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1
Vincent Balnat
Université de Strasbourg
Unter Beobachtung:
Corona-Wortschatz im Deutschen und Französischen
Seit Ende 2019 über die ersten Corona-Erkrankungen in der chinesischen Stadt
Wuhan berichtet wurde, sind dieses neuartige Coronavirus und seine
Auswirkungen auf Gesundheit, Wirtschaft, Politik und Alltag in der
Öffentlichkeit rasch zum Thema Nummer eins avanciert. Täglich, wenn nicht
stündlich berichten die Medien seitdem über den Stand der Infektions- und
Todeszahlen, die Angemessenheit der bereits getroffenen bzw. geplanten
Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie, die Aussichten auf einen baldigen
Impfstoff, die Notwendigkeit internationaler Kooperation in Wissenschaft und
Politik und neuerdings auch über die sogenannte „Welt danach“ (frz. „le monde
d’après“, kurz: „l’après“), die anders aussehen soll.1 Selbst der Klimawandel,
der bis dahin die Medienlandschaft in Deutschland und Frankreich beherrscht
hatte, wurde durch „Corona“ schlagartig in den Hintergrund gedrängt. Von der
überaus starken Präsenz des Themas in den deutschen Medien zeugen die
nachstehenden „Wortwolken“, in denen für Februar, März und April 2020 die
jeweils zu Monatsbeginn am häufigsten in Tageszeitungen und Newsdiensten
verwendeten Ausdrücke wiedergegeben sind:2
01.02.2020
01.03.2020
01.04.2020
1 So etwa Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier: „Die Welt danach wird eine andere sein. Wie sie
wird? Das liegt an uns! Lernen wir doch aus den Erfahrungen, den guten wie den schlechten, die wir
alle, jeden Tag, in dieser Krise machen“ (Fernsehansprache vom 11.04.2020) und der Umweltschützer
Nicolas Hulot: „Le monde d’après sera radicalement différent de celui d’aujourd’hui, et il le sera de
gré ou de force.“ (Gespräch in Le Monde, 06.05.2020).
2 Wortschatz Leipzig, Rubrik „Wörter des Tages“.
2
Auch in den französischen Medien fällt diese monothematische Ausrichtung ins
Auge. Die Berichterstattung zur Pandemie in den Nachrichtensendern hat laut
einer Studie des Institut national de l’audiovisuel (INA) noch nie dagewesene
Ausmaße erreicht. So waren ca. 75 % der Sendezeit in der dritten Märzwoche
Berichten über das Virus und seine Auswirkungen gewidmet; das entspricht im
Durchschnitt über 13,5 Stunden täglich für jeden Nachrichtensender (vgl. Bayet
& Hervé 2020).
Nachstehend werden deutsche und französische Ausdrücke behandelt, die
im Zuge der Berichterstattung zur Coronavirus-Pandemie (auch Corona- bzw.
COVID-19-Pandemie) gebildet oder entlehnt wurden. Die Untersuchung beruht
auf eigenen Recherchen und einigen im Netz vorhandenen kleineren Wort-
sammlungen; in den großen Textkorpora sind einstweilen natürlich noch keine
Daten für die aktuelle Debatte um das Virus zu finden. Das Leibniz-Institut für
Deutsche Sprache (IDS, Mannheim) hat bereits im April 2020 das Projekt
„Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie“ gestartet; über das Portal des
Online-Wortschatz-Informationssystem Deutsch (OWID) können derzeit 210
Einträge, jeweils mit einer Definition und einem Pressebeleg, eingesehen
werden (Stand: 24.05.2020). Die neue Anwendung cOWIDplus Viewer bietet
zudem die Möglichkeit, Wortfrequenzen in dreizehn deutschsprachigen Online-
quellen – darunter zehn Zeitungen und Zeitschriften – zu untersuchen (vgl.
Müller-Spitzer, Wolfer, Koplenig & Michaelis 2020a). Erste Befunde der
lexikografischen Arbeit am IDS wurden bereits in einer Reihe von Interviews,
Presseartikeln und kurzen Beiträgen thematisiert.3 Des Weiteren sind hier die ca.
170 Bildungen im „Themenglossar zur COVID-19-Pandemie“ des Digitalen
Wörterbuch der deutschen Sprache (DWDS) zu nennen, in dem auf die
ausführlichen Wörterbucheinträge des DWDS verwiesen wird. Auch in der
Neologismensammlung Die Wortwarte sind einige interessante Bildungen zu
finden.
Für das Französische war meine Suche weniger ergiebig: Zum Wort-
schatz der Corona-Pandemie liegen nur vergleichsweise wenige, meist kurze
Zeitungsartikel und Videos vor;4 daneben sind von amtlicher Seite eine vom
französischen Kulturministerium herausgegebene Wortliste mit französischen
Entsprechungen für einige Anglizismen zum Coronavirus sowie ein vom
Übersetzungsdienst der kanadischen Regierung erstelltes „Lexique sur la
3 Eine vollständige Liste findet sich unter https://www1.ids-mannheim.de/sprache-in-der-
coronakrise.html.
4 Etwa „Coronavirus: les mots nouveaux de l’épidémie“ (www.laprovence.com/…/; 17.03.2020), „Des
mots nouveaux pour partager nos maux“ (www.20minutes.fr/…/, 25.03.2020), „Parlez-vous
coronavirus?“ (www.letemps.ch/…/, 31.03.2020); Kommentare zu den Videos: „Coronavirus: les
mots de la pandémie“ (Louis de Saussure, http://avisdexperts.ch/…/, 06.04.2020), „Les nouveaux
mots pour apprivoiser la pandémie“ (Cécile Alduy, 28 minutes, www.arte.tv/…/, 21.05.2020).
3
pandémie de COVID-19“ erschienen. Auch die „Enquête lexicale, contextuelle
et diachronique“ des Germanisten Jacques Poitou und die Plattform Néoveille,
die auf der automatischen Neologismendetektion in französischsprachigen
Onlinequellen basiert, waren hilfreich für meine Arbeit. Eine ergiebige Quelle
für beide Sprachen waren schließlich die sozialen Medien, in erster Linie die
Kommunikationsplattform Twitter.
Zunächst wird anhand ausgewählter Bildungen aufgezeigt, wie vielfältig
der Corona-Wortschatz in beiden Sprachen ist und wie schnell er sich in
zahlreichen Lebensbereichen verbreitet hat. Danach geht es vornehmlich um
Corona und Covid als Wortbildungselemente und die rasante Entwicklung der
beiden Ausdrücke zu Leitwörtern der öffentlichen Kommunikation. Abschlie-
ßend werden die metaphorischen Bereiche kurz dargestellt, denen sich der
Corona-Wortschatz zuordnen lässt; in diesem Zusammenhang wird auch auf den
Rekurs auf bekannte Wortbildungsmuster und Diskurstraditionen eingegangen.
1. Neologismen der Pandemie im Überblick
In den Berichten zum Corona-Wortschatz wird immer wieder Bezug genommen
auf die für Laien nachvollziehbare, in der Forschung jedoch umstrittene Unter-
scheidung zwischen neuen Wörtern (Neubildungen, Neulexeme) und Wörtern
mit neuen Bedeutungen (Neosemantismen).5 Diese Unterscheidung bildet den
Ausgangspunkt meiner Betrachtung. Neologismen, die aus Fachsprachen und/
oder anderen Sprachen stammen, werden jeweils separat dargestellt. Da es sich
dabei nicht um trennscharfe Kategorien handelt, lassen sich manche Bildungen
durchaus mehrfach zuordnen.
1.1. Neubildungen
Diese Ausdrücke, die vor 2020 in den großen Korpora nicht oder in einer
anderen Bedeutung belegt sind, bezeichnen bisher weitgehend unbekannte
Gegenstände und Sachverhalte. Dass sie im Deutschen stärker auffallen und
vermutlich häufiger sind als im Französischen, erklärt sich nicht zuletzt durch
die sehr hohe Produktivität der Zusammensetzung im Deutschen – man denke
hier etwa an Merkels Wortprägung Öffnungsdiskussionsorgie im Zusammen-
hang mit der aus ihrer Sicht wenig hilfreichen Lockerungsdebatte (vgl. Klosa-
Kückelhaus 2020g). Im Französischen ist dagegen vor allem die Ableitung
produktiv; zwei Beispiele sind die in der öffentlichen Debatte derzeit zentralen
Ableitungen von confinement (‘Ausgangssperre’), déconfinement und reconfi-
nement. Häufig werden zudem Substantive adjektivisch bzw. adverbial verwen-
5 Zu diesen und weiteren Termini zur Bezeichnung von Neologismentypen vgl. Elsen (2011: 19-22).
4
det („Je pense Covid, je mange Covid, je rêve Covid“, www.la-croix.com/…/,
19.03.3020; „les mesures Corona“, www.republicain-lorrain.fr/…/,
02.05.2020), domänenbedingt auch die Wortkreuzung.6 Die von mir gesammel-
ten Neubildungen lassen sich drei semantischen Bereichen zuordnen:
(I) MAßNAHMEN ZUR EINDÄMMUNG DER CORONA-PANDEMIE
DEUTSCH
Abstrichzentrum
Einrichtung, in der bei begründetem Verdacht auf eine In-
fektion ein entsprechender Test durchgeführt wird (OWID)
AHA-Regel [Abstand +
Hygiene + Alltagsmaske]
während der Pandemie empfohlene Abstands- und Hygiene-
regeln des deutschen Bundesgesundheitsministeriums
(OWID)
Anderthalbmetergesellschaft
durch die geltenden Abstandsregelungen geprägtes soziales
Miteinander (OWID)
Distanzbesuch
Treffen mit Familie, Freunden, Bekannten usw. unter Ein-
haltung der geltenden Empfehlungen zum Abstandhalten
(OWID)
Distanzschlange
Reihe wartender Personen, die einen Mindestabstand von 1,5
Metern einhalten, um eine Infektion zu verhindern (OWID)
Ellenbogengruß
Begrüßung zweier Personen, die sich mit ihren Ellenbogen
berühren, statt sich z.B. die Hände zu schütteln (OWID)
Hygienehaken
Gegenstand aus festem Kunststoff mit einem gebogenen
Ende, den man in die Hand nimmt, um andere Gegenstände
damit anzufassen oder zu bedienen, um einer Ansteckung
durch Schmierinfektion vorzubeugen (OWID)
Spuckwand
vor Verkaufsschaltern, Kassentresen, Theken o. Ä. transpa-
rente, besonders den Kopfbereich abdeckende Trennwand
als Schutz gegen eine Infektion durch Krankheitserreger
(DWDS)
FRANZÖSISCH
anti-covid, anti-corona(vi-
rus) [mesure, geste, équipe-
ment…]
zum Zweck der Eindämmung/Bekämpfung der Pandemie
déconfinement
reconfinement
[vgl. auch déconfiné und
reconfiné für die betroffenen
Menschen]
Exit, Ende der Ausgangssperre
erneute Ausgangssperre im Fall rapider steigender
Infektionszahlen nach dem Exit
geste barrière (Pl. gestes
barrière/barrières)
siehe oben: AHA-Regel
pare-/anti-postillons
siehe oben: Spuckwand
quatorzaine
Syn. quarantaine
Ausgangssperre von 14 Tagen zur Eindämmung der Pandemie
6 Bildungen rund um das Coronavirus sind in den Beispielen und Tabellen fett hervorgehoben.
5
In diesem Zusammenhang sind auch die substantivischen und adjektivischen
Ableitungen zu dem Namen des Infektiologen Didier Raoult zu nennen, dessen
öffentliche Stellungnahmen zur Wirksamkeit von Chloroquin bei der Behand-
lung von Corona-Kranken für großes Aufsehen gesorgt haben:
(1) Une nouvelle passion agite et divise, depuis deux mois, la France friande de causes et
de révolutions: à la faveur de la maladie et des peurs qu’elle engendre, raoultiens et
anti-raoultiens s’affrontent avec véhémence et s’invectivent avec force arguments.
(www.politiquemagazine.fr/…/, 21.04.2020)
(2) Je suis pas un pro Raoult mais c’est immonde cet acharnement anti raoult dans les
médias (www.jeuxvideo.com/…/, o.D.)
(3) C’est du #Raoultisme, un nouveau concept de manip et de statistiques... C’est
compliqué comme approche théorique. C’est comme le loto: 100% des gagnants ont
tenté leur chance... (Twitter)
(4) Justement s’il le savait pourquoi s’oppose-t’il à trumpraoult [Wortkreuzung; VB]
maintenant? Faudrait peut-être lui demander? Sauf si trump, raoultiste convaincu, lui
interdit pour ne pas perdre l’argent qu’il a investi dans cq? (Twitter)
(II) UNTERRICHTSFORMEN UND ABSCHLÜSSE
Infolge der Umstellung des gesamten Lehrbetriebs auf digital sind an Schulen
und Hochschulen etliche Bezeichnungen für neue Unterrichtsformen und
Abschlüsse entstanden:
DEUTSCH
Corona-Abitur
1. Hochschulzugangsberechtigung, die aufgrund der durch die
Pandemie bedingten Schulschließungen ohne
Abschlussprüfungen und ausschließlich basierend auf den in den
letzten beiden Schuljahren erbrachten Leistungen ausgestellt wird
2. Abschlussprüfungen an Gymnasien, die aufgrund des
angeordneten Kontaktverbots unter besonderen Bedingungen und
ggf. zeitlich verzögert abgelegt wurden (OWID)
Coronasemester,
digitales Semester
virtuelles Studienhalbjahr mit digitalen Lehrangeboten, das an die
Ausgangs- und Alltagsbeschränkungen angepasst ist (OWID)
Distanzunterricht
Lehrstoffvermittlung an Lernende durch eine Lehrkraft unter
Einsatz von modernen Medien und Telekommunikationsmitteln,
aber ohne direkten Kontakt (OWID)
Kreativsemester
(auch Flexisemester)
akademisches Studienhalbjahr, das an die Ausgangs- und
Alltagsbeschränkungen angepasst ist (OWID)
Nichtsemester,
Nullsemester
aufgrund der angeordneten Beschränkungen des Lehrbetriebs
nicht vollständig (für Studiendauer, BAföG u.a.) zu zählendes
Studienhalbjahr (OWID)
Solidarsemester
berufspraktisches Studienhalbjahr, das aufgrund der Ausgangs-
und Alltagsbeschränkungen eingelegt wird (OWID)
6
FRANZÖSISCH
brevet Covid
bac Covid
semestre Covid
brevet (des collèges): Schulabschluss am Ende der 9.
Klasse
siehe oben: Corona-Abitur
siehe oben: Coronasemester
MCC Covid [modalités de
contrôle des connaissances]
aufgrund der Pandemie veränderte Prüfungsordnung
téléexamen, télépartiel [vor
allem auf Twitter belegt]
télésurveillance des
examens
Distanzprüfung
Video-Aufsicht
(III) FREIZEIT UND UNTERHALTUNG
In der Pandemie ist das Bedürfnis nach Abwechslung und Fröhlichkeit beson-
ders spürbar. Insofern überrascht es nicht, dass viele Bezeichnungen für Frei-
zeitbeschäftigungen sprachspielerisch geprägt wurden. Im Französischen fällt
die Zahl der Wortkreuzungen auf; es sind dies meist Gelegenheitsbildungen:
etwa joyeux coronanniversaire (corona + anniversaire) als Glückwunsch zum
Geburtstag und lundimanche (lundi + dimanche) als Bezeichnung für den
eintönigen Tagesablauf; coronabdos (corona + abdos) steht für die Bauch-
muskeln, die man sich zu Hause antrainiert, um das grovid (gros vide ‘gähnende
Leere’ + Covid) zu füllen.7 Stärker verbreitet sind Bezeichnungen für eine
beliebte Freizeitbeschäftigung der Franzosen, das gesellige Beisammensein zum
Aperitif (ugs. apéro) – in Corona-Zeiten über Videokonferenz: apéro virtuel, e-
apéro, visio(-)apéro, web(-)apéro, usw. Auch die Namen der verwendeten
Computerprogramme gehen in diese Bildungen ein, etwa in der Verbindung
‘apéro + Name der App’: apéro Messenger, apéro Skype, apéro Snap(chat),
apéro WhatsApp, oder in Wortkreuzungen: Messengapéro (Messenger), Skypéro
(Skype), Snapéro (Snapchat), WhatsApéro (WhatsApp). Im Deutschen sind
solche Wortkreuzungen seltener, abgesehen von einigen Wortspielen (5-6):
(5) Schluss mit Virus-Panik, jetzt regiert wieder das Fußball-Fieber! Corona bestimmt
wahrscheinlich noch lange unser Leben, doch jetzt gibt’s wenigstens wieder TORona.
(www.bild.de/…/, 16.05.2020)
(6) Das sind meine Reiseziele 2020: Haustralien, Sofambik, Kloronto, Bangladusche,
Balkongo, vielleicht gibt es noch einen Abenteuertrip nach Parkistan.
(www.freenet.de/…/, 18.05.2020)
7 Zu diesen und weiteren Wortspielereien vgl. die Artikel „‘Lundimanche’, ‘apérue’, ‘coronabdos’…
les nouveaux mots du confinement“ (www.lemonde.fr/…/, 27.04.2020) und „Coronarisettes au temps
du confinement“ (plus.lesoir.be/…/, 22.05.2020).
7
1.2. Neosemantismen
Der häufige Gebrauch von Wörtern und Wendungen in einem neuen Zusam-
menhang führt nicht selten dazu, dass ihre Bedeutung sich ändert; semantische
Merkmale kommen hinzu oder gehen verloren, wodurch die Bedeutung ein-
geschränkt oder aber erweitert wird (man spricht diesbezüglich von Bedeutungs-
verengung bzw. -erweiterung). So liegt bei Balkonkonzert bzw. Balkonmusik,
die eine neue Form der künstlerischen Darbietung, nämlich das gemeinsame
Musizieren am Fenster oder auf dem Balkon, bezeichnen, semantische Spezifi-
kation vor, im Fall von systemrelevant und Mundschutz hingegen semantische
Erweiterung: Der erstgenannte Ausdruck wird in der Pandemie deutlich mehr
Bereichen zugewiesen als zuvor (vgl. Möhrs 2020a), der zweite bezieht sich
nicht länger nur auf die industriellen Standards entsprechenden Schutzvorrich-
tungen für das Gesundheitspersonal, sondern zunehmend auch auf eine neue
Alltagsausrüstung, die jeder einzelne selbst beschaffen oder herstellen muss
(vgl. Klosa-Kückelhaus 2020a).
Wird ein Wort metaphorisch verwendet, spricht man von Bedeutungs-
übertragung bzw. -verschiebung. Ein französisches Beispiel dafür ist confine-
ment (‘Ausgangssperre’), das vor der Pandemie die Einzelhaft bei Gefängnis-
insassen denotierte (TLFi), sodann das Zuhausebleiben, oft im engsten
Familienkreis (vgl. auch den ugs. Abschiedsgruß bon confinement!).
Berücksichtigt man neben der denotativen auch die konnotativ-
assoziative Ebene, so lassen sich im stark affektbeladenen Kontext der Pande-
mie alle häufig verwendeten Wörter mit unmittelbarem Bezug zum Virus den
Neosemantismen zurechnen: Abstandslinie, Desinfektionstrupp, Kurzarbeit,
Heimquarantäne, Isolierstation, Maskenpflicht; attestation, continuité pédago-
gique, deuxième vague, fermeture, gel hydroalcoolique, pic, quarantaine...
1.3. Neologismen aus Fachsprachen
In der Berichterstattung zum Coronavirus kommen außerordentlich viele Exper-
ten, in erster Linie Virologen und Ärzte, zu Wort. Das komplexe Fachwissen
zum SARS-COV-2 (engl. severe acute respiratory syndrome coronavirus 2) –
so die fachsprachliche Bezeichnung des Virus – wird durch Massenmedien
vermittelt, die bestimmte Bedeutungsmerkmale des jeweiligen Ausdrucks aus-
blenden und andere, für die Öffentlichkeit besonders relevante in den Vorder-
grund stellen. So bezieht sich Durchseuchung in der Medizin auf den Ver-
breitungsgrad einer endemischen Infektionskrankheit in einem Gebiet oder einer
Population (DocCheck Flexikon), im allgemeinen Sprachgebrauch dagegen auf
die hohe Zahl der Infektionen. Ist die Durchseuchung erfolgreich, spricht man
von Herdenimmunität (vgl. Zifonun 2020). Diese ist im aktuellen Kontext der
Covid-Pandemie nur durch – zahlreiche Menschenleben gefährdende – Infektion
8
zu erreichen; der in der Fachsprache wesentliche Bezug zur Impfung als Mittel
zur kollektiven Immunität entfällt hier in der Berichterstattung. Besonders
erschreckend ist die Realität, auf die im Deutschen mit dem Wort Triage
verwiesen wird. Dieser aus dem Französischen übernommene Fachausdruck
bezeichnet in der Militärmedizin die „Einteilung der Verletzten (bei einer
Katastrophe) nach der Schwere der Verletzungen“ (Duden) – eine
Einteilung, die im Kontext überfüllter Notaufnahmen für Menschen mit
niedriger Lebenserwartung unter Umständen das Todesurteil bedeuten
konnte. Zu den Fachtermini, die in Frankreich bereits in den allgemeinen
Sprachgebrauch eingegangen sind, gehören das oben erwähnte chloroquine („En
Afrique, un miracle nommé Chloroquine“; www.courrierinternational.com,
09.04.2020) und die Anglizismen cluster und masque FFP2 (engl. filtering
facepiece) als Bezeichnungen für die schnelle Übertragung des Virus an einem
begrenzten Ort bzw. eine besonders effektive Schutzmaske.
1.4. Entlehnungen aus dem Englischen
Die Anglizismen sind in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie besonders
augenfällig; deutliche Unterschiede hinsichtlich ihrer Frequenz und Verbreitung
im Deutschen und Französischen sind jedoch festzustellen. Einen Überblick
über häufig verwendete Anglizismen liefert die nachstehende Tabelle:
DEUTSCH + FRANZÖSISCH
mit möglichen Entsprechungen in beiden
Sprachen
BEDEUTUNG
Cluster, Infektionscluster (der)
cluster (le)
dt. Infektionsherd
frz. foyer, grappe de cas [Quebec]
lokal begrenzte Mensch-zu-Mensch-
Übertragung eines Virus (DocCheck
Flexikon)
Containment (das)
dt. Eindämmung
Eindämmung einer Epidemie durch
Nachvollzug von Infektionsketten und
Quarantänisierung Infizierter (OWID)
Coronabonds, Corona-Bonds (meist Pl.)
corona bonds (meist Pl.)
Staatsanleihen der EU-Länder mit
gemeinschaftlicher Haftung (Eurobonds), die
als Hilfsmaßnahme während der Pandemie
dienen sollen (OWID)
Covid-19, Covid (das)
Covid-19, Covid (le, la)
durch das Coronavirus verursachte
Erkrankung der Atemwege (OWID). Vgl.
auch Klosa-Kückelhaus (2020e)
Covidiot (der), Covidiotin (die)
covidiot (le), covidiote (la) [Quebec]
jemand, der die Anti-Covid-Beschränkungen
nicht ernst nimmt und sie nicht einhält
9
Drive-in-Test (der)
drive-corona, drive-test (le)
frz. dépistage du corona en drive-in
Überprüfung einer möglichen Infektion mit
dem Coronavirus, bei der man eine mobil
errichtete Station durchfährt bzw. durchläuft
(OWID)
Exit (der)
dt. Ausstieg
frz. déconfinement, levée du confinement
Exitdebatte, -plan, -strategie, etc.
Ende des Zeitraums des gesellschaftlichen
und wirtschaftlichen Stillstands, der durch
die Pandemie ausgelöst wurde (Klosa-
Kückelhaus 2020c)
Homeoffice, Home(-)Office (das)
dt. Heimbüro, Distanz-, Telearbeit
frz. télétravail, travail à la maison
Arbeitsform, bei der ein Arbeitnehmer in der
eigenen Wohnung (ausgestattet mit
Computer und anderen Geräten) seine
Arbeitsleistung erbringt (DWDS). Vgl. auch
Klosa-Kückelhaus (2020f)
Homeworker (der), -workerin (die)
dt. Distanz-, Telearbeiter, -arbeiterin
frz. télétravailleur, télétravailleuse
Person, die im Homeoffice arbeitet (OWID)
Home-Workout (der)
frz. séance de sport à la maison
zuhause durchgeführtes Fitnesstraining
(OWID)
Homeschooling (das)
frz. école à domicile
Unterricht von Kindern im Schulalter, der
[…] zu Hause (meist durch die Eltern)
stattfindet (DWDS). Vgl. auch Klosa-
Kückelhaus (2020f)
Hotspot, Corona-Hotspot
frz. zone à risque
Ort bzw. Region, in der besonders viele
Menschen von Covid-19 betroffen sind
(gfds.de/…/)
Infodemie (die)
infodémie (la)
weltweite, rasche Ausbreitung von Fake
News (OWID)
Lockdown, Shutdown (der)
frz. confinement
Zeitraum, in dem fast alle wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Aktivitäten auf
politische Anordnung hin stillgelegt sind
(OWID)
Peak (der)
frz. pic
Höhepunkt der Pandemie
Social/Physical Distancing (das)
dt. räumliche/physische Distanzierung
frz. distanciation sociale/physique
das Vermeiden eines direkten
Körperkontakts und das Abstandhalten zu
anderen Personen; das Einschränken sozialer
Kontakte (DWDS). Vgl. auch Klosa-
Kückelhaus (2020b)
Superspreader (der), -spreaderin (die)
super-spreader (le), -spreadeuse (la)
dt. Superverbreiter, Superverbreiterin
frz. super-contaminateur/-propagateur,
super-contaminatrice/propagatrice
jemand, der eine ungewöhnlich hohe Anzahl
anderer Menschen infiziert (OWID)
10
Tracking (das), tracking (le)
dt. Kontaktverfolgung
frz. géolocalisation, traçage
zeitlich nicht versetzte Aufzeichnung von
Bewegungs- und Standortdaten von
Personen (OWID)
Trackingapp/application de tracking
Tracing, Contacttracing (das)
tracing, contact tracing (le)
dt. Kontaktnachverfolgung
frz. reconstitution des déplacements/chaînes
de transmission
zeitlich versetzte Rückverfolgung von
Bewegungs- und Standortdaten z.B. von
Personen (OWID)
Tracingapp/application de contact
tracing
Zoombombing (das)
zoombombing, zoom-bombing (le)
böswillige Störung von Videokonferenzen
(über das System „Zoom“) durch nicht
zugelassene Nutzer (OWID)
Bei den im Deutschen belegten Anglizismen handelt es sich im Wesentlichen
um verbreitete Bezeichnungen für die Krankheit und ihre Entwicklung (Covid-
19, Peak), stark betroffene Orte und Regionen (Hotspot), Maßnahmen zur
Eindämmung der Infektion (vgl. die synonym gebrauchten Lockdown und
Shutdown8), ihre Auswirkungen auf den Alltag (Homeoffice, Homeschooling,
Home-Workout) und deren Ende (Exit) sowie bedenkliche Verhaltensweisen
(Covidiot < Covid + idiot). Im Französischen dagegen ist die Verwendung von
Anglizismen vielfach auf bestimmte Domänen beschränkt (cluster, corona
bonds, super-spreader, tracing, tracking, zoom-bombing). Kennzeichnend für
den unterschiedlichen Umgang mit Anglizismen in Frankreich und Deutschland
ist der zentrale Begriff des „Abstandhaltens“: Während der Ausdruck social
bzw. physical distancing (bis auf die Großschreibung) unverändert ins Deutsche
übernommen wurde, ist im Französischen der Ausdruck distanciation sociale
bzw. physique an dessen Stelle getreten. Wie stets bei direkt entlehnten
Substantiven stellt sich auch für die Corona-Anglizismen die Frage nach der
Genuszuweisung.9 Ableitungen auf -ing und -ment erhalten im Deutschen
sächliches, im Französischen männliches Genus: das Homeschooling, das
Social/Physical Distancing, das Tracing/le tracing, das Tracking/le tracking,
das Zoombombing/le zoombombing; das Containment. Ableitungen auf -er und
8 Im Englischen kann lockdown über den pandemischen Kontext hinaus auch auf eine unmittelbare
Lebensgefahr, etwa einen Amoklauf, bezogen werden („an emergency measure or condition in which
people are temporarily prevented from entering or leaving a restricted area or building (such as a
school) during a threat of danger“); der Ausdruck wird auch mit Bezug auf Gefängnisinsassen
verwendet („the confinement of prisoners to their cells for all or most of the day as a temporary
security measure“). Das Nomen shut-down hat hingegen die Bedeutung ‘the cessation or suspension of
an operation or activity’ (www.merriam-webster.com). Zur Herkunft dieser Ausdrücke und deren
Verwendung im Deutschen vgl. Klosa-Kückelhaus (2020c).
9 Zur Genuszuweisung von Anglizismen im Deutschen vgl. Eisenberg (2011: 229-231), im
Französischen Hugou (2015: 132-138).
11
nominalisierte Verbstämme sind in beiden Sprachen männlich: der Home-
worker, der Superspreader/le super-spreader; der Cluster/le cluster, der Exit,
der Lock-/Shutdown. Das Genus von Komposita richtet sich nach dem seman-
tischen Kern: der Exit-Plan, der Drive-in-Test/le drive-corona, le drive test, die
Trakingapp/l’application de tracking. Ansonsten gilt das Prinzip der seman-
tischen Ähnlichkeit: das Homeoffice wie das Büro, der Peak wie der Höhepunkt
bzw. Gipfel. Nach diesem Prinzip hat sich im Deutschen bei Covid-19 das
Neutrum (fachspr. das Virus) durchgesetzt, in Frankreich10 das Maskulinum (le
virus). Vor kurzem kam die Académie française allerdings zu dem Schluss,
Covid (engl. Coronavirus Disease) im eigentlichen Sinne bezeichne die durch
das Virus ausgelöste Krankheit (la maladie); entgegen dem allgemeinen Sprach-
gebrauch sei daher lediglich das Femininum zulässig und das Maskulinum sei
fehlerhaft („emploi fautif“).11
2. Corona und Covid als Wortbildungselemente
Die beiden Ausdrücke, die im Deutschen und Französischen häufig gleich-
bedeutend verwendet werden (Ich habe Corona/Covid, j’ai le corona/covid),
wurden innerhalb weniger Wochen zum Kern inzwischen kaum noch überschau-
barer Wortfamilien.
2.1. Im Deutschen
Für den Zeitraum Januar bis Mitte Mai 2020 generiert die Suche nach Corona
und Covid als Bestandteil von Wortbildungen im cOWIDplus Viewer folgende
Grafik:
10 Im französischsprachigen Kanada ist das Femininum das offizielle Genus.
11 „On devrait donc dire la covid 19, puisque le noyau est un équivalent du nom français féminin
maladie. Pourquoi alors l’emploi si fréquent du masculin le covid 19? Parce que, avant que cet
acronyme ne se répande, on a surtout parlé du corona virus, groupe qui doit son genre, en raison des
principes exposés plus haut, au nom masculin virus. Ensuite, par métonymie, on a donné à la maladie
le genre de l’agent pathogène qui la provoque. Il n’en reste pas moins que l’emploi du féminin serait
préférable et qu’il n’est peut-être pas trop tard pour redonner à cet acronyme le genre qui devrait être
le sien.“ (Dire, ne pas dire, 07.05.2020; http://academie-francaise.fr/…/). Einige Epidemiologen haben
daraufhin eine eindeutig weibliche Bezeichnung vorgeschlagen: la covidose („Covid-19: et si on
l’appelait la ‚covidose’?“, www.letelegramme.fr/…/, 22.05.2020).
12
Corona kommt demnach als Wortbildungselement weit häufiger vor als Covid,
das meist in der Langform Covid-19 in Bildungen mit unmittelbarem Bezug zur
Krankheit auftaucht: Covid-19-Patienten (311 Belege), -Erkrankung (218), -
Kranken (195), -Pandemie (168), -Fälle (111)… (vgl. auch Klosa-Kückelhaus
2020e).
Für Corona liefert die Suche insgesamt 1500 verschiedene Wort-
formen,12 erwartungsgemäß sind dies überwiegend Komposita. Ableitungen
kommen dagegen kaum vor; OWID verzeichnet u.a. Coronaer (‘Person, die sich
infiziert hat’; 7), coronal (‘die durch die Pandemie entstandene Krise betreffend,
in ihr entstanden oder geltend’) und die daraus abgeleiteten prä-/postcoronal
(‘nach/vor der Pandemie’; auch prä/post-Corona-Zeit; 8-9), coronalos (‘keine
Infektion aufweisend’; 10) und gleichbedeutend coronafrei, das außerdem den
Ausfall von Schule oder Training bezeichnen kann (11), das Verb coronisieren
(‘etwas den Bedingungen in Zeiten der Pandemie anpassen’; 12) und das schöne
Corönchen als verharmlosende Bezeichnung für das Virus (13):
(7) Ich bin seit gestern Abend auch ein Coronaer (www.n-tv.de/…/, 25.02.2020)
(8) Schüttelfrust – Die Hände bleiben im Hosensack. Das sollte auch postcoronal so
bleiben. (www.bernerzeitung.ch/…/, 13.03.2020)
(9) Unsere neue Zukunft – Mit den Megatrends in die Post-Corona-Zeit
(www.zukunftsinstitut.de/…/, o.D.)
(10) „Dahoam is dahoam“ mit Lilly Becker: Schöne, coronalose Welt
(news.puls24.at/…/, 02.04.2020)
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13
(11) Wenn man das Wochenende nicht berücksichtigt, haben wir also Tag 6 #coronafrei
(Twitter)
(12) Die Sprache coronisiert sich (www.badische-zeitung.de/…/, 20.05.2020)
(13) Das Leben ist lebensgefährlich – mit und ohne Corönchen… (www.srf.ch/…/,
13.03.2020)
Die hohe Zahl der Komposita mit Corona zeugt von den vielfältigen Aus-
wirkungen der Pandemie auf das private und öffentliche Leben. Christine Möhrs
(2020b) hat bereits Mitte April dieses Jahres einige Dutzend Bildungen erfasst
und thematisch geordnet:13
Aus dieser Darstellung geht hervor, dass Corona als Erstglied von Komposita
im allgemeinen Sprachgebrauch bereits etabliert ist. Dass dies der Langform
13 Diese Gruppierungen werden der semantischen Vielfalt der Corona-Komposita nicht vollständig
gerecht; vgl. die folgenden Bezeichnungen, die sich keiner ‚Gruppe’ zuordnen lassen [die
Bedeutungsangaben sind sämtlich OWID entnommen]: Corona-Baby 1. ‘während der angeordneten
Ausgangsbeschränkungen gezeugtes Kind’, 2. ‘Kind einer COVID-19-Patientin’, Corona-Frisur
‘durch die Schließung der Friseurgeschäfte herausgewachsener bzw. durch unprofessionelles
Schneiden verunstalteter Haarschnitt’, Corona-Huster ‘jemand, der die Polizisten bei einer Festnahme
absichtlich anhustet’, Coronakilo/-speck ‘durch Bewegungsmangel, Langeweile, Stress usw.
zugenommenes Körpergewicht’, Coronasex 1. ‘Sex mit Schutzkleidung’, 2. ‘Sex, für den man mehr
Zeit und Gelegenheit hat’.
Eine Wortbildung, die im Zusammenhang mit dem
völligen Widerspruch dazu steht, ist die Corona-Party,
also bewusste Verabredungen, obwohl Distanz bewahrt
werden soll, um sich fast gewollt anzustecken.
Corona-
Party entsteht, ist in dieser Form (Corona- X) eine unter
vielen. Die Betrachtung der aktuellen Medienbericht-
erstattung zeigt zahlreiche Wortbildungen, die nach
diesem Wortbildungsprinzip zusammengesetzt sind.
Wir unternehmen den Versuch einer thematischen Ord-
nung von aufgefundenen Begriffen (vgl. Abb. 2).
Ob emotionsbeladen (Corona-Angst, -
sinn), ob von medizinisch-gesundheitlicher Bedeu-
tung (Corona-Impfstoff, Corona-Station), ob prägend für
die Berichterstattung (, Corona-Politik,
Corona-Rubriken), ob wirtschaftlich (Corona-Bonds, Co-
rona-Hilfen) oder bildungspolitisch (Corona-Ferien), ob
immer aktuell (Corona-Update, ), ob we-
nig sinnhaft (Corona-Party), ob steuernd (-
, ), ob bezogen auf Betrof-
fene (Corona-Risikogruppe,
ten) – in jedem Fall betrifft es weltweit (Corona-Pande-
mie). Neben dem Wortbildungsmuster aus Corona+Sub-
-
den sind, stechen andere Formen besonders ins Auge,
weil sie einer anderen Wortbildungsform entsprechen:
das Verb oder das Adjektiv Corona-frei sind
hier zwei besondere Kandidaten. Unsere Beobachtung:
Das, was in diesen Tagen die Menschheit beschäftigt,
sucht sich fast im Wittgenstein’schen Sinne des Sprach-
spiels einen Ausdruck, um gehört zu werden.
I
Anmerkungen
1 Die dargestellten Ergebnisse sind unter Mitwirkung von
Susanne Feix und Julia Hofmann entstanden.
2 Die Frage, warum in Deutschland insbesondere Klopapier
gehamstert wird, kann an dieser Stelle nicht vollumfäng-
-
scher Medien ist Klopapier besonders herausgestellt wor-
den; in anderen Ländern gab es teils Fixierungen auf
andere alltägliche Gebrauchsgegenstände.
I
Abb. 2: Wortbildungsprodukte zu „Corona“
14
Coronavirus nicht im selben Ausmaß gelungen ist, hat nicht nur mit Sprach-
ökonomie, sondern auch mit Semantik zu tun: Die Kurzform Corona ist in
besonderer Weise geeignet, einen wie auch immer gearteten Bezug zur Pande-
mie herzustellen, da sie nicht unmittelbar auf das Virus bezogen ist. Damit wird
sie zu einem ‘Schlüsselwort’, d.h. einem Ausdruck, der im Zentrum der massen-
medialen Aufmerksamkeit steht und zugleich als „Blickwinkel“ fungiert, in den
„immer mehr Bereiche, Sachverhalte und Probleme, mit denen man sich in der
öffentlichen Diskussion befaßt, […] hineingeraten“ (Haß 1987: 9). Dies hat eine
semantische Unschärfe zur Folge: „Die Bedeutung eines Ausdrucks […] kommt
im Gespräch zustande, indem [er] von den Beteiligten definiert wird, in
unterschiedliche Kontexte gestellt und dabei semantisch angereichert und/oder
pragmatisch funktionalisiert wird. Die lexikalische Bedeutung verblaßt, und die
Ausdrücke bekommen eine eigene gesprächsspezifische semantische Kontur
und pragmatische Relevanz: Sie werden zu Schlüsselwörtern.“ (Spiegel 1994:
7). Bildungen wie Corona-Helfer, -Lügner, -Politik, -Skeptiker, -Wende bezie-
hen sich nicht nur auf das Virus, sondern auch auf vielfältige Aspekte der Pan-
demie bzw. der diesbezüglichen Debatte. Die Unschärfe des Schlüsselworts
führt dazu, dass die Bedeutung mancher Bildungen selbst im Kontext nur
schwer zu erschließen ist. So kann Coronakünstler in (14) gleichermaßen auf
Personen verweisen, die sich künstlerisch mit der Pandemie auseinandersetzen,
oder solche, die während der Pandemie lediglich Video-Auftritte anbieten.
Unklar ist auch die Bedeutung von Corona-Tagebuch in (15): Ist damit ein
Tagebuch gemeint, das während der Pandemie geschrieben wurde oder
Gedanken zur Pandemie beinhaltet, oder aber eines, das den Gesundheitszustand
seines Urhebers thematisiert?
(14) Dass nun aber „Coronakünstler“ wie Bono uns Deinetwegen mit ihren schnulzigen
Durchhalteparolen beglücken und, gefangen im Home-Office, nicht einmal schreiend
weglaufen können – das, wertes Virus, ist unverzeihlich. (Titanic, Mai 2020, S. 6)
(15) Sollte die Verlagsbranche die Krise überleben, wird sie spätestens an den vielen
Corona-Tagebüchern zugrunde gehen. (Titanic, Mai 2020, S. 20)
Infolge der zunehmenden Verwendung von Corona sind schließlich auch
Assoziationen entstanden, die Sorgen und Ängste hervorrufen können, wie der
scheinbar harmlose Ausdruck Corona-Party zeigt. Bei dem Gedanken an diese
vermeintliche „Freizeitbeschäftigung“ kann es einem kalt über den Rücken
laufen:
(16) Viele junge Erwachsene kümmern sich nicht um die Ansteckungsgefahr und
verweisen schulterzuckend auf die milden Verläufe. [...] Ihnen kann die Krankheit
kaum etwas anhaben, und genau so verhalten sie sich im Moment. Sie feiern
„Corona-Partys“, die sie auf Instagram und Facebook zeigen. (www.zeit.de/…/,
17.03.2020; zit. nach Klosa-Kückelhaus 2020d)
15
2.2. Im Französischen
Im Vergleich zum Deutschen ist die Zahl der Komposita mit corona und covid
im Französischen gering; es sind wohl vor allem Gelegenheitsbildungen mit
sprachspielerischer Funktion, für die gern Anglizismen herangezogen werden:
(17) Bienvenue en Alsace, à Coronaland (www.lemonde.fr/…/, 26.04.2020)
(18) [D]ans l’enquête du 13 mars, la proportion de coronaviro-abstentionnistes n’y est
plus que de 22% (www.marianne.net/…/, 13.03.2020)
(19) Les utilisateurs des applis de rencontre deviennent, en ces temps de grande
solitude, des covid lovers; mais nous manquons de recul pour savoir si cela va
alimenter dans quelques mois un covid boom bienvenu pour renflouer les caisses
de retraite – et rassurer les futurs coronaboomers. (plus.lesoir.be/…/, 22.05.2020)
Andere ebenfalls sprachspielerische Wortkreuzungen mit Politikernamen haben
abwertende Funktion:
(20) Le coronavirus peut-il guérir l’Amérique du Trumpavirus? (www.lepoint.fr/…/,
26.04.2020)
(21) Attention, le mélanchonavirus est plus virulent (www.midilibre.fr/…/, 02.03.2020)
[Jean-Luc Mélenchon, Gründer und Vorsitzender der linken Oppositionsbewegung
„La France insoumise“]
(22) Macronavirus – 3 ans qu’il nous crache à la gueule! (Charlie Hebdo, 29.01.2020)14
Auch Suffigierungen zu covid und corona sind eher selten; die von mir
gesammelten Bildungen sind wohl sprachspielerisch motiviert: covidé und
coronien (‘Covid-Kranker’; 23-24), sowie covidisme als Bezeichnung für den
Gemütszustand während der Ausgangssperre (25). Besonders schön ist das
Partizip covidisé (26), das auf der Grundlage von covid und vider und dem
Verbsuffix -iser gebildet wurde:
(23) Florence Aubenas relate le cas d’une entreprise de BTP où l’on se pose la question
„d’organiser le travail en deux équipes, les covidés et non-covidés“ (linc.cnil.fr/…/,
05.05.2020)
(24) La différence, c’est qu’on a le droit de tuer les zombies. Pas les coroniens. Ça se fait
pas de tuer des gens qu’on essaie de guérir... (Twitter)
(25) Maladie liée au confinement. Symptômes: grande pâleur, entorse du pouce sur
zapette. La chloroquine ne soigne pas le covidisme. (Twitter)
(26) Paris covidisé au printemps. Le Covid-19 se propage, et les villes du monde se
vident. (charliehebdo.fr/…/, 10.04.2020)
Diese verhältnismäßig geringe Zahl an Suffigierungen erklärt sich nicht zu-
letzt durch die in 1.1. erwähnte häufige adjektivische Verwendung von covid.
14 Dieser Ausdruck war daraufhin auf Spruchbändern an Fenstern zu lesen: „Macronavirus: à quand la
fin?“.
16
Im Krankenhausjargon gibt es solche Bildungen in Hülle und Fülle: équipe
covid, équipement covid, lit covid, patient covid (adjektivisch covid-positif),
prime covid, service covid, suspicion covid, test covid, unité covid usw.;
corona kommt hier dagegen kaum vor.15
Schließlich ist auf die Präfigierungen post-covid und post-corona hinzuweisen,
die im Zuge der Debatte um die Lockerungsmaßnahmen inzwischen vermehrt
anzutreffen sind:
(27) Tourisme post-covid: „En 2020, nous entrons dans le 21e siècle du tourisme“
(www.tourmag.com/…/, 13.05.2020)
(28) Une économie „post-corona“ qui portera le poids du changement? (alt-rev.com/…/,
23.05.2020)
(29) Ces Français qui croient à une meilleure société post-Covid (www.lefigaro.fr/…/,
27.05.2020)
In diesem Zusammenhang ist auch die Bildung après-coronavirus zu nennen:
(30) Thomas Piketty, économiste, dessine l’après-coronavirus: „Il faudra demander un
effort aux plus aisés“ (www.francetvinfo.fr/…/, 27.05.2020)
3. Zur Metaphorik des Corona-Wortschatzes
Zunächst fällt die hohe Zahl emotionsbeladener Bildungen mit Corona auf (vgl.
die Darstellung von Möhrs 2020 in 2.1): Corona-Angst, -Drama, -Gau, -
Geschrei, -Hysterie, -Kampf, -Katastrophe, -Koller, -Krise... Davon werden
einige recht häufig verwendet, wie die Frequenzliste der Wortformen mit
Corona zeigt; mit 21411 Belegen steht Corona-Krise hier an erster Stelle
(Stand: 25.05.2020).
Viele dieser Ausdrücke knüpfen an Wortbildungsmuster an, die für den
zeitgenössischen Krisendiskurs charakteristisch sind (vgl. Schwarz-Friesel
2017) und bereits vor der Pandemie, insbesondere in der Klimadebatte,
begegneten: Klima-Angst, -Gau, -Hysterie, -Katastrophe, -Krieg… (vgl. Balnat
[einger.]). In den Medien hat diese „Sprache der Apokalypse“, wie Klein (1989:
39) sie pointiert nennt, veranschaulichende und expressive Funktion: Sie
verleiht dem abstrakten Phänomen der Pandemie eine konkrete Gestalt und
weckt auf diese Weise das Interesse der Leserschaft. Wie vielfältig die
Katastrophe konzeptualisiert werden kann, wird auf den nachstehenden
Titelseiten von Spiegel-Ausgaben in Text und Bild überdeutlich:
15 Für diese Mitteilung danke ich Élodie Olivier, die als Krankenpflegerin am Krankenhaus in
Carpentras tätig ist.
17
10/2020
12/2020
13/2020
14/2020
Die hier thematisierte permanente Untergangsstimmung ist nachweislich
Ursache vieler Pathologien. So ist die Rede von Coronahysterie, Coronapanik,
Coronastarre, Coronastress, Coronatief und sogar von Coronaia (vgl. Klosa-
Kückelhaus 2020h). Nach den aus der Soziologie bekannten Generationen X, Y
und Z spricht man nun auch von der Generation Corona/Coronageneration, der
„von den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie besonders betroffene[n] Genera-
tion junger Menschen, deren Start in das Berufsleben nun unsicher erscheint“
(OWID). Existentielle Ängste kommen auch in den verhüllenden Bildungen C-
Wort und C-Krise sowie in dem in Anlehnung an kafkaesk gebildeten coronaesk
zum Ausdruck.
Obwohl in den französischsprachigen Medien auch von „crise“ bzw.
„catastrophe du Covid“, „panique“ bzw. „hystérie liée au Covid“ gesprochen
wird, scheinen derartige Ausdrücke weniger häufig an exponierten Stellen
vorzukommen als in den deutschsprachigen Medien. Weitaus präsenter ist hier
dagegen die von Präsident Emmanuel Macron wiederholt beschworene Kriegs-
und Kampfrhetorik, die die Nation für den Krieg („nous sommes en guerre“)
gegen einen unsichtbaren Feind („ennemi invisible“) mobilisieren sollte – und
zugleich auch ein Versuch war, von der Verantwortung der Politik abzulenken.16
Wochenlang berichteten die Medien über die „union sacrée face au virus“, das
Heldentum des Gesundheitspersonals, das, zunächst unbewaffnet (“soldats sans
armes“), an vorderster Front stand („être sur le/au front“ bzw. „en première
ligne“), und die „guerre des masques“, den Kampf um den massenhaften Import
von Schutzmasken auf internationaler Ebene (vgl. Poitou 2020).
16 Christiane Taubira, ehemalige Justizministerin, hat kritisch darauf hingewiesen, dass diese Kriegs-
rhetorik für männliche Politiker typisch ist; dabei sind doch vor allem Frauen – Krankenschwestern,
Raumpflegerinnen, Kassiererinnen – der Gefahr ausgesetzt: „Ce qui fait tenir la société, c’est d’abord
une bande de femmes“ (France Inter, 13.04.2020). Auch der Historiker Wolfram Wette äußerte sich in
der Badischen Zeitung kritisch gegenüber dieser Rhetorik („Gegen ein Virus hilft keine
Kriegsrhetorik“; www.badische-zeitung.de/.../, 02.06.2020).
18
Schließlich sind noch die Bereiche „Religion“ und „Moral“ zu nennen,
denen sich vor allem deutsche Corona-Komposita zuordnen lassen. Dazu
gehören abwertende Bezeichnungen für Menschen, die die Pandemie in Frage
stellen bzw. nicht ernst nehmen (Corona-Leugner/Relativierer, aufgrund der
Nähe zu Holocaust-Leugner mit negativen Assoziationen behaftet; 31-32) oder
an der Sinnhaftigkeit der Regelungen zweifeln (Coronaskeptiker; 33)17 und
diese – oft unter Berufung auf die verfassungsmäßigen Grundrechte – nicht
einhalten (Corona-Sünder; 34). Manche Politiker und Medien, die ihrerseits auf
die entscheidende Bedeutung von Schutzmaßnahmen abheben, werden von
solchen Zweiflern als Coronalügner abgestempelt (35):
(31) Vor dem niedersächsischen Landesparteitag der AfD versuchen sich einige AfDler
als Corona-Leugner zu profilieren. (taz.de/…/, 14.05.2020)
(32) Geschichtsvergessen und dumm ist vor allem die Verwendung von Begrifflichkeiten
wie "Corona-Leugner" und "Corona-Relativierer", weil hier ein Begrifflicher
Zusammenhang mit dem Holocaust und der Relativierung deutscher Kriegsverbrechen
hergestellt wird, der im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie vollkommen
unangemessen ist. (Leserkommentar, taz.de/…/, 11.05.2020)
(33) Corona-Skeptiker erkrankt an Covid-19 und warnt: "Seid nicht so dumm wie ich"
(www.stern.de/…/, 19.05.2020)
(34) Corona-Sünder in Niedersachsen müssen zahlen: 150 Euro für weniger als 1,50 Meter
Abstand (www.kreiszeitung-wochenblatt.de/…/, 08.04.2020)
(35) Hotels, restaurants genauso wie Bars, Clubs und Bordelle. Das kann man morgen alles
eröffnen. Da passiert garnichts. Die Angstmache der Coronalügner zieht nicht mehr.
(Twitter)
Auch hier ist der Rekurs auf umweltpolitische Diskurse offensichtlich: Klima-
leugner, -skeptiker, -sünder, -lügner. Im Französischen dagegen gibt es meines
Wissens keine vergleichbaren metaphorischen Bildungen mit Leugner, Lügner
und Sünder; belegt ist lediglich das substantivisch und adjektivisch verwendete
corona-sceptique/coronasceptique, das wohl in Anlehnung an climatosceptique
entstanden ist:
(36) Les religieux „coronasceptiques“ font de la résistance. Partout dans le monde, les
fondamentalistes s’opposent aux mesures de confinement. (www.leparisien.fr/…/,
06.04.2020)
(37) Brésil: Jair Bolsonaro, le „climatosceptique“ devenu „corona-sceptique“
(www.lesoir.be/…/, 11.05.2020)
Schlussbemerkungen
17 Zum Wortschatz rund um Verschwörungstheorien und Coronaskepsis vgl. Klosa-Kückelhaus
(2020h).
19
Von Februar bis Mitte Mai 2020 war die deutsch- und französischsprachige
Berichterstattung gekennzeichnet durch eine starke „Einschränkung des Voka-
bulars auf Gegenstandsbereiche um die Corona-Pandemie“ (Müller-Spitzer,
Wolfer, Koplenig & Michaelis 2020b). Innerhalb kürzester Zeit ist ein umfas-
sender Wortschatz entstanden, der von den vielfältigen Auswirkungen der Pan-
demie auf das private und öffentliche Leben sowie den damit verbundenen
Sorgen und Ängsten zeugt. Als besonders produktives Wortbildungsverfahren
erweist sich im Deutschen wieder einmal die Zusammensetzung, im Franzö-
sischen dagegen die Ableitung – teils auch die Wortkreuzung. Im Französischen
ist die Verwendung von Anglizismen weitgehend auf die fachsprachliche
Kommunikation beschränkt, während sie im Deutschen auch in der Alltags-
sprache häufig vorkommt.
Nicht nur Deutsch und Französisch, auch viele andere Sprachen wurden
durch die Pandemie vor ähnliche Herausforderungen gestellt, wie die online
verfügbaren Wortsammlungen etwa zum Dänischen, Italienischen, Nieder-
ländischen und Spanischen belegen. In erster Linie ging es darum, eine neue
Realität zu benennen. Der Ausdruck Corona wurde zu einer „Art Ein-Wort-
Esperanto“, wie Bühler leicht zugespitzt formuliert hat („Das Virus hat uns
vorübergehend die Sprache geraubt“; www.nzz.ch/…/, 26.05.2020). Inzwischen
sind Lockerungsmaßnahmen eingeführt worden, so dass die Medien nun wieder
verstärkt auch über andere Themen berichten – mit anderen Worten: es ist eine
gewisse ‘sprachliche Lockerung’ erfolgt. Ob der Corona-Wortschatz sich in der
deutschen und französischen Standardsprache dauerhaft etabliert, muss
einstweilen offen bleiben. Aus diesem Grund sehen die Sprachwissenschaftler
am Leibniz-Institut für deutsche Sprache den Corona-Wortschatz als vorerst
‚unter Beobachtung’ stehend. Der künftige Status des Corona-Wortschatzes
wird im Wesentlichen davon abhängen, inwiefern dessen Elemente nach der
Pandemie auch in anderen Zusammenhängen weiter Verwendung finden; so
dürfte ein Wort wie Homeworking bessere ‚Überlebenschancen’ haben als etwa
Corona-Party.
Den Massenmedien kommt wie gesagt bei der Bildung und Verbreitung
des Corona-Wortschatzes eine zentrale Rolle zu. Als Vermittlungsinstanz
zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit greifen sie auf einen vielfach stark
vereinfachten Wortgebrauch, streckenweise auch auf eine reißerische
Ausdrucksweise zurück, um der breiten Öffentlichkeit abstrakte und komplexe
Inhalte zu vermitteln. Zu diesem Sprachgebrauch gehören auch metaphorische
Bildungen, die ideologische Sichtweisen transportieren können. Während der
öffentliche Diskurs in Frankreich deutlich martialisch geprägt ist, fällt in
deutschsprachigen Medien stärker die Häufigkeit von Weltuntergangsszenarien
ins Auge.
20
Die Funktion des Corona-Wortschatzes beschränkt sich indessen nicht
darauf, Benennungslücken zu schließen und die Verbreitung von Ideologien zu
befördern. Der Rekurs auf diese Corona-Wörter dient vielmehr auch dazu, den
Lesern/Hörern Anregungen für die Bewältigung schwieriger Lebenserfahrungen
zu bieten und die Bedeutung des zwischenmenschlichen Zusammenhalts in der
Gemeinschaft hervorzuheben. Damit eine neue Realität zu einem kollektiven
Ereignis werden kann, das die Sprachgemeinschaft eint und solidarisches Han-
deln in diesem Kontext ermöglicht, muss sie versprachlicht werden. Lexika-
lische Untersuchungen zu Krisendiskursen gewähren Einblick in die Art und
Weise, wie Sprachgemeinschaften auf tiefgreifende Umstellungen und Lebens-
ängste reagieren. Die zahlreichen im Zuge der Pandemie entstandenen sprach-
spielerischen Bildungen zeugen davon, dass sprachliche Kreativität und Wort-
witz auch oder gerade in Krisenzeiten quicklebendig sind. Dass sie zudem ein
wirksames Heilmittel gegen „Coronastarre“, „Coronatief“ und „covidisme“ sein
können, zeigen sehr anschaulich die folgenden Wortspiele:
Husten! Wir haben ein Problem (der-postillon.com, 16.03.2020)
Sars-Wars: das Impferium schlägt zurück (Heute-show, 15.05.2020)
Hand in Hand gegen das Coronavirus: Menschenkette am 30.02. Wählt Die PARTEI –
Begeisterung, die ansteckt. (Die Satirepartei „Die Partei“)
Peut-on encore rire de toux? (Le Canard enchaîné, 29.01.2020)
À quand l’embellie pulmonaire? (Le Canard enchaîné, 25.03.2020)
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