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„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“: Der motivationale Frame der Ökonomik

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Der Beitrag rekonstruiert die verborgenen Selbstbilder, die in Hauptwerken und Lehrbüchern der Ökonomik seit den 1870er-Jahren enthalten sind. Die Autorin analysiert die sprachlichen Selbstbeschreibungen ökonomischer Ansätze: welche Ziele setzen sie sich, für welche Personen wird die Theorie formuliert und nach welchen Kriterien wird dabei vorgegangen? Die Analyse verdeutlicht, wie weit sie sich die Lehrbuchökonomie heute von dem ursprünglichen Anspruch der Politischen Ökonomie als einer praktischen und moralischen Wissenschaft entfernt hat.
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„Eine Wissenschaft um ihrer selbst
willen“
Der motivationale Frame der Ökonomik
Silja Graupe
Zusammenfassung
Der Beitrag rekonstruiert die verborgenen Selbstbilder, die in Hauptwerken und
Lehrbüchern der Ökonomik seit den 1870er-Jahren enthalten sind. Die Autorin ana-
lysiert die sprachlichen Selbstbeschreibungen ökonomischer Ansätze: welche Ziele
setzen sie sich, für welche Personen wird die Theorie formuliert und nach welchen
Kriterien wird dabei vorgegangen? Die Analyse verdeutlicht, wie weit sie sich die
Lehrbuchökonomie heute von dem ursprünglichen Anspruch der Politischen Öko-
nomie als einer praktischen und moralischen Wissenschaft entfernt hat.
Schlüsselwörter
Politische Ökonomie · Framing · Sprachanalyse · Neoklassik · Lehrbücher
1 Die Ökonomik und ihre verborgenen Selbstbilder
„Allen Menschen ist zuteil, sich selbst zu erkennen und verständig zu denken“,
soll bereits Heraklit gesagt haben. Trifft eine solche Fähigkeit zur (Selbst-)
Imagination auch auf heutige Ökonominnen und Ökonomen zu? Können sie ver-
ständig darüber denken, durch welche Haltungen und Handlungen ihre Profession
und damit sie selbst als Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geprägt
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020
W. O. Ötsch und S. Graupe (Hrsg.), Imagination und Bildlichkeit der Wirtschaft,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-29411-3_5
S. Graupe (*)
Institut für Ökonomie, Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung,
Bernkastel-Kues, Deutschland
E-Mail: silja.graupe@cusanus-hochschule.de
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sind? Und können sie diese aktiv ändern? Konfuzius soll einmal gesagt haben:
„Zu wissen, was man weiß, und zu wissen, was man tut, das ist Wissen.“ Meine
These ist, dass die Ökonomik, die spätestens seit der Finanzkrise 2008 in viel-
facher Hinsicht in Kritik geraten ist, nicht in ausreichendem Maße explizit jene
Bildlichkeit, die sich in ihren Selbstbildern manifestiert, reflektiert. Sie leitet –
ganz im Gegensatz zu Konfuzius Leitspruch – nicht dazu an, zu wissen was man
als Ökonom oder Ökonomin tut, eben weil sie nicht offenlegt, wie sie Wissens-
bestände und die epistemischen Tugenden, die sie bedingen, formt. Dies betrifft
auch und gerade den Bereich der ökonomischen Bildung. Hier drohen nicht nur
ein bestimmtes Wissen, sondern auch bestimmte Haltungen wie selbstverständ-
lich von einer Generation zur nächsten stillschweigend weitergegeben zu werden,
ohne dass hierüber ein expliziter Diskurs stattfinden würde (vgl. Graupe 2016).
Um das zu ändern, kann gefragt werden, was wir tatsächlich darüber wissen
können, was Ökonomen tun, wie sie es tun und warum sie es tun. Wovon sind
ihre wissenschaftlichen Aktivitäten geprägt? Welche Wissensformen und
Praktiken dürfen sie als legitim erachten und welchen haben sie im Gegenzug zu
entsagen? Und welche Haltungen und Einstellungen entstehen daraus? Und was
hat dies für eine Welt, die zunehmend durch Ökonomen beraten wird, sowie für
Studierenden der Ökonomik und damit der neuen Generation von Ökonomen und
Ökonominnen (und durch sie geprägten Praktiken) zu bedeuten?
Nach Michael Polanyi (z. B. 1958) können wir zwischen explizitem und
implizitem Wissen unterscheiden: Explizit ist Wissen dann, wenn wir etwas exakt
benennen und begrifflich von anderen Dingen unterscheiden können. Implizit ist
unser Wissen hingegen, wenn wir zwar wissen, wie etwas geht, es aber lediglich tun,
ohne es mit Worten beschreiben und somit klar artikulieren zu können. Als klassisches
Beispiel für implizites Wissen wird oft das Fahrradfahren bemüht: Die meisten von
uns können es, ohne umzufallen, aber weit weniger werden über die Fähigkeit sagen
zu können, warum wir die Balance zu halten vermögen. Das fragliche Wissen steckt
im praktischen Können – und kaum irgendwo sonst. Meine These ist, dass Ökonomen
und Ökonominnen bezüglich ihrer eigenen wissenschaftlichen Tätigkeiten ebenfalls
weitgehend nur über ein solches, implizites Wissen verfügen.
Als Argument, wenn auch keinesfalls als Beleg oder Beweis hierfür lässt sich
zunächst auf allgemeine wissenschaftstheoretische Erkenntnisse verweisen. Laut
Thomas Kuhn (1976, S. 37 ff.) zeichnet sich eine „Normalwissenschaft“ dadurch
aus, dass ihre Wissensbestände so selbstverständlich geworden sind, dass sie von
einer Generation zur nächsten allein über standardisierte Lehrbücher weiterver-
mittelt werden.1 Ihre Vertreter und Vertreterinnen halten sich zwar allesamt an strikte
1Kuhn (1976) spricht deswegen auch von einer „Lehrbuchwissenschaft“.
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Verhaltensvorgaben – sie betreiben also alle auf ähnliche Weise Wissenschaft –,
sind aber in der Regel nicht in der Lage, explizieren zu können, wie genau und
warum sie es auf diese Weise tun. In einer Normalwissenschaft lernt jede Generation
neuer Wissenschaftler die Regeln, wie Wissenschaft adäquat betrieben wird, durch
die Orientierung an Vorbildern (den etablierten Wissenschaftlern und Wissen-
schaftlerinnen) sowie durch das wiederholte Lösen immer gleicher oder ähnlicher
Aufgaben. Aber sie lernt es nicht, indem man sie explizit über diese Regeln aufklärte,
sodass sie sich bewusst für oder gegen sie entscheiden könnte (vgl. ebd., S. 59 f.).
Die Forderung nach expliziter Ausdrucksfähigkeit des eigenen Tuns stellt auch und
gerade die Ökonomik vor große Schwierigkeiten. Wozu und zu welchem Zwecke soll
man Volkswirtschaftslehre studieren und Ökonom oder Ökonomin werden? Über diese
Frage herrscht, soweit ich es sehen kann, vor allem innerhalb dieser Wissenschaft bis-
lang kaum eine Form konstruktiver Klarheit. Die Standardökonomik ist schlicht nicht
bereit, über sich selbst, über ihr eigenes know-how aufzuklären. Weitgehend herrscht
zwar Übereinstimmung darüber, dass das Studium der Ökonomik faktisch in einem
gerade für viele Studierende überraschendem Ausmaß ein mathematisches Denken
und eine Beschäftigung mit äußerst abstrakten Modellen erfordert (vgl. zu einem
empirischen Befund etwa Bäuerle et al. 2020). Warum dies aber so sein soll – darüber
finden sich lediglich in den einführenden Kapiteln der ökonomischen Standardlehr-
bücher ein paar verstreute Hinweise, wohl aber kaum eine explizite Diskussion.2
2Ein erster Überblick ergibt: N. Gregroy Mankiw und Marc P. Taylor z. B. heben in ihren
Principles of Economics den Anspruch an wissenschaftliche Objektivität hervor, derr Öko-
nomen ebenso gelte wie für das naturwissenschaftliche Studium der Erdgravitation oder der
Entstehung der Arten (Mankiw und Taylor 2014, S. 17). Zugleich behaupten sie aber auch,
die Volkswirtschaftslehre bereite für die Rolle als Politikberater vor (ebd., S. 23). Moralische
Fragen hingegen verbannen sie in den Bereich der bloßen Meinungen und damit in die
Privatsphäre, dies allerdings ohne es zu begründen (vgl. etwa ebd., S. 70) – ähnlich auch bei
Pindyck und Rubinfeld (vgl. etwa 2009, S. 31). Nach den Economics von Paul A. Samuelson
und William D. Nordhaus soll das Studium der Ökonomik zu nicht weniger als der Wahrheit
führen. „There are few basic concepts that underpin all of economics. [..] We have therefore
chosen to focus on the central core of economics – on those enduring truths that will be just as
important in the twenty-first century as they were in the twentieth“. (2005, S. xvii). Zugleich
soll sich dadurch auch dem Eigennutz besser frönen lassen, weil sich durch ein solches
Studium Geld verdienen lasse (ebd., S. 3). Und überhaupt rüste es einen für den brutalen
Kampf ums Überleben: „All your life – from cradle to grave and beyond – you will run up
against the brutal truths of economics. […] Of course, studying economics cannot make you
a genius. But without economics the dice of life are loaded against you“ (ebd.). Und als wäre
dies nicht bereits genug der Fülle an Argumenten, soll die Tatsache, Ökonom zu sein oder zu
werden, auch noch dazu dienen können, den Kampf von Freiheit und Demokratie zu gewinnen.
„Students like you are marching, and even going to jail, to win the right to study radical ideals
and learn from Western textbooks like this one in the hope that they may enjoy the freedom and
economic prosperity of democratic market economies“ (ebd., S. xxi).
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2 Frame-Semantik ökonomischer Texte
Wie aber eine Wissenschaft zum Reden über ihre Selbstbilder zu bringen, wenn
sie selbst überwiegend darüber schweigt bzw. sie im Rahmen ihrer Bildung still-
schweigend antrainiert? Wie über ihr verborgenes Selbstverständnis aufklären,
ohne externe Maßstäbe an sie heranzutragen?3 Als eine mögliche Antwort auf
diese Fragen wähle ich in diesem Beitrag den Weg, Schlüsseltexte der Öko-
nomik einer frame-semantischen Analyse zu unterziehen. Die Frame-Semantik
ist eine semantische Theorie, die die Bedeutung von sprachlichen Ausdrücken in
Bezug zu einem umfassenden Wissen setzt, das tief in das erfahrungsbasierte und
damit meist nur implizit vorhandene Wissen und dessen Genese reicht. Sie fragt
danach, welche Bedingungen der Möglichkeit der Produktion, des Erscheinens,
der Formation, der Wirkungskraft und der Reproduktion bestimmte Äußerungen
steuern und expliziert diese (vgl. Busse 2000, S. 41):
„Ich spreche in diesem Zusammenhang auch von dem Bereich bedeutungs-
relevanten bzw. verstehensrelevanten Wissens, das in einer vollständigen
semantischen Analyse expliziert werden muss. Eine ‚reiche‘ Semantik oder
‚Tiefensemantik‘ in diesem Sinne kann sich nicht auf die Explizierung der
sozusagen ‚offen zu Tage liegenden‘ epistemischen Elemente von Wort- und Text-
bedeutungen beschränken, sondern muss gerade auch das zugrundeliegende, ver-
steckte, normalerweise übersehene, weil als selbstverständlich unterstellte Wissen
explizieren. Zu dieser Analyse gehört auch die Explizierung in sprachlichen
Äußerungen transportierten oder insinuierten epistemischen Elementen, von deren
Vorhandensein die Sprecher und Rezipienten möglicherweise gar kein reflektiertes
Bewusstsein haben. Jede Tiefensemantik, ob als Wortsemantik, Begriffsgeschichte,
Satzsemantik oder Diskursanalyse angelegt, erfordert die Explizitmachung solchen
bedeutungskonstitutiven Wissens“ (ebd., S. 42).
Die Frame-Semantik drängt dabei nicht nur auf die bloße Feststellung der
Existenz stillschweigenden Wissens, sondern setzt sich zum Ziel, dieses Wissen
tatsächlich sprachfähig zu machen und ins reflektierte Bewusstsein zu heben. Ihr
wesentlicher Zugang liegt dabei in einem umfassenden und tieferen Verständnis
von Sprache und ihrer Wirkung auf die Erkenntnisfähigkeiten und -möglichkeiten
des Menschen.
3Zwei Ansätze, die die Ökonomie einerseits selbst zum Sprechen zu bringen und anderer-
seits von verschiedenen ihr äußeren Perspektiven zu kritisieren, sind Brodbeck (2013) und
Mirowski (1989).
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Ein erstes einfaches Beispiel soll die Vorgehensweise der Frame-Semantik
illustrieren. Viele ökonomische Standardlehrbücher beginnen unvermittelt mit
dem Konzept von Kurven – meist der Angebots- und Nachfragekurve, z. B.:
„Das Modell von Angebot und Nachfrage verbindet zwei wichtige Konzepte: die
Angebotskurve und die Nachfragekurve. Ein genaues Verständnis, was diese Kurven
darstellen, ist wichtig“ (Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 51, Hervorhebung im
Original).
Sogleich werden diese Kurven in einem Diagramm visualisiert und erläutert, was
sie darstellen.4 Auf diese Weise werden Studierende der Ökonomik zu Beginn
ihres Studiums lediglich angeleitet, in und mit dem Konzept von „Kurven“ oder
„Marktdiagrammen“ über wirtschaftliche Phänomene nachzudenken, nicht aber
diese Konzepte selbst zu verstehen.5 Die Frame-Semantik spricht bezüglich eines
solchen Umgangs mit Wörtern anschaulich von einer „Eisbergspitzen-Semantik“,
„weil sie achtzig bis neunzig Prozent dessen, was als Wissen notwendig ist, um die
Bedeutung eines Wortes im Kontext vollständig zu aktualisieren, unexpliziert lässt,
ignoriert oder bestenfalls als selbstverständlich gegebenes Alltagswissen voraus-
setzt und damit als uninteressant (für weitere wissenschaftliche Betrachtung bzw.
semantische Explikation) abtut“ (Busse 2003, S. 21).
Sinn und Zweck frame-semantischer Analysen ist es, die gewöhnliche Unter-
suchungsrichtung nun gleichsam um hundertachtzig Grad zu wenden. In
unserem Beispiel bedeutet dies, die grundlegende Bedeutung von Konzepten wie
„Kurven“ und „Diagrammen“, die von Ökonomen als selbstverständlich voraus-
gesetzt werden, möglichst vollständig aufzuklären. Es gilt gleichsam, nicht
4„Die Angebotskurve stellt die Menge eines Gutes, die Produzenten zu einem bestimmten
Preis verkaufen wollen, dar, wobei alle anderen Faktoren, die die angebotene Menge beein-
flussen könnten, konstant gehalten werden“ (Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 51).
5In anderen Lehrbüchern sieht dies nicht anders aus. So beginnt auch Varian sein Lehr-
buch mit der Vorstellung des Marktmodells, das sich wie selbstverständlich Graphen zur
Visualisierung mathematischer Funktionen bedient, die erneut als Angebots- und Nach-
fragekurve bezeichnet werden. Zu einer Diskussion über die Gründe der Verwendung
dieser Vorstellungen kommt es dabei nicht. Das Lehrbuch von Samuelson und Nordhaus
verfügt zwar extra über einen Anhang an sein erstes Kapitel, in dem das know-how über
das Lesen von Graphen vermittelt wird, weil diese für Ökonomen so „unverzichtbar sind
wie ein Hammer für den Zimmermann“ (2005, S. 19). Warum diese Unverzichtbarkeit aber
herrschen soll, wird auch hier nicht gesagt.
122 S. Graupe
länger auf der schmalen und rutschigen Spitze jenes semantischen Eisberges zu
verweilen, der gerade noch das Licht ökonomischer Reflexion in den Standard-
lehrbüchern erreicht (um sodann eine ganze Wissenschaft auf ihr zu errichten),
sondern in die Tiefe dieses Eisbergs vorzudringen, d. h. in die Schichten unter-
halb des normalerweise Sichtbaren, d. h. in die im Unbewussten verborgen
liegenden Bedeutungsschichten. Es ist das diskursive Feld offenzulegen, in
dem in der Ökonomik eine mathematische oder doch zumindest mathematische
inspirierte Sprache wie selbstverständlich (und in jedem Falle als nicht
erklärungsbedürftig) verwendet wird. Um dieser Aufgabe gerecht zu werden, sind
die Strukturen, Ebenen und Elemente des bedeutungskonstitutiven (oder auch
verstehensrelevanten) Wissens herauszuarbeiten.
Dafür kann die Frame-Semantik auf bereits existierende Frame-Modelle (vgl.
etwa Busse 2012, S. 535) zurückgreifen, deren wesentliche Bausteine ich im
Folgenden kurz erläutern möchte. Zunächst ist zu klären, was ein „Frame“ über-
haupt sein soll. Die Frame-Semantik geht davon aus, dass Menschen Wörter
nicht einfach durch ihre (explizite) Definition verstehen, sondern dadurch, dass
sie sie in ein ganzes Deutungsgefüge einlassen, das beim Hören oder Sprechen
nahezu automatisch aktiviert wird. Dieses Deutungsgefüge lässt sich mit Walter
Lippmann als „Stereotype“ (2018), mit Frederic Charles Bartlett als „Schema“
(1967) oder mit Marvin Minsky als „Wissensrahmen“ bzw. „kognitiver Rahmen“
bezeichnen – im Englischen Frame genannt:
„When one encounters a new situation […] one selects from memory a structure
called a Frame. This is a remembered framework to be adapted to fit reality
by changing details as necessary. A frame is a data-structure for representing a
stereotyped situation“ (Minsky 1974, S. 1).
Minsky schlägt vor, sich Frames wie Netzwerke vorzustellen, die ihrerseits aus
Knoten und Relationen bestehen:
„We can think of a frame as a network of nodes and relations. The ‘top levels’ of
a frame are fixed, and represent things that are always true about the supposed
situation. The lower levels have many terminals – ‘slots’ that must be filled by
specific instances or data. Each terminal can specify conditions its assignments must
meet. […] Simple conditions are specified by markers that might require a terminal
assignment to be a person, an object of sufficient value, or a pointer to a sub-frame
of a certain-type“ (ebd.).
Die innere Struktur von Frames lässt sich auch als eine Art „mentale Infra-
struktur“ (Welzer 2011) bezeichnen. Sie verfügt gleichsam über Autobahnen
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(nach Minsky: die Verbindungslinien), in die das Denken routinemäßig ein-
spurt und sodann kaum mehr anders kann, als unwillkürlich, schnell und ohne
weiteres Wissen um das eigentliche Umfeld von einem Autobahnkreuz (den
Antworten als Knotenpunkte in Minskys Bild) zum anderen zu eilen, bis es an die
Spitze des semantischen Eisbergs gelangt, um erst dort, am Zielpunkt, zu einem
bewussten, sprachlich artikulierten know-how überzugehen. Die Kernaufgabe
frame-semantischer Untersuchungen ist es, dieses Autobahnnetz offenzulegen
und einer bewussten Reflexion zugänglich zu machen. Damit geht auch einher,
alternative Wege des Denkens aufzuspüren, die in alternativen Fragen ebenso wie
in alternativen Antwortmöglichkeiten bestehen, aber in den aktuell dominanten
Infrastrukturen des Wissens verschüttet, marginalisiert oder aber so verfemt sind,
dass das normalisierte Denken sie allenfalls noch als Irrwege identifizieren, nicht
mehr aber beschreiten kann.
Die Kunst einer solchen Offenlegung besteht vornehmlich darin, die wesent-
lichen Fragen herauszuarbeiten, die das Denken von den unausgesprochenen
Tiefenschichten des Wissens gleichsam an die Spitze des semantischen Eisbergs
leiten. Es „besteht eine zentrale Funktion von Frames also darin, eine Liste von
strategisch entscheidenden Fragen bereitzustellen“ (Ziem 2005, S. 5). In der
Fachsprache der Frame-Semantik werden diese Fragen Slots genannt: Slots sind
„konzeptuelle Leerstellen, die in Gestalt von sinnvoll zu stellenden Fragen identi-
fiziert werden können“ (Ziem 2005, S. 4). Sie werden auch als „definierende
Wissenselemente“ beschrieben (Busse 2012, S. 564). Die frame-semantische
Analyse fragt daher: Welche Fragen können und dürfen in einem Wissenskontext
überhaupt gestellt werden? Welche gelten als sinnvoll und richtig und welche
werden im Gegenzug in einem aktuellen Diskurs als unsinnig von vornherein
aus der wissenschaftlichen Betrachtung ausgeschlossen, d. h. noch nicht einmal
gestellt, geschweige denn je beantwortet?
Dabei liegt es in der Natur von Fragen, im Normalfall eine Bandbreite
von Antwortmöglichkeiten aufzuwerfen. Auf die Frage „Was sind Bestand-
teile einer Geburtstagsfeier?“ etwa lassen sich verschiedene Antworten wie
„Geschenke-Auspacken“, „Kuchen essen“ und „Kerzenausblasen“ geben, die
zunächst prinzipiell als gleichberechtigt gelten können (vgl. Ziem 2005, S. 5).
Diese Antwortmöglichkeiten werden in der frame-semantischen Forschung
als Filler bezeichnet. Sie spannen in ihrer Gesamtheit den denk- und erwart-
baren Antwortbereich auf, der in einem bestimmten Fragehorizont möglich
ist. Zugleich finden sich von diesem Bereich andere Antworten exkludiert.
Würde man auf die obige Frage etwa antworten: „Hunde essen“, so würde dies
zumindest in unserem Kulturbereich die Grenze des konventionellen und damit
gewohnheitsmäßigen Sprechens zuwiderlaufen. Unsere mentale Infrastruktur
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verfügte über keine routinehaften Verbindungen zwischen „Geburtstag“ und
„Hunde essen“. In der Fachsprache der Frame-Semantik bedeutet dies, dass
„Hunde essen“ nicht im sog. Wertebereich des Slots „Welche Bestandteile hat
eine Geburtstagsfeier?“ liegt. Es stellt keine Standard-Ausfüllung, keinen sog.
Default-Wert, dar. Die Denkverbindung gilt damit als nicht-salient, d. h. als dem
Bewusstsein schwer zugänglich und damit als schwer oder gar nicht kognitiv ver-
fügbar.
Im vorliegenden Beitrag wird der Versuch unternommen, diese allgemeinen
frame-semantischen Überlegungen für eine Analyse des unbewussten Sockels
des Denkens der ökonomischen Standardwissenschaft fruchtbar zu machen.
Dabei frage ich: Welches komplexe Frage- und Antwortfeld öffnet sich in
der Tiefe des semantischen Eisbergs der Ökonomik, die von vornherein auf
mathematische Konzepte baut? Welches Netz aus Fragen (Slots, Relationen)
und Antworten (Fillern, Knoten) existiert im Unbewussten des modernen öko-
nomischen Denkens, damit Konzepte wie „Diagramm“ und „Graph“ sich auf der
Oberfläche des Bewusstseins als dominante ‚Werkzeuge des Denkens‘ etablieren
können? Auf welche Frage vermögen sie tatsächlich eine Antwort zu geben, und
aus welchem tieferliegenden Antwortbereich rührt wiederum diese Frage her?
Indem ich diesen und ähnlichen Fragen nachgehen werde, werden sich nicht nur
aus meiner Sicht überraschende Gründe für die heute dominante ökonomische
Denkstruktur ergeben, sondern sich auch Möglichkeiten eröffnen, alternativen
längst in Vergessenheit oder in Verruf geratenen Denkstrukturen auf die Spur zu
kommen. Denn es wird sich, wie in der Frame-Semantik üblich, herausstellen,
dass jede tieferliegende Frage auch andere Antwortmöglichkeiten zulassen
kann, sodass innerhalb der Tiefenschichten des semantischen Eisbergs der öko-
nomischen Standardwissenschaft eine Vielfalt möglicher alternativer Frage- und
Antwortschemata erkennbar werden kann, die an der Spitze des semantischen
Eisbergs zwar nicht mehr sichtbar, wohl aber vorausgesetzt bleibt. Anders gesagt:
Sobald wir in die Tiefe des semantischen Eisbergs vordringen, werden alter-
native Denkstrukturen sichtbar werden, deren Absterben oder Abschneiden die
heutige Ökonomik entlang ihrer mentalen Infrastruktur als immer schon gegeben
voraussetzen muss, die aber an irgendeinem Punkt ihrer Genese tatsächlich ein-
mal mit rhetorischen Strategien und Argumenten aktiv ausgelöscht worden sein
müssen. Das Fundament der heutigen Ökonomik wird sich damit gewissermaßen
als ein „Kampfplatz“ (Flasch 2009) erweisen, dem eine genuine, gleichwohl stets
umstrittene Pluralität innewohnt: ein Kampfplatz, von dem heute zwar nur noch
Spuren im Bewusstsein zu finden sind, dessen Entscheidungen über Sieg und
Niederlage aber dennoch – oder gerade deswegen – unmittelbar für die Einseitig-
keit des heutigen ökonomischen Denkens, für dessen Monokultur (vgl. Graupe
125„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
2017a, 2013a) verantwortlich zeichnet, eben weil sie zu stillschweigenden
Voraussetzungen mutiert sind.
Selbstverständlich wird es auf den folgenden Seiten nicht möglich sein, die
Tiefenstrukturen des semantischen Eisbergs der Ökonomik in seiner Gesamtheit
offenzulegen.6 Stattdessen werde ich lediglich eine einzige und zugleich zentrale
Tiefenbohrung vornehmen: Warum wollen oder sollen Ökonomen und Öko-
nominnen von Anbeginn an ausschließlich auf einem unreflektierten Fundament
mathematischer Konzepte denken (lernen)? Was ist das eigentliche, wenngleich
auch tief verschüttete und deswegen eben unausgesprochene Motiv hierfür? Ich
stelle diese Fragen nach der Motivierung nicht ohne Grund. Gelten innerhalb
der Frame-Semantik die Motivierungen von Erkenntnis zu den grundlegendsten
semantischen Tiefenschichten von Wissen überhaupt: Menschen können Wörter
in ihrem Gebrauch nur dann angemessen verstehen, wenn sie zuvor implizit ein
bestimmtes, das jeweilige Wort ‚motivierendes‘ Wissen erworben haben (Busse
2012, S. 69):
„Die Frage nach der Motivierung für eine sprachliche (oder sprachlich realisierte)
Kategorie ist die Frage danach, welche Gründe eine Sprachgemeinschaft dafür
gehabt haben könnte, diese Kategorie hervorzubringen, die durch das Wort
repräsentiert wird, und ist damit eingebettet in den Versuch, die Wortbedeutung zu
erklären durch das Vorstellen und Aufklären dieser Gründe. […] Man versteht ein
Wort (kennt seine Bedeutung) nur, wenn man den motivierenden Hintergrund für
dieses Wort (gleichzusetzen mit dem Frame); den motivierenden Hintergrund zu
kennen, heißt (implizit) die Gründe zu kennen, die es dafür gibt, diese Kategorie in
einer Gesellschaft, einer Sprache, einer Kultur überhaupt zu haben und sie in einer
bestimmten Weise zu gebrauchen. Frames werden damit immer auch verstanden als
quasi Motivations-Zusammenhänge“ (Busse 2012, S. 229).
Motivationale Frames fungieren also gleichsam als grundlegende Slots jedes
menschlichen Know-howsund damit auch in der Wissenschaft: Wie Wissen-
schaft betrieben wird, hängt im tiefsten Grund mit der (verborgenen) Frage nach
den Zielsetzungen des wissenschaftlichen Denkens und Handelns ab. Je nachdem,
wie diese beantwortet (also als Slot mit einem bestimmten Filler versehen) wird,
bildet sich eine spezifische mentale Infrastruktur aus, die einem Baumstamm
gleich eine ganz Krone unterschiedlicher Verästelung in wissenschaftlichen Teil-
disziplinen zu tragen vermag.
6Hierzu entsteht derzeit eine Monographie von mir, die im Jahre 2020 veröffentlicht
werden soll.
126 S. Graupe
Für den Rest dieses Beitrags widme ich mich folglich der Explikation
des motivationalen Frames der Ökonomik, wobei ich zwei unterschiedlichen
Formen von Textmaterial frame-semantischen Untersuchungen unterziehen
werde. Es sind dies zum einen historische Quellen, in denen Ende des 19. Jahr-
hunderts die Grundlagen der neoklassischen Theorie gelegt wurden. In diesen
Quellen muss, so meine Hypothese das heutzutage Selbstverständliche noch so
neu gewesen sein, dass es noch explizit begründungsbedürftig war, und diese
Spuren der Explikation werde ich gleichsam ans Licht zu holen versuchen. Als
konkretes Untersuchungsmaterial werden mir dabei die einleitenden Kapitel
der Éléments d’économie politique pure von Léon Walras aus dem Jahre 1874
sowie Ausschnitte aus den Grundlagenwerken von Alfred Marshall (Principles
of Economics, 1890), William Stanley Jevons (The Theory of Political Economy,
1871), Ysidro Edgeworth (Mathematical Psychics: An Essay on the Applications
of Mathematics to the Moral Sciences, 1881) und Irving Fisher (Mathematical
Investigations In The Theory of Value und Prices, 1892) dienen. Als zweite Art
des Textmaterials werde ich Ausschnitte aus den Lehrbüchern von N. Gregory
Mankiw und Taylor (2014), Pindyck und Rubinfeld (2009) sowie von Varian
(2007) und von Samuelson und Nordhaus (2005) frame-semantisch unter-
suchen. Dabei lasse ich mich von der Hypothese leiten, dass sich zumindest
Spuren eines explizierbaren Verständnisses der motivationalen Tiefenstruktur
ökonomischen Denkens in gegenwärtigem didaktischem Textmaterial auffinden
lassen müssten, insofern diese Materialien uneingeweihte Anfänger einer Wissen-
schaft pädagogisch erstmalig mit besagten Konzepten, Modellen und Theorien
konfrontieren und dafür zumindest rudimentär Hinweise auf deren sinnhafte Ein-
bettung in kognitive Deutungsstrukturen geben müssten.
3 Begründung eines neuen motivationalen Frames
ökonomischen Denkens durch die Neoklassik.
Das Beispiel Léon Walras’
Beginnen wir mit einer frame-semantischen Analyse der ersten Seiten im Haupt-
werk von Walras.7 Dabei wird deutlich werden, wie der französische Ökonom und
Ingenieur einen neuen Frame mathematischer sozialwissenschaftlicher Analyse
7Aus Gründen der eigenen sprachlichen Kompetenz ebenso wie zumindest eines Teils
meiner Leserschaft stütze ich mich auf die englische Übersetzung der Èlements von William
Jaffé aus dem Jahre 1954. Eine komplette deutsche Übersetzung liegt bislang nicht vor (vgl.
Wal ra s 1972).
127„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
zu begründen versucht, ohne dabei auf ein vorgegebenes semantisches Deutungs-
gefüge aufbauen zu können. Stattdessen muss er sich an der Konstruktion eines
neuen Frames versuchen, das ihm vornehmlich durch explizite Opposition zu
den zu seiner Zeit in der Politischen Ökonomie (wie die Wissenschaft der Wirt-
schaft damals noch hieß) dominierenden Wissensgefügen einerseits und durch
metaphorische Anleihen bei den Naturwissenschaften andererseits gelingen wird.
Gleich zu Beginn seiner Überlegungen zitiert Walras den schottischen Moral-
philosophen Adam Smith:
„Political economy, considered as a branch of the science of a statesman or
legislator, proposes two distinct objects: first, to provide a plentiful revenue or
subsistence for the people, or more properly enable them to provide a revenue for
subsistence for themselves, and secondly, to supply the state or commonwealth
with a revenue for the public services. It proposes to enrich both the people and the
sovereign.“ (Smith zitiert in Walras 1954, S. 51 f.)
Was ist das Ziel der Politischen Ökonomie? Das Zitat von Smith lässt für diesen
Slot nur einen Filler zu: Sie hat den Reichtum zu mehren. Zugleich wird ein
weiterer Slot eröffnet, indem gefragt wird, in wessen Dienst die Politische Öko-
nomie sich zu stellen hat. Für diesen Slot existiert erneut nur ein Filler: Sie soll
eine Wissenschaft für den Staatsmann und den Gesetzgeber sein. Und für wen
soll sie in deren Dienste Reichtum schaffen? Hier verzweigen sich die Denk-
möglichkeiten in zwei Richtungen: Zum einen soll Reichtum für das Volk oder
die Bevölkerung, zum anderen Reichtum für den Staat und dessen öffentlichen
Leistungen geschaffen werden. Für Walras ist es selbstverständlich, dass damit
zwei unterschiedliche Bereiche markiert sind, die je für sich einen eigenen
Sub-Frame wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses oder -gebietes ausbilden und
dabei prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander stehen:
„To provide an income for the people and to supply the State with a sufficient
revenue are two operations of equal importance and delicacy, but very distinct in
character.“ (Walras 1954, S. 53)
Für den ersten Bereich der Politischen Ökonomie, der sich dem Reichtum bzw.
Einkommen der Bevölkerung widmet, führt Walras genauer aus:
„The first operation consists in placing agriculture, industry and trade in such
and such determinate conditions. According as these conditions are favourable or
unfavourable, the agriculture, industrial and commercial output will be abundant or
scanty.“ (ebd., S. 53)
128 S. Graupe
Und zum zweiten Bereich schreibt er:
„The problem of supplying the State with sufficient revenue is an entirely different
matter. In fact, this operation consists in deducting from individual outcomes the
amounts necessary to make up community income. This takes place under good
or bad conditions. The character of these conditions is determined not only by
the sufficiency or insufficiency of the State’s revenue, but also by the fairness or
unfairness with which the individuals are treated.“ (ebd.)
Es treten also zwei Erkenntnisbereiche auseinander, die gemeinsam die
Politische Ökonomie bilden. Ersteren bezeichnet Walras ohne Zögern oder
weitere Erklärung mit „praktischer Wissenschaft“ oder „Kunst“ und letzteren mit
„moralischer Wissenschaft“ oder „Ethik“ (vgl. etwa ebd., S. 61). Damit markiert
er sprachlich, wie selbstverständlich es zu seiner Zeit gewesen sein muss, die
Kunst und die Ethik nicht nur zur Politischen Ökonomie zu zählen, sondern sie
als ihre eigentlichen Kernbereiche anzusehen. Dies bedeutet zugleich, von einer
inhärent plural verfassten Wissenschaft auszugehen: Die Politische Ökonomie
kennzeichnet eine Einheit in Vielfalt (Ethik und Kunst bzw. moralische und
praktische Wissenschaft). Im Text von Walras existiert kein Hinweis darauf, dass
diese Einheit in Vielfalt zugunsten einer strikten Bevorzugung einer der beiden
(Teil-)Disziplinen aufzugeben wäre. Stattdessen gelingt es Walras mühelos (d. h.
ohne größere Erläuterungen), ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede klar zu
benennen, ohne dabei infrage zu stellen, dass sie beide zusammen die Politische
Ökonomie ausmachen.
Weiterhin fällt auf, dass Walras für beide Teilbereiche die gleichen wissen-
schaftlichen Aktivitäten vorsieht. So sollen sich Ökonomen auf beiden Feldern
aktiv und engagiert ins gesellschaftliche und politische Leben einbringen, indem
sie etwa Staatsmännern und Gesetzgebern Rat erteilen, ihnen Dinge vorschreiben
oder sie auf andere Weise führen (vgl. ebd., etwa S. 58 und 62). Zugleich ist es
dem französischen Ökonomen aber selbstverständlich, dass hierfür je eigene,
voneinander unterschiedene Beurteilungsmaßstäbe anzulegen sind:
„Thus the aim in procuring plentiful revenue for the people is practical expediency,
whereas in supplying the State with a sufficient revenue the aim is equity. Practical
expediency and fairness, or material well-being and justice, are two very different
orders of consideration“ (ebd., S. 54).
Und auch soll die Politische Ökonomie als Kunst nach dem „Nützlichen“, als
Ethik aber nach dem „Guten“ streben (vgl. ebd., S. 64).
129„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Abb. 1 gibt einen Überblick über den motivationalen Frame, wie ich ihn
in den vorangegangen Abschnitten am Beispiel Walras skizziert habe. Dabei
ist eine Darstellung gewählt, in der die Slots, d. h. die erkenntnisleitenden
Fragen, als Relationen und die Filler, d. h. die möglichen Antworten auf diese
Fragen, als Knoten dargestellt sind und sich so insgesamt der visuelle Eindruck
eines semantischen Netzes (einer mentalen Infrastruktur) der ursprünglichen
Politischen Ökonomie ergibt. Betrachtet man die Abbildung, so wird deutlich,
wie der motivationale Frame tatsächlich durch eine Einheit in Vielfalt gekenn-
zeichnet ist: Auf den unterschiedlichen Ebenen, d. h. in horizontaler Richtung,
finden sich mehrere Filler, die auf die gleichen erkenntnisleitenden Fragen
antworten und dabei zwar Differenzen markieren, zugleich aber stets mit Hilfe
inkludierende Verknüpfungen (etwa „und“ oder „gemeinsam“) verbunden sind.
Zudem finden die beiden vertikalen Verläufe, die die Unterschiedlichkeit der
beiden Subdisziplinen der Politischen Ökonomie als Ethik und als Kunst ver-
deutlichen, an bestimmten Stellen stets wieder zusammen. Sie entstehen aus dem
gleichen Anliegen (dem Ziel, Reichtum zu schaffen) und teilen später dann auch
wieder die Antwort auf die Frage der Art probater wissenschaftlichen Aktivitäten
(engagierter Teilhabe am gesellschaftlichen und politischen Leben im Sinne des
Ratgebens).
Doch damit ist das Verständnis der Politischen Ökonomie von Walras keines-
wegs erschöpft. Zwar würdigt er zunächst Adam Smith als „Vater der Politischen
Ökonomie“ und heißt das Ziel seiner Art, Wissenschaft zu betreiben, also das
Streben, den Reichtum zu mehren, gut. (ebd., S. 52). Zugleich aber hebt er dazu
an, das Smithschen Verständnis der Politischen Ökonomie zu delegitimieren:
„To provide a plentiful revenue for the people and to supply the State with a
sufficient income are incontestably most worthy aims. If political economy helps
to achieve this double purpose, it renders a signal service. But it seems to me that
this is not, strictly speaking, the object of a science. […] It must be pointed out that
political economy is not quite what Adam Smith thought. The primary concern of
the economist is not to provide a plentiful revenue for the people or to supply the
State with an adequate income, but to pursue and master purely scientific truth. […]
Hence Adam Smith’s definition is incomplete, because it fails to mention the aim of
political economy considered as a science strictly speaking.“ (Walras 1954, S. 52 f.)
Die rhetorische Strategie von Walras ist hier in mehrfacher Hinsicht bemerkens-
wert. Zunächst macht die gerade zitierte Textpassage deutlich, wie er ein neues
Selbstverständnis der Politischen Ökonomie anstrebt und zwar als einer
„Wissenschaft im engen Sinne“. In dieser soll kein Platz mehr für die bisherigen
Motivlagen sein. Stattdessen wird die Frage nach dem Ziel von Wissenschaft
130 S. Graupe
nun auf vollkommen andere Weise beantwortet. Neben den Filler „den Reichtum
mehren“, der zuvor als einzig mögliche Voreinstellung Default-Wert gesetzt
war, tritt nun ein anderer: Es soll der Wunsch und der Wille regieren, „die reine
wissenschaftliche Wahrheit zu verfolgen und zu beherrschen“. Dabei wird deut-
lich, dass es sich dabei keineswegs mehr um ein integratives Verständnis handelt.
Stattdessen formuliert Walras so, als müssten sich die beiden Zielsetzungen
diametral gegenüberstehen und wechselseitig ausschließen: Die Politische
Ökonomie ist nicht, was Smith dachte; ihr Interesse ist nicht, den Reichtum
What Goal?
Political Economy
Practical
Science / Art
Moral Science
/ Ethics
What
Subdiscipline?
Provision of
Plentiful
Revenue
For the People For the State
What
Subdiscipline?
For Whom?For Whom?
What Goal?
How to?
Achieve?
How to?
Achieve
Goodness
What
Criteria?
What
Criteria?
Usefulness
Political
Advice
Material
wellbeing Justice
Fairness
Equity
Plentifulness
Practical
Expediency
Advising
Deducing
Rules Prescribing
Directing
Abb. 1 Walras Frame der ursprünglichen Politischen Ökonomie. (Quelle: eigene Dar-
stellung)
131„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
zu mehren, sondern rein wissenschaftliche Wahrheiten zu verfolgen. Walras
erweitert auf diese Weise zwar das Spektrum möglicher Motive der Politischen
Ökonomie, doch setzt er diese zugleich in ein oppositionelles Verhältnis. Zudem
bereitet er unmittelbar eine neue Kategorie der Politischen Ökonomie vor, aus der
die Motivierung, den Reichtum zu mehren und damit für die Gesellschaft einen
Dienst zu leisten, prinzipiell ausgeschlossen sein soll. Es ist dies die Politische
Ökonomie als Wissenschaft im strengen oder eigentlichen Sinne.
In wessen Dienst aber soll diese neue Form der Politischen Ökonomie stehen?
Wem kann und wem soll sie dienen? Interessanterweise ist es Walras erst an
späterer Stelle möglich, diese Frage ausdrücklich zu beantworten, wenn er
etwa zwanzig Textseiten später anmerkt, „der Ökonom habe ein Recht, Wissen-
schaft um ihrer selbst willen zu betreiben“ (ebd., S. 71). Doch was soll das für
eine Sozialwissenschaft sein, die keinerlei weltliches Anliegen mehr verfolgt?
Walras vermag ihr zunächst nur einen neuen Namen zu geben eben jenen der
„reinen Wissenschaft“ –, sodass neben die Politische Ökonomie als Kunst und die
Politische Ökonomie als Ethik eine dritte mögliche Wissenschaftsform erwächst.
Was aber soll die Politische Ökonomie als „reine Wissenschaft“
charakterisieren? Die Aussage von Walras ist klar: Sie soll sich ein neues Vorbild
suchen, und dieses liegt weder auf dem weiten Feld der bisherigen Geistes- und
Gesellschaftswissenschaften noch in einer Praxis des Sozialen, sondern auf gänz-
lich anderem Felde: jenem der reinen Naturwissenschaften (vgl. im Folgenden
ebd., S. 52). Seine Argumentation verläuft dabei überwiegend metaphorisch: Der
Geodät8 vermag, schreibt Walras, rein theoretisch zu postulieren, dass ein gleich-
seitiges Dreieck auch gleichwinklig sein muss. Architekten und Bauingenieure
mögen daraus ein praktisch anwendbares Wissen machen, das etwa für die
Konstruktion und Erbauung eines Hauses nützlich ist, doch können sie keines-
wegs als wirkliche, reine Wissenschaftler gelten. Allein dem Geodäten ist diese
Bezeichnung vorbehalten. Und noch ein Beispiel gibt Walras: Nur der Astronom
soll strikt wissenschaftliche Aussagen etwa über die Umlaufbahnen der Planten
um die Sonne treffen können, während der Navigator diese Aussagen lediglich
zur Orientierung anzuwenden vermag. Auf die exakt gleiche Weise, so läuft das
Argument von Walras weiter, soll sich die reine Ökonomie von der praktischen
politischen Ökonomie unterscheiden lassen:
8Wir würden heute wohl eher von einem Mathematiker sprechen, der sich mit der Geo-
metrie beschäftigt.
132 S. Graupe
„Now the two lines of action of which Adam Smith speaks are analogous, not to
those of the geometer and the astronomer, but to those of the architect and the
navigator. Thus if political economy were simply what Adam Smith said it was, and
nothing else, it would certainly be a very interesting subject, but it would not be a
science in the narrow sense of the term“ (Walras 1954, S. 52).
Was aber kann dann der Ziel- und Fluchtpunkt dieser neuen Wirtschaftswissen-
schaft sein? Was sollen Ökonomen tun dürfen?
„It must be pointed out that political economy is not quite what Adam Smith
thought. The primary concern of the economist is not to provide a plentiful revenue
for the people or supply the State with an adequate income, but to pursue and master
purely scientific truth. That is precisely what economists do when they assert,
for example, that the value of a thing tends to increase as the quantity demanded
increases or as the quantity supplied decrease […].“ (ebd., S. 52)
Hier wird deutlich: Die Motivierung, die Ökonomen und Ökonominnen dazu
veranlasst, rein formale Aussagen über Märkte zu treffen, besteht im Kern darin,
eine reine Wissenschaft betreiben zu wollen, deren Ideal nicht in irgendwelchen
sozialen oder sonstigen weltlichen Bezügen, sondern allein in dem Willen zur
Imitation der (ebenfalls reinen) Naturwissenschaften liegt. Im Hinblick auf das
tatsächliche Tun des Wissenschaftlers oder der Wissenschaftlerin geht es dabei
um den unbedingten Anspruch, die Politische Ökonomie von einer verbalen zu
einer mathematisch verfassten Wissenschaft zu verwandeln:
„Pure mechanics ought to precede applied mechanics. Similarly, given the pure
theory of economics, it must precede applied economics; and this pure economics is a
science which resembles the physico-mathematical sciences in every respect. […] If
the pure theory of economics or the theory of exchange and value in exchange, that
is, the theory of social wealth considered by itself, is a physico-mathematical science
like mechanics or hydrodynamics, then economists should not be afraid to use the
methods and language of mathematics.“ (ebd., S. 71, Hervorhebung im Original)
Dieser Anspruch wird a priori erhoben: Die Motivierung, eine Wissenschaft
nach mathematischem Vorbild zu betreiben, soll vor jeglicher Betrachtung der
Wirklichkeit und vor jeder (wirtschaftlichen) Erfahrung feststehen. Sie bildet
gleichsam eine vorgegebene Brille, durch die der Ökonom oder die Ökonomin
auf die Welt schauen soll, ohne dass sie umgekehrt durch die Welt geprägt wäre.
Als Objekte wissenschaftlicher Untersuchungen können in der Folge nur noch
quantitativ messbare Phänomene dienen allen voran der preisförmig bewertete
Tauschwert. Und selbst dieser ist unmittelbar in ein rein mathematisches Gewand
133„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
zu kleiden und damit so zu idealisieren, dass sich tatsächlich rein kalkulierend
mit ihm hantieren lässt.
Es lohnt sich, die Überlegungen von Walras hier ein wenig ausführlicher zu
zitieren. Zunächst beschreibt er abstrakt die Prozedur naturwissenschaftlichen
Argumentierens, und zwar ohne jeden Bezug zur Politischen Ökonomie:
„The mathematical method is not an experimental method; it is a rational method.
Are the sciences which are strictly speaking natural sciences restricted to a pure
and simple description of nature, or do they transcend the bounds of experience?
I leave it to the natural scientists to answer this question. This much is certain,
however, that they physico-mathematical sciences, like the mathematical sciences,
in the narrow sense, do go beyond experience as soon as they have drawn their
type concepts from it. From real-type concepts, these sciences abstract ideal-type
concepts which they define, and then on the basis of these definitions they construct
a priori the whole framework of their theories and proofs. After that they go back to
experience not to confirm but to apply their conclusions.“ (ebd., S. 71)
Sodann vermag er auf dieser Basis konkrete Praktiken innerhalb der Naturwissen-
schaften zu beschreiben:
„Everyone who has studied any geometry at all knows perfectly well that only in an
abstract, ideal circumference are the radii all equal to each other and that only in an
abstract, ideal triangle is the sum of the angles equal to the sum of two right angles.
Reality confirms these definitions and demonstrations only approximately, and yet
reality admits of a very wide and fruitful application of these propositions.“ (ebd.)
Weiterhin fordert Walras von Ökonomen, es dem Naturwissenschaftlicher exakt
gleichzutun:
„Following this same procedure, the pure theory of economics ought to take over
from experience certain type concepts, like those of exchange, supply, demand,
market, capital, income, productive services and products. From these real-type
concepts the pure science of economics should then abstract and define ideal-type
concepts in terms of which it carries on its reasoning. The return to reality should
not take place until the science is completed and then only with a view to practical
applications. Thus in in an ideal market we have ideal prices which stand in an exact
relation to an ideal demand and supply“ (ebd.).9
9Interessant ist, dass Walras in dieser Passage bereits den Begriff economics nutzt (den ich in
diesem Beitrag mit Ökonomik übersetze) – und nicht mehr dem der Politischen Ökonomie.
Diesen Umbruch in der Begrifflichkeit vollzieht auch Alfred Marshall, worauf ich später in
diesem Beitrag eingehen werde – allerdings nur kursorisch. Vgl. ausführlicher Graupe 2019.
134 S. Graupe
Mithilfe dieser Zitate wird deutlich, wie sehr die Argumentation ihre Kraft
nahezu ausschließlich durch den (metaphorischen) Bezug auf die reinen Natur-
wissenschaften und damit auf eine rein geistig-wissenschaftliche Prozedur erhält.
Nicht die Beschäftigung mit der ökonomischen Wirklichkeit, sondern der Wunsch
und der Wille, sich am Vorbild abstrakter Naturwissenschaften zu orientieren,
weist dem Tun des Ökonomen den Weg. Der Ökonom soll rechnen, nicht,
weil damit wie im Falle der Politischen Ökonomie als Kunst oder als Ethik ein
praktisches Ziel zu erreichen wäre, sondern weil sich auf diese Weise ein wissen-
schaftliches Ideal verwirklichen lässt. Erst die Theorie, dann die Praxis, so lässt
sich hier die Devise auf den Punkt bringen.
Damit wandeln sich auch die Vorstellungen über die legitimen und
anzustrebenden Aktivitäten innerhalb der Politischen Ökonomie: Nicht mehr
um Teilhabe, Engagement und Gestaltung des wirtschaftlichen und politischen
Lebens geht es, sondern darum, eine sichere Distanz zu den Untersuchungs-
objekten einzunehmen, sodass diese sich lediglich entdecken, beobachten und
beschreiben (vgl. ebd., S. 58) bzw. identifizieren, verifizieren und erklären (vgl.
ebd., S. 61) lassen.10 Zugleich wandeln sich auch die Beurteilungsmaßstäbe, die
an diese Aktivitäten sinnvoll anzulegen sind: Weder um materielles Wohlergehen
geht es noch um Fairness und Gerechtigkeit. Stattdessen rückt das Kriterium der
Wahrheit in den Fokus:
„Indeed the distinguishing characteristic of science is the complete indifference to
consequences, good or bad, with which is carries on the pursuit of pure truth.“ (ebd.,
S. 52)
Dabei handelt es sich bei der „reinen Wahrheit“ um eine rationale Wahrheit,
die jenseits der Welt der Erfahrung im Reich des reinen Denkens wie im Falle
der Mathematik handeln soll (vgl. ebd. S. 71) und die als drittes Kriterium der
Politischen neben die der Dienlichkeit und des Guten tritt:
„Such, then, are the distinguishing characteristics of science, art and ethics. Their
respective criteria are the true; the useful meaning material well-being; and the
good, meaning justice.“ (ebd., S. 64)
10Welche Form des kühlen Gleichmuts, der Mitleidlosigkeit als legitime Form wissen-
schaftlicher Praktik, anders gesagt als epistemische Tugend sich hierhinter verbirgt, ana-
lysiere ich genauer in Graupe (2014).
135„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Abb. 2 visualisiert den gesamten motivationalen Frame der Politischen Öko-
nomie, wie er sich frame-semantisch aus dem Werk von Walras rekonstruieren
lässt. Im Vergleich zur Abb. 1 findet sich der Zweig der Politischen Ökonomie
als reiner Wissenschaft ergänzt. Zunächst fällt auf, dass sich damit insgesamt
ein nochmals pluraleres Verständnis der Politischen Ökonomie ergibt, wobei
sowohl unterschiedliche Zielvorstellungen als auch legitime Aktivitäten und
Beurteilungsmaßstäbe zumindest prinzipiell gleichberechtigt nebeneinander
stehen. Zugleich findet sich aber der Frame der Politischen Ökonomie als rein
wissenschaftliche Aktivität bereits von den anderen beiden Frames isoliert.
Denn während sich die Politische Ökonomie als Kunst und Ethik untereinander
verschiedene Slots und Filler teilen, so ist dies bei der Politischen Ökonomie
als reiner Wissenschaft nicht der Fall. Sie findet sich von den anderen beiden
Wissenschaftsformen stattdessen klar abgesetzt, weil sie keinerlei Ziele und
Anliegen teilt, nicht die gleiche Gruppe von Menschen anspricht und über ein
eigenes Gütekriterium (das der wissenschaftlichen Wahrheit) sowie über eigene
What Goal?
Political Economy
Practical
Science / Art
Moral Science
/ Ethics
What
Subdiscipline?
Provision of
Plentiful Revenue
For the PeopleFor the State
What
Subdiscipline?
For whom?
For whom?
What Goal?
How to?
Achieve?
How to?
Achieve?
Goodness
What
Criteria?
What
Criteria?
Usefulness
Political Advice
What
Subdiscipline?
Pure Science
Pursuit of Purely
Scientific
What Goal?
For its own sake
Scientific Truth
What
Criteria?
Theoretical
Contemplation
How to?
For Whom?
Natural Science
Abb. 2 Walras II. (Quelle: eigene Darstellung)
136 S. Graupe
legitime wissenschaftliche Aktivitäten verfügt. Ihre mentale Infrastruktur – das
Netz von Kanten und Knoten, von Slots und Fillern – verläuft vollständig in
anderen Bahnen, und es scheint als würde ein Graben zwischen ihren Bahnen
und jenen der Politischen Ökonomie als Kunst oder Ethik verlaufen, der durch
wertende Abgrenzungen auf jeder Ebene nochmals verstärkt wird. Es ließe sich
argumentieren, dass sich hier nicht weniger als die Grundlegung eines neuen
Paradigmas visuell veranschaulicht findet (vgl. Kuhn 1976).
4 Semantische Strategien des Paradigmenwechsels
Wie aber gelingt es Walras, seinen Paradigmenwechsel, der anschaulich
gesprochen dem Anlegen einer neuen mentalen Autobahn gleicht, plausibel zu
machen? Ich möchte im Hinblick auf diese Frage vier semantische Strategien
skizzieren, die hierfür von Bedeutung sind.
4.1 Reframing
Die erste Strategie besteht in einer Rekontextualisierung bzw. einem Reframing.
Gerade lautete meine These, dass sich in Walras’ Éléments nicht weniger als ein
Paradigmenwechsel auf der Ebene der Motivierung und damit in der tiefsten
Tiefe des semantischen Eisbergs vollzieht, der einen vollständigen Bruch mit den
zuvor gewohnten Bahnen des Denkens innerhalb der bisherigen Politischen Öko-
nomie bedeutet. Zugleich argumentiert aber Walras nicht jenseits aller Bahnen
des traditionellen ökonomischen Denkens. Doch versteht er es geschickt, ihren
Bezugspunkt radikal zu wandeln. Denn seine Rhetorik gewinnt ihre Über-
zeugungskraft nicht mehr aus den althergebrachten Frames der politischen Öko-
nomie als Kunst und als Ethik, sondern dadurch, dass er die Naturwissenschaften
gleichzeitig zum Ideal, zum Vorbild und zur Quelle der neuen reinen Wirtschafts-
wissenschaft erhebt. So vermag er etwa, wie ich bereits skizziert habe, zwar
nicht explizit zu sagen, was ein „reiner Ökonom“ genau tun soll, um nach reiner
Wahrheit zu streben. Aber er versteht es, das Denken seiner Leser mit Hilfe von
Metaphern so anzuleiten, dass sie beginnen, sich ihn wie einen Astromomen oder
wie einen Mathematiker der (reinen) Geometrie vorzustellen. Das Denken ver-
mag damit einen neuen Bezugspunkt zu gewinnen, aus dem zwar keine ausdrück-
liche Begrifflichkeit, wohl aber Inferenzen bzw. Implikationen abgeleitet werden
können. Dies bedeutet in der Sprache der Frame-Semantik, dass neue Quellen
des „Ergänzens“ und „Erschließens“ erschlossen werden (vgl. etwa Busse 2012,
137„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
S. 262), um das eigene Argument in einen stützenden alternativen, wenngleich im
Falle von Walras lediglich metaphorischen Deutungsrahmen einzulassen.
Allgemeiner gesagt, wird am Beispiel Walras deutlich, wie sich in der Neo-
klassik eine erhebliche, ja radikale Rekontextualisierung wissenschaftlicher
Argumentation vollzieht. Indem Walras immer wieder Anleihen bei den Natur-
wissenschaften nimmt, ohne dies je explizit zu begründen, gelingt es ihm, die
Politische Ökonomie aus ihren früheren Bezügen der praktischen Frage nach
Wohlstand zu reißen und gleichsam mitsamt ihres Wurzelwerkes in den Kontext
abstrakter Wissenschaften umzutopfen. So lässt er diese Sozialwissenschaft etwa
in die Aura des „Wahren“ und „Richtigen“ ein, wie sie den Naturwissenschaften
bereits im 19. Jahrhundert eigen gewesen ist, aber zuvor keine Bedeutung für die
moralischen und praktischen Wissenschaften gehabt hatte.11
4.2 Abwertung der bisherigen Tradition
Die zweite Strategie besteht in der rhetorischen Abwertung der bisherigen Tradition.
Ein wichtiger Kampfplatz bildet dabei das Ringen nicht so sehr um Deutungshoheit
über den Begriff der Politischen Ökonomie, sondern um jenen der Wissenschaft
bzw. des Wissenschaftlichen selbst. Kunst und Ethik mögen zwar für Walras noch
zur Politischen Ökonomie gehören, sie können aber keine Wissenschaft im eigent-
lichen Sinne mehr darstellen und werden so an den Rand des Wissenschaftlichen
gedrängt. Ich werde gleich noch zeigen, wie andere Neoklassiker nicht zögern,
sogar noch einen Schritt weiter zu gehen und sie aus dem Bereich des Wissenschaft-
lichen überhaupt zu verbannen (worin ihnen später die ökonomischen Standardlehr-
bücher folgen werden). Doch bereits bei Walras finden sich Abwertungsstrategien,
die bis ins Polemische reichen. So schreibt er etwa am Schluss seiner einführenden
wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Überlegungen:
„As to mathematical language, why should we persist in using everyday language to
explain things in the most cumburous and incorrect way, as Ricardo has often done,
and as John Stuart Mill does repeatedly in this Principles of Political Economy,
when the same things far more succinctly, precisely and clearly in the language of
mathematics?“ (Walras 1954, S. 73)
11Dabei ist nicht zuletzt auch die Begriffsbildung der reinen Wissenschaft bemerkenswert,
da das Adjektiv „rein“ in einen Frame positiver (emotionaler) Bezüge eingelassen ist und
seine unreflektierte Verwendung im wissenschaftlichen Kontext deswegen Zustimmung
zu erheischen vermag, ohne je genau zu explizieren, was „Reinheit“ im Kontext der
Politischen Ökonomie überhaupt bedeuten könnte.
138 S. Graupe
Dieses Beispiel zeigt, wie eine Denkstruktur geschaffen wird, die die unter-
schiedlichen Wissenschaftsformen gleichsam in Schwarz und Weiß einteilt und
die guten Eigenschaften allein der Politischen Ökonomie als reiner Wissenschaft
zuordnen – und dies in klar wertender Weise.
4.3 Neue Perspektivierung
Eine dritte Strategie begründet sich darin, eine neue Perspektivierung zu schaffen:
„Frames schaffen Perspektiven. Zu den […] wichtigsten Eigenschaften von Frames
[…] gehört, dass sie ein und dieselbe Szene in unterschiedlichen Perspektiven
beleuchten können“ (Busse 2012, S. 65).
Zwar ist richtig, dass Walras noch den gesamten motivationalen Frame der
Politischen Ökonomie des 19. Jahrhunderts überblickt. Seine Blicke auf die
Zweige der Kunst und der Ethik erfolgen aber fast ausschließlich aus der
Perspektive des Zweigs der reinen Wissenschaft. Dabei besteht seine rhetorische
Strategie darin, diesen Zweig zunächst als ebenbürtig zu etablieren (was zu seiner
Zeit keineswegs eine Selbstverständlichkeit war) und sodann als überlegen dar-
zustellen. Die Kriterien für diese Überlegenheit nähren sich dabei allerdings
nicht aus einem nochmalig übergeordneten Standpunkt, sondern eher aus den
Beurteilungs- und Wertmaßstäben, die innerhalb des Zweigs der reinen Wissen-
schaft dominieren – allen voran der Wahrheit und der Reinheit und daraus
abgeleiteter Kriterien wie jene der Präzision und Klarheit. Minsky schreibt:
„Each view has its own questions. Separate views speak mostly past each other.
Occasionally, of course, they speak to the same issue and then comparison is
possible, but not often and not on demand“ (Minsky 1974, S. 60).
Entscheidend ist dabei nicht nur, wie die Beurteilungsmaßstäbe artikuliert,
sondern auch, wie sie zumeist unterschwellig – angewendet werden. So wird
bei Walras deutlich, wie er die unterschiedlichen Maßstäbe der Politischen Öko-
nomie als Kunst, Ethik und reiner Wissenschaft zwar durchaus neutral benennen
kann: Die erste strebt nach materiellem Wohlergehen und dem Nützlichen, die
zweite nach dem Guten, der Fairness und der Gerechtigkeit und die dritte nach
der Wahrheit. Doch vermeidet er es tunlichst, von den beiden erst genannten
Gruppen von Maßstäben praktisch Gebrauch zu machen. Er nutzt sie schlicht
nicht, sondern färbt seinen gesamten Text gleichsam wie durch die Brille des
139„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Strebens nach Wahrheit ein. Damit wird eine normative Komponente gesetzt,
und zwar im Hinblick auf das Sollen der Erkenntnis. Geht es doch darum, eine
bestimmte kognitive Struktur nicht nur zur Anwendung bringen zu wollen,
sondern dies auch als ein Müssen zu formulieren. Es sei hier als Beispiel noch-
mals die folgende Passage zitiert:
„Pure mechanics surely ought to precede applied mechanics. Similarly, given the
pure theory of economics, it must precede applied economics; and this pure theory
of economics is a science which resembles the physico-mathematical sciences in
every respect.“ (Walras 1954, S. 71, meine Hervorhebung)
4.4 Alternative Praktiken schaffen
Werden Frames wie in Abb. 1 und 2 visualisiert, so gilt, dass die oberen
Ebenen von den unteren gleichsam gesteuert werden. Wie eine Lotusblume
nur aus einem bestimmten Teichsediment emporwachsen kann, so erhält die
anzustrebende wissenschaftliche Aktivität theoretischer Kontemplation mit ihren
Unteraktivitäten des Beobachtens, Beschreibens und Verifizierens ihre Sinnhaftig-
keit nur vor dem Hintergrund des Ziels, eine reine Wissenschaft betreiben zu
wollen. Im Kontext eines anderen Ziels (etwa jenem, Staatsmännern und Gesetz-
gebern helfen zu wollen, oder den Reichtum zu mehren) müssen diese Aktivitäten
hingegen als weitgehend sinnlos erscheinen. Frame-semantisch gesprochen meint
dies, dass die theoretische Kontemplation stets schon das Ideal reiner Wissen-
schaft präsupponiert. Sie setzt es, wo immer sie praktisch betrieben wird, voraus
– auch, ja gerade dann, wenn sie dies nicht ausdrücklich sagt.
Diese Strategie hat bedeutsame Implikationen für den motivationalen Frame
der Politischen Ökonomie. Walras nennt auf den ersten Seiten seines Werkes zwar
noch verbal, wie gesagt, die Subframes der Kunst und der Ethik. Doch vermögen
sie praktisch sodann in seinem gesamten Werk keine Rolle mehr zu spielen.
Stattdessen animiert Walras seine Leser allein dazu, die in und durch den Frame
einer reinen Wissenschaft legitimierten Aktivitäten nachzuvollziehen. Wollen
seine Leser ihm folgen, so können sie nicht anders, als diese wissenschaftlichen
Praktiken wieder und wieder zu imitieren. Bzgl. der durch die anderen (Sub-)
Frames legitimierten Aktivitäten hingegen können sie keinerlei Erfahrung mehr
machen und folglich auch keine Expertise darin sammeln. Mag es ihnen auch
noch so relevant erscheinen, sich aktiv für das materielle Wohlergehen, für Fair-
ness und Gerechtigkeit einzusetzen, es werden ihnen in der Praxis der Neoklassik
als reiner Wissenschaft hierfür keinerlei konkrete Möglichkeiten mehr geboten.
Ihre geistigen Fähigkeiten drohen diesbezüglich zu verkümmern.
140 S. Graupe
5 Der Totalverlust pluraler Motivierungen: Das
Beispiel Marshalls, Jevons, Edgeworths und
Fishers
Walras war bekanntlich zu seiner Zeit noch wenig erfolgreich. Seine eigentliche
Wirkungsgeschichte folgt daraus, dass Arrow und Debreu in den 1950er-Jahren
Teile seines Gesamtmodells neu formuliert haben, dieser Ansatz gilt später als
Basis einer neuen Neoklassik. Dabei gerieten u. a. spezifische Interpretationen
der ersten Neoklassik durch Alfred Marshall in Vergessenheit, die vor allem in
Großbritannien dominant gewesen waren, z. B. seine biologischen Metaphern.
Marshall fordert auch verbal eine Ökonomik als reiner Wissenschaft nach dem
Vorbild der reinen Naturwissenschaft, kommt aber dieser Forderung in seinem
Hauptwerk (Princinciples of Economics, 1890) außerhalb ihrer mathematischen
Anhänge faktisch kaum nach. Es mangelt seinem Werk schlicht an der Strategie,
das Knowing-how der Ökonomie als Wissenschaft praktisch zu verändern. Aber
zwei andere semantischen Strategien bei Marshall werden in der neuen Neo-
klassik aufgegriffen (auch als Folge der Neudeutung der Ökonomik durch Lionel
Robbins, An Essay on the Nature and Significance of Economic Science 1932),
die hier zumindest kurz erwähnt werden: Erstens wertet Marshall die Frames der
Kunst und der Ethik aus der Wissenschaft nicht mehr nur verbal ab, wie es bei
Walras der Fall ist, sondern drängt sie vollständig aus dem Grundverständnis des
Wissenschaftlichen heraus – und verbannt sie ins Alltägliche, in den Common
Sense. Hinsichtlich moralischer und praktisch-politischer Frage, soll der Ökonom
nicht mehr sagen können, als der Mann auf der Straße:
„The question [of freeing people from the pains of poverty, S.G.] cannot be fully
answered by economic science. For the answer depends partly on the moral and
political capabilities of human nature, and on these matters the economist has no
special means of information: he must do as others do, and guess as best he can.
But the answer depends in great measure upon facts and inferences, which are
within the province of economics; and this it is which gives to economic studies
their chief and high interest“ (Marshall 2013, S. 29, meine Hervorhebung).
Damit vollzieht sich eine dramatische Verengung des Frage- und Antwortraumes
der Politischen Ökonomie. Denn den Frames der Kunst und der Ethik, die die
moralischen und politischen Fähigkeiten des Menschen ja gerade befähigen
und strukturieren helfen sollen, wird jeder ökonomisch-wissenschaftliche
Anspruch abgesprochen. Damit wird die vormals ureigene Aufgabe der Öko-
nomie als Kunst und Ethik, Gesetzgebern und Staatsmännern praktischen Rat zu
141„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
erteilen, eliminiert: kein Ökonom soll hierzu besser befähigt sein als der normale
Mensch.12
Zweitens werden die Kunst und die Ethik der reinen Wissenschaft in gewisser
Weise nachgelagert. Sie markieren fortan nur noch Bereiche angewandter
Wissenschaft, denen die reine Wissenschaft systematisch vorausliegen soll.
Damit aber verlieren sie ihre Eigenständigkeit: In ihren Bereichen soll nur das zur
Geltung kommen dürfen, was woanders bereits exakt vorgedacht worden ist. Es
ist, als dürften sie ihre eigenen Werkzeuge des Denkens nicht mehr schmieden,
sondern müssten es zulassen, wenn mit fremden Werkzeugen ihr vormals
ureigenes Terrain beackert wird.13 So heißt es etwa:
„Economics has then as its purpose to acquire knowledge for its own sake, and
secondly to throw light on practical issues. But though we are bound, before
entering on any study, to consider carefully what are its uses, we should not plan
out our work with direct reference to them. For by so doing we are tempted to break
off each line of thought as soon as it ceases to have an immediate bearing on that
particular aim which we have in view at the time: the direct pursuit of practical aims
leads us to group together bits of all sorts of knowledge, which have no connection
with one another except for the immediate purposes of the moment; and which
throw but little light on one another. Our mental energy is spent in going from one
to another; nothing is thoroughly thought out; no real progress is made(Marshall
1920, S. 50–51, meine Hervorhebung).
Durch diese zwei Strategien verliert die Politische Ökonomie sowohl als
Kunst als auch als Ethik endgültig ihren Anspruch, Wissenschaft sein
zu können. Zentral ist dabei, dass dieser Verlust bei Marshall auch einen
sprachlich-definitorischen Ausdruck annimmt. Die Wissenschaft von der Wirt-
schaft soll seines Erachtens fortan nicht mehr Politische Ökonomie, sondern
Economics heißen; ein Begriff, den ich in diesem Beitrag konsequent mit Öko-
nomik übersetze:
“But it [economics, S.G.] shuns many political issues, which the practical man
cannot ignore; and it is therefore a science, pure and applied, rather than a science
and an art. And it is better described by the broad term ‘Economics’ than by the
narrower term ‘Political Economy’.“ (ebd., S. 53)
12Vgl. für eine genauere Ausführung Graupe 2019.
13Vgl. für eine genauere Ausführung erneut Graupe 2019.
142 S. Graupe
Abb. 3 visualisiert am Beispiel Marshalls, wie die Filler der einstigen Politischen
Ökonomie aus der Vorstellung des Wissenschaftlichen vollständig verschwindet
und die Economics, die Ökonomik also, an ihre Stelle treten können. Allein die
reine Wissenschaft vermag nun noch als Ausgangspunkt für das ökonomische
Denken zu dienen, und auf ihr errichtet sich eine mentale Infrastruktur, die
einer Einbahnstraße gleich Kurs auf die rein theoretische Kontemplation als
einzig legitime wissenschaftliche Aktivität nimmt. Die einstigen Denkwege
der Politischen Ökonomie – jener der angewandten und jener der moralischen
Wissenschaft – finden sich hingegen systematisch von der Ökonomik abgetrennt.
Sie nehmen ihren Ausgang nun allein im Common Sense, der sich klar in
Opposition zur Wissenschaft gesetzt sieht. Zugleich verliert sich ihr eigentlicher
Ziel- und Fluchtpunkt, der vormals im politischen Ratgeben lag, im Vagen und
Dunkeln. Denn sowohl bzgl. ihrer Kriterien als auch ihrer legitimen Aktivitäten
weisen sie substantiell semantische Leerstellen auf.
What Goal?
Common Sense
Practical
Capability
Moral
Capability
Provision of
Plentiful Revenue
For the People
What kind?
For Whom?
What Goal?
Pure Science
Pursuit of
Purely Scientific
What Goal?
For its own sake
Scientific Truth
What
Criteria?
Theoretical
Contemplation
How to?
For Whom?
Economics
What kind?Character?Natural Science
?
Abb. 3 Marshall. (Quelle: eigene Darstellung)
143„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Diese radikale Beschränkung der Wissenschaft der Wirtschaft auf die Öko-
nomik wird durch Neoklassiker wie William Stanley Jevons (The Theory of
Political Economy, 1871), Francis Ysidro Edgeworth (Mathematical Psychics:
An Essay on the Applications of Mathematics to the Moral Sciences, 1881) und
Irving Fisher (Mathematical Investigations In The Theory of Value und Prices,
1892) nochmals verstärkt.14 Insbesondere fällt bei diesen Autoren auf, dass sie
eine Alternative zur Ökonomik kaum mehr auch nur nennen. Vielmehr findet von
vornherein und nahezu begründungslos eine Fokussierung auf diese eine Wissen-
schaftsform nach dem Vorbild der Physik und Mathematik statt. So schreibt
Jevons am Anfang seiner Theory of Political Economy (hier in ihrer vierten Auf-
lage aus dem Jahre 1911 zitiert):
„It is clear that Economics, if it is to be a science at all, must be a mathematical
science. There exists much prejudice against attempts to introduce the methods and
language of mathematics into any branch of the moral sciences. Many persons seem
to think that the physical sciences form the proper sphere of mathematical method,
and that the moral sciences some other method, I know not what. My theory of
Economics, however, is purely mathematical in character. Nay, believing that the
quantities with which we deal must be subject to continuous variation, I do not
hesitate to use the appropriate branch of mathematical science, involving though it
does the fearless considerations of infinitely small quantities. The theory consists
in applying the differential to the familiar notions of wealth, utility, value, demand,
supply, capital, interest, labour, and all the other quantitative notions belonging
to the daily operations of industry. As the complete theory of almost every other
science involves the use of that calculus, so we cannot have a true theory of
Economics without its aid“ (Jevons 1911, S. 3).
Man spürt hier förmlich, wie das Ringen um die pluralen Motivierungen einstigen
politischen Ökonomie, wie es noch das Werk von Walras noch prägt, keinerlei
Rolle mehr spielt. Denn gleich zu Beginn aller Argumentation steht bereits der
(Sub-)Frame der reinen Wissenschaft als eindeutiger, nicht weiter hinterfrag-
barer Default-Wert fest: Er erscheint als einzig möglicher Frame der Ökonomie
als Wissenschaft überhaupt. Die Wissenschaft von der Wirtschaft ist von vorn-
herein reine mathematische Wissenschaft, ist bloße Ökonomik, und neben der
mathematischen Methode existieren keine anderen möglichen Wege des Denkens
mehr. Die moralische Wissenschaft wird zwar als solche noch als Begriff
genannt, ihr aber keinerlei Gestalt mehr geben. „I know not what“, formuliert
14Ihnen folgen dann, so meine ich, ohne es hier eigenes begründen zu können, (ohne
explizite Debatte) Arrow und Debreu.
144 S. Graupe
Jevons treffend: Er weiß oder will um diese noch nicht einmal mehr wissen. Das
Streben nach und Beherrschen von rein wissenschaftlichen Wahrheiten wird als
einziges legitimes Ziel von vornherein zementiert, bevor irgendeine Form aktiven
bewussten Nachdenkens einsetzen könnte, und auch der Maßstab der Wahrheit
gilt damit als gesetzt. Ökonomik kann nichts mehr anderes als wahre Theorie
sein, und diese Theorie wird von vornherein klar auf die reine Mathematik fest-
gelegt.
Dass dieses nicht einfach nur einen Verlust an Kreativität bedeutet, sondern
auch zu neuen Ausprägungen der mentalen Infrastruktur führen kann, zeigt
die gerade zitierte Passage von Jevons Theory deutlich auf. Denn während
Walras den Bereich der legitimen wissenschaftlichen Aktivitäten nur sehr all-
gemein mit Verben wie „beobachten“, „beschreiben“ etc. zu markieren ver-
mag, vermag Jevons nun sehr präzise zu formulieren: Zu Theoretisieren heißt,
das mathematische Konzept des Differentials auf alles in der Wirtschaft anzu-
wenden. Damit geht der Großteil der Freiheit in den Fragen zu der Motivierung
ökonomischen Denkens verloren. Das gesamte Motiv, warum Ökonomie zu
betreiben sei, findet sich wie auf einen Stecknadelkopf zusammenschrumpft:
auf einen winzigen Trittstein im weiten Meer der Denkmöglichkeiten, der im
Wunsch und Willen besteht, der Analysis als Teilgebiet der Mathematik unmittel-
bar nachzueifern. Zugleich aber lässt sich damit ein neuer Grad an Präzision und
Spezialisierung, gleichsam eine Kreativität im Detail erlangen.
Ist diese Motivierung, Ökonomik zu betreiben, erst einmal auf die Praxis einer
ganz bestimmten Form der Mathematik geschrumpft, so kann es selbstverständlich
keine eigenständige Politische Ökonomie als praktischer oder moralischer Wissen-
schaft mehr geben – nicht einmal als bloße imaginative Möglichkeit.15 Stattdessen
müssen nun selbst alle „alltäglichen Operationen“ ausschließlich mit Denkwerk-
zeugen bearbeitet werden, die jenen der Mathematik nachempfunden sind. So mag
es zwar durchaus noch ‚moralische‘ Themen geben, nicht aber moralische Formen
des Knowing-hows. Mit noch mehr Pathos als im Werk von Jevons vermögen die
Mathematical Psychics von Edgeworth dies auf den Punkt zu bringen:
15Konsequenterweise plädiert Jevons ebenso wie Marshall ab der 2. Auflage seines Werkes
aus dem Jahre 1879 dafür, den Begriff der Politischen Ökonomie gänzlich aus dem Sprach-
gebraucht zu tilgen. „I may mention the substitution for the name Political Economy of the
single convenient term Economics. I cannot help thinking that it would be well to discard,
as quickly as possible, the old troublesome double-worded name of our Science. Several
authors have tried to introduce new names, such as Plutology, Chrematistics, Catallactics,
etc. But why do we need anything better than Economics? This term, besided being more
familiar and closely reltaed to the old term, is perfectly analogous in form to Mathematics,
Ethics, Aesthetics, and the names of various other branches of knowledge.“ (ebd., S. xiv).
145„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
„‘Mecanique Sociale’ may one day take her place along with ‘Mecanique Celeste’,
throned upon the double-sided height of one maximum principle, the supreme
pinnacle of moral as of physical science. As the movements of each particle,
constrained or loose, in a material cosmos are continually subordinated to one
maximum sum-total of accumulated energy, so the movements of each soul whether
selfishly isolated or linked sympathetically, may continually realising the maximum
energy of pleasure, the Divine love of the universe. (…) The invisible energy of
electricity is grasped by the marvelous methods of Lagrange, the invisible energy of
pleasure may admit of a similar handling.“ (Edgeworth 1881, S. 12 f.)
Nichts scheint dieser Unterwerfung unter eine einzige Form theoretischer
Kontemplation mehr entkommen zu können: Alles in der sozialen Welt kann
dieser Perspektive unterworfen worden – selbst dann, wenn es bedeutet, den
Menschen nur noch als Maschine erkennen zu können. Denn auch dies dient eben
der Motivierung, Ökonomik nach mathematischen Vorbild zu betreiben:
„At least the conception of Man as a pleasure machine may justify and facilitate
the employment of mechanical terms and Mathematical reasoning in social science“
(ebd., S. 15).
Aus meiner Sicht kann man die im wahrsten Wortsinn denk-würdige Umkehrung
der Argumentation, die hier vollzogen wird, in ihrer Bedeutung für das Know-how
der neoklassischen Theorie kaum überbetonen: Nicht etwa weil der Mensch
wie eine Maschine handelte, wird er der mathematischen Berechnung unter-
zogen, sondern er wird wie eine Maschine gedacht, weil es den Gebrauch
mathematischen Denkens ermöglicht und rechtfertigt. Es ist das Streben nach einer
ganz bestimmten theoretischer Kontemplation, nicht die Realität, die die wissen-
schaftliche Erkenntnis an eine spezifische Form der Mathematisierung bindet.
Mit ihm wird zugleich auch eine neue Form der Kreativität entfesselt: Die schier
unerschöpfliche Freiheit, sich alles in der sozialen Welt nach mathematischen
Kriterien rein zu imaginieren. Keine Sphäre des sozialen wie auch individuellen
Handelns kann sich diesem Blick, dieser methodischen Brille mehr entziehen.
Allerdings reflektieren Jevons, Edgeworth und Fisher, wenn überhaupt, kaum
mehr als ein paar Seiten explizit über diese gravierend gewandelte methodische
Voreinstellung. Stattdessen gehen sie in ihren Werken schnell dazu über, die
Ökonomik als Anwendungsgebiet des mathematischen Differentialkalküls zu
praktizieren. So benötigen insbesondere Fishers Mathematical Investigations
kaum mehr als zwei Seiten, um zum ersten konkreten mathematischen Definition
der „Nützlichkeit“ zu kommen; keine Seite später vermag er schon den „Grenz-
nutzen“ als „Differentialquotienten“ in Form einer Gleichung zu bestimmen (vgl.
Fisher 1926, S. 13).
146 S. Graupe
Nützlichkeit, im Frame von Walras noch ein genuin eigenständiger
Wertmaßstab der Politischen Ökonomie verstanden als Kunst, die sich praktisch
mit dem Reichtum der Bevölkerung und seiner Mehrung beschäftigt, mutiert
damit beispielsweise zur bloßen Funktion innerhalb eines mathematischen
Kalküls und damit zu einem bloßen Objekt der reinen Ökonomik: Sie ist allein
noch als bloß Funktion U zu denken und wird damit „exakt parallel zu denen
anderer mathematischen Größen“ gedacht (ebd., S. 12):
„Before mechanics was a science, ‚force‘ stood for a ‚common sense‘ notion
resolvable in the last analysis into a muscular sensation felt in pushing and
pulling. But to construct a positive science, force must be defined with respect to
its connection with [the abstract notions of, S.G.] space, time and mass. So also,
while utility has an original ‚common sense‘ meaning relating to feelings, when
economics attempts to be a positive science, it must seek a definition which
connects it with [the abstract notion of, S.G.] objective commodity.“ (ebd., S. 17)
Abb. 4 veranschaulicht den Wandel im motivationalen Frame der Politischen
Ökonomie, wie er am Beispiel der Werke der frühen Neoklassiker Jevons,
Edgeworth und Fisher deutlich wird: Die (Sub)frames der Politischen Öko-
nomie als Kunst und Ethik sind vollständig verschwunden. Die Wissenschaft
von der Wirtschaft findet sich von vornherein auf die Ökonomik im Sinne der
reinen Wissenschaft reduziert, wobei die praktische Aktivität mathematischer
Kalkulation als spezifischer Default-Wert gesetzt ist. Deren Zielsetzungen ebenso
wie die Beurteilungsmaßstäbe werden nicht mehr explizit reflektiert, sondern
allein präsupponiert, also als gegeben vorausgesetzt. Einzig die Frage nach dem
wissenschaftlichen Vorbild wird noch explizit gestellt und präzise mit der Auf-
forderung beantwortet, es einer hochgradig spezifischen Form der Wissenschaft
gleichzutun: der mathematischen Wissenschaft im Sinne Analysis.
Die Abb. 4 macht auch deutlich, wie weniger Pluralität in der Tiefe des
motivationalen Frames der Wissenschaft von der Wirtschaft eine Unmöglichkeit
darstellt. Stattdessen gleicht diese mentale Infrastruktur einer geistigen Einbahn-
straße, die ihren Ausgang in einer hochgradig spezialisierten Motivierung nimmt,
aber kaum mehr in der Lage ist, diese zu reflektieren. Dabei gilt: Ohne das prä-
supponierte Motiv, Sozialwissenschaft als mathematische Wissenschaft „um ihrer
selbst willen“ betreiben zu wollen, ist diese Form des totalen Pluralitätsverlusts
nicht vorstellbar. Doch weiß die bloße Anwendung mathematischer Formeln
auf die Sozialwelt um diesen Verlust nicht ausdrücklich. Vielmehr schmückt sie
sich, alles in der Welt inklusive der tiefsten Tiefen des individuellen Seelenlebens
durch die Brille mathematischer Kalküle betrachten zu können. Damit entsteht
gleichsam eine neue Form oberflächlicher Pluralität: Alles, auch jene Aspekte
147„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
und Kriterien, die zuvor der Politischen Ökonomie als Kunst und als Moral vor-
behalten waren, werden nun in der Sprache der Ökonomik als reiner Wissenschaft
rekontextualisiert und refokussiert. Dadurch werden sie semantisch fundamental
umgedeutet und ihrer ehemaligen Sinnzusammenhänge entrissen. Sie können nur
noch als etwas völlig Anderes erscheinen, auch wenn sie dem Wortlaut nach noch
gleich klingen mögen.
6 Ausgehöhlt und entleert: der motivationale
Frame ökonomischer Standardlehrbücher
Ich vollziehe nun einen Sprung um mehr als hundert Jahre, um mich den öko-
nomischen Standardlehrbüchern der Gegenwart zuzuwenden. Wie werden
Studierende heute mit den Motivierungen der Ökonomik konfrontiert? In welchem
motivationalen Frame argumentieren die ökonomischen Standardlehrbücher?
Pure Science
Pursuit of Purely
Scientific Truth
What Goal?
For its own sake
Scientific Truth
What
Criteria?
Mathematical
Calculation
How to?
For Whom?
Economics
Character? Mathematical
Science
?
Exchange
Usefulness /
Utility
What Objects?
What Objects? What
Objects?
Morality /
Goodness
Abb. 4 Jevons und andere Neoklassiker. (Quelle: eigene Darstellung)
148 S. Graupe
Welche Bereiche werden dabei zumindest ansatzweise ins Bewusstsein gehoben
und welche sind im Verborgenen wirksam? Um diese Fragen zu klären, unter-
ziehe ich Ausschnitte der einleitenden Kapitel der Principles of Economics von
Mankiw und Taylor (2014), der Mikroökonomie von Pyndick und Rubinfeld (2009)
und der Grundzüge der Mikroökonomik von Varian (2007) exemplarisch frame-
semantischen Untersuchungen.
Zunächst lässt sich feststellen, dass insbesondere das Lehrbuch von Varian
außerordentlich offensiv vorgeht, was die Vergessenheit der eigenen Voraus-
setzungen wissenschaftlicher Erkenntnis betrifft:
„Das übliche erste Kapitel eines Mikroökonomielehrbuchs ist eine Diskussion
über ‚Umfang und Methoden‘ der Volkswirtschaftslehre. Obwohl diese Thematik
interessant sein kann, erscheint es eher unangebracht, das Studium der Ökonomie
damit zu beginnen. Der Wert einer derartigen Diskussion ist eher gering einzu-
schätzen, bevor man Beispiele angewandter ökonomischer Analyse kennengelernt
hat. Stattdessen werden wir daher dieses Buch mit einem Beispiel einer öko-
nomischen Analyse beginnen“ (Varian 2007, S. 1, Hervorhebung im Original).
Hier wird der Frame der Ökonomik von vornherein als gegeben vorausgesetzt.
Studierende sollen in diesem Frame, nicht aber über diesen denken lernen. Sie
sollen allein das know-how ihrer Wissenschaft praktisch erlernen (vgl. die
vierte Strategie bei Walras), ohne dies auch nur ansatzweise selbst in den Blick
nehmen zu können. Warum dieses know-how gemäß welcher Wertmaßstäbe sinn-
voll sein soll, darüber erfahren sie nichts. Stattdessen setzt das Lehrbuch bereits
nach einer halben Seite mit der „Konstruktion eines Modells“ an, gut eine Seite
später wird bereits auf die Konzepte von „Optimierung“ und „Gleichgewicht“
abgestellt (vgl. ebd., S. 1 und 3). Dabei wird noch nicht einmal explizit erwähnt,
dass es sich um Konzepte handelt, die sich allein im Kontext einer mathematisch
orientierten Wissenschaft sinnvoll framen lassen. Dieses Vorgehen wiegt dabei
umso schwerer, insofern Varian auch an späterer Stelle seines Lehrbuchs in keiner
Weise die „Diskussion über ‚Umfang und Methoden‘ der Volkswirtschaftslehre“
nachholt.
Die Lehrbücher von Mankiw und Taylor einerseits und Pindyck und Rubinfeld
andererseits gehen im Vergleich dazu nicht ganz so rigoros vor. Doch fällt auch
hier auf, wie die Autoren die Studierenden unmittelbar mit den Gegenständen der
Ökonomie konfrontieren. So beginnen sie gerade nicht mit der grundlegenden
Frage „Wozu Ökonomik?“ und damit mit der Frage nach der Motivierung
dieser Wissenschaft. Stattdessen platzieren etwa Mankiw und Taylor explizit als
ersten Satz auf der ersten Seite ihres Lehrbuchs die Frage: „Was ist Ökonomie“?
(Mankiw und Taylor 2014, S. 1). Nachdem sie sodann (scheinbar objektiv) zehn
149„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
thematische Aussagen über ökonomische Phänomene treffen (ihre mittlerweile
weithin bekannten „10 Principles“), heißt es:
„You now have a taste of what economics is all about. In the coming chapters
we will develop many specific insights about people, markets and economies.
Mastering these insights will take some effort, but it is not an overwhelming task.
The field of economics is based on a few basic ideas that can be applied many
different situations.“ (Mankiw und Taylor 2014, S. 12)
Wenn man aber mit der Frame-Semantik davon ausgeht, dass jede Aussage
über ein Phänomen einen motivierenden Hintergrund voraussetzt (der darüber
bestimmt, warum dieses Phänomen überhaupt thematisiert und damit als wichtig
erachtet wird, und aus welcher Perspektive ihm Sinn und Bedeutung verliehen
wird),16 dann verschweigen Mankiw und Taylor genau diese Gründe. Statt-
dessen zielen sie darauf ab, die Ökonomie immer schon von der Basis bestimmter
„elementarer Ideen“ zu starten und den motivierenden Hintergrund, auf dem diese
basieren, im Dunkel vermeintlich unexplizierbarer Tiefen des Vorsprachlichen zu
belassen.
Bei Pyndick und Rubinfeld nimmt ein solches Verschweigen der eigenen
Voraussetzungen der Erkenntnis eine noch extremere Form an. Dabei setzt auch
ihr Werk von vornherein bei den „Themen der Mikroökonomie“ an, wobei es
gleich im ersten Abschnitt heißt:
„Die Rolling Stones haben einmal gesagt: ‚Du kannst nicht immer das bekommen,
was du willst‘. Das ist sicher wahr. Für die meisten Menschen (sogar für Mick
Jagger) ist die Tatsache, dass man nicht immer das haben oder tun kann, was man
will, eine einfache, aber harte Lektion, die sie in der frühen Kindheit gelernt haben.
Für Ökonomen kann diese Tatsache allerdings zu einer Besessenheit werden.“
(Pindyck und Rubinfeld 2009, S. 26, meine Hervorhebung)
Im Anschluss an diese Passage „übersetzen“ Pindyck und Rubinfeld die lebens-
weltliche Aussage „‚Du kannst nicht immer das bekommen, was du willst“ in
das ökonomische Konzept der „Tradeoffs“, das sie als beste Abwägung zwischen
alternativen Wahlmöglichkeiten definieren (vgl. ebd.) und legen diesem Konzept
wiederum „die Rolle der Preise“ zugrunde (vgl. ebd., S. 28). Dabei bleiben im
16Vgl. etwa: „Ein adäquates Verstehen eines Textes ist […] daher auch immer gleichzu-
setzen mit dem Verstehen der motivierenden Gründe, die dazu geführt haben, dass ein in
diesem Text enthaltenes Wort [oder eben eine gesamte textliche Aussage, S.G.] überhaupt
entstanden ist“ (Busse 2012, S. 229).
150 S. Graupe
Hintergrund die Aussagen der gerade zitierten Textpassage erhalten: Es soll
sich dabei um sichere Wahrheit, um Tatsachen, um Fakten handeln. Doch aus
frame-semantischer Perspektive sind weder lebensweltlich noch wissenschaft-
lich begründete Tatsachen einfach von sich aus wahr oder faktisch gegeben.
Selbst die „Tatsachen“ der Ökonomik ergeben sich als solche stets nur innerhalb
eines kognitiven Deutungsrahmens, der ihnen systematisch vorausliegt. Doch
die Studierenden erfahren von all diesen Überlegungen nichts. Stattdessen soll
ihnen das (vermeintlich) Wahre und Tatsächliche, die „brutalen Wahrheiten“, wie
sie Samuelson und Nordhaus nennen (vgl. 2005, S. 3), zur Besessenheit werden
können.17
Wie aber kann dies sein? Mir scheint der Grund hierfür darin zu liegen, dass
die Studierenden gleich von Beginn an mit thematischen Aussagen konfrontiert
werden, die stets aus der Perspektive des Endpunkts aller motivationalen Über-
legungen, wie ich sie am Beispiel einiger Texte aus dem Begründungszeitraum
der neoklassischen Theorie in den vorangegangenen Abschnitten rekonstruiert
habe, formuliert sind: allein von der Spitze des semantischen Eisbergs der neo-
klassischen Theorie wird die Frage nach dem Wahren und den (scheinbaren)
Fakten und Tatsachen der Wirtschaft gestellt und beantwortet. Weder wird den
Studierenden je gesagt, warum noch wie sie diese Spitze erklimmen sollen. Sie
können sich diesen Standpunkt lediglich unbewusst aneignen, indem sie die
Perspektive der Lehrbücher wieder und wieder imitieren. Dafür werden sie auch
stillschweigend lernen müssen, ihre eigenen Motive, Ziele und Gründe, die sie
in ihr Studium hineintragen, sofern diese mit den von den Lehrbüchern implizit
17Auch wenn der Begriff „Besessenheit“ (im englischen Original: „obsession“) von
Pindyck und Rubinfeld auch nicht bewusst gewählt worden sein mag, so handelt es sich
aus frame-semantischer Sicht um eine durchaus treffsichere Wortwahl: Laut Duden meint
Besessenheit „von etwas völlig beherrscht oder erfüllt“ zu sein. Wachgerufen wird mit
diesem Begriff die Vorstellung eines Menschen, der durch andere Wesen oder übernatür-
liche Kräfte wie in Besitz genommen ist, sodass er nicht mehr eigenständig denken und
handeln kann, sondern eher am Rande des Wahnsinns operiert und sich im Verhalten und
im Bewusstsein vollständig ändert. Indem Pindyck und Rubinfeld diesen Begriff nutzen,
erwecken sie also das Bild von Ökonomen, die von scheinbar „lebensweltlichen Tatsachen“
so vollkommen beherrscht sind, als wäre ihr Denken fremdgesteuert. Was die diese Tat-
sachen überhaupt erst als Tatsachen erscheinen lässt und warum sie als wahr gelten sollen:
Darüber können sie ebenso wenig wissen, wie ein Wahnsinniger, der von Dämonen und
Geistern übermannt wird, ohne sie selbst je gerufen zu haben. Inhaltlich hat diese Haltung
zur Folge, dass in den Standardlehrbüchern ein Mythos im wahren Sinn des Wortes
propagiert wird: der „des Marktes“ in der Einzahl, der wie ein handelndes Subjekt auftritt.
Vgl. dazu im Detail Ötsch (2019).
151„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
vorausgesetzten im Konflikt stehen, aufzugeben oder doch zumindest tiefgreifend
umzuwandeln. Sie müssen lernen, einen Bewusstseinswandel zu vollziehen, der
bis tief in die subjektiven Wertvorstellungen ihrer Motivierungen zu reichen ver-
mag, ohne je dazu angeleitet worden zu sein, dies ausdrücklich zu reflektieren.
Eine bewusste Entscheidungsfindung kann so als ausgeschlossen gelten (vgl.
Graupe und Steffestun 2018).
In den Werken der neoklassischen Theorie, die ich in den voran-
gegangen Abschnitten untersucht habe, zeigte sich das Streben nach Wissen-
schaftlichkeit als dominierende Motivierung: Weil man dem Vorbild der
physikalisch-mathematischen Wissenschaften nacheifern will, deswegen wendet
man sich den ‚reinen Fakten‘ zu. Diese Motivierung wird in den ökonomischen
Standardlehrbüchern nun zwar stillschweigend geteilt, zugleich aber verschleiert.
Dies lässt sich an zumindest vier Beispielen verdeutlichen:
Erstens wird in den untersuchten Lehrbüchern diese Motivlage nicht klar
adressiert, Motive werden, wenn überhaupt, nur kursorisch angesprochen.18 Ins-
besondere bei Varian fehlen dazu, wie gesagt, jegliche Explikationen. Eine Dis-
kussion über „Umfang und Methoden“ der Volkswirtschaftslehre wird nicht nur
unterbunden; sie wird sogar als unangebracht abgestempelt und ausdrücklich
geringgeschätzt (vgl. erneut Varian 2007, S. 1). Wie sollen Studierende aber auch
nur auf den Gedanken kommen können, dass sie die Themen und Konzepte ihrer
Disziplin nur verstehen und sich zu eigen machen können, wenn sie ihre eigenen
18Mankiw und Taylor (2014) sprechen auch vom Motiv, den Studierenden „Thinking
like an economist“ beizubringen (so die Überschrift des zweiten Kapitels des Lehr-
buchs), aber das ist der besagten thematischen Schwerpunktsetzung nicht etwa vor-,
sondern nachgelagert. In der zweiten Abschnittsüberschrift wird dies gleich überführt als
„The Economist as Scientist“: „Economists try to address their subject with a scientist’s
objectivity. They approach the study of the economy in much the same way as a physicist
approaches the study of matter and a biologist approaches the study of life: they devise
theories, collect data and analyse the data in an attempt to verify and refute these theories.
There is much debate about whether economics can ever be a science – principally because
it is dealing with human behavior. The essence of any science is scientific method – the
dispassionate development and testing of theories about how the world works. The method
of inquiry is as applicable to studying a nation’s economy as it is to studying the Earth’s
gravity or a species’ evolution“ (Mankiw und Taylor 2014, S. 17, Hervorhebung im
Original). Bei Pindyck und Rubinfeld (2009) findet sich ein entsprechender Unterabschnitt
„Theorien und Modelle“, der denen über „Tradeoffs“ und „Preisen und Märkten“ ebenfalls
nachgestellt ist. Diese Ausführungen sind in keinerlei Hinsicht ideen- und kulturgeschicht-
lich verankert. Ebenso wenig geben sie irgendeinen systematischen Hinweis darauf, dass
die Frage nach den Zielen und Motiven der Ökonomik fundamental für die Auswahl,
Perspektivierung, ja überhaupt die Sinnhaftigkeit der durch sie behandelten Themen ist.
152 S. Graupe
Zielsetzungen des Wissenserwerbs denen der Ökonomik als reiner Wissenschaft
angleichen und dafür insbesondere dem Streben nach praktischem Ratgebens im
Sinne der Politischen Ökonomie als Ethik und als Kunst entsagen?
Zweitens wird in Zusammenhang damit die Ökonomik als Wissenschaft
im Sinne der Naturwissenschaften apodiktisch gesetzt, aber die tatsächlichen
Parallelen zwischen einem naturwissenschaftlichen und einem ökonomischen
Denken verschleiert und nicht explizit diskutiert – durchaus im Gegensatz zu
den ersten Neoklassikern. Wie Ökonominnen und Ökonomen ihre Wissenschaft
betreiben, soll damit von vornherein feststehen. Welche Entscheidungen dafür in
den tieferen Schichten des motivationalen Frames bereits getroffen sein müssen,
wird mit keinem klaren Wort erwähnt. Pindyck und Rubinfeld sprechen zum Bei-
spiel nur von einer „sehr ähnlichen Situation“ in den Wirtschaftswissenschaften,
auch seien die Naturwissenschaften „vielleicht“ auch nur begrenzt erfolgreich,
weil auch sie Realität nicht vollständig erfassen könnten. Die Gefahr ist hier, dass
Studierende aus dem Text nur auf unbewusste Weise einen Appell an die Autori-
tät der Naturwissenschaften werden wahrnehmen können, der sie womöglich zu
einer eher blinden Akzeptanz des Gesagten, statt zu einem vertieften Nachdenken
verleitet (vgl. Graupe 2017b).
Auch die wenigen wissenschaftstheoretischen Ausführungen legen diesen
Schluss nahe. Bei Pindyck und Rubinfeld machen sie beispielsweise gerade ein-
mal drei Seiten von insgesamt 936 Textseiten aus. Sie beginnen dabei zunächst
mit knappen Aussagen zu Theorien und Modellen, die aber keinerlei Hinweise
auf deren motivationalen Frame zu geben vermögen (vgl. ebd. S. 29). Nach zwei
weiteren Absätzen über Prognosen und die Korrektheit von Theorien heißt es
sodann recht unvermittelt:
„Bei der Bewertung einer Theorie ist es wichtig zu berücksichtigen, dass diese
zwangsläufig nicht absolut korrekt sein kann. Dies trifft auf alle Wissenschaften zu.
So setzt in der Physik beispielsweise das Boylesche Gesetz Volumen, Temperatur
und Druck eines Gases zueinander in Beziehung. Dieses Gesetz beruht auf der
Annahme, dass sich die einzelnen Gasmoleküle so verhalten, als wären sie winzige,
elastische Billardkugeln. Die heutigen Physiker wissen allerdings, dass sich die
Gasmoleküle nicht immer so verhalten. Aus diesem Grund versagt das Boylesche
Gesetz bei extremen Druckverhältnissen und Temperaturen. Unter den meisten
Bedingungen kann allerdings mit diesem Gesetz exzellent prognostiziert werden,
wie sich die Temperatur eines Gases ändern wird, wenn Druck und Volumen sich
ändern. Deshalb ist das Boylesche Gesetz ein wichtiges Instrument für Ingenieure
und Wissenschaftler. Die Situation in den Wirtschaftswissenschaften ist sehr ähn-
lich. So maximieren beispielsweise Unternehmen ihre Gewinne nicht ständig.
Vielleicht ist die Theorie der Unternehmung deshalb bei der Erklärung bestimmter
Aspekte des Verhaltens von Unternehmen, wie z. B. der Wahl des Zeitpunkts für
153„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
eine Entscheidung über Kapitalinvestitionen, nur sehr begrenzt erfolgreich. Trotz-
dem erklärt die Theorie eine Vielzahl von Phänomenen im Hinblick auf das Ver-
halten, das Wachstum und die Entwicklung und ist somit zu einem wichtigen
Instrument für Manager und politische Entscheidungsträger geworden“ (Pindyck
und Rubinfeld 2009, S. 30).
Man sieht sich hier an Walras erinnert. So nehmen auch Pindyck und Rubin-
feld Anleihen bei den Naturwissenschaften, speziell der Physik. Dabei setzen
sie nicht im Allgemeinen, sondern bei einem spezifischen Teilgebiet der Physik
an. Auch setzen sie die Möglichkeit einer reinen Wissenschaft voraus, die sich
sodann auf die Praxis anwenden können lassen soll. Doch was sich zumindest
bei Walras noch ausdrücklich als Ziel wissenschaftlicher Erkenntnis heraus-
gearbeitet und zumindest ansatzweise begründet findet, wird nun vollständig
als gegeben vorausgesetzt. Nicht steht zur Frage, ob sich eine reine Ökonomik
überhaupt begründen lässt, sondern allein noch die völlig anders gelagerte Frage,
wo sie eingesetzt werden kann. Interessant ist dabei, wie wesentliche Kate-
gorien des motivationalen Frames, wie er bei Walras in seiner Differenziertheit
deutlich wurde, nun vollständig durcheinandergeraten: So bezieht sich in der
neoklassischen Theorie das Kriterium der „Wahrheit“ eindeutig auf Fragen inner-
halb der rein abstrakten Wissenschaft. Hier nun aber wird dieses Kriterium hin
zu einer „absoluten Korrektheit“ verschoben und unmittelbar konstatiert, dass
dieses nie zu erreichen sei, sowie sogleich dennoch vom potentiellen „Erfolg“
ökonomischer Theorien wie die der Gewinnmaximierung gesprochen. Wie und
woran aber sollte sich beides – Korrektheit und Erfolg – bemessen? Als mögliche
Antworten wird unvermittelt einerseits auf die Erklärungskraft abgestellt (ohne zu
sagen, wie diese ermittelt werden könnte) und andererseits auf die Bedeutung der
Theorie als Instrument der Praxis. Wie sich dies tatsächlich klar denken können
lassen sollte, bleibt schleierhaft.
Auf diese Weise wird zwar die Motivierung, eine reine Wissenschaft um
ihrer selbst willen zu betreiben, nirgendwo erwähnt, dennoch aber mithilfe
metaphorischer Anleihen bei den Naturwissenschaften als notwendige Basis
allen Denkens über Wirtschaft doch stillschweigend postuliert. Offensichtlich
muss man zunächst (reine) Theorien und Modelle entwerfen, um erst dann mit
ihrer Hilfe etwas über den Zustand der Welt zu erfahren. Die alternativen Wege
des Denkens, die (wie noch bei Walras) im Sinne der Kunst und Ethik unmittel-
bar zum praktischen Ratgeben im Hinblick auf die Schaffung und Verteilung
von Reichtum und Wohlergehen führen könnten, klingen im Gegenzug noch
nicht einmal andeutungsweise an. Man zielt zwar irgendwie auf „Praxis“ ab,
aber nur auf dem – wenn auch unklaren Umweg über die reine Wissenschaft.
154 S. Graupe
Was in der Anfangszeit der neoklassischen Theorie also klar als alternative Ziel-
setzungen ins Bewusstsein treten konnte – praktisches Ratgeben hier, theoretische
Kontemplation dort –, wird nun gleichsam irgendwie in Serie geschaltet. Man
scheint letztere praktizieren müssen, um zu ersterer überhaupt vordringen zu
können.19
Drittens erfolgt eine klare Abwertung des politischen (bzw. politöko-
nomischen) Denkens, die stillschweigend auf dem eben angesprochenen Vor-
rang der reinen Theorie vor seiner Anwendung basiert. So definieren Mankiw
und Taylor (2014) (im Gegensatz zu anderen Lehrbüchern) im Abschnitt „The
Economist as Policy Advisor“ am Beginn ihres Buches zwar, dass das politische
Ratgeben zum Aufgabenfeld des Ökonomen oder der Ökonomin gehören kann:
„When economists are trying to explain the world, they are scientists. When they are
trying to help to improve it, they are policy advisors.“ (ebd., S. 23)
Zugleich aber zementieren sie die Kluft zwischen diesem Aufgabenfeld und
jenem der theoretischen Kontemplation: Man kann sich entweder wie ein Wissen-
schaftler oder wie ein politischer Berater verhalten. Sodann postulieren sie, dass
diese Kluft sich auf einen unterschiedlichen Gebrauch von Sprache zurückführen
lässt:
„To help clarify the two roles that economists play, we begin by examining the use
of language. Because scientists and policy advisors have different goals, they use
language in different ways. For example, suppose the two people are discussing
minimum wage laws:
Pascale: Minimum wage laws cause unemployment.
Sophie: The government should raise the minimum wage.
There is a fundamental difference in these two statements. Pascale’s statement is
spoken like that of a scientist: she is making a claim about how the world works.
Sophie is speaking like a policy advisor: she is making a claim about how she would
like to change the world.
19Aus rhetorischer Sicht ist dies ein guter Schachzug: Es lassen sich Studierende bei ihrem
Drang, Wirtschaft und Gesellschaft konkret gestalten zu wollen, abholen und dennoch
zunächst (d. h. wahrscheinlich für ihr gesamtes Studium!) strikt auf die reine theoretische
Kontemplation verpflichten. Ob dieser Zug von den Autoren intendiert ist oder nicht, lässt
sich allerdings nicht feststellen.
155„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Pascale is making a positive statement. Positive statements are descriptive. They
make a claim about how the world is. Positive statements have the property that the
claims in them can be tested and confirmed, refuted or shown to not be provable
either way. A second type of statement, such as Sophie’s, is normative. Normative
statements are prescriptive. They make a claim about how the world ought to be.“
(ebd., S. 23 f.)
Auf den ersten Blick wirkt es so, als könnte sich hier ein plurales Verständnis von
Ökonomie ergeben. Aber zugleich wird (wie in allen untersuchten Standardlehr-
büchern) dem Bereich der Politik keine eigene Sprachlichkeit zugebilligt. Aus
der Perspektive Mankiws und Talyors, die von vornherein jene der Ökonomik ist,
gerät die ganze Frage des Motivs, die Welt gestalten und politischen Rat erteilen
zu wollen, zu einem bloßen Stereotyp, das fast ausschließlich durch die Begriffe
„normativ“, „Wert“ und „Sollen“ geprägt ist. Während sprachlich gut markiert
wird, sie sich eine „positive Analyse“ tatsächlich betreiben läst to devise
theories, to collect data, to analyse, to verify, to refute etc. –, so findet sich kaum
ein Hinweis, wie man im Denken zu „normativen Urteilen“ kommen könnte.
Vielmehr scheint man diese Urteile nur haben oder besitzen zu können – und dies
wiederum lediglich im Sinne einer bloßen Meinung:
„Normative statements have the property that they include opinion; it is not possible
to test opinions and confirm or reject them.“ (ebd., S. 24)
Die Differenzierung zwischen wissenschaftlichem und politischem Denken
impliziert viertens auch einen Ausschluss aller normativen Überlegungen aus dem
Gegenstandsbereich der Ökonomie. Normative Analyse, einst das Hoheitsgebiet
der Politischen Ökonomie als moralischer Wissenschaft, gerät zu einer reinen
Glaubenssache, während die Ökonomie als reine Wissenschaft im klaren Licht
der Fakten zu stehen scheint:
„Economists could engage in positive analysis to test whether there is any evidence
to support the statement but equally could engage in normative analysis on the basis
that there are many people who believe that reducing the deficit will benefit the
economy.“ (ebd., meine Hervorhebung)
Ein genaueres Beispiel: Pindyck und Rubinfeld unterscheiden zunächst zwischen
„positiver und normativer Analyse“ (ebd., S. 30) wobei sie erstere als „Analyse
zur Beschreibung der Beziehung von Ursache und Wirkung“ und die zweite
als „[d]ie Frage danach stellen, ‚was das Beste‘ ist“ definieren (2009, S. 30
und 31). Die Frage der normativen Analyse lassen sie sodann in einen Frame
156 S. Graupe
von Begriffen wie „alternative politische Ordnungen“, „Gestaltung bestimmter
politischer Entscheidungen“, „Wünschenswertigkeit“ und „Werturteile“ ein (vgl.
ebd., S. 31). Damit ist eindeutig der Frame der moralischen Wissenschaft bzw.
Ethik mit seinem Selbstverständnis einer Politischen Ökonomie im Dienste der
Politik, mit den praktischen Ideen zum Ratgeben und dem Wertmaßstab des
Guten (etwa im Sinne des Fairen oder Gerechten) aufgerufen. Doch sodann
erfolgt ebenso wie bei Marshall auch schon dessen Ausschluss aus der Öko-
nomik:
„Die normative Analyse beschäftigt sich nicht nur mit alternativen politischen
Optionen, sie beinhaltet auch die Gestaltung bestimmter politischer Entscheidungen.
Nehmen wir z. B. an, dass entschieden worden ist, dass eine Kraftsteuer wünschens-
wert ist. Nach dem Abwägen von Kosten und Nutzen stellen wir die Frage nach
der optimalen Höhe der Steuer. Die normative Analyse wird oft durch Werturteile
ergänzt. […] An diesem Punkt muss die Gesellschaft ein Werturteil fällen, bei dem
Gerechtigkeit und wirtschaftliche Effizienz abgewogen werden müssen. Wenn Wert-
urteile gefällt werden müssen, kann die Mikroökonomie keine Aussagen darüber
treffen, welche die beste Politik ist. Allerdings kann sie die Tradeoffs verdeutlichen
und dadurch zur Erhellung der Kernpunkte und zur Entfaltung der Diskussion bei-
tragen“ (ebd., S. 31, meine Hervorhebung).
Damit wird auch hier ein ganzer Zweig des motivationalen Frames der Politischen
Ökonomie aus dem Bereich des Wissenschaftlichen eliminiert, eben jener der
moralischen Wissenschaft, der Ethik.20 Moralische Aussagen gelten (wie oben
zitiert) nur als bloße Ansichten, die innerhalb der Ökonomie nicht weiter zu dis-
kutieren sind und denen keine eigene wissenschaftliche Sprachlichkeit einzu-
räumen ist. Sie drohen ins rein Private, jedenfalls aber ins Unwissenschaftliche
abzugleiten. Ist etwa eine bestimmte Abgabenlast gerecht? Die Ökonomik soll uns
nichts darüber sagen können. Entsprechend heißt es auch bei Mankiw und Taylor:
20Ähnliches gilt auch für den Zweig der Kunst im Sinne der praktischen Wissenschaft,
wenngleich diese Exklusion deutlich subtiler verläuft. Denn das Bestreben, der Bevölkerung
unmittelbar ein reichliches Einkommen zu sichern und hierfür Kriterien des Praktischen
und Zweckdienlichen als Wertmaßstäbe zu entwickeln und zur Anwendung etwa in der
politischen Ratgebung zu bringen, wird nirgends auch nur ansatzweise thematisiert, sondern
schlicht verschwiegen: Da es sich nicht in die Distinktion zwischen positiver und normativer
Analyse einordnen lässt, handelt es sich schlicht um ein ausgeschlossenes Drittes: Wird
die Normativität wenigstens noch als solche genannt und sodann als unwissenschaftlich
gebrandmarkt und aus der Ökonomik verbannt, so findet die praktische Wissenschaft über-
haupt keine Erwähnung mehr. Die Trittsteine ihrer mentalen Infrastruktur bleiben voll-
ständig unterhalb der Oberfläche bewusster Erkenntnis verborgen.
157„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
„Policies cannot be judged on scientific grounds alone. Economists give conflicting
advice sometimes because they have different values. Perfecting the science of
economics will not tell us whether it is Anneka or Henrik who pays too much.“
(Mankiw undTaylor 2014, S. 25)
Gewiss ist diese Einsicht aus frame-semantischer Sicht richtig: Wenn man die
Wissenschaft der Wirtschaft allein mit dem (Sub)Frame der Ökonomik gleich-
setzt, dann kann sie nichts mehr über moralische Fragen aussagen. Das Problem
liegt aber darin, dass diese Bedingung und vor allem ihr Umkehrschluss niemals
expliziert werden: Ließe man die Engführung auf die Ökonomik im Sinne der
reinen Wissenschaft fallen, dann könnte sie nicht nur, sie müsste etwas über
moralische Fragen aussagen können – es wäre eine ihrer ureigenen Aufgaben.21
So aber weiß man als Anfängerin oder Anfänger der Ökonomie bestenfalls um
unterschiedliche Werte, aber wie sie diskutiert werden könnten, darüber erfährt
man nichts. Und in der Folge lernt man auch nichts darüber zu wissen, wie sich
diese Werte womöglich gar entwickeln ließen. Stattdessen einem wie bereits im
Werk Marshalls kaum etwas anderes, als Fragen moralischer Werte im Verhältnis
zum Wahrheitsstreben der Ökonomik in den Hintergrund zu drängen und nicht
mehr als gleichberechtigt, sondern allenfalls als nachrangig anzusehen:
21Denn auch dem Frame der Ökonomie als (reine) Wissenschaft liegt grundsätzlich ein
Werturteil zugrunde: Die Entscheidung nämlich, eben nur nach reiner wissenschaft-
licher Wahrheit streben zu wollen; die Wertvorstellung also, sich aller weltlichen Urteile
unmittelbar entsagen zu müssen. Offensichtlich ist genau diese Wertvorstellung bereits
ins Unausgesprochene und damit Selbstverständliche und eher Unbewusste sedimentiert.
Sie erscheint so selbstverständlich, als dass sie niemals begründet werden müsste.
Dies wiederum hat dramatische Folgen: Mankiw und Taylor schreiben so stark aus der
Perspektive des Kriteriums der reinen Wahrheit, dass ihnen dies wie automatisch nicht
mehr als wissenschaftliches Kriterium, sondern als Kriterium des Faktischen an sich gilt:
Die positive Wissenschaft soll die Welt so beschreiben können, wie sie wirklich ist. Der
eigene Wertmaßstab der Wahrheit im streng wissenschaftlichen Sinne wird mit Wahr-
heit in einem realen Sinne verwechselt. Wie die Welt aus Sicht der reinen Wissenschaft
erscheint, so soll sie auch wirklich sein. Da man um die Tiefenschichten dieses Frames
und der Möglichkeiten anderer Weltverständnisse, die sich in ihm an den verschiedenen
Knotenpunkten eröffnen, nicht mehr explizit weiß, gerät hier das eigene Denken so stark
zur vermeintlich absoluten Wahrheit, dass sie das eigene Wirklichkeitsverständnis absolut
beherrscht – und dies, obwohl die reine Wissenschaft gerade umgekehrt ursprünglich nach
Entsagung allen weltlichen Wissens zu Gunsten einer rein weltabgewandten theoretischen
Kontemplation strebte.
158 S. Graupe
„Our normative conclusions cannot come from positive analysis alone; they involve
value judgements as well. Normative analysis has its value but it may be necessary
to carry out positive analysis first in order to inform the normative.“ (ebd., S. 24)
Abb. 5 und 6 veranschaulichen exemplarisch zwei Frames ökonomischer Standard-
lehrbücher. Abb. 5 visualisiert dabei die besondere semantische Armut des Lehr-
buchs von Varian: Allein an der Oberfläche der Objekte wissenschaftlicher Analyse
lassen sich überhaupt erste bewusste Aussagen über das know-how der Ökonomik
finden; alle anderen vorhergehenden Bereiche der mentalen Infrastruktur der Öko-
nomik werden vorausgesetzt, nicht aber expliziert. Die geistige Monokultur, wie
sie durch Jevons, Fisher etc. begründet wurde, hat hier nun auch noch das letzte
Mathematical
Calculation
How to?
Economics
?
Exchange / Prices /
Quantities
What
Objects?
?
Abb. 5 Varian. (Quelle: eigene Darstellung)
159„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Wissen um ihren eigentlichen Ursprung verloren. Demgegenüber finden sich bei
Mankiw und Taylor (vgl. die Abb. 6) zumindest noch Spuren der Explikation des
Anspruchs der Ökonomik, eine theoretische Kontemplation betreiben zu wollen;
alle tieferen Schichten hingegen werden ebenfalls nicht oder kaum mehr expliziert.
Zudem wandelt man hier noch ein wenig auf den von Marshall gelegten Spuren,
indem die Wissenschaft vom bloß alltäglichen Wissen abgegrenzt wird. Doch ist
im Bezug auf letzteres keineswegs mehr von moralischen und praktischen Fähig-
keiten mehr die Rede, sondern allein noch von einem bloß persönlichen Glauben
und Meinen. Wie ein solches zur politischen Ratgebung führen bzw. beitragen soll,
bleibt dabei semantisch unklar.
Pure Science
Pursuit of Purely
Scientific Truth
What Goal?
Theoretical
Contemplation
How to?
Economics
Character?Mathematical
Science
People / Markets /
Economies
What
Objects?
Political
Advice
Values / Personal
Beliefs /
?
?
Abb. 6 Mankiw/Taylor. (Quelle: eigene Darstellung)
160 S. Graupe
7 Verfälscht und missbraucht: Politisch-
ideologisches Reframing am Beispiel des
Lehrbuchs von Samuelson und Nordhaus
Zunächst scheint sich den Economics von Samuelson und Nordhaus (2005) kaum
etwas Neues zu finden. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, wie in diesem
Lehrbuch die ursprünglichen Motivlagen der Ökonomie als reiner, praktischer
und moralischer Wissenschaft mit ursprünglich vollkommen disziplinfremde
Fillern besetzt werden, die sich in dem in diesem Beitrag bislang rekonstruierten
motivationalen Frame in keinerlei Weise wiederfinden. Die Folge ist, dass die mentale
Infrastruktur der Ökonomik insgesamt durcheinander gerät und in ihr wesensfremde
und zugleich klar politisch-ideologische Motive eingelagert werden.22 Im Folgenden
sei dies kurz anhand des Abschnitts „Cool Heads at the Service of Warm Hearts“ der
Economics demonstriert, den ich Absatz für Absatz analysieren werde.
Im ersten Absatz dieses Abschnitts heißt es:
„Economics has, over the last century, grown from a tiny acorn in a mighty oak.
Under its spreading branches we find explanations of the gains from inter-
national trade, advice on how to reduce unemployment and inflation, formulas for
investing your retirement funds, and even proposals for selling the rights to pollute.
Throughout the world, economists are laboring to collect data and improve our
understand of economic trends.“ (ebd., S. 6)
Hier werden offensichtlich Formen der Aktivitäten sowohl der politischen Öko-
nomie als praktische und moralische Wissenschaft („advice“, „proposals“) als
auch der Ökonomik als reine Wissenschaft („explanations“, „formulas“, „collect
data“, „improve understanding“) angesprochen und damit zunächst zumindest
in gröbsten Zügen ein Panorama auf den gesamten motivationalen Frames der
Ökonomie eröffnet. Im nächsten Absatz widmen sich Samuelson und Nordhaus
sodann unvermittelt der Grundfrage nach der Motivierung der Ökonomie:
„You might well ask, What is the purpose of this army of economists measuring,
analyzing, and calculating? The ultimate goal of economic science is to improve the
living conditions of people in their everyday lives. Increasing the gross domestic
product is not just a numbers game. Higher income means good food, warm houses,
and hot water. They mean safe drinking water and inoculations against the perennial
plagues of humanity“ (ebd., Hervorhebung im Original).
22Dies findet sich auch in den anderen untersuchten Lehrbüchern, insbesondere bei
Mankiw und Taylor, wohl aber in schwächerer Form. Vgl. auch Graupe (2017b).
161„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
Dabei vollzieht sich nicht nur eine klare Verankerung im Bereich des Zieles
der politischen Ökonomie („to improve the living conditions of people in their
everyday lives“), auch findet eine klare Abgrenzung zur Ökonomik als reine
Wissenschaft statt („not just a numbers game“). Zugleich aber werden Aktivi-
täten genannt („measuring, analyzing, and calculating“), die genau dieser reinen
Wissenschaft zuzuordnen sind. Auf diese Weise kommt es zu einer wirren Ver-
mischung der verschiedenen semantischen Zweige der Politischen Ökonomie als
Kunst und reiner Wissenschaft, ohne dass es hierauf irgendeinen expliziten Hin-
weis gäbe. Es ist, als würde man die Slots und Filler des semantischen Netzwerks
in ein großes Gefäß geben und einmal ordentlich durchschütteln.
Und mitten in diesem semantischen Chaos, das angehende Ökonominnen und
Ökonomen nur verwirren kann, vollzieht sich sodann, wenngleich fast unmerk-
lich, ein schwerwiegender Kategorienwechsel auf der Ebene der Filler: Das all-
gemeine motivationale Ziel, als Ökonom oder Ökonomin die Lebensbedingungen
von Menschen verbessern zu wollen, wird unmittelbar allein durch das weitaus
spezifischere Ziel der Erhöhung des Bruttoinlandsproduktes konkretisiert. Nicht
mehr der politische Rat im Allgemeinen wird hier als Ziel ausgegeben, sondern
eine ganz spezifische Form der politischen Aktivität selbst. Und noch mehr:
Ein erhöhtes Einkommen wird automatisch an konkret verbesserte Lebens-
bedingungen gekoppelt und dies nicht nur in einer stereotypen, sondern
zugleich auch emotionalisierenden Art und Weise: Wer wollte schon nicht für
sauberes Trinkwasser und gegen die Seuchen der Menschheit kämpfen wollen?
Welcher Mensch wollte nicht auf dieser Seite humanitärer Motivlagen zu stehen?
Die Motivation, Wissenschaft zu betreiben, rückt auf diese nahe daran, sich
zum Apologeten wirtschaftlichen Wachstums aufzuschwingen; eine Tendenz, die
sich im folgenden Abschnitt nochmals verstärkt:
„Higher incomes produce more than food and shelter. High-income countries have
the resources to build schools so that young people can learn to read and develop
the skills necessary to use modern machinery and computers. As incomes rises
further, nations can afford scientific research to determine agricultural techniques
appropriate for a country’s climate and soil or to develop vaccines against local
diseases. With the resources freed by economic growth, people have free time for
artistic pursuits, such as poetry and music, and the population has the leisure time
to read, to listen, and to perform. Although there is no single pattern of economic
development, and cultures differs around the world, freedom from hunger, disease,
and the elements is a universal human goal.“ (ebd.)
In nicht einmal fünfundzwanzig Halbzeilen findet sich das Ziel, die konkreten
menschlichen Lebensbedingungen zu verbessern, unmittelbar daran gekoppelt,
162 S. Graupe
Einkommenswachstum uneingeschränkt zu befürworten. Nur mit und durch
dieses Wachstum hindurch sollen sich die „universellen menschlichen Ziele“
der Befriedigung von Grundbedürfnissen verwirklichen lassen. Dabei geht es
allerdings nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, um praktische Fragen, wie
sich das Volkseinkommen tatsächlich erhöhen ließe. Auch steht nicht zur Debatte,
ob die Steigerung des Bruttoinlandsprodukts tatsächlich als geeignetes Mittel zur
Mehrung des Wohlstands angesehen werden kann. Damit umschiffen die Lehr-
buchautoren nicht zuletzt auch die Frage, um die es der politischen Ökonomie
eigentlich einmal gegangen war: die Frage nach gerechter und fairer Verteilung
des Einkommens. Stattdessen gerät allein die absolute Höhe des Volksein-
kommens in den Fokus, sodass die ursprünglichen Wertmaßstäbe der Öko-
nomie als moralischer Wissenschaft ausgeklammert werden und ein alleiniges
numerisches Ziel – eigentlich ein Maßstab der Ökonomie als reiner Wissenschaft
– an ihre Stelle tritt.
Damit ist der semantischen Umdeutung nicht genug. Weiter heißt es:
„But centuries of human history also show that warm hearts alone will not feed the
hungry or heal the sick. A free and efficient market will not necessarily produce
a distribution of income that is socially acceptable. Determining the best route to
economic progress or an equitable distribution of society’s output requires cool
heads, ones that objectively weigh the costs and benefits of different approaches,
trying as hard as humanly possible to keep the analysis free from the taint of
whishful thinking. Sometimes, economic progress will require shutting down an
outmoded factory. Sometimes, as when the formerly socialist countries adopted
market principles, things get worse before they get better. Choices are particularly
difficult in the field of health care, where limited resources literally involve life and
death.“ (ebd., S. 7)
Hier herrscht zunächst eine semantische Verwirrung. So bleibt etwa ein Rätsel,
warum dieser Absatz mit einem „aber“ („but“) an den vorherigen angeschlossen
wird. Auch ist unklar, für was die „warmen Herzen“ stehen sollen. Ledig-
lich implizit lässt sich hier auf einen moralischen Standpunkt schließen, dem
allerdings keine eigene wissenschaftliche Ausdrucksfähigkeit zugebilligt wird
(wie es im Frame der Politischen Ökonomie als Ethik einst noch selbstverständ-
lich war), ja noch nicht einmal die Intelligenz des Common Sense. Stattdessen
wird hier sprachlich der Eindruck einer reinen Gefühlsmäßigkeit, eines rein
emotionalen Standpunkts erweckt.
Und für was soll man sich nun „erwärmen“? Für den bedingungslosen Kampf
für Wachstum? Und was hat hiermit der „freie und effiziente Markt“ zu tun, wie
er unvermittelt als Begriff eingeführt wird? All dies bleibt unklar. Doch bevor
163„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
dies auch nur aufzufallen vermag, vollzieht sich erneut ein semantischer Sprung,
mit dem die Autoren zur eigentlichen Frage nach den wünschenswerten Aktivi-
täten von Ökonominnen und Ökonomen zurückkehren. Diese lagern sie dabei
unvermittelt und überraschenderweise nun wieder im (Sub-) Frame der Öko-
nomie als reiner Wissenschaft ein, indem sie zu Distanziertheit, Objektivität und
dem reinen Abwägen von Fakten als wissenschaftliche Kerntugenden des Öko-
nomen aufrufen und alle anderen möglichen (wissenschaftlichen) Aktivitäten zum
„reinen Wunschdenken“ degradieren.
Doch wozu hier tatsächlich den „kühlen Kopf“ bewahren? Die Antwort lautet
nicht etwa, um nach reiner wissenschaftlicher Wahrheit um ihrer selbst willen
zu streben, wie es im Bereich der Ökonomik eigentlich nach neoklassischem
Vorbild der Fall sein sollte. Der kühle Kopf – in der Neoklassik das Ideal des
weltabgewandten, rein um wissenschaftliche Wahrheit bemühten Denkers
wird stattdessen unter der Hand politisch instrumentalisiert: Es sollen auf dem
ureigenen Felde der Politischen Ökonomie als Ethik und Kunst – eben jenem des
Ringens um den richtigen wirtschaftspolitischen Rat keine Kriterien der Fair-
ness und Gerechtigkeit mehr gelten dürfen. Stattdessen sollen an ihre Stelle eine
Mitleidlosigkeit gegenüber den Verlierern des ökonomischen Wachstumsstrebens
und ein blinder Glaube an dieses Streben treten.23 Kein neoklassischer Ökonom
des 19. Jahrhunderts wäre darauf je gekommen.
Diese Umkehrung aller Wertmaßstäbe, die die kühle Distanziertheit wissen-
schaftlicher Objektivität nicht mehr dem Streben nach reiner wissenschaft-
lichen Wahrheit zuordnet, wie es in den Ursprüngen der Neoklassik der Fall war,
sondern nun gleichsam wie ein trojanisches Pferd in den Bereich der ursprüng-
lichen Politischen Ökonomie als Ethik und als Kunst schiebt, verschärft sich
nochmals im darauffolgenden Absatz:
„You may have heard the saying, ‚From each according to his ability, to each
according to his need.‘ Governments have learned that no society can long operate
solely on this utopian principle. To maintain a healthy economy, governments
must preserve incentives for people to work and to save. Societies can support the
unemployed for a while, but when unemployment insurance covers too much for
too long, people come to depend upon the government and stop looking for work.
If they begin to believe that the government owes them a living, this may dull the
sharp edge of enterprise. Just because governments derive from lofty purposes does
not mean that they should be pursued without care and efficiency.“ (ebd.)
23Eine exzellente Untersuchung des Marktfundamentalismus, der hier anklingt, nimmt
Walter Ötsch vor. Vgl. Ötsch (2019).
164 S. Graupe
Hier wird ein ethischer Maßstab kurzerhand in den Bereich des bloß Utopischen
verbannt und ebenso unvermittelt wie pauschal durch ein Denken in Anreizen
ersetzt. Sodann wird ohne weitere Erklärung oder gar Begründung die
Perspektive nicht eines distanzierten wissenschaftlichen Beobachters, sondern
einer staatskritischen politischen Weltanschauung eingenommen und von dieser
aus kurzerhand über die ethische Frage nach dem Umgang mit jenen, die aus
dem System marktförmig organisierter Erwerbsarbeit herausfallen, geurteilt.
Dabei wird die Verwirrung dadurch komplementiert, dass dieses Urteil nicht klar
moralisch, sondern in Kategorien des Faktischen geframet wird, so als ginge es
um die Verkündigung von Tatsache, die unabhängig von jeglichem semantischen
Frame universelle Gültigkeit beanspruchen können.
Zu guter Letzt führt der Text von Samuelson und Nordhaus im Absatz, der
diesen Abschnitt beendet, auf den Kampfplatz politischer Stereotype: die Frage
nach der Motivierung ökonomischer Erkenntnis wird im Schwarz-Weiß-Schema
eines Kampfes zwischen „dem Markt“ und „dem Staat“ geframt. Spätestens hier
wird deutlich, dass es nicht um das Ziel abstrakter wissenschaftliche Wahrheit,
sondern um ein politisch motiviertes Ziel geht, das sich allerdings der objektiven
Wissenschaft zu bedienen versteht:
„Society must find the right balance between the discipline of the market and the
compassion of government social programs. By using cool heads to inform our
warm hearts, economic science can do its part in ensuring prosperous and just
society.“ (ebd.).
Und im Vorwort heißt es gar:
„Students like you are marching, and even going to jail, to win the right to study
radical ideals and learn from Western textbooks like this one in the hope that they
may enjoy the freedom and economic prosperity of democratic market economies“
(xxi).
Abb. 7 versucht das semantische Netz von Samuelson und Nordhaus zu
visualisieren, auch wenn dies aufgrund der vielen semantischen Unklarheiten
nicht eindeutig zu gelingen vermag. Umdeutungen von Frame-Elementen sind
in roter Schrift hervorgehoben. Die geistige Einbahnstraße der Ökonomik wird
dabei wie bei allen anderen ökonomischen Standardlehrbüchern auch
kaum mehr explizit reflektiert, sondern stillschweigend präsupponiert. Dabei
finden sich einige semantische Umdeutungen. So wird etwa das Kriterium der
wissenschaftlichen Wahrheit in die „brutale Wahrheit“ wirtschaftlicher Fakten
165„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
umgedeutet. Ebenso wird der Charakter der reinen Wissenschaft eher als kühle
und distanzierte Haltung gegenüber der Welt der Erfahrungen („Cool Heads“)
geframet (Abb. 8).
Die mentale Einbahnstraße der Ökonomik grenzt sich scharf zu einem Denk-
weg ab, der als jener des moralischen Denkens kaum mehr zu erkennen ist, da er
ausschließlich in rein negativ-abwertenden Konzepten geframet ist und zudem in
seiner Spitze eindeutig auf staatliche Intervention zuläuft. Links daneben findet
sich ein weiterer Denkweg, der ebenfalls kaum wiederzuerkennen ist: jener des
praktischen Wissens. Denn dessen Quellen bleiben semantisch ebenso unklar,
wie seine oberen Strukturen überdeterminiert sind, da sie das Denken von vorn-
herein auf eine einzige Idee der Mehrung des Wohlstands festlegen: auf das öko-
nomische Wachstum, ausgedrückt im Bruttoinlandsprodukt (BIP) und erzielt
durch das Walten einer (möglichst) freien Marktwirtschaft.
Frame Element (Filler)
Ausprägung eines
Frame Elements
(Beispiel)
Konzept, das
beschrieben werden
soll
Konzept, von dem das
zu beschreibende
Konzept erbt
Default-Wert
Seman!sch
umgedeuteter Filler
S!llschweigend
vorausgesetztes
Frame-Element
Ergänzende Rela!on
Metaphorische
Fundierung
Widerstreitende Rela!on
Erkenntnisleitende Frage
(Slot)
S!llschweigend
vorausgesetzte
erkenntnisleitende Frage
Seman!sche Leerstellen
(Filler- und Slotbereiche)
For whom?
For whom?
?
Political Economy
Political
Advice
Prescribi
ng
Mathematical
Calculation
Mathematical
Science
Pure Science
Warm Hearts
Abb. 7 Samuelson/Nordhaus. (Quelle: eigene Darstellung)
166 S. Graupe
Und ein Weiteres fällt auf: Die Aktivitäten der Ökonomik, die als „mitleid-
loses Theoretisieren“ konzeptionalisiert werden, sehen sich in den Dienst des
Strebens nach Wachstum gestellt. Sie werden schlicht ausgebeutet, auf dass
sie einem ihnen gänzlich wesensfremden Ziel dienen mögen. Dies aber heißt:
Wissenschaftliche Aktivitäten drohen zu politischen Zwecken missbraucht zu
werden, indem angehende Ökonominnen und Ökonomen erstens nicht über die
ursprünglichen Motivierungen ihrer dem Ursprung nach reinen Wissenschaft
aufgeklärt werden, zweitens ethische Motivierungen diffamiert und drittens
Motivierungen einer politischen Ratgebung a priori auf die Befürwortung
des Marktes eingeschränkt werden und dann auch noch mit den Mitteln einer
abstrakten Wissenschaft realisiert werden sollen. Insofern dabei auch noch mit
emotionalisierenden Elementen gearbeitet wird, lässt sich dies aus meiner Sicht,
?
?
??
Wishful Thinking
?
?
What Goal?
Economics
Warm Hearts
Lofty Purposes
For the Nation
What Goal?
Utopian Principles
What
Criteria?
What
Criteria?
GDP
Government
Intervention
Cool Heads
„Brutal Truth
Dispassionate
Theorizing
How to?
How to?
Advocacy of
Free Markets
For Whom?
Economic Growth
Whom to serve?
Abb. 8 Legende (Quelle: eigene Darstellung)
167„Eine Wissenschaft um ihrer selbst willen“
worauf ich an anderer Stelle bereits ausführlich hingewiesen habe, als Beein-
flussung oder gar Manipulation bezeichnen (vgl. Graupe 2017b).
8 Fazit
In den letzten Jahren sind die Menschenbilder der Ökonomik – allen voran der
homo oeconomicus und der rationale Entscheider – vermehrt in die Kritik geraten
und u. a. als einseitig und verkürzt zurückgewiesen worden (vgl. etwa Graupe
2013b; Panther und Nutzinger 2004; Thaler 2009; Wilson und Dixon 2012).
Auch wird in Debatten etwa um das „unternehmerische Selbst“ (Bröckling 2007)
darauf verwiesen, dass Menschen, indem sie als homo oeconomicus angerufen
werden, sich selbst zu eben solchen wandeln können. In diesem Beitrag habe ich
eine andere Richtung der Untersuchung eingeschlagen. Dabei habe ich mich von
der Überlegung leiten lassen, dass nicht allein die Bilder über den Menschen,
sondern vor allem auch die Selbstbilder von Ökonominnen Ökonomen sich als
äußerst wirkungsvoll erweisen könnten: Selbstbilder, die im Sinne verborgener
Motivierungen als Handlungs- und Haltungsideale im praktischen Tun, im
know-how der Ökonomik wirksam sind.
Tatsächlich hat mein Beitrag oberflächlich gesehen keine Aussagen über die
tatsächliche Wirksamkeit dieser Bilder treffen können, sondern zunächst nur ihre
ersten Umrisse in Form von Repräsentationen mentaler Infrastrukturen umreißen
können. Doch zeigt sich in der Untersuchung des ökonomischen Textmaterials,
das eine Zeitspanne von weit über hundert Jahren umfasst, dass diese Infra-
strukturen bei aller Variabilität doch eine erhebliche Kontinuität aufweisen. Sie
scheinen von Generation zu Generation weitergegeben zu werden – und zwar
ohne dass hierüber je ein ausdrückliches Wissen herrschte. Damit scheinen sie
vor allem implizit wirksam zu sein.
Doch ist diese Form der Wirksamkeit im Verborgenen, in den Tiefen-
schichten des semantischen Eisbergs der Ökonomik eingeschlossen. Aus meiner
Sicht ist es dringend geboten, sie in Zukunft verstärkt ins Licht bewusster
Reflexion zu holen. Denn nur so wird Menschen auch und gerade in der öko-
nomischen Bildung wieder eine freie Entscheidung für oder wider die Über-
nahme dieser Bilder ins eigene Selbstverständnis möglich sein. Und diese
neu gewonnene Freiheit wiederum wird helfen können, so meine Hoffnung,
jener Instrumentalisierung des verborgenen Selbstbilds der Ökonomik zu
politisch-ideologischen Zwecken, wie ich sie am Beispiel des Lehrbuchs von
Samuelson und Nordhaus zu skizzieren versucht habe, wirkungsvoll entgegen-
zutreten. Zugleich wird sie auch ermöglichen können, die Politischen Ökonomie
168 S. Graupe
als praktische und als moralische Wissenschaft wiederzuentdecken und damit der
Herabwürdigung des Praktischen und Ethischen als bloß privates Meinen und
rührselige Gefühlsduselei wirkungsvoll entgegenzutreten und in ihnen als wissen-
schaftliche Anliegen erneut Bedeutung zu verleihen. Keineswegs zuletzt wird
sich damit (wieder) ein plurales Verständnis von Wissenschaft gewinnen lassen,
dessen Vielfalt bis weit in die normalerweise unausgesprochenen Tiefenschichten
der Motivierung ökonomischen Denkens zu reichen vermag.
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Chapter
Die ökonomische Lehre, wie sie sich im Grundlagenstudium präsentiert, ist in hohem Maße formalisiert: Die Studierenden lernen in formalen Modellen zu argumentieren und zu rechnen. Welche Herausforderungen stellt der mathematische Zugang dar und wie gehen Studierende damit um?
Book
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Standard economics teaching has been subject to increasing scholarly critique claiming it to be either one-sided, detached from reality or an instrument of indoctrination. The following study attempts to systematically address and analyze possible forms of indoctrination. Drawing from two standard textbooks –Economics by Samuelson and Nordhaus as well as Mankiw’s Eco-nomics– a language and text-based analysis, based primarily on cognitive research methodol-ogy, provides a detailed elucidation of examples of unconscious forms of persuasion students are subjected to which do not match the neoclassical ideal of scientific objectivity. In addition, the following discusses whether a manipulation of students, in the sense of deliberate and covert influence of thought and perception processes is in fact taking place, while identifying future fields of research as well as possible new directions in economics education.
Book
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Für den deutschsprachigen Raum liegt hier die erste Studie vor, die sich der studentischen Wahrnehmung eines Studiums der Wirtschaftswissenschaften, insb. der Volkswirtschaftslehre, mit Mitteln der qualitativen Sozialforschung nähert. Aus Gruppengesprächen an fünf der wichtigsten VWL-Studienstandorte in Deutschland und Österreich konnten mithilfe der dokumentarischen Methode vier grundlegende Orientierungen rekonstruiert werden, die für den studentischen Umgang mit einem wirtschaftswissenschaftlichen Studium als einschlägig bzw. typisch gelten dürfen. Entgegen einem weitestgehend inhaltlich orientierten Diskurs um den Status quo akademischer ökonomischer Bildung (Monismus bzw. Pluralismus von Schulen, Theorien, Methoden und Disziplinen) legen die hier vorgestellten Ergebnisse nahe, die institutionellen Kontexte von VWL-Studiengängen stärker zu berücksichtigen. Ein besonderer Diskussions- und Handlungsbedarf scheint für die Formen der Leistungsmessung zu bestehen, ebenso wie für die didaktische Aufbereitung der Lehre. Auch die Dominanz mathematischer Methoden sowie die fehlenden Bezüge zu realwirtschaftlichen Phänomenen stellt für die Studierenden ein Problem dar. Diese empirischen Befunde werden aus interdisziplinären Perspektiven theoretisch gedeutet und mit aktuellen Diskursen um ökonomische Bildung verknüpft. Der Inhalt Methodische Bemerkungen ● Erhebung und Feldforschung ● Primat der Studienstrukturen ● Mathematik und Grundlagenveranstaltungen ● Realitätsfernes Studium ● Tunnelerfahrung und Wahlfreiheit ● Fazit und (hochschul-)politische Handlungsempfehlungen Die Zielgruppen Studierende und Lehrende der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, bildungspolitische Entscheidungsträger*innen Die Autoren Lukas Bäuerle ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ökonomie an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung und promoviert an der Europa-Universität Flensburg. Stephan Pühringer ist Ökonom und Sozialwirt und als Post-doc-Researcher am Institut für die Gesamtanalyse der Wirtschaft an der Johannes Kepler Universität Linz tätig. Walter-Otto Ötsch ist Professor für Ökonomie und Kulturgeschichte an der Cusanus Hochschule für Gesellschaftsgestaltung.
Book
This book does take a somewhat different approach to philosophy, depicting it not as based on concepts or systems, but rather as a series of conflicts between contesting thinkers. Kurt Flasch analyzes the well-documented great controversial discussions in the Christian Middle Ages, the dispute between Erasmus and Luther as well as the issues the peace-loving Leibniz had to settle with both John Locke and Pierre Bayle. The volume concludes with Voltaire's criticism of Pascal. It dispenses with the illusions of completeness or purposeful course. It sheds light on the historical space between Augustin and Voltaire and illustrates the old European concept of philosophy. It reports on pivotal turning points that waxed decisive for the further development of thinking. By outlining the struggles for truth bringing to terms the cultural conflicts of their time, it serves to prove the intrinsically agonal character of philosophy. In its twenty-one chapters, the following philosophers have their say in this volume: Augustine, Julian of Aeclanum, Charlemagne, Berengar of Tours, Gaunilo, Anselm of Canterbury, Abelard, Averroes, Al-Gazali, Albert the Great, William of Ockham, Meister Eckhart, Nicholas of Kues, Johannes Wenck, Erasmus, Luther, Francesco Patrizi, Leibniz, John Locke, Pierre Bayle, Pascal, Voltaire.