglich den Fassanern untersagt. Erst in den Neunziger Jahren
des 20. Jahrhunderts konnten die Fassaner Ladiner diese Ungleich-
behandlung in etwa ausgleichen und zu einigen interessanten schuli-
schen Lösungen in Bezug zur Mehrsprachigkeit gelangen. Allerdings
blieb die Situation im schulischen Bereich in Buchenstein und Am-
pezzo gleich problematisch, wobei das Ladinische keinen curricularen
Status im Bildungsbereich besitzt.
Die neueren Entwicklungen der Globalisierung und der weltweiten
Kommunikation führten auch in den ladinischen Tälern zur Stärkung
der Rolle des Englischen als Arbeits- und Kommunikationssprache
in einem immer internationaler werdenden Kontext eines allumfas-
senden Tourismuskonzeptes, das den Alltag der meisten ladinischen
Ortschaen prägt. Erscheinungen des language-switching von der la-
dinischen Familiensprache zugunsten der im sozialen Status angese-
heneren Sprachen sind bereits in vielen Fällen zu beobachten.
Wie die ladinische Sprache, die übrigens eine ähnliche rechtliche
Anerkennung seiner normierten Einheitsform wie in Graubünden im-
mer noch nicht erfahren hat, in dieser veränderten Situation bestehen
kann, ist die große Zukunsfrage dieser zersplitterten und geteilten
Minderheit im Herzen der Alpen.
Mehrsprachigkeit im Alltag
Die umfassendste Studie zur Mehrsprachigkeit in den ladinischen Do-
lomitentälern bleibt bisher „Survey Ladins“ von Iannaccaro/Dell’Aqui-
la aus dem Jahre 2006.
Darin werden verschiedene Aspekte der Mehrsprachigkeit in al-
len fünf Tälern untersucht und interpretiert, und zwar anhand einer
Befragung von 3200 Personen bei einer Gesamtbevölkerung von un-
gefähr 40000 Einwohnern. Daraus ergibt sich ein sehr dierenziertes
Bild, je nach untersuchter Talscha bzw. Provinzzugehörigkeit.
Obwohl das Ladinische im familiären Umfeld vorherrscht, fällt der
Gebrauch der Sprachen in den Bereichen „Gemeinscha“, „Arbeit“,
„Medien“, Öentliches Leben“, „Lesen und Schreiben“ doch sehr un-
terschiedlich aus.
Im Bereich „Arbeit“ überwiegt das Ladinische in ganz Gröden
und im Gadertal, mit der Ausnahme der Gemeinde St. Ulrich, wo
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
172
der Gebrauch des Südtiroler Dialekts überwiegt. Die Kombination
Ladinisch-Italienisch ist wiederum in Fassa und Buchenstein vor-
herrschend. Noch ziemlich schwach ausgebildet ist der Gebrauch
des Ladinischen bei der kommerziellen Werbung, im Unterschied zu
Graubünden. Bei einigen lokalen Rundfunksendern kann man aber
das Ladinische auch in dieser Sparte erleben, wie auch in der ladini-
schen Wochenzeitung „La Usc di Ladins“.
Interessant ist auch der Bereich „Lesen und Schreiben“, mit ei-
ner deutlichen Hinwendung zum Italienischen in allen südlichen
Tälern Ladiniens, mit einer Kombination der drei Sprachen (Ladi-
nisch-Deutsch-Italienisch) in allen Gemeinden des Gadertals und mit
der Kombination Deutsch-Italienisch in ganz Gröden, mit der Aus-
nahme von Wolkenstein. Daraus ergibt sich ein Bild, bei dem lediglich
das Gadertal einen aktiven Gebrauch des Ladinischen neben Deutsch
und Italienisch vorzuweisen hat. In diesem Feld spielt das Ladinische
also nur bedingt eine bedeutsame Rolle, weil es anscheinend in Fassa
und im Bellunesischen keine ausreichenden sprachlich formalisierten
Kompetenzen im Ladinischen gibt, um Texte zu lesen oder Texte zu
verfassen. Es soll auch daran erinnert werden, dass die Ausstattung
der öentlichen Bibliotheken in den ladinischen Ortschaen nur zum
Teil ein sprachlich ausbalanciertes dreisprachiges Angebot vorweisen
kann.
Eine ähnlich starke Hinwendung zum Italienischen als vorherr-
schende oder ausschließliche Sprache kommt im Bereich „Medien“ im
Bellunesischen und in der Gemeinde Moena in Fassa vor, während
die ladinischen Täler in Südtirol eine verstärkte Dreisprachigkeit im
Medienkonsum erkennen lassen.
Ziemlich widersprüchlich erscheint das Bild beim Feld „öentli-
ches Leben“, was sowohl den oziellen Gebrauch der Sprachen in der
Verwaltung als auch im kulturellen Bereich impliziert. Das Ladinische
scheint dabei in Gröden und im Gadertal vorzuherrschen, mit Aus-
nahme der ladinischen Fraktionen der Gemeinde Kastelruth, die eine
große deutschsprachige Mehrheit aufweisen. Das mag zum Teil zutref-
fen, weil die Sprache in den Gemeinderatssitzungen, beispielsweise,
das Ladinische ist, wobei anderssprachige Gemeinderatsmitglieder
sich auch des Deutschen oder Italienischen bedienen können.
Ob dieses Bild aber bei den kulturellen Veranstaltungen gilt, wage
ich für Gröden zu bezweifeln, denn mittlerweile spielen sich viele öf-
fentliche Veranstaltungen, z.B. eaterauührungen, Vorträge usw.
Roland Verra
173
hauptsächlich in deutscher Sprache ab. Es kommt auch öers vor,
dass gewisse Veranstaltungen, aus Gründen der political correctness
mit einem ladinischen Titel versehen werden, dem der sprachliche In-
halt derselben nicht entspricht. Andererseits kommt es besonders in
den ladinischen Tälern Südtirols o vor, das gewissen Kulturveran-
staltungen ganz bewusst dreisprachig ablaufen, was manchmal etwas
gekünstelt erscheinen mag, aber im Sinne des gegenseitigen Respekts
gerne angenommen wird. Zunehmend sind dabei auch englische Ein-
sprengsel festzustellen, was besonders bei schulischen Auührungen
öers vorkommt. Diese ausgesprochene Hinwendung zur praktizier-
ten Mehrsprachigkeit entspricht einer zunehmenden Kultur der Glo-
balität, die manchmal sogar als Gegenentwurf zur Wahrung der la-
dinischen Sprache und Kultur als ursprüngliches Identitätsmerkmal
gesehen wird.
Bei größeren Events im touristischen Gewerbe, bei großen inter-
nationalen Sportveranstaltungen ist die Präsenz des Ladinischen al-
lerdings nur schmückendes Beiwerk, sofern es überhaupt vorkommt.
Die stra durchorganisierte Struktur der Kulturvereine in Südtirol
hat auch in den ladinischen Tälern die entsprechenden Ableger und
Unterorganisationen, wobei meistens die Dachorganisation auf Lan-
desebene fest in Deutschsüdtiroler Hand ist. Das bedingt auch den
Gebrauch der Sprache in den Sitzungen und Aktivitäten dieser Verei-
ne, die in den letzten Jahren auch Ladinisch daherkommt, aber in der
Fachterminologie und o auch in den Inhalten ganz massiv von der
Zugehörigkeit zu einem größeren deutschsprachigen Verband geprägt
ist.
Bei der Auswahl der eaterstücke seitens der Heimatbühnen in
Gröden bemerkt man eine klare Bevorzugung deutschsprachiger Stü-
cke, besonders bei anspruchsvolleren Produktionen, während man die
ladinischen Stücke eher für unterhaltsame Vorführungen reserviert.
Umgekehrt verhält es sich in den anderen ladinischen Tälern im
Trentino und im Veneto, wo allerdings die organisatorischen Bindun-
gen nicht so maßgeblich erscheinen, auch weil der Organisationsgrad
der Verbände meistens nicht so stark überwiegt. Im Volkstheater Fas-
sas, beispielsweise, bleibt das Ladinische vorherrschend, wohl aus ei-
ner lang anhaltenden Tradition heraus.
All das Gesagte ändert sich aber schlagartig bei der Verwendung
der Sprachen in den oziellen Akten und Dokumenten, wo in den
ladinischen Gemeinden in Südtirol wohl eine formelle Dreisprachig-
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
174
keitspicht vorgesehen ist, aber ozielle Schreiben nur in den seltens-
ten Fällen ladinisch verfasst werden. Die anderen Täler verwenden
hauptsächlich das Italienische für diese Dokumente.
Nicht unmaßgeblich ist die Tatsache, dass eine Proporz-Reserve für
Stellen in der öentlichen Verwaltung für Ladiner besteht, die im Be-
sitz des Nachweises über die Kenntnis der ladinischen Sprache sind
(zu den anderen oziellen Sprachen dazu) und ihre Zugehörigkeit zur
ladinischen Sprachgruppe erklärt haben. Dies gilt nicht für die ladini-
schen Täler in der Provinz Belluno.
Zusammenfassend kann man feststellen, dass im kulturellen Be-
reich und im öentlichen Leben im Allgemeinen, Dreisprachigkeit in
Gröden öer vorkommt als in andern ladinischen Tälern. Das Ladini-
sche bleibt bei solchen Anlässen im Gadertal vorherrschend, während
zumindest ein ladinischer Anstrich im Fassatal zum guten Ton gehört.
Eher ins Hintertreen gelangt hingegen das Ladinische in Ampez-
zo, besonders im touristischen Bereich, der aber in einem solchen No-
belkurort das gesamte öentliche Leben während eines Großteils des
Jahres beherrscht.
Mehrsprachigkeit der Ladiner im Laufe der Geschichte
Die bekannte Aussage Ascolis in Bezug auf die „innere Form“ des Ladi-
nischen als „materia romanza e spirito tedesco“ könnte den Eindruck
entstehen lassen, das Ladinische sei nichts Anderes als eine Vermen-
gung neolateinischer Sprachmaterie mit deutschen morphologischen
und syntaktischen Regeln, was natürlich nicht der Fall ist.
Diese abstruse Sichtweise ist aber bezeichnend für die Mittellage des
Ladinischen zwischen zwei bedeutenden europäischen Kulturspra-
chen: Deutsch und Italienisch. So konnte beispielsweise ein adeliger
Tiroler Chronist des 17. Jahrhunderts Marx Sittich von Wolkenstein
von einer „grob Churwälschen“ Sprache in den ladinischen Tälern er-
zählen, die für Außenstehende kaum verständlich sei, wobei der Aus-
druck „Churwälsch“ sowohl auf die romanische Sprache in Graubün-
den als auch auf ein unverständliches „Kauderwälsch“ bezogen sein
könnte (vgl. Richebuono 1990, S. 21).
Schon sehr früh in der Geschichte werden demnach innerladini-
sche Beziehungen zwischen den Dolomiten und Graubünden aufge-
zeigt, obwohl die zwei Sprachinseln der größeren Alpenromania von
politischen und sogar religiösen Grenzen voneinander geteilt waren.
Roland Verra
175
Es ist interessant festzustellen, dass sowohl die Kirche als auch die
weltliche Obrigkeit, die über viele Jahrhunderte in den ladinischen
Dolomitentälern eins und dasselbe waren, nämlich unter der Herr-
scha der Brixner Fürstbischöfe, in vielen Fällen eine interessante
und eigentümliche sprachliche Kommunikation mit den ladinischen
Untertanen pegten. Es haben sich nämlich Texte von öentlichen
Kundmachungen in ladinischer Sprache erhalten, die mit vielen italie-
nischen Elementen durchsetzt waren. Auch in den kirchlichen Feiern
wurde neben Latein auch das Ladinische bei Predigten verwendet und
nicht selten Italienisch, wohl als Ergebnis der Vorgaben des Trientner
Konzils in der gegenreformatorischen Zeit. (vgl. Belardi 1994, S. 60)
Trotzdem gilt es zu bedenken, dass die meisten lokalen Adeligen
im ladinischen Gebiet deutschsprachig waren oder Ladiner, die zur
deutschsprachigen Elite Tirols übergewechselt waren, was in der Ge-
richtssprache und in der Verwaltungssprache jener Zeit natürlich ihren
Niederschlag hatte. Die Art und Weise, wie die ladinischen Familien-
namen beispielsweise in vielen Fällen verdeutscht wurden, legt Zeug-
nis davon ab. Gerade dieses ema ist wiederum bezeichnend für die
Interpretationsfehler späterer Sprachwissenschaler und Historiker,
die sich dazu verleiten ließen, die Italianisierung „echter“ ladinischer
Familiennamen, wie z.B. Lardschneider, Moroder, Senoner. anzupran-
gern, nichtachtend, dass die ursprünglichen ladinischen Familienna-
men, in diesem Falle Larciunei, Mureda und Sanon bereits früher von
deutschsprachigen Kanzleibeamten verdeutscht worden waren.
Diesem Irrtum sitzt sogar der bekannte italienische Kunsthistoriker
Niccolò Rasmo auf, wenn er vom Unsinn schreibt, die ursprüngliche
ladinische Ortsbezeichnung „Pikkolein“ in „Piccolino“ zu übersetzen,
während es sich bei „Pikkolein“ um nichts anderes als die Verdeut-
schung des ladinischen Ortsnamens „Piculin“ handelt. Übrigens ist
diese verballhornte Version eines ladinischen Ortsnamens noch im-
mer oziell im Gebrauch.
Solche und ähnlich Fälle lassen erkennen, wie schwierig es ist, im
Nebel der Geschichte, die ursprüngliche Situation des Ladinischen
zwischen Deutsch und Italienisch objektiv zu erkennen.
Die politischen und religiösen Machtverhältnisse brachten es mit
sich, dass das kleine, lange Zeit isolierte und wirtschalich am Exis-
tenzminimum vegetierende Volk der Dolomitenladiner zwangsläug
dem sprachlichen Einuss der Obrigkeitssprachen ausgesetzt war, wo-
bei dieser Einuss nicht unbedingt als kulturelle Bereicherung wahrge-
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
176
nommen wurde, sondern als Notwendigkeit, um in einem von größe-
ren Sprachen beherrschten Kontext überhaupt überleben zu können.
Bis heute hat das zur Folge, dass die beinahe perfekte Beherrschung
insbesondere des Deutschen zum Erkennungsmerkmal der Zuge-
hörigkeit zur gesellschalichen Elite in Ladinien gilt. Während also
das Italienische, wegen der angenommenen größeren Nähe des Ladi-
nischen, das eine neolateinische Sprache ist, als leichter zu erlernen
galt, war die Aneignung eines „ießenden Deutsch“ stets mit großen
Anstrengungen und Opfern verbunden und galt lange Zeit als Privi-
leg der Geistlichen und einiger wenigen besser situierten Familien, die
imstande waren, die Kinder in die weiterführenden Schulen in den
Städten Tirols zu schicken.
Das galt verstärkt für jene Dolomitentäler, die sich zum Eisack- und
Pustertal önen, während in den nach Süden oenen Tälern der Ein-
uss des Italienischen viel stärker war. Trotzdem verblieb in der Habs-
burgerzeit auch in diesen Tälern die Beherrschung des Deutschen ein
wichtiges soziales Distinktionsmerkmal.
Bei den Dolomitenladinern handelte es sich um eine bäuerlich ge-
prägte Bevölkerung, die sehr stark katholisch ausgerichtet war, die über
keinen eigenen städtischen kulturellen oder politischen Mittelpunkt
verfügte und die völlig einer anderssprachigen autoritären Obrigkeit
ausgeliefert war. Diese Bevölkerung war nicht einmal in der Lage, die
Garantien und Rechte für die sprachlichen Minderheiten in Anspruch
zu nehmen, die von der österreichisch-ungarischen Verfassung von
1867 eigentlich vorgesehen waren. Weder im Unterricht, noch in den
öentlichen Ämtern besaß das Ladinische den Status einer anerkann-
ten Sprache. Die zögerlichen Versuche einiger ladinischer Geistlichen
im 19. Jahrhundert, ladinische religiöse Bücher im Unterricht einzu-
führen, wurden von der kirchlichen Obrigkeit in Brixen nicht geneh-
migt (vgl. Belardi 1994, S. 155).
Trotzdem entwickelten die Ladiner pragmatisch Sprachkenntnisse
im Italienischen und im Deutschen, sowohl durch wirtschaliche Kon-
takte als auch durch eine starke saisonale Abwanderung, die von der
großen wirtschalichen Not befördert wurde. Ladinische Kinder aus
notleidenden Familien wurden als Hirten und Landwirtschasknech-
te in die benachbarten deutschsprachigen Täler entsandt, wohl auch
um etwas Deutsch zu erlernen. Zahlreiche ladinische Handwerker und
Wanderhändler zogen hinaus in die Länder der Donaumonarchie, um
ihren Familien ein Zubrot zu ermöglichen. Infolge des Auommens
Roland Verra
177
der Grödner Holzschnitzerei gab es intensive Handelsbeziehungen bis
nach Mittelitalien und Böhmen.
Die entscheidende soziale und kulturelle Veränderung kam aber
durch den Fremdenverkehr zustande, der besonders in Cortina und
Gröden bereits in der zweiten Häle des 19. Jahrhunderts seine un-
gebremste Entwicklung nahm. Waren es am Anfang noch vereinzelte,
besonders englische Entdecker und Bergsteiger, die sich ins Reich der
Bleichen Berge wagten, so wurde der Zustrom österreichischer und
deutscher Gäste mit der Zeit immer bedeutsamer und führte zu ei-
nem ersten bescheidenen Aufschwung in der Tourismusindustrie in
fast allen ladinischen Ortschaen. Starke Impulse in dieser Richtung
gingen vom Deutschen und Österreichischen Alpenverein aus, was
nicht geringe Folgen für die zunehmende Ausbreitung des Deutschen
in Ladinien hatte. Als Beispiel können auch viele deutsche Bergnamen
angeführt werden, die damals teilweise frei erfunden bzw. wichtigen
Bergsteigerpionieren gewidmet wurden. In vielen ladinischen Dörfern
entstanden Beherbergungsbetriebe mit deutschen Fantasienamen;
bereits gegen Ende des Jahrhunderts gab es Tendenzen, die Schule in
Gröden und im Gadertal vollkommen zu verdeutschen, wobei man
die vier bzw. fünf wöchentlichen Italienischstunden abschaen wollte.
Das Ladinische war damals keine anerkannte Schulsprache.
Mehrsprachigkeit im Bildungswesen
Während in der Schule seit theresianischen Zeiten das Ladinische nur
als Gebrauchs- oder Erklärungssprache vorkam, war der Unterricht in
Gröden und Gadertal großteils deutsch, mit einigen Ausnahmen im
Religionsunterricht, wo o die italienische Sprache verwendet wurde.
In den südlichen ladinischen Tälern von Fassa, Buchenstein und
Ampezzo war die Hauptunterrichtssprache Italienisch.
Nach der Annexion der ladinischen Täler durch Italien im Jahre
1918 wurde der Unterricht bald nur mehr italienisch gehalten, aber
erst mit dem Faschismus wurde Deutsch ganz aus den Unterrichts-
plänen getilgt. Ladinisch blieb weiterhin nicht anerkannt und mit den
neuen faschistischen Gesetzen schließlich ganz verboten. Die einhei-
mischen Lehrkräe wurden entweder entlassen oder in andere Pro-
vinzen versetzt (vgl. Vittur 1994, S. 12).
Im Zuge der berüchtigten Optionen für die Aussiedlung der Süd-
tiroler ins Dritte Reich, wurden auch in einigen ladinischen Tälern
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
178
sogenannte Optantenkurse eingerichtet, für jene Ladiner, die auswan-
dern wollten. Es bildeten sich sozusagen zwei parallele Schulsysteme
in einigen Zentren Ladiniens: eines in italienischer Sprache für die
sogenannten Dableiber (die sich der Aussiedlung widersetzten) und
eines in deutscher Sprache für die künigen Aussiedler. Die tiefe Spal-
tung in den örtlichen Gemeinschaen wurde von einer frenetischen
Propaganda der Nazis aufgeheizt, die ein möglichst hohes Ergebnis für
die Auswanderung erzielen wollten. Besonders in Gröden war diese
Auseinandersetzung sehr virulent und führte zu schweren Konikten
sogar innerhalb vieler Familien. Die Nationalsozialisten hatten sich
Gröden als Testgelände für ihre Propagandaschlacht ausgesucht und
versprachen den Optanten die besten sozialen und wirtschalichen
Bedingungen in der neuen Heimat. Das hohe Ergebnis für die Option
in Gröden kann zumindest teilweise dadurch erklärt werden, ist aber
äußerst problematisch zu bewerten, denn mit dem Gelingen der Op-
tion wäre auch die ladinische Sprache ausgelöscht worden, mussten
sich ja die Optanten verpichten, zu hundertprozentigen Deutschen
zu werden (vgl. Sailer 1985, S. 110).
Unter solchen Voraussetzungen ist es erklärlich, dass die Lage nach
Ende des Krieges in Gröden besonders angespannt war. Im schuli-
schen Bereich wurde die Devise herausgegeben, die Familienväter soll-
ten sich deutsch erklären, um eine Rückkehr der italienischen Schule
zu verhindern. Das blieb auch bis 1948 so; die Schule war gänzlich
deutsch, wie übrigens auch nach dem Einmarsch der deutschen Wehr-
macht 1943.
Infolge der Anwendung des ersten Autonomiestatuts für Trenti-
no-Südtirol von 1948 musste aber der Ladinischunterricht in jenen
Ortschaen, wo ladinisch gesprochen wurde, vorgesehen werden. So
erließ das römische Unterrichtministerium ein Dekret, das den Unter-
richt einer Wochenstunde Ladinisch, des Religionsunterrichts auf La-
dinisch und der anderen Fächer zu gleichen Teilen auf Italienisch und
Deutsch an den Grundschulen in Gröden und im Gadertal vorsah.
Diese Regelung, die ansatzweise bereits 1945 von Gadertaler Lehr-
kräen und Bürgermeistern vorgeschlagen worden war, begründete
die paritätische Schule der ladinischen Ortschaen in Südtirol und
blieb bis heute mehr oder weniger in der selben Form aufrecht. Da-
durch wurde die Dreisprachigkeit des ladinischen Bildungswesens in-
stitutionalisiert; eine Tatsache, die weitreichende Folgen für die kultu-
relle und soziale Entwicklung dieser Minderheit haben sollte.
Roland Verra
179
Trotz des heigen Widerstands gewisser politischer Kreise, die auch
viele Schülereltern dagegen auetzten, konnte sich dieses Schulmo-
dell nach und nach durchsetzen und zu einem gelungenen Beispiel ge-
lebter Mehrsprachigkeit entwickeln. (vgl. Verra 2004, S. 50)
Allerdings muss vermerkt werden, dass die Anzahl der Unterrichts-
stunden in ladinischer Sprache sehr bescheiden blieb, womit die vor-
herrschende Position des Deutschen und des Italienischen noch weiter
zementiert wurde. Die Überlegung der Begründer dieses Schulmodells
war jene, dass sich die Großsprachen Deutsch und Italienisch die Waa-
ge halten sollten, um eine völlige Assimilierung der Ladiner zu verhin-
dern. Dies hätte aber auch eine stärkere Anzahl an Unterrichtsstunden
in ladinischer Sprache erfordert, was zu jenen Zeiten nicht möglich
erschien, weil man allgemein diese Minderheitensprache für zu wenig
ausgebaut hielt, um gewisse Fächer darin zu unterrichten.
Das Beispiel der benachbarten Schulen in Romanischbünden in der
Schweiz beweist aber das genaue Gegenteil, dort werden nämlich viele
Fächer, besonders in den Anfangsjahren der Grundschule auf Roma-
nisch unterrichtet, ohne dass die sprachlichen Kompetenzen im Deut-
schen darunter leiden würden (vgl. Cathomas/Carigiet 2005, S. 51).
Erst allmählich konnten die zwei Wochen Ladinischunterricht
auch auf die Sekundarschulen in den ladinischen Tälern ausgedehnt
werden; die paritätische Aueilung der Fächer nach italienischer und
deutscher Unterrichtssprache blieb auch dort bestehen. (Videsott
2011)
Mit dem zweiten Autonomiestatut aus dem Jahre 1972 wurde auch
eine eigene ladinische Schulverwaltung vorgesehen, die 1975 als Ladi-
nisches Schulamt in Bozen den Dienst aufnahm.
Die Ergebnisse dieses dreisprachigen Schulmodells können sich
durchaus sehen lassen, wie die durchwegs guten Erfolge ladinischer
Kandidaten bei den Dreisprachigkeitsprüfungen für den Zugang
zum öentlichen Dienst in Südtirol beweisen (vgl. Rifesser 2011,
S. 57). Nicht zufällig wurde kürzlich eine Verfügung erlassen, wonach
der Abitur-Abschluss der ladinischen Oberschule im Verbund mit ei-
nem abgeschlossenen Studium in deutscher oder italienischer Sprache
die Zuerkennung des Dreisprachigkeitsnachweises zur Folge hat.
Letzthin wurden auch erste Versuche des CLIL-Unterrichts in eng-
lischer Sprache an den Oberschulen der ladinischen Ortschaen be-
gonnen (CLIL: Content and Language Integrated Learning; damit ist
gemeint, dass Sachfächer in der Zielsprache unterrichtet werden).
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
180
Im Fassatal mussten die Ladiner bis in die neunziger Jahre warten,
um eigene ozielle Ladinischstunden zu erhalten; allerdings gelang es
ihnen dann auch, einige Fächer in Ladinisch zu unterrichten, was in
Südtirol nicht vorgesehen ist. In jenen Jahren wurde auch die autono-
me ladinische Schulverwaltung in Fassa eingerichtet. Gegenwärtig ist
in der gesamten Provinz Trient eine große Schulreform im Gange, wo-
nach verschiedene Fächer in Deutsch und Englisch nach der CLIL-Me-
thode unterrichtet werden sollen. Die ladinische Schule im Fassatal ist
dabei, die Didaktik und die Schulorganisation diesen neuen Vorgaben
anzupassen und dabei auch den Unterricht des Ladinischen und ande-
rer Fächer in ladinischer Sprache damit zu vereinbaren.
In den ladinischen Tälern von Buchenstein und Ampezzo ist man
in den vergangenen Jahren über freiwillige Ladinischstunden an eini-
gen wenigen Klassen der Grundschule nicht hinausgegangen. Dabei
soll man bedenken, dass die dortige Verwaltung einer Region ohne
Sonderstatut angehört und somit eigene Regelungen im Bildungsbe-
reich wie in Trentino-Südtirol praktisch untersagt sind.
Neuere Entwicklungen
Ladinisch zählt unbestritten zu den bedrohten Minderheitensprachen,
obwohl die Meinungen über seinen Gesundheitszustand ziemlich
auseinander zu gehen scheinen. Dem Ladinischen in den Dolomiten
fehlt es an zahlenmäßiger Konsistenz, die nach den Richtwerten der
Linguistik für eine ausreichende kritische Masse zählen würde, um
im sprachlichen Wettbewerb der Gegenwart und Zukun bestehen
zu können, obwohl sich die Mehrheit der Bevölkerung immer noch,
hauptsächlich aus Gründen der language loyalty, zum Ladinischen be-
kennt, auch wenn in so manchen Familien der Sprachwechsel zu den
größeren Sprachen bereits vollzogen worden ist.
Auf diesen Umstand wies ich bereits 2007 in meinem Beitrag
„Sprachwechsel in Gröden“ in der Zeitschri „Ladinia“ hin, obwohl
man diesen Tatsachen immer noch nicht ins Auge sehen will. Damals
verwies ich auf die Daten einer Erhebung, die von der Kindergarten-
direktion „Ladinia“ bei der Einschreibung der Kinder erstellt wor-
den war, um ein Bild der sprachlichen Situation in den Familien der
Kinder zu gewinnen. Bereits damals war Deutsch die beherrschende
Sprache in den Familien in St. Ulrich, wobei die Kombination Ladi-
nisch-Deutsch an zweiter Stelle und das Ladinische allein an dritter
Roland Verra
181
Stelle vorkam. Die Daten einer ähnlichen Erhebung aus dem Jahr 2016
sprechen ebenfalls eine klare Sprache, so waren von den 17 Kindern des
Kindergartens „Scurcià“ 4 ladinischsprachig, 6 deutsch-italienisch, 8
deutsch-ladinisch, 6 ladinisch-italienisch, 4 italienisch, 2 dreisprachig
und 5 deutsch. Ein ähnliches Bild ergab sich im größeren benachbarten
Kindergarten „Salieta“, wobei nur mehr 5% der Kinder ausschließlich
Ladinisch daheim sprachen. Neu ist eine größere Streuung der Daten
auch in den anderen Kindergärten im Tale, d.h. die Verschiedenartig-
keit und Buntheit der Sprachkombinationen nimmt zu, sogar im Ga-
dertal, wo bisher das Gesamtbild ziemlich homogen ladinischsprachig
erschien. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die Situation
in Corvara, mit einer großen Varietät an sprachlichen Kombinationen
und wo das Ladinische allein nur bei 5% der Kinder vorkommt. Auch
St. Vigil weist in eine ähnliche Richtung, während die Gemeinden in
der Talmitte eher noch das traditionelle Bild einer vorherrschenden
Position des Ladinischen als Familiensprache aufweisen.
Die größere soziale Mobilität und die Migrationsbewegungen der
vergangenen Jahre scheinen in dieser Hinsicht große Nachwirkungen
auch in bisher großteils ladinischen Gebieten gehabt zu haben. Nicht
ganz unwesentlich erscheint aber auch die Auswirkung der Mehr-
sprachenaktivitäten in den Kindergärten zu sein, die seit über zehn
Jahren in den Tälern Gröden und Gadertal systematisch durchgeführt
werden. Dies ist in Hinblick auf die gesteigerte Schwellenkompetenz
in den drei Schulsprachen sicherlich von Nutzen, ob es auch für das
Bestehen des Ladinischen positive Nachwirkungen haben wird, sei da-
hingestellt.
Laut der Studie „Sprachenbarometer 2014“ der Astat (Südtiroler
Landesagentur für Statistik) empnden drei Viertel der Ladiner in
Südtirol Mehrsprachigkeit als einen unbedingten Vorteil, während
diese Daten nur zur Häle bei den andern Sprachgruppen erreicht
werden. Die Studie kommt zum Ergebnis, dass allein die Ladiner als
„praktisch dreisprachig“ bezeichnet werden können, die sich problem-
los in den drei Landessprachen unterhalten und die Medien in allen
drei Sprachen unterschiedslos nutzen.
Andererseits ist ein hoher Anteil der befragten Ladiner der Mei-
nung, sie seien in der Kommunikation im Allgemeinen und in Gesell-
scha und Politik benachteiligt. Man kann sich des Eindrucks nicht
erwehren, dass der höheren Mehrsprachigkeitskompetenz der Ladi-
ner nicht eine ähnlich hohe Wertschätzung und soziale Anerkennung
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
182
entspricht. Die Mehrsprachigkeit der Ladiner wird demnach sic et
simpliciter als Notwendigkeit auch von den anderen Sprachgruppen
angesehen. Der Mehrwert dieser sogenannten „natürlichen Mehrspra-
chigkeit“ (vgl. Egger 2001, S. 26) wird kaum anerkannt, was man auch
im allgemeinen Diskurs in Südtirol über Mehrsprachenerwerb beob-
achten kann, wobei die ladinische Erfahrung in Bildung und Gesell-
scha kaum Beachtung ndet.
Ein weiterer Bereich dieser Studie ist der Zugang zu den Medien
in verschiedenen Sprachen und allgemein der Medienkonsum in den
drei Sprachen, wobei nicht verwundert, dass die Ladiner fast unter-
schiedslos zu den Medien in allen drei Sprachen greifen. Das soll aber
nicht nur als positiv betrachtet werden, denn es zeugt auch von der
schwachen Konsistenz der ladinischsprachigen Medien (eine ein-
zige Wochenzeitschri in ladinischer Sprache und wenig Sendezeit
in den lokalen Radio- und Fernsehmedien), so dass der Zugri auf
deutsch- und italienischsprachige Medien zwangsläug ist. Positiv ist
allerdings der Umstand, dass die ladinischen Befragten keinen allzu
großen Unterschied zwischen Medien in deutscher und italienischer
Sprache machten, was auch für eine größere Oenheit und für eine
größere Bandbreite in der Informationsaufnahme spricht. Fast täglich
sehen Ladiner zu 67% in anderen Sprachen fern, gegenüber nur 12%
der deutschsprachigen Südtiroler und 8% der italienischsprachigen.
Ähnliches gilt für die Zeitungslektüre. Bei den Schlussfolgerungen
der Studie wird ziemlich lapidar festgestellt, dass sich nur an die 20%
der Nichtladiner in Südtirol am kulturellen Leben der jeweils anderen
Sprachgruppe beteiligen, während die Ladiner „auch in der Nutzung
kultureller Angebote“ dreisprachig seien.
Ein weiteres Problem der ladinischen Sprache ist ihre Uneinheit-
lichkeit; die fünf Sprachvarianten der einzelnen Täler sind für eine zu-
kunsgerichtete Sprachenpolitik sehr problematisch. Im Sinne einer
rationalen Sprachplanung, aber auch einer Hebung des sozialen Status
des Ladinischen wäre die sukzessive Anwendung der bereits ausgear-
beiteten normierten Einheitsform des Ladinischen zumindest in eini-
gen oziellen Bereichen der Verwaltung und der kulturellen Tätig-
keit sicherlich von Nutzen, wenn es nur gelänge, die Diskussion über
die Standardform des Dolomitenladinischen von einer ideologischen
auf eine wissenschaliche Ebene zu bringen. Gegenwärtig wird eine
solche unvoreingenommene Diskussion leider immer noch von po-
litisch inspirierten Überlegungen überschattet. Nicht einmal auf eine
Roland Verra
183
notwendige einheitliche Weiterentwicklung des Ladinischen hat man
sich einigen können. Das wir bedrohliche Schatten auf die Zukun-
schancen dieser kleinen Minderheitensprache voraus.
Es versteht sich von selbst, dass beispielsweise die Entwicklungs-
chancen des Ladinischen dadurch gehemmt werden, dass die potenti-
elle Leserscha, die an sich schon sehr klein ist, auf fünf Untereinheiten
auseinanderdividiert wird. Trotz vorbildlicher Arbeit der ladinischen
Kulturinstitute in der Dokumentation der jeweiligen Talvarianten,
wird man künighin auf eine größere Zusammenschau nicht verzich-
ten dürfen, insbesondere bei der Ausarbeitung von Neologismen, aber
auch bei der Vermittlung eines gemeinsamen Erscheinungsbildes im
größeren kulturellen Kontext.
Die Studien von Iannàccaro und Dell’Aquila bilden eine dreifache
Mehrsprachigkeit der Dolomitenladiner ab. Während in Gröden und
im Gadertal eine de facto Trilinguität vorhanden ist, scheint die Situ-
ation in Fassa nicht so eindeutig und neigt eher zur Bilinguität (Ladi-
nisch-Italienisch), wenngleich in letzter Zeit große Anstrengungen im
Bildungsbereich unternommen wurden, um auch Deutsch und Eng-
lisch zu fördern. Die Situation in Buchenstein und Cortina ist wieder-
um von der vorherrschenden Position des Italienischen gekennzeich-
net. Im Falle von Cortina könnte man richtigerweise eher von einer
unvollkommen ausgebildeten Zweisprachigkeit sprechen, mit nur we-
nigen Elementen einer ausgebildeten Diglossie (italienisch-ladinische
Zweisprachigkeit), während Buchenstein starke Elemente der Diglos-
sie aufweist. Dabei wird die Unterscheidung noch deutlicher, wenn
man vom familiären Gebrauch des Ladinischen auf den Gebrauch auf
dem Arbeitsplatz oder im öentlichen Bereich übergeht. Nicht unwe-
sentlich erscheint dabei auch der Einuss des Südtiroler Dialekts in
Gröden bzw. des Venetischen in Cortina sowie des Trentinischen in
manchen Gemeinden Fassas.
Mehrsprachigkeit kann demnach nicht allein als absolute Berei-
cherung beinahe dogmatisch deniert werden; bei bedrohten Min-
derheiten wie der ladinischen Sprachgruppe gilt es auch ein gesundes
Gleichgewicht im Gebrauch und in der Anerkennung der verschiede-
nen Sprachen des Gebietes zu nden und zu fördern.
Überleben zwischen den großen Kultursprachen
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