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Hertz aus Glas. Silicium als Medium in den Medien

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Abstract

Der Beitrag untersucht die verschiedenen materiellen Silicium-Substrate in ihrer Verwendung in elektronischen Medien, stellt deren physikalische und chemische Eigenschaften vor und stellt Überlegungen zu einer medienstrukturwissenschaftlichen Konsequenz aus dem Medienmaterialismus vor.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
Hertz aus Glas
Silicium als Medium in den Medien
Stefan Höltgen
„Wenn wir unsere Geräte so natürlich und
selbstverständlich wie vom Meer gerundete
Kieselsteine ergreifen, werden wir langsam
vergessen, daß es sich bei ihnen um so etwas
wie Maschinen handelt. Wir vermögen durch
sie hindurch wieder die alte Natur zu entdecken.“
(Antoine de Saint-Exupéry)
Einleitung
Glas ist aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften, transparent, lichtbrechend, erhitzt
leicht formbar, erkaltet aber spröde und hart zu sein, Gegenstand einer schier unendlichen
Anzahl von Tropen in den Künsten. Ebenso dient es zugleich als künstlerisches Material, mit
dem sich Kunst formen, schleifen, blasen, ritzen, mit dem sich Bildmosaike herstellen und auf
das sich Bilder malen lassen. Und schließlich ist es auch ein Motiv der Kunst- und
Literaturgeschichte. Damit hätte eine literaturwissenschaftliche Medienwissenschaft, die sich
der Untersuchung von Motiven, Dispositiven, Ästhetiken und Wirkungen widmet, im Glas
bereits einen vortrefflichen Gegenstand gefunden.
Doch Literaturwissenschaft kann auch unter einem anderen Verständnis ihres Gegenstandes
eine Medienwissenschaft sein – nämlich dann, wenn sie sich mit den materiellen Trägern von
Texten beschäftigt, die von der Steintafel über das Pergament und das Buch bis zuletzt dem
eBook-Reader reichen. Und auch hier spielen Glas und seine Bestandteile eine zentrale Rolle.
Zu erwähnen wären sowohl sumerische Tontafeln1, 3000 Jahre vor unserer Zeitrechnung2
entstanden, als auch, dass „digitale Texte“3 heute auf den Oberflächen siliciumhaltiger
Medien4 gelesen werden. Dies dürfte die zugleich medien- und literaturwissenschaftliche
1 Zu den Hauptbestandteilen von Tonerde gehören Quarz und Feldspat – beides siliciumhaltige Mineralien.
2 Mittlerweile hat man diese sehr beständige Art der Datenspeicherung wiederentdeckt: Das
Archivierungsprojekt „Memory of Mankind“ benutzt Steinzeugtafeln, um darauf Texte und Bilder zu
drucken, die auch nach 5000-10000 Jahren noch entzifferbar sein sollen. Vgl. http://memory-of-
mankind.com/. Die Firma Hitachi denkt noch weiter in die Zukunft. Dort wird gerade ein Quartz-Speicher
entwickelt, in dem sich digitale Daten für hunderte Millionen Jahre konservieren lassen. Vgl. Hitachi:
Successful read/write of digital data in fused silica glass with a recording density equivalent to Blu-ray
Disc™. Enabling both greater capacity using 100 recording layers and long storage life of 300 million years,
2004, http://txt3.de/glas1, 11.08.2016.
3 Es spielt im folgenden zwar keine Rolle, soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass unter den Texten in digitalen
Medien noch weitere digitale Texte residieren, die – in formalen Sprachen abgefasst – zusammen mit der
Hardware dieser Medien die Bedingung der Möglichkeit von „digitalen Texten“ sind.
4 Neben den für den Leser unsichtbaren Halbleiter-Schaltkreisen bestehen auch einige sichtbare
Flüssigkristallanzeigen aus Siliciumverbindungen. Vgl. Dagmar Hülsenberg: Glas in der Mikrotechnik.
Berlin: Akademie-Verlag 1992, S. 13f.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
Relevanz der folgenden Ausführungen hinreichend motivieren.
Dort, wo Medienwissenschaft sich also von Fragen der Motive, Dispositive, Ästhetiken und
Wirkungen ab- und der Materialität der Medien zuwendet, gerät Glas zu einem
epistemologisch brisanten Untersuchungsgegenstand. Denn Teile des Stoffgemisches Glas
und seiner grundlegenden Verbindung Siliciumdioxid5 bilden das Substrat, auf dem eine
Vielzahl heutiger Medientechnologien basieren. All jene Medientechnologien, die wir grosso
modo als „digitale Medien” bezeichnen, sind sozusagen auf gläsernem Fundament gebaut.
Eine materialistische Medienwissenschaft sollte diesem Substrat daher besondere
Aufmerksamkeit schenken, um auf diese Weise einen Einblick in jene Medienprozesse zu
gewähren, aus denen die anderweitig beachteten und analysierten Oberflächeneffekte
resultieren.
Eine solche Perspektive auf das Glas verlangt allerdings nach Methoden, die sich im
interdisziplinären Raum zwischen Physik, Chemie, Geologie, Materialwissenschaft,
Elektronik, Informatik und (Medien/Technik)Geschichte befinden, beziehungsweise sich aus
diesen rekrutieren. Das Ziel, unter dem deren Fragestellungen miteinander verknüpft werden,
würde dann eine Medienarchäologie des Glases sein, die in den Schnittmengen der
Positivitäten von Natur- und Ingenieurwissenschaften auf der einen Seite und der Diskurse
aus Geistes- und Kulturwissenschaften auf der anderen Seite nach Splittern, Rissen,
Scheintransparenzen und unerkannten Verschmelzungen sucht.
Dies müsste allerdings vorbereitet werden. Denn es wären zuvor zwei Dinge zu klären:
Zunächst muss der materialistische Medienbegriff angepasst werden. Mit Friedrich Kittler
geht es „mithin um Medientechnologien, [.. zur] Übertragung, Speicherung, Verarbeitung
von Information“6. Dass sich hierunter digitale Medien fassen lassen, macht diese Definition
brauchbar für eine Methodologie, noch nicht jedoch für den Gegenstand Glas selbst. Die
Frage wäre nämlich, ob und wie ein solcher Medienbegriff nicht nur auf die Makrowelt der
Medienapparate, sondern vielleicht auch auf dessen Mikrokomponenten Glas und Silicium
anzuwenden wäre? Können Glas und Silicium als solche überhaupt Information übertragen,
speichern und/oder prozessieren oder gelingt ihnen dies erst mit anderen Materialien als
emergenter (Medien)Verbund? Diese Frage ist von gewisser Aktualität, weil modernste
Medientechnologien den Materialbegriff eskalieren lassen und weil an ihr auch die Viabilität
des oben genannten (schulbildenden) Medienbegriffs hängt: Geht Medienarchäologie, wenn
sie ihren Blick von den Maschinen auf deren Substrate lenkt, notwendigerweise in
Medienphysik, Medienchemie, Mediengeologie, ... über?
Als Zweites bedürfen die behandelten Materialien Glas und Silicium selbst einer fachlichen
Klärung für die Medienwissenschaft, um in eine techno-mathematisch exakte
medienarchäologische Beschreibung einfließen zu können. Diese Klärung verschaffen die
5 Wenn ich im folgenden von Glas spreche, meine ich damit ausschließlich Quarzglas, das ausschließlich aus
Siliciumdioxid besteht.
6 Friedrich Kittler: Vorwort. In: Draculas Vermächtnis. Technische Schriften. Leipzig: Reclam 1993, S. 8-10,
hier: S. 8.
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anorganische und die Glaschemie, die Festkörperphysik und die Halbleiter-Elektronik, die ich
hier in der notwendigen Tiefe vorstellen möchte, nachdem ich den Blick zum Substrat hinab
gesenkt habe.
Schichten der Medien
Der Übergang von der Archäologie zur Geologie scheint bereits als Praxis auf, wenn man sich
Medienprozessen von ihrer materiellen Seite ,grabend’ zu nähern versucht. Der Informatiker
Andrew S. Tanenbaum gibt die Metaphorik vor, wenn er zum didaktisch besseren Verständnis
des Mediums Computer, eine „schichtweise“ Erklärung seines Aufbaus unternimmt:
Problemorientierte Sprache
Übersetzung (Compiler)
Assemblersprache
Übersetzung (Assemblierer)
Betriebssystemmaschine
Teilinterpretation (Betriebssystem)
Befehlssatzarchitektur (ISA)
Interpretation (Mikroprogramm)
oder direkte Ausführung
Mikroarchitektur
Hardware
Digitale Logik
Abb 1: Computerschichten nach Tanenbaum7
Diese im Original „layers or levels“8 genannten Schichten erfordern zu ihrer Konstruktion und
Erforschung je andere Teildisziplinen der Informatik, die beim Gang von der Oberfläche (auf
der jene erwähnten Motive und Ästhetiken residieren) zu den „Unterflächen“9
immer ,handwerklicher‘ werden: Ganz oben stehen die höheren Programmiersprache mit
ihren abstrakten Theorien von Kalkülen, Sprachklassen und Programmierparadigmen. Ganz
unten die Computerhardware als funktionale Realisation der Computerarchitektur – und nicht
etwa als Elektronik, Festkörper- oder gar Quanten-Physik. Diese noch tieferen Schichten
gehören nicht mehr zum Problemfeld der Informatik. Warum endet Tanenbaums
Beschreibung auf dieser Ebene?
Wir sehen hier das Erbe John von Neumanns, der in seiner paradigmatischen Schrift „First
7 Andrew S. Tanenbaum: Structured Computer Organization. Upper Saddle River Pearson Prentice Hall 2006,
S. 5.
8 Ebd., S. 3-5.
9 „Die Oberfläche des Digitalen ist sichtbar, während die Unterfläche bearbeitbar ist. Die Oberfläche besteht
für den Benutzer, die Unterfläche für den Prozessor (mit Programm). […] Die sichtbare Oberfläche des
Bildes wird zum Interface seiner unsichtbaren Unterfläche.“ Frieder Nake: Das doppelte Bild. In: Margarete
Pratschke, (Hg.): Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Band 3, Nummer 2:
Digitale Form. Berlin: Akademie-Verlag 2000, S. 40-50, hier: S. 47ff. – Hervorhebungen Im Original)
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Draft of a Report on the EDVAC“ 1945 die nach ihm benannte Computer-Architektur
entworfen hat. Dort10 ,verschließt’ er die komplexeren Sub-Schichten des Computers, um
diesen überhaupt erst als Architektur denken zu können. Dass dieser Verschluss trotz von
Neumanns Versprechens nur temporär zu sein, bestehen blieb, wissen wir seit dem Eingang
des Computers in alle möglichen Gesellschaftsschichten. Der ,Deckel’ der Black Box hat sich
dabei sukzessive „nach oben“ gearbeitet, so dass man heute – mit Marc Weiser11 – sagen
könnte: Der Computer ist – teilweise sogar für die informatischen Teildisziplinen der
einzelnen Tanenbaum'schen layer – gänzlich unter den Schichten und hinter seinen
Oberflächen verschwunden. Diese Opazität ist bezeichnenderweise dort am größten, wo das
Material des digitalen Mediums am ,durchsichtigsten’ wird: auf der physikalischen Ebene des
Glases und des Siliciums. Diese pragmatische Selbstbeschränkung der Informatik sollte von
einer epistemologisch operierenden Medienwissenschaft unterlaufen werden.
Glas
Glas ist der Sammelbegriff für verschiedene Stoffmischungen12 auf Basis von
Siliciumdioxid13: „Glas ist ein anorganisch-nichtmetallischer Werkstoff, der aus Anionen und
Kationen besteht und sich durch die relativ regellose Anordnung der Ionen im Mikrobereich
von anderen ähnlichen Werkstoffen unterscheidet. Glas ist amorph.“14
Es kommt natürlicherweise vor (als Obsidian-Gestein oder in Schmelzen von Quarzsand –
etwa nach Blitzeinschlägen im Boden) und gehört nach Holz, Stein und Eisen zu den ältesten
bekannten Werkstoffen15. Glas wird je nach Verwendung, Herstellungsweise oder
Zusammensetzung klassifiziert. Allen Gläsern gemeinsam ist ihre isolierende Eigenschaft,
ihre chemische Resistenz und dass sie „für Photonen mit gegebenem Energieniveau, vielfach
10 Um die mannigfaltige ,Realität‘ der Vakuumröhre aus seinen Überlegungen zum Aufbau eines Computers
herauszukürzen, führt von Neumann ein ,hypothetisches Bauteil‘ mit idealisierten Funktionen ein: „[..] the
numerous alternative possibilities for arranging arithmetical procedures, logical control, etc., would
superpose on the equally numerous possibilities for the choice of types and sizes of vacuum tubes and other
circuit elements from the point of view of practical performance, etc. All this would produce an involved and
opaque situation in which the preliminary orientation which we are now attempting would be hardly
possible. In order to avoid this we will base our considerations on a hypothetical element, which functions
essentially like a vacumu tube e.g. like a triode with an appropriate associated RLC-circuit – but which can
be discussed as an isolated entity, without going into detailed radio frequency electromagnetic
considerations. We re-emphasize: This simplification is only temporary, only a transient standpoint, to make
the present preliminary discussion possible. After the conclusions of the preliminary discussion the elements
will have to be reconsidered in their true electromagnetic nature.“ John von Neumann: First Draft of a Report
on EDVAC, 1945. In: http://txt3.de/glas6: 8f. – Hervorhebung: S. H.
11 Marc Weiser: „The Computer for the 21st Century“, 1991. In: http://txt3.de/glas7 (11.08.2016)
12 Allein die Bestandteile optischer Gläser weisen eine große Vielfalt elementarer und molekularer Mischungen
auf. Vgl. Werner Vogel: Glaschemie. Berlin/Heidelberg: Springer 1992, S. 21f.
13 Siliciumdioxid ist die am häufigsten vorkommende natürliche Silicium-Verbindung und der Hauptbestandteil
der Erdkruste.
14 Dagmar Hülsenberg: Glas in der Mikrotechnik. Berlin: Akademie-Verlag 1992, S. 11.
15 Ana Ofak dokumentiert ein frühes Medien-Denken des Glases bei Aristoteles-Schüler Theophrast. Das später
so benannte „Marienglas“ (ein Kalziumsulfat-Anhydrit) diente bereits in der Antike als Fenstermaterial und
trat „zwischen“ den Betrachter und das Betrachtete – freilich nicht ohne letzteres zu beugen und zu brechen.
Vgl. Ana Ofak: „Meinst du Glas?“ Das Durchscheinende und die Geometrie des Durchscheinens. In:
Friedrich Kittler/Ana Ofak [Hg]: Medien vor den Medien. München: Fink 2007, S. 105-122, hier: 112-114.
Für diesen Hinweis danke ich Wolfgang Ernst.
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in einem breiten Spektralbereich, transparent [sind].“16 Für unsere folgenden Betrachtung ist
allein das Quarzglas17 (reines Siliciumdioxid) relevant, wie es im Quarzsand, Kieselstein oder
Bergkristall natürlich vorkommt.
Abb. 2: Links: 2D-Gitterstruktur des Quarzkristalls, Rechts: α-Quarzstruktur: SiO4-Tetraeder
Reines Siliciumdioxid ist lichtdurchlässig – sogar für ultraviolette Strahlung, was seine
Verwendung für Quarzgläser in bestimmten elektronischen Bauteilen begünstigt. Seine
Kristallstruktur ist bedingt durch das so genannte Quarzgitter: „Um jedes Si-Atom gruppieren
sich in tetraedrischer Anordnung vier O-Atome, danach folgen wieder Si-Atome und so
weiter.“19 Diese Anordnung ermöglicht die Durchdringung mit elektromagnetischen Wellen
(Transparenz), nicht jedoch von Elektronen (Isolator). Eine weitere Eigenschaft des Quarzes
ist ebenfalls durch diese Anordnung seiner Atome bedingt: der piezoelektrische Effekt.
Dadurch nämlich, dass jedes Silicium-Atom in der Mitte von vier Sauerstoff-Atomen
umgegeben ist, ist es möglich, durch Verformung aus einer Richtung eine elektrische
Polarisation im Kristall zu erzeugen, die auf dessen Oberfläche als elektrische Spannung
messbar wird. Der Effekt ist reversibel: Beim Anlegen einer tonfrequenten Wechselspannung
verformt sich der Kristall rhythmisch. Je nach Form und Schnitt des Kristalls schwingt dieser
so angeregt in Hochfrequenzen von bis zu mehreren tausend Megahertz.
16 Ebd., S. 12.
17 Vgl. Vogel: Glaschemie. a.a.O., S. 141ff.
19 http://txt3.de/glas8 (11.08.2016). Aus dieser Verbindung resultiert auch die sechseckige Form der
Bergkristalle.
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Bild 3: Schematische Darstellung des Piezoeffektes
Alle drei Eigenschaften des Quarzglases werden in der Elektronik und Mikroelektronik
genutzt: Der piezoelektrische Effekt wird in Schwingquarz-Bauteilen nutzbar gemacht, um
eine Frequenz für diskrete Taktgeber (bei modernen Computern inzwischen bis in den
Gigahertz-Bereich) zu erzeugen. Der umgekehrte Effekt findet sich dann beispielsweise in
Kleinlautsprechern, bei denen unter Spannung gesetzte Piezoelemente vibrieren und dadurch
akustische Wellen erzeugen. Die Transparenz von Quarzglas wird in Speicherbausteinen
genutzt, die durch UV-Licht löschbar sind (EPROMs). Über den Bausteinen befindet sich ein
Quarzglas-Fenster, durch das die Löschung mit UV-Licht erfolgt. In Lichtleitern, die zumeist
aus Glasmischungen bestehen, welche die Leitung biegsam machen, wird der
Transprarenzeffekt, verbunden mit den Brechungseigenschaften der Glasoberfläche
ausgenutzt, um effektive Informationsübertragung zu realisieren: „[Die] optische
Signalverarbeitung und auch -speicherung [in Glas ist] weitaus effektiver als die
entsprechenden Prozesse auf Elektronenbasis ablaufen.“20
Silicium
Silicium ist (nach Sauerstoff) das zweithäufigste Elemente der Erde: Circa 15,12 Prozent der
Erdmasse gehen auf das Konto von Silicium-Verbindungen, die darin zumeist als Silikate
(SiO4-) und Oxide vorkommen. Die bedeutsamste Verbindung hierunter ist das Siliciumdioxid
(SiO2). Es ist wesentlicher Bestandteil von Granit und Sandstein; letzterer bildet zusammen
mit Quarzsand den Rohstoff für die großtechnische Silicium-Gewinnung in der
Mikroelektronik und Fotovoltaik.
In Reinform kommt Silicium natürlich gar nicht vor, weshalb es trotz seiner Häufigkeit lange
Zeit ,unsichtbar’ geblieben ist. 1787 wurde es von Antoine Lavoisier erstmals elementar (als
20 Hülsenberg: Glas in der Mikrotechnik. a.a.O., S. 12.
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pulverisiertes, amorphes Silicium) dargestellt, irrtümlich jedoch als Verbindung ,verkannt’.
Erst fast 50 Jahre später, 1824, gelang es Jöns Jakob Berzelius21 das Element (auf dem selben
Weg wie Lavoisier) aus dem Gas Siliciumtetrafluorid (SiF4)22 chemisch zu gewinnen, sodann
als Element zu definieren und auf den Namen Silicium (silicia = Kieselerde, silex =
Kieselstein) zu taufen. Kristallines Silicium wurde erstmals 1854 auf elektrolytischem Weg
hergestellt. Erst in dieser Form wurde es für Industrie und Forschung bedeutsam.
Abb. 4: Links: Ausschnitt aus einem Si-Kristallgitter, Rechts: Silicium-Kristall (3D)
Seine kubische Kristallstruktur, die der von Kohlenstoff (in seiner Form als Diamant) und
anderen Elementen der vierten Hauptgruppe des Periodensystems der Elemente gleicht,
bedingt seine besonderen physikalischen und chemischen Eigenschaften. Silicium ist ein
Halbmetall23, das heißt, es besitzt zugleich Eigenschaften von Metallen und von
Nichtmetallen. Einerseits sind dies die sein metallischer Glanz und seine gute
Wärmeleitfähigkeit; auf der anderen Seite mangelt es ihm aber an Verformbarkeit und vor
allem elektrischer Leitfähigkeit. Die Metall-Eigenschaften von Silicium beruhen auf der
besonderen Bindungsart seiner Atome untereinander (Bildung metallischer Kristallgitter). In
ihnen durchdringen die Elektronenwolken im so genannten Leitungsband eines Atoms
Bereiche benachbarter Atome, was den „Austausch“ von Elektronen ermöglicht. Anders als
bei Metallen halten sich die freien Elektronen innerhalb des Silicium-Gitters jedoch auf einem
anderen Niveau (dem so genannten Valenzband) auf, das den Transport freier Elektronen
nicht ermöglicht und das Element in Reinform damit zu einem Isolator macht.
21 Vgl. Rudolf Rost: Silicium als Halbleiter. Stuttgart: Berliner Union 1966, S. 18f.
22 Dieses wurde zuvor in zwei Stufen aus Calciumfluorid (Flussspat) und Siliciumdioxid (Sand) und
konzentrierter Schwefelsäure gewonnen: H2SO4 + CaF2 → 2HF + 2 H2O sodann: 4 HF + SiO2 → SiF4 + 2
H2O. Heute existieren weitere Verfahren (vgl. Rost: Silicium als Halbleiter. a.a.O., S. 19-25).
23 Zur Menge der Halbmetalle gehören Bor, Kohlenstoff (als Graphit), Silicium, (schwarzer) Phosphor,
Germanium, (graues) Selen, und Tellur. As, Sb, Po, At sind nach dieser Klassifikation Halbmetalle.
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Halbleiter
Nun ist Silicium allerdings kein Nichtleiter, sondern eben ein Halbleiter. Obwohl das von
Bercelius und Lavoisier gewonnene Silicium starke Verunreinigungen aufwies, die diesen
Charakter sicherlich erkennbar gemacht hätten, wurde der Halbleiter-Effekt ebenfalls erst sehr
spät und an ganz anderen (im geologischem Sinne: exotischeren) Substanzen entdeckt: 1874
fand Ferdinand Braun anhand von Metall-Sulfiden (wie Eisensulfid, FeS) heraus, dass diese
unterschiedliche Widerstandswerte besitzen, je nachdem, von welcher Seite (anisotrop) man
eine Spannung bei ihnen anlegt und misst und wie groß diese Spannung ist.24 Die Symmetrie-
Eigenschaften fallen, je nachdem, von welcher Seite aus man den Kristall betrachtet,
unterschiedlich aus, weshalb Halbleiter stets von einer definierten Seite aus benutzt werden
müssen.
Im Gegensatz zu den Sulfid-Verbindungen gehört Silicium zu den elementaren Halbleitern.
Diese befinden sich im Periodensystem der Elemente in den Gruppen zwischen den Metallen
(wie Aluminium, Zinn oder Blei, ...) und den Nichtmetallen (Stickstoff, Schwefel, Jod, ...)
und können vom Aussehen und ihrer elektrischen Leitfähigkeit weder der einen noch der
anderen Menge eindeutig zugeordnet werden. Für ihre Leitfähigkeit bedeutet das überdies,
dass sie unter bestimmten Umständen trotz ihrer elektrisch ausgeglichenen Gitterstruktur
elektrische Ladungen transportieren können. Hierzu muss ihr Kristallgitter mit anderen
Elementen ,verunreinigt’ (dotiert) werden.25 Auf diese Weise entsteht, je nachdem welches
Element zur Dotierung verwendet wird, ein Überschuss oder ein Defizit an Elektronen im
Kristallgitter, das stets auf elektrischen Ausgleich zielt, indem es weitere Elektronen
aufzunehmen beziehungsweise überschüssige abzugeben bestrebt ist.
Bild 5: Mit Phosphor und Aluminium dotierter Silicium-Kristall
24 Solche Sulfide bilden ähnliche (kubisch-flächenzentrierte) Kristallgitter wie das Silicium. Die Dotierung ist
hier durch das Verhältnis von atomarem Eisen zu atomarem Schwefel im Kristall bestimmt (wobei Schwefel
als das Element der höheren Gruppe für den n-Effekt verantwortlich ist).
25 Vgl. Rost: Silicium als Halbleiter. a.a.O., S. 36ff.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
Zur Dotierung von Silicium werden benachbarte Nichtmetalle wie zum Beispiel Phosphor
(das sich in der selben Periode aber der Hauptgruppe rechts neben Silicium befindet und
damit ein Elektron mehr auf seiner äußeren Schale besitzt) oder Aluminium (in der Gruppe
links neben Silicium und derselben Periode mit einem Elektron weniger auf der Außenschale)
verwendet. Durch den so eingebrachten Elektronenüberschuss (Phosphor) oder das
Elektronendefizit (Aluminium) wird der Siliciumkristall elektrisch polarisiert: Bei
Elektronenüberschuss (durch Phosphor-Dotierung) ist er negativ geladen (n-dotiert), bei
Elektronenmangel (durch Aluminium-Dotierung) positiv geladen (p-dotiert).26
Diese bereits durch natürliche Verunreinigungen bestehende Dotierung wird während der
technischen Darstellung des Siliciums als Einkristall zunächst zu entfernen versucht. Das
elementare (isolierende) Silicium, das in einem aufwändigen chemo-physikalischen Prozess
als so genannter Einkristall gezogen wird, muss einen sehr hohen Reinheitsgrad27 aufweisen,
um in der Mikroelektronik verwendet werden zu können. Insbesondere Verunreinigungen
durch Aluminium, Bor, Phosphor und andere dotierende Substanzen müssen bei diesem
Prozess minimiert werden: „Etwa 99,999999999-prozentige Reinheit ist für die Herstellung
von Computerchips nötig, das heißt, unter 100 Milliarden Atomen darf nur ein
einziges ,falsches‘ sein.“28
Halbleiterelektronik
Wie wird der Halbleitereffekt von Silicium nun in digitalen Medien nutzbar gemacht? Dies
kann an zwei Standardbauteilen, der Diode und dem Transistor, verdeutlicht werden. Eine
Diode ist ein passives elektronisches Bauelement, das als Isolator für elektrischen Strom in
einer Richtung wirkt, jedoch den Strom aus der anderen Richtung durchleitet. Erreicht wird
diese Eigenschaft dadurch, dass ein p-dotierter Halbleiter und ein n-dotierter Halbleiter
miteinander verbunden werden. Dadurch entsteht eine Polung (auf der p-dotierten Seite ist die
Anode, auf der n-dotierten die Kathode). Wird nun eine Spannung so angelegt, dass die n-
dotierte Seite mit dem Plus-, die p-dotierte mit dem Minus-Pol verbunden ist, sperrt die
Diode, da die Überschuss-Elektronen der p-dotierten Seite in Richtung des Pluspols wandern
und die „Löcher“ der n-dotierten Seite zum Minuspol und damit in der Mitte eine
ladungsneutrale Sperrschicht entsteht. Das Gegenteil geschieht bei umgekehrter Polung: Nun
wandern die Elektronen und die „Löcher“ durch Abstoßung zur Mitte des Bauteils (dort zu
den einander berührenden Rändern des jeweiligen Siliciumkristalls) und bilden eine schmale
Zone, in der die Elektronen des p-Substrates in die Löcher des n-Substrates überspringen
können. Dabei neutralisieren sich beide elektrisch. Die so freigewordenen Stellen in den
dotierten Substraten können nun durch neue (von Außen einfließende) Ladungen ersetzt
werden. Das bedeutet: Strom kann durch die Diode fließen. Wird der Strom abgeschaltet, so
versammeln die dotierenden Elemente wieder Elektronen und Löcher um sich und die
26 Die positiven Landungen werden auch als (Elektronen-)„Löcher“ bezeichnet.
27 Vgl. Rost: Silicium als Halbleiter. a.a.O., S. 17-35. Dort werden die unterschiedlichen Verfahren zur
Reinigung des Siliciums und zur Herstellung von Einkristallen beschrieben.
28 Martin Rosenberg: „Silicium: Grundlage für die Glasproduktion“. In: Planet Wissen, 2010,
http://txt3.de/glas4 (11.08.2016)
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
jeweilige p- und n-Dotierung ist restauriert.
Der Aufbau eines Transistors ist etwas komplexer; nicht nur, weil es unterschiedliche
Transistor-Typen gibt, sondern auch, weil für dessen Herstellung mehr als nur dotiertes
Silicium benötigt wird. Ein Transistor ist ein elektronisches Regelungsbauteil, bei dem der
Durchfluss einer Spannung durch das Anlegen einer zweiten Spannung (der Schaltspannung)
gesteuert wird. Im Folgenden beschreibe ich kurz die Funktionsweise des heute meist-
verbauten Typs, des Metalloxyd-Feldeffekt-Transistors (MOSFET):
Abb. 6: Links: Aufbau eines MOSFET-Transistors, Rechts: Geöffneter Transistor
Das Bauteil verfügt über drei Anschlüsse: Am Gate-Anschluss liegt die Steuerspannung an,
die den Elektronenfluss vom Source- zum Drain-Anschluss regelt. Transistoren sind
eigentlich Verstärker, denn die Menge (Stromfluss) der von der Source (Quelle) zur Drain
(Senke) durchgeleiteten Elektronen ist proportional zur Kraft (Spannung), die am Gate
anliegt. In der Digitalelektronik werden genau an dieser Stelle stets mit derselben Kraft (heute
3,3 Volt) Elektronen eingebracht.
Auf einem p-dotierten Träger (dem aus dem Reinsilicium-Einkristall geschnittenen Wafer)
werden zwei n-dotierte Inseln aufgebracht. Mit ihnen werden die Source- und Drain-
Anschlüsse verbunden. Zwischen diesen beiden Inseln wird als Isolator reines Quarzglas
aufgetragen, auf welchem der Gate-Anschluss befestigt wird.
Durch Anlegen einer in Bezug auf die Source ausreichend hohen positiven Spannung werden
die Löcher, also die Fehlstellen im p-dotierten Halbleitermaterial vom Gate abgestoßen und
Elektronen angezogen, wodurch sich dicht unter der Gate-Elektrode eine stark n-angereicherte
Schicht (Inversionsschicht) und damit ein leitender Kanal bildet. Denn um vom n-dotierten
Drain- zum n-dotierten Source-Anschluß zu gelangen, müssen die Elektronen bei
ausreichender Gatespannung keine Sperrschicht mehr überwinden, da die Inversionsschicht ja
ebenfalls über frei bewegliche Elektronen verfügt. Dieser Kanal wird umso dicker und damit
umso niederohmiger, je höher die Gate-Spannung ist. Bei negativer Gate-Spannung bleibt der
MOSFET gesperrt.29
Mit Transistoren lassen sich eine Vielzahl elektronischer Funktionen realisieren. Sie werden
29 Chr. Caspari: „Feldeffekttransistor / FET“, 2014. In: http://txt3.de/glas2 (11.08.2016)
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
als Verstärker genutzt, als Wechselstrom-Gleichrichter, zur Konstruktion von
Speicherbausteinen und anderem. Gerade Speicherbausteine sind in Computern von großer
Bedeutung. Mit Hilfe von Flipflops, die aus einem Verbund von mindestens zwei
Transistoren aufgebaut werden, lassen sich bitweise Informationen speichern. Die
Speicherung erfolgt dadurch, dass die Gate-Spannung des einen Transistors zur Source-Drain-
Spannung des anderen wird und umgekehrt, so dass sich ein bistabiler elektrischer Zustand
herstellen lässt.30
Bild7: Flipflop-Schaltung mit zwei Transistoren
Als singulärer Bit-Speicher ist solch ein Flipflop nahezu nutzlos. Hier bietet die sukzessive
Verkleinerung von elektronischen Strukturen auf Halbleitern jedoch Möglichkeiten,
zahlreiche Flipflops auf einem Baustein zu integrieren. Überhaupt existieren die hier
beschriebenen Bauteile sowohl diskret (als solche wurden sie oben abgebildet) als auch in
integrierten Schaltungen. Die komplexesten integrierten Schaltkreise bilden hier die
Mikroprozessoren. Eines ihrer Qualitätsmerkmale ist die Integrationsdichte von Bauteilen –
insbesondere von Transistoren, die bei modernen CPUs bis zu 5,57 Milliarden-fach
vorhanden sind. Möglich wird diese große Anzahl und hohe Dichte durch elaborierte
fotolithografische Verfahren auf höchstreinen Siliciumwafern. Darauf werden nicht nur
Transistoren und Dioden, sondern auch Widerstände, Kondensatoren und andere
elektronische Bauteile integriert. In experimentellen Verfahren wurde als Trägersubstrat von
Mikroprozessoren auch Quarzglas selbst verwendet, das als Isolator günstiger herzustellen ist,
als nichtleitendes Silicium.31
30 Vgl. Horst Pelka: Von der Schaltalgebra zum Mikroprozessor. Mikroprozessoren und ihre festverdrahtete
und programmierbare Logik. München: Franzis 1977, S. 43-48.
31 Transparente Träger elektronischer Schaltungen werden heute, aufgrund des Bedarfs von ,wearable
computers’ und transparenter Bildschirme aber immer wichtig. Hierfür werden dann allerdings Kunststoffe
mit größerer Flexibilität eingesetzt.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
Abb. 8: Z80-CPU auf Glas
Ich verzichte an dieser Stelle auf die detaillierte Beschreibung dieser anderen funktionalen
Bauteile und kehre zur eigentlichen medienwissenschaftlichen Frage zurück: Wird auf der
Ebene der Kristallgitter, Energiebänder und subatomaren Teilchen bereits gespeichert,
prozessiert und/oder übertragen? Und wenn ja, welche Art von Information und auf welche
Weise?
Elektronen-Informatik
Das Elektron selbst ist die Information. Es ist jedoch nicht, wie die oben beschriebenen
kinetischen Prozesse suggerieren können, seine Ladung, die diese Information repräsentiert,
sondern allein die Kraft, mit der diese Ladung transportiert wird: die Spannung. Dies ist
bereits bei der elektrischen Leitung auf der Makroebene so: Beim Stromfluss durch eine
metallische Leitung werden Elektronen in die eine Seite (den Minuspol) des Leiters
hineingeschoben und drücken dort Elektronen des so genannten „Elektronengases“, das sich
in den Leitungsbändern des Metallgitters befindet, in Richtung des Leitungsausgangs (also
zum Pluspol). Die Elektronen, die dort herauskommen, sind aber andere als die in den
Minuspol eingebrachten. Der Ladungstransport ist sozusagen ein indirekter Prozess. Was
hingegen direkt übertragen wird, ist die Menge der Elektronen (es werden ebenso viele aus
dem Leiter herausgedrückt wie eingebracht wurden) – dies ist die Stromstärke, die in Ampere
gemessen wird – als auch die Kraft, mit der diese Elektronen durch den Leiter geschoben
werden – die mit Volt gemessen wird.
In Halbleitern eskaliert dieser Effekt, denn die Sperrschichten und Kanäle32 der
Raumladungszonen lassen einen direkten Austausch von Elektronen gar nicht mehr zu. Hier
sind es Ladungsaustauschprozesse, die durch elektromagnetische Felder realisiert werden, bei
32 Das Substrat zwischen Source und Drain, in dem das elektrische Feld aufgebaut wird, wird als „Kanal“
bezeichnet; ein Kanal, der ganz im Sinne Shannons nur noch immaterielle Informationsträger übertragt.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
denen Elektronen zwischen den Energiebändern ,verbotene Zonen‘ überspringen müssen.33
Auf dieser untersten Ebene verliert eine materialistische Medienwissenschaft sozusagen ihren
Gegenstand aus den Augen und muss sich anstatt mit Materie mit masselosen Feldern,
ortlosen Ladungsträgern und Aufenthaltswahrscheinlichkeiten in energetischen Orbitalen
befassen. Ohne Materie und ohne Ort scheint allerdings jeder Materialismus auf verlorenem
Posten: Wenn sich nicht lokalisieren lässt, wo genau etwas gespeichert ist und was das
Übertragene in quantitativer Hinsicht ist, lässt sich in dieser Hinsicht auch nicht von einem
materiellen Medium sprechen.
Wir müssten daher an dieser Stelle den materialistischen in einen strukturalen Medienbegriff34
überführen, der mit Technologien wie dem Strukturspeicher35, der Übertragung durch
strukturelle Kopplung und der Prozessstruktur operiert. Diese ließen sich meines Erachtens in
den Tiefenschichten der Medien verorten: in den Kristallstrukturen der Substrate, den
Aufenthaltswahrscheinlichkeiten in Orbitalen und Energiebändern und den formalen
Funktionsbeschreibungen der Bauteilanordnungen auf dem Siliciumwafer – kurzum im Reich
von Quantenmechanik, Mathematik und den formalen Sprachen der Hardwarebeschreibung.
Schluss: Mediengeologie und Quantencomputer
Meine vorangegangene Tiefenexploration hat ihre Vorgänger. Spätestens mit Siegfried
Zielinskis Theorie der Tiefenzeit der technischen Medien ist der materialistischen
Medienwissenschaft einen diachroner Seitenarm gewachsen. In seiner „(An)Archäologie der
Medien“36 beruft Zielinski sich explizit auf „Prämissen der Paläontologie“37 bei der
Ausgrabung von Medienvergangenheiten, um in ihnen nach Zukünften zu suchen.38
Die Bewegungen in die Tiefenzeit der Medien beinhalten [..] nicht den Versuch einer
Dehnung der Gegenwart und verstehen sich nicht als Plädoyer für eine Verlangsamung. Sie
wollen vielmehr in der abgelegten Vergangenheit dynamische Momente ausfindig machen, die
kraftvoll in Heterogenität schwelgten und dadurch Spannungen zu den anderen,
33 Diesen Prozess habe ich in einer ähnlichen ,Tiefengrabung’ andernorts beschrieben. Vgl. Stefan Höltgen:
JUMPs durch exotische Zonen. Portale, Hyperraume und Teleportation in Computern und Computerspielen.
In: Thomas Hensel/Britta Neitzel/Rolf F. Nohr (Hg.) ‚The cake is a lie!’ Polyperspektivische Betrachtungen
des Computerspiels am Beispiel von ,Portal’. Münster: LIT 2015, S. 107-134.
34 Nachdem Medienarchäologie als Epistemologie bereits das mediale Apriori des Wissens untersucht (und
damit die Medialität aller übrigen Wissenschaften problematisiert), würde eine Überführung des
Medienmaterialismus in eine Strukturanalyse der Medien-Materie ein weiterer Baustein zu einem
Weiterdenken von Medienwissenschaft als Strukturwissenschaft (zum Begriff vgl. Bernd-Olaf Küppers: Die
Strukturwissenschaften als Bindeglied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften. In: Ders. [Hg.]: Die
Einheit der Wirklichkeit. München: Fink 2000, S. 89-105, online: http://txt3.de/glas3, 11.08.2016) bedeuten.
Diese These beabsichtige ich an anderer Stelle eingehender zu argumentieren und belasse es hier bei der
Andeutung.
35 Ein Strukturspeicher speichert keine Informationen, sondern Strukturen, in denen Informationen gespeichert,
übertragen und prozessiert werden können. Ein Beispiel für einen Strukturspeicher ist ein Fahrplan, der die
möglichen Wege, die ein Transportmittel nehmen kann, speichert, nicht aber die Transportmittel selbst. In
Hinblick auf unser Thema ist der Mikroprozessor ein Strukturspeicher, der zwar das „knowing how“, noch
nicht aber das „knowing that“ der Signal- bzw. Datenverarbeitung enthält.
36 Siegfried Zielinski: Archäologie der Medien. Zur Tiefenzeit des technischen Hörens und Sehens. Reinbek:
Rowohlt 2002, S. 23ff.
37 Ebd., S. 16.
38 Vgl. ebd., S. 21.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
gegenwärtigen Augenblicken erzeugen, sie relativieren und entscheidungsfähiger machen
können.39
Auf diese Bewegungen in die Tiefenzeit beruft sich jüngst auch Jussi Parikka mit seiner
„Geology of Media“40, die die Metapher der Tiefengrabung ernst nimmt und nach den
mineralischen Elementen der Medien in den Erdschichten und Schutthalten sucht, dabei aber
Zielinskis diachronen Rückgriff in einen synchronen Eingriff überführt:
There is more mining than data mining in A Geology of Media. More specifically, it is
interested in the connections of media technologies, their materiality, hardware, and energy,
with the geophysical nature: nature affords and bears the weight of media culture, from metals
and minerals to its waste load. The official Geological Surveys might be an odd place to start
media analysis, but they do reveal the backstory of technological culture: the geopolitically
important scientific mapping of resources from copper to uranium, oil to nickel, bauxite
(necessary for aluminum) to a long list of rare earth minerals.41 […] instead of radio, I prefer
to think what components and materials enable such technologies; instead of networking, we
need to remember the importance of copper or optical fiber for such forms of communication;
instead of a blunt discussion of ,the digital,’ we need to pick it apart and remember that also
mineral durations are essential to it being such a crucial feature that penetrates our academic,
social, and economic interests.42
Mediengeologie ist also eine Suche nach den Mineralien der Medien; eine Suche, die bei
Parikka aber nicht in den Medien selbst stattfindet, sondern andernorts und zuvor: „before
they become media: the literal deep times and deep places of media in mines and rare earth
minerals“43. Ich habe hier versucht zu zeigen, dass der Medienwissenschaftler hierzu das
Medium gar nicht verlassen muss, wenn er andere Disziplinen einlädt, ihm ihr
Analysewerkzeug zu überlassen, das seine „Grabschaufel“44, mit der er die Technologien von
den Diskursen freilegt, ergänzt. Er bliebe damit nicht nur (im Gegensatz zu Zielinski) im Jetzt
einer Archäologie der Gegenwart, sondern auch im Hier der radikalen Vergegenwärtigung
medialer (prinzipieller45) Operativität.
Das wäre umso notwendiger, als nun Techniken am Horizont erscheinen, die eine solche
Tiefenstrukturanalyse notwendig machen, wenn wir den Überblick über computerisierte
Medien nicht verlieren wollen. Am 9. Dezember 2015 meldeten Google und die NASA, dass
39 Ebd., S. 21f.
40 Jussi Parikka: A Geology of Media. (Electronic Mediations, Vol. 46) Minneapolis/London: Univ. of
Minneapolis Press 2015.
41 Ebd., S. viii
42 Ebd., S. 4.
43 Ebd., S. 5.
44 Jan Engelmann spricht von der „Grabschaufel der Medienarchäologie“, die sich hier freilich nicht nur durch
Staub oder Diskurse, sondern durch opak gewordene Abstraktionsschichten der Digitalmedien hinab zum
Material gräbt. Vgl. Jan Engelmann: „Aktenzeichen Foucault“. In: Ders. [Hg.]: Michel Foucault –
Botschaften der Macht. Der Foucault-Reader. Diskus und Medien. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt 1999,
S. 215-226, hier: S. 225.
45 Was meint, dass es durchaus reicht, dass ein Medium ,im Prinzip’ operationsfähig ist, so dass man seine
Operativität anhand seines strukturellen Aufbaus nachvollziehen können kann – selbst wenn es bei der
Analyse nicht in Funktion ist oder mehr ,funktioniert’.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
sie nun einen lauffähigen Quantencomputer besitzen. Dieser rechnet mit den Strukturen und
Quantitäten der Materie selbst – und zwar „100 Millionen mal schneller als ein
herkömmlicher binärer“46 Computer. Damit findet, laut den Ingenieuren des
Quantencomputers, die Medientechnologie zurück zur Natur: „,Da die Quantenphysik das
Betriebssystem der Natur ist, braucht es unweigerlich einen Quantencomputer, um sie zu
bedienen’ [...]. Der Quantenchip sei der einzig natürliche Bewohner des Multiversums, in dem
wir leben.“47
Um technische Medien als solche natürliche Auswüchse zu verstehen, muss – im Sinne des
einleitenden Mottos – der Blick nur tief genug hinab, durch ihre Schichten gelenkt werden,
um dort die Kieselsteine zu entdecken, die jetzt sich wieder48 als Maschinen begreifen lassen.
Hierzu musste (für klassische digitale Medien) aber zuerst die Opazität des Glases als
Medienmaterial durchdrungen und seine Durchsichtigkeit als Element der Verschleierung
erkannt werden. Dies ergänzt die Metaphorik des Glases als ‚Medium der Transparenz‘
dialektisch um ihr Gegenteil: als Substrat der Undurchsichtigkeit der Black Box, die es
medienstrukturwissenschaftlich zu öffnen gilt.
46 Thomas Schulz: Rechner-Revolution: Google und Nasa präsentieren Quantencomputer. In: Spiegel Online,
09.12.2015, http://txt3.de/glas5 (11.08.2016).
47 Ebd.
48 Der calculus war ein Zähl- und Rechenstein (vgl. Martin Heidegger: Der Satz vom Grund. Pfullingen: Clett-
Kotta 1971, S. 168.), der daher nicht nur dem Begriff Calculator (Rechner) zugrunde liegt, sondern auch
dessen diskrete Operation vorwegnimmt – die nun, im Computer – wieder auf Sand und Steinen basiert.
Preprint: S. Höltgen. Hertz aus Glas
Abbildungen:
Abb. 2 (links): „SiO2 as Quarz-cristal. 2D model“, Autor: Wikipedia,
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:SiO2_-_Quarz_-_2D.png (CC BY-SA 30)
Abb. 2 (rechts): „Si and Ca coordination spheres in Wollastonite (Si- and Ca-Umgebung in
Wollastonit)“, Autor: Solid State, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Wollastonite_Si_
%2B_Ca.png (CC BY-SA 3.0)
Abb. 4 (links): „Covalent bonding in silicon“, Autor: Michel Bakini,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Covalent_bonding_in_silicon.svg (CC BY-SA 4.0)
Abb. 4 (rechts): „Silicon crystallizes in a diamond cubic crystal structure“, Autor: Ben Mills,
https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Silicon-unit-cell-3D-balls.png (Public Domain)
Abb. 5 (links): „Dotierung im zweidimensionales Siliziumkristallgitter mit Aluminium“,
Autor: Cepheiden, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schema_-_p-
dotiertes_Silicium.svg (GNU Free Document License 1.2)
Abb. 5 (rechts): „Dotierung im zweidimensionales Siliziumkristallgitter mit Phosphor“,
Autor: Markus A. Hennig, https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Schema_-_n-
dotiertes_Silicium.svg (CC BY-SA 3.0)
Abb. 6 (rechts): „Blick auf den Chip eines MJ1000 (TO-3 Gehäuse, Deckel geöffnet). NPN-
Darlington Transistor mit Diode. Oberer Anschluss: Emitter, unterer Anschluss: Basis,
Gehäuse: Kollektor.“, Copyright: thomy_pc,
https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Darlington_transistor_MJ1000.jpg
Abb. 7: Flip-Flop, Autor: Thomas Fecker/Henry Westphal, Quelle: S. Höltgen (Hg.):
Medientechnisches Wissen, Band 4, Berlin/Boston: DeGruyter.
Abb. 8: Z80 CPU formed on glass substrate, Autor: Zilog,
http://gaby.de/z80/sharp/z80_glas.htm
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Ein Beispiel für einen Strukturspeicher ist ein Fahrplan, der die möglichen Wege, die ein Transportmittel nehmen kann, speichert, nicht aber die Transportmittel selbst
  • Ein Strukturspeicher Speichert Keine Informationen
  • Sondern Strukturen
Ein Strukturspeicher speichert keine Informationen, sondern Strukturen, in denen Informationen gespeichert, übertragen und prozessiert werden können. Ein Beispiel für einen Strukturspeicher ist ein Fahrplan, der die möglichen Wege, die ein Transportmittel nehmen kann, speichert, nicht aber die Transportmittel selbst. In Hinblick auf unser Thema ist der Mikroprozessor ein Strukturspeicher, der zwar das "knowing how", noch nicht aber das "knowing that" der Signal-bzw. Datenverarbeitung enthält.