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Deutsche
Sporthochschule
Köln
Schriftenreihe Natursport und Ökologie – Band 20
Sportgeographie –
Entwurf einer Systematik von
Sport und Raum
Christian Peters
Ralf Roth
INSTITUT FÜR NATURSPORT UND ÖKOLOGIE
Institute of Outdoor Sports and Environmental Science
Impressum
Herausgeber
Institut für Natursport und Ökologie (INOEK)
Deutsche Sporthochschule Köln
Autoren
Christian Peters
Ralf Roth
Satz/Layout
Gregor Klos, Christian Peters, INOEK
Druck
Sikora, Offenburg
Bildnachweis
Deckblatt: v. o. siehe S. 61, S. 27, S. 11, S. 13, S. 12
ISSN 1612-2437
© 2006 – Alle Rechte vorbehalten
Nachdruck – auch auszugsweise – nur mit Zustimmung des Herausgebers
Schriftenreihe
Natursport und Ökologie
Herausgegeben vom Institut für Natursport und Ökologie
Deutsche Sporthochschule Köln
Band 20
Vorwort
Gegenwärtig hat die Kategorie des Raumes in der Sportwissenschaft Konjunktur: Ob in der
Auseinandersetzung mit dem Naturraum als Erlebnisressource, bei der Planung von Sportstätten
und -gelegenheiten oder in der Vermarktung von Städten, Landschaften und Regionen. Sport
und Raum lassen sich nicht voneinander trennen. Im Gegenteil: Jedwede Form sportlicher Praxis
nutzt, produziert, gestaltet und verbraucht Raum. Nimmt man das Wechselverhältnis von Sport
und Raum jedoch wirklich ernst, dann wird schnell deutlich, dass der Raum nicht nur ein belie-
biger Gegenstand der Sportwissenschaft ist, sondern als Basiskategorie sportwissenschaftlicher
Forschung gelten muss. Daher ist eine grundlegende theoretische Auseinandersetzung mit den
Räumen des Sports längst überfällig, auch und insbesondere aus Sicht der Sportwissenschaft.
Die vorliegende Arbeit, die im Sommer 2006 als Diplomarbeit am Institut für Natursport
und Ökologie eingereicht wurde, kann hierzu einiges beitragen. Liefert sie doch zum einen eine
profunde Einführung in eine aus deutscher Perspektive bis dato völlig vernachlässigte Disziplin,
die Sportgeographie; sowie zum anderen eine trennscharfe Systematik der durch die sportliche
Praxis produzierten Räume.
Zum Entstehen der Arbeit trugen der Deutsche Akademischen Austauschdienst (DAAD) in
fi nanzieller Hinsicht ebenso wie Prof. Dr. Patricia Vertinsky von der ‚School of Human Kinetics’
der ‚University of British Columbia’ in Vancouver/Kanada in ideeller Hinsicht bei. Beiden sei für
ihre Unterstützung aufrichtig gedankt.
Es bleibt nur zu hoffen, dass diese erste Problematisierung von Sport und Raum in der
deutschen Sportwissenschaft den Weg für weitere Ansätze ebnet und sich zukünftig – auch
aufgrund des jüngst gegründeten Arbeitskreises für ‚Sport und Raum‘ in der Deutschen Verei-
nigung für Sportwissenschaft (dvs) – ein anregender und gewinnbringender Diskurs im Span-
nungsfeld von Sport und Raum entwickelt.
Prof. Dr. Ralf Roth Köln, im Oktober 2006
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Inhalt
Vorwort
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis 5
1 Einleitung 7
1.1 Hinführung zum Thema 7
1.2 Problemstellung und Zielsetzung 15
1.3 Aufbau der Arbeit 16
2 Sportgeographie – sinnlos, aber lohnend 18
2.1 Zum Verständnis von Sport 18
2.2 Zum Verständnis von Sportwissenschaft 22
2.3 Zum Verständnis von Geographie als Wissenschaft 24
2.4 Sportgeographie: Sport als räumliches System 26
2.5 Stellung der Sportgeographie innerhalb der wissenschaftlichen Disziplinen 29
2.6 Zum Verständnis von Sportgeographie 30
2.7 Stand der sportgeographischen Forschung – Von Pausanias zur Postmoderne,
vom Positivismus zum Poststrukturalismus 34
2.7.1 Frühe ‚Geographien des Sports’ 35
2.7.2 Positivistische Ansätze einer Sportgeographie 36
2.7.3 ‚Qualitative Revolution’ in der Sportgeographie 39
2.7.4 Postmoderne Sportgeographie 42
2.7.5 Entwicklung der Sportgeographie im Überblick 47
2.8 Forschungs- und Anwendungsfelder einer Sportgeographie 49
3 Sport und Raum 58
3.1 Räume des Sports – eine Annäherung 58
3.2 Forschungsstand des ‚Sport und Raum’-Diskurses 62
3.3 Eine geographische Systematisierung des Räumlichen 65
3.3.1 Der physikalisch-euklidische Raum 67
3.3.2 Der individuell-mentale Raum 67
3.3.3 Der kollektiv-soziale Raum 68
3.3.4 Das Zusammenspiel der Kategorien des Räumlichen 69
3.4 Anwendung der Systematik auf Sportraum-Szenarien 71
3.5 Wichtige ‚Sport und Raum’-Konzepte im Überblick 77
4 Schlussbetrachtung 87
4.1 Zwischenergebnis: Sportgeographie 87
4.2 Zwischenergebnis: Sport und Raum 88
4.3 Endergebnis und Fazit 89
5 Bibliographie 92
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Semantische Geographien der Sportberichterstattung 10
Abbildung 2: ‚Nikeplatz’ in Wien, ehemals Karlsplatz 11
Abbildung 3: ‚Skyplayer-Febbre’ auf den Dächern der Altstadt Roms 12
Abbildung 4: Deutschland als Fußballfeld 12
Abbildung 5: Auf dem Dach des ‚Burj al Arab’: Federer vs. Agassi 13
Abbildung 6: ‚Traceurs’ und ihr urbaner Spielplatz 14
Abbildung 7: Pyramidenmodell des Sports 19
Abbildung 8: Säulenmodell des Sports 20
Abbildung 9: Geographie – ein differenziertes System 24
Abbildung 10: Sportraum ‚Landschaft’ 27
Abbildung 11: Schnittmenge von Sportwissenschaft und Geographie 28
Abbildung 12: Wissenschaftliche Verortung der Sportgeographie 29
Abbildung 13: ‚Geographie(n) des Sports’ 31
Abbildung 14: Rooneys Konzeption einer Geographie des Sports 32
Abbildung 15: Hochsprung’ der Watussi in Ruanda 44
Abbildung 16: Themenfelder einer postmodernen Sportgeographie 50
Abbildung 17: Spuren der Aktionsräume auf dem Spielfeld 59
Abbildung 18: Köln Marathon 1998: Streckenverlauf, Stimmung und Zuschauerdichte 61
Abbildung 19: Das Münchener Olympiastadion und der Olympiapark 74
Abbildung 20: Das ‚War Memorial Gymnasium’ der UBC in Vancouver 76
Tabelle 1: Sportgeographie als Bündelung teildisziplinärer Diskurse 30
Tabelle 2: Vier Phasen der Entwicklung der Sportgeographie 48
Tabelle 3: Vielfältigkeit des Raumbegriffes im Sport 62
Tabelle 4: Disziplinäre Konzeptionen des Raumbegriffes 64
Tabelle 5: Raum-Systematik in Anlehnung an Poppers ‚Drei Welten-Theorie’ 66
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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1 Einleitung
‚Sport und Raum’ – und damit die wissenschaftlichen Disziplinen Sportwissenschaft und
Geographie – lassen sich nur schwer voneinander trennen, wie BALE am Beispiel des Orientie-
rungslaufes deutlich macht. „Indeed, for one sport – orienteering – where map, compass and
route-fi nding are all essential parts of the activity, it is diffi cult to know where the sports starts
and the geography stops. It begs the question of whether an orienteer is ‘doing’ geography or
sport“ (2003a: 2).
Jedwede Form sportlicher Aktivität – und nicht nur der Orientierungslauf – ist per se an
Raum gebunden. Das dokumentiert sich schon im Wort ‚SpORT’, verbirgt sich in ihm mit dem
Ort doch eine zentrale räumliche und damit geographische Kategorie.
Das gegenwärtige Interesse an den Räumen des Sports erscheint umso erstaunlicher, als dass
die beiden akademischen Disziplinen Sportwissenschaft und die als Wissenschaft des Räumli-
chen apostrophierte Geographie noch bis vor wenigen Jahren lediglich eines gemeinsam hat-
ten: ihr gegenseitiges Desinteresse. Es ist deshalb im Zuge einer systematischen Annäherung an
die Räume des Sports zu allererst notwendig, die Disziplinen Sportwissenschaft und Geographie
inhaltlich in der Sportgeographie zusammenzuführen, um so zu einer theoretischen Basis für die
Annäherung an den Themenkomplex ‚Sport und Raum’ zu gelangen.
1.1 Hinführung zum Thema
Während eine Vielzahl akademischer Disziplinen (wie Soziologie, Psychologie, Geschich-
te, Phisophie etc.) eine auf Sport bezogene Subdisziplin für sich reklamieren kann (Sport-
soziologie, Sportpsychologie, Sportgeschichte, Sportphilosophie etc.), ist es hingegen bis
dato nicht zur Konstitution einer international akzeptierten Sportgeographie gekommen. In
Deutschland wagte RÖSCH 1986 den einzigen Versuch zur Begründung einer Sportgeogra-
phie. Eine systematische, geographische Auseinandersetzung mit dem Sport, wie sie im eng-
lischen Sprachraum seit nahezu zwei Jahrzehnten vorliegt (BALE 1989), fehlt aus deutscher
Perspektive gänzlich. Insofern muss dem Sport als Forschungsgegenstand der deutschspra-
chigen Geographie der Status einer ‚Terra incognita’ eingeräumt werden. Gleiches gilt für
die sportwissenschaftliche Beschäftigung mit den räumlichen Implikationen des Sports. Auch
hier besteht großer Forschungsbedarf, wie die erst kürzlich vorgenommenen Gründung der
Kommission für ‚Sport und Raum’ innerhalb der ‚Deutschen Vereinigung für Sportwissen-
schaft’ (dvs) indiziert.
Dies ist unter diversen Gesichtspunkten erstaunlich:
1. Der Sport hat sich zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor entwickelt. Zudem ist seine politi-
sche, soziale und kulturelle Bedeutung immens.
2. Im Prozess des allgemein-gesellschaftlichen Wandels der fortschreitenden Modernisierung
ist der Sport ubiquitär geworden (vgl. BETTE 1999, SCHULZE 1992, BECK 1986). GEBAUER et al.
(2004: 80) beobachten an den postmodernen Sportpraxen (Inlinehockey, Triathlon etc.) die
Aufhebung institutionalisierter Begrenzungen und Normierungen der Spiel-, Sport- und Be-
8
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wegungsräume. Diese öffnen sich im Gegensatz zum traditionellen, sich von seiner Umwelt
abschottenden Sport für die sie umgebende Sportlandschaft.
3. Die kulturalistische(n) Wende(n)1, die die Sozial- und Kulturwissenschaften seit dem Ende
der 1970er Jahre erfasste(n), führte(n) zu einer Verschiebung des Forschungsgegenstandes
der betroffenen Disziplinen. Dabei gerieten Sinnzuschreibungen sowie Repräsentationen der
Alltagspraktiken und der Populärkultur verstärkt in den Fokus des wissenschaftlichen For-
schungsinteresses. Dennoch ist bisher, auch von Seiten der Sozial- oder Kulturgeographie,
eine Problematisierung des Sports und seiner Räume ausgeblieben (zur Konvergenz von
Pop- und Sportkultur vgl. SCHMIDT 2001 und 2002).
4. Raum, Ort, Landschaft und Region als zentrale Kategorien spielen sowohl im Sport und da-
mit in der Sportwissenschaft als auch in der Geographie eine zentrale Rolle (vgl. BALE 1989:
2). So verstehen WAGNER (1981: 92) und BALE (2000b: 172) Sport als einen (Wett-)Kampf
um Raum, der innerhalb räumlicher und allgemein-regulativer Grenzen stattfi ndet. BALE
(2000b: 172) fügt hinzu, dass Sportmannschaften nahezu immer Orte repräsentieren, der
Sport demnach stärker als jedes andere Kulturgut zur Identifi kation der Bewohner mit ihrem
(Wohn-)Ort beiträgt. „For most of the time, communities have no common goals. They fi ght
no wars, seldom engage in community rallies, and are rarely faced with such crises as fl oods
or tornadoes that can engender a communal spirit. Sport events, be they between schools,
cities, regions or nations, do produce this communal spirit” (BALE 1988: 513; vgl. dazu auch
RÖSCH 1986: 18).
Im Rahmen einer rezenten Entwicklung wird in einer Vielzahl jüngerer Publikationen eine
verstärkte Erforschung des ‚Räumlichen’ im Sport gefordert (vgl. MARKOVITS et al. 2003, VAN INGEN
2003, TANGEN 2004, VERTINSKY & BALE 2004).
Das bisherige Fehlen einer systematischen Erforschung der Sporträume bildet deshalb den
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit. Diese soll dazu beitragen, die wissenschaftliche Not-
wendigkeit der Beschäftigung mit sportgeographischen Fragestellungen aufzuzeigen und das
große, der Disziplin innewohnende Potenzial kenntlich zu machen.
Doch inwieweit überschneiden sich im Sport denn nun sportwissenschaftliches und geogra-
phisches Interesse? Welche Themenkomplexe kann die Sportgeographie für sich beanspruchen?
Wer betreibt Sportgeographie? War etwa der Profi -Fußballer Günther Netzer2 mit der Heraus-
gabe seiner Autobiographie ‚Aus der Tiefe des Raumes’ einer der Begründer der Sportgeogra-
phie? Kann der jüngst verstorbene Forschungsreisende, Sportler, Bergsteiger und Tibetforscher
Heinrich Harrer als Sportgeograph bezeichnet werden, weil er in Graz Sport und Geographie
studiert hatte, ehe er durch seinen Sport, das Bergsteigen, die Gebirgsräume der Welt erkun-
1 BLOTEVOGEL (2003: 9) spricht eher von einer Familie von ‚cultural turns’, die sich als einen Prozess der Neubestimmung
von Fragestellungen und Methoden verstehen lässt und seit dem Ende der 1970er Jahre in den meisten Geistes- und
einigen Gesellschaftswissenschaften stattfand.
2 Die Autobiographie ‚Aus der Tiefe des Raumes. Mein Leben’ des Profi -Fußballers Günther Netzer, der in den 1970er
Jahren als Spielmacher von Borussia Mönchengladbach zur Ikone seiner Zunft avancierte, erschien 2004 im Rowohlt-
Verlag.
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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dete?3 Wo liegen die Schnittfl ächen von Sport, Sportwissenschaft, Raum und Geographie? Als
Annäherung dazu einige Gedanken und Beobachtungen:
1. Die Fußreise und der Spaziergang: Bewegung im Raum
„We learn a place and how to visualize spatial relationships, as children on foot and with
imagination. Place and the scale of place must be measured against our bodies and their capa-
bilities” (SNYDER 1990: 98). Heutzutage hingegen lässt sich die Topographie eines Landes oder
einer Stadt ohne den Verlust eines einzigen Schweißtropfens durchqueren (BETTE 2004: 73).4
Insofern sind Fußreisen und Spaziergänge als Archetypen der körperlich-sinnlichen Bewältigung
und Erfahrung des Raumes sowie räumlicher Distanzen zu verstehen. Sie bilden somit einen
Ursprung sportgeographischer Forschung.5 Darauf verweist schon die Etymologie des Wortes
‚Spaziergang’. Meint ‚Spazierengehen’ doch im wörtlichen Sinne eine mehr oder weniger sport-
liche Bewegung im Raum (von lat. spatiari: lustwandeln, sich dem Raum hingeben (DUDEN 2001:
785)) und steht damit im Zentrum dessen, was Sportgeographie untersucht.6
Zudem ist das lateinische Wort ‚spatium’ etymologisch mit einem anderen, sportgeogra-
phisch bedeutsamen Wort verwandt: dem ‚Stadion’. Das griechische Wort ‚στάδιον’ bedeutete
zunächst lediglich eine Strecke von 600 Fuß und bezeichnete auch den Lauf über diese Distanz.
Im Zuge der Errichtung fester Sportstätten von der Ausdehnung eines Stadions wurde der Name
des Längenmaßes zur Bezeichnung des neuen Bautyps verwendet. Bis in die heutige Zeit hinein
hat sich diese Bezeichnung bewahrt, die unabdingbar zwei Elemente in sich vereinigt: einen
Platz für die Wettkämpfer und einen Raum für die Zuschauer (DECKER 1995: 158 f).
2. Semantische Geographie(n) der Sportberichterstattung
Zur Illustration semantisch-geographischer Strukturen der Sportberichterstattung dient der
nebenstehende, allerdings fi ktive Zeitungsartikel (vgl. Abbildung 1, S. 10). In diesem wird am
3 Der Österreicher Heinrich Harrer war 1936 als Skifahrer in der Abfahrt und im Slalom Teilnehmer der Olympischen
Spiele. Gemeinsam mit Anderl Heckmair, Wiggerl Vörg und Fritz Kasparek gelang dem Bergsteiger Harrer 1938 die
Erstdurchsteigung der Eiger-Nordwand. Harrer heiratete im selben Jahr Lotte Wegener, die Tochter des Grönlandfor-
schers und Entdeckers der Kontinentalverschiebung Alfred Wegener. Endgültige Berühmtheit erlangte Harrer durch
seinen sieben Jahre währenden Aufenthalt in Tibet. Während dieser Zeit avancierte er zum Lehrer und Berater des
Dalai Lama, des geistlichen und weltlichen Oberhauptes der Tibeter.
4
Zur Entkoppelung von Körper, Raum und Fortbewegung sowie zu einer daraus resultierenden Veränderung der Wahr-
nehmung des (post-)modernen Menschen konstatiert BETTE: „Im Zeitalter der modernen Transporttechniken berühren
die Beine den Boden nicht mehr, sondern bleiben auf Distanz zu ihm. Der Körper muss vor dem Raum geschützt
werden, den er mit hoher Geschwindigkeit durcheilt. […] Im Zeitalter des technisierten Transports verschwinden für
Reisende die Details des überbrückten Raumes. Gerüche, Farben, topographische Differenzen und klimatische Beson-
derheiten verlieren an Bedeutung“ (2004: 98). Zur Geschwindigkeit im Raum- und Zeitverständnis der (Post-)Moderne
bemerkt BETTE: „Waren gering differenzierte Gesellschaften, beispielsweise tribale Kulturen, noch eng an die Rhythmik
der Natur, an den Wechsel von Hell und Dunkel sowie an die Wiederkehr der Jahreszeiten angelehnt, hat sich die
moderne Gesellschaft von zyklischen und naturalen Vorstellungen weitgehend emanzipiert und eigenständige Zeitper-
spektiven [und damit auch eigene Raumperspektiven] ausgeprägt“ (2004: 112).
5 Eindrucksvolle historische Abrisse des Fußreisens und des ‚Zufußgehens’ bieten die Werke von SOLNIT (2001) ‚Wander-
lust – A History of Walking’ und AMATO (2004) ‚On Foot – A History of Walking’.
6 Der Lehrstuhl für Allgemeine Literaturwissenschaft und Neuere Deutsche Literaturgeschichte der Rheinisch-Westfä-
lischen Technischen Hochschule Aachen und das Germanistische Seminar der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Uni-
versität Bonn veranstalteten vom 30. Juni bis 2. Juli 2005 eine Tagung zum Thema ‚Landschaftsgänge - Bewusst-
seinslandschaften: Zur Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Näheres dazu im Internet unter http://germlit.
rwth-aachen.de/181.html (Zugriff: 22. Januar 2006).
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Tag nach dem Sieg der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft im
eigenen Land (Montag, 10. Juli 2006) von den Ereignissen des Vorabends berichtet.
Eine Vielzahl geographischer Kategorien und Theorien (Grenzen, Metropolen, Globalisie-
rung, Umwelt-Determinismus, Regionalisierung etc.) durchzieht den gesamten Artikel, der in
solcher oder ähnlicher Form durchaus als symptomatisch für die bundesdeutsche Sportbericht-
erstattung gelten kann.
Abbildung 1:
Semantische
Geographien der
Sportbericht-
erstattung
BERLIN.
Fußball-Deutschland
außer Rand und Band. Es gab kein
Halten mehr, als Michael Ballack
gestern Abend um 22:32 Uhr den
WM-Pokal aus den Händen von
Fifa-Generalsekretär Josef Blatter
in Empfang nahm. Minutenlang
reckte der Kapitän der deutschen
Fußball-Nationalmannschaft den
Pokal in den Berliner Abendhim-
mel. Zur Freude seiner Mitspieler
und der 80.000 entfesselten Zu-
schauer im ausverkauften Berliner
Olympiastadion. Eine La Ola-Wel-
le nach der anderen erfasste das
weite Rund. Dabei war der Tri-
umph am Abend erst der Beginn
einer langen Partynacht. Das ganze
Land von Flensburg bis Oberstdorf,
von Aachen bis Görlitz stand Kopf:
Deutschland im Ausnahmezustand.
Deutschland steht Kopf
Allerdings hatte es vor und während
der 90 Minuten auf dem Platz lan-
ge Zeit nicht nach diesem Triumph
ausgesehen. Waren die äußeren
Bedingungen doch wie geschaffen
für einen Erfolg der Brasilianer.
Die Hitzewelle über Deutschland
und der pulvertrockene Platz spiel-
ten den favorisierten Ballzaube-
rern vom Zuckerhut in die Karten.
Folgerichtig gingen die Brasilia-
ner durch ihren Superstar Ronal-
dinho bereits früh in Führung (9.
Minute). Doch glücklicherweise
gelang es Miroslav Klose vor den
Augen von weltweit 2 Milliarden
Fernsehzuschauern postwendend,
die Führung zu egalisieren (11.).
Nach dem Ausgleich dominierten
erneut die Südamerikaner. Diese
brannten von ihrer unvergleichli-
chen Leichtigkeit und Spielfreude
beseelt ein Feuerwerk brasiliani-
scher Spielkunst ab und demons-
trierten so ihre beeindruckende
Stärke. Ein ums andere Mal dü-
pierten Ronaldinho, Robinho und
Kaka die tapfer gegenhaltenden
Deutschen auf engstem Raum.
Klinsmann: Allererste Sahne
Allein Zählbares sprang dabei für
die Brasilianer letztlich nicht her-
aus. Jens Lehmann: „Wir wussten,
dass darin unsere Chance liegt. An
manchen Tagen sind die Brasilia-
ner einfach zu verspielt. Dann wol-
len sie den Ball ins Tor tragen. Das
ist Teil ihrer Mentalität.“ Anders
als noch vor vier Jahren ging dieser
Plan gestern auf. Ballacks Gewalt-
schuss aus der 67. Spielminute ließ
dem brasilianischen Gästetorwart
Dida keine Chance. Fortan galt es
für die deutsche Mannschaft, die
knappe Führung zu verteidigen. Vor
allem im Mittelfeld war jeder Zen-
timeter Rasen heiß umkämpft. Ge-
schickt stellten hier die Deutschen
die Räume zu und ließen die Bra-
silianer nicht zur Entfaltung kom-
men. Doch dass dieses Unterfangen
derart souverän gelang, überrasch-
te auch Bundestrainer Jürgen
Klinsmann. Der lobte hinterher die
mannschaftliche Geschlossenheit
seiner Elf. „So wie die Jungs heute
nach
dem Führungstreffer die Räu-
me zugestellt haben gegen diese
brasilianischen Ballzauberer, das
war schon allererste Sahne.“ Und
tatsächlich: Die Mittelfeld-Raute
Ballack, Schweinsteiger, Borowski
und Frings kämpfte verbissen und
gab keinen Zweikampf verloren.
Ein einziges Mal noch fand Kaka
ein Loch in der Abwehrformation
der Deutschen (78.). Doch seinen
Schuss parierte Lehmann glänzend.
Teammanager Oliver Bierhoff
gestand nachher, nicht mit einem
deutschen Sieg gerechnet zu ha-
ben. Zu stark hätten sich die Bra-
silianer i
n den Vorrundenspielen
präsentiert. „Für mich war heute
entscheidend, dass wir der brasilia-
nischen Leichtigkeit getrotzt haben,
indem wir die deutschen Tugenden
in die Waagschale geworfen ha-
ben“, fand Bierhoff in der starken
kämpferischen Leistung und im
unbändigen Siegeswillen der deut-
schen Elf plausible Erklärungen
für den Triumph. Zudem bedankte
sich Bierhoff bei den Zuschauern:
„Wohl nie war der Heimvorteil ei-
ner Mannschaft größer als für uns
hier im eigenen Land. Die Unter-
stützung war wirklich sensationell.“
Merkel: „Ein großer Tag!“
Bundeskanzlerin Merkel beglück-
wünschte die Spieler sichtlich ge-
rührt und sprach von einem großen
Tag für Deutschland. Auch WM-Or-
ganisator
Franz Beckenbauer hofft
auf einen Schub für das ganze Land:
„Diese Euphorie, die der WM-Sieg
im Land ausgelöst hat, könnte ein
Signal sein, dass es wieder auf-
wärts geht in Deutschland. Ähnlich
wie das auch 1954 der Fall war.“
Ob der WM-Triumph auch wirt-
schaftlich zu einem Aufschwung
im L
and führen wird, bleibt indes
abzuwarten. Der Fußball jedenfalls
hat seinen Beitrag geleistet. Nur ein
Jahr, nachdem ‚wir Papst wurden’,
sind wir nun auch Weltmeister!
Revanche gelungen: Ballacks Schuss ins Glück / Klose gleicht Führung durch Ronaldinho aus
Grenzenloser Jubel: Wir sind Weltmeister
VON CHRISTIAN PETERS
Verhaltener Jubel: Michael Ballack
B
ILD
: DPA
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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3. ‚Rethinking Space‘ – Den Raum neu denken
Im Herbst des Jahres 2003 erregte in Wien eine revolutionäre Werbeaktion des nordameri-
kanischen Sportartikelunternehmens ‚Nike’ die Gemüter. Im Rahmen der neuen, groß angeleg-
ten Werbekampagne ‚Nikeground’ fragte der Sportartikelhersteller ‚You want to wear it, why
shouldn’t cities wear it, too?’ und gab unter dem Titel ‚Rethinking Space’ vor, Straßen, Plätze,
Boulevards und Parks mit Hilfe des Firmennamens und -logos neu zu gestalten. Ein überdimen-
sional großer ‚Swoosh’ sollte – wie in vielen anderen Metropolen – auch den Wiener Karlsplatz
schmücken, der fortan in ‚Nikeplatz’ umbenannt würde (vgl. Abbildung 2). Seit mehr als drei
Jahrzehnten wirbt der Sportartikelhersteller ‚Nike’ mit Hilfe seines Logos, eben jenem ‚Swoosh’.
Dieser gilt als die reduzierte Form der Sportvermarktung und steht überall auf der Welt für das
Sportartikelunternehmen ‚Nike’ und dessen Produkte“ (TROSIEN 2004: 62). Doch nachdem sich
in Wien erste Proteste gegen eine Umbenennung des historisch bedeutsamen Platzes formiert
hatten, wurde bekannt, dass die Aktion keine Nike-Kampagne war, sondern auf das Konto der
italienischen Künstlergruppe 0100101110101101.org ging. Deren faszinierende Idee – die sich
im Übrigen nahe an der ‚Nike’-Realität bewegt, heißen die großen Konzeptläden des Sportarti-
kelherstellers doch tatsächlich ‚Niketown’ – ist nicht nur aus künstlerischer und unternehmens-
kommunikativer Sicht interessant, sondern kann auch als bezeichnend für die aktuelle sportge-
ographische Beschäftigung mit dem Thema ‚Sport und Raum’ betrachtet werden.7
7 Ausführliche Informationen sowie eine umfangreiche Projekt-Dokumentation bietet die Projekt-Homepage im In-
ternet unter: http://www.nikeground.com (Zugriff: 19. Januar 2006). Wie stark sich Sportartikelhersteller und damit
auch der Sport heutzutage im Spannungsfeld von Kunst, Design, populärer Kultur und Globalisierung bewegen, ver-
deutlichte eindrucksvoll die Ausstellung des kanadischen Künstlers Brian Jungen in der ‚Vancouver Art Gallery’ (28.
Januar bis 30. April 2006; http://www.vanartgallery.bc.ca), in der aus zerlegten ‚Nike Air Jordan’-Basketballschuhen
genähte Masken zu sehen sind. Die Objekte erinnern stark an die zeremoniellen Masken der Nordwestküstenindia-
ner. Die Farben schwarz, weiß und rot der Turnschuhe korrespondieren mit den ästhetischen Codes der indigenen
Nordwestküstenkunst. So verschmilzt in Jungens Maskenserie indianische mit populärer westlicher Kultur (vgl. CLARK
2006: 4).
Abbildung 2:
‚Nikeplatz’ in
Wien, ehemals
Karlsplatz (NIKE-
GROUND 2006)
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4. ‚Calciatori del cielo’ – Himmelskicker in Rom
Die Süddeutsche Zeitung machte in ihrer
Weihnachtsausgabe vom 24. Dezember 2004
auf jugendliche Immigrantenkinder in Rom
aufmerksam, die die noblen Dachterrassen der
römischen Altstadt zum Fußballspielen nutzten.
Während das Anmieten von Plätzen in den Vor-
städten für die Jugendlichen nicht-italienischer
Provenienz schlichtweg zu teuer war und die
Straßen der ewigen Stadt von dichtem Verkehr
beansprucht wurden, sahen sich die Jugendli-
chen gezwungen, neue Räume zur Ausübung
ihres Sports zu erobern. Sie wurden auf den
Dächern ihrer Stadt fündig (vgl. Abbildung 3).
Diese friedliche Inbesitznahme neuer Sporträume traf den Nerv der Sehnsüchte der Fußball
verrückten Stadt Rom genau in der Zeit, als die beiden römischen Fußball-Profi klubs sportlich
erfolglos waren und zudem gegen den fi nanziellen Bankrott sowie den Rechtsradikalismus in
den Fankurven ihrer Stadien kämpften. So war es wohl nicht verwunderlich, dass sich die Lokal-
presse auf die ‚Calciatori del cielo’ stürzte, sich ihrer Geschichte(n) annahm und durch das von
ihr produzierte Maß an Aufmerksamkeit für ein ‚Skyplayer-Febbre’ in der Stadt sorgte, so dass
schließlich gar der Weltkonzern ‚Nike’ auf die Himmelskicker aufmerksam wurde und diese mit
Trainingsanzügen ausrüstete. Das ‚Dachter-
rassen-Gekicke’ der Skyplayer zog bisweilen
so viele Zuschauer an, dass es auf Großlein-
wänden einige Stockwerke tiefer übertragen
wurde (SCHÖNAU 2004: 39).8
5. Sportlandschaft –
Deutschland als Fußballfeld
Dass ‚Sport und Raum’ zumindest in der
Werbebranche Konjunktur haben, unter-
streicht ein Werbefi lm des Getränkeherstellers
Coca-Cola (vgl. Abbildung 4).
Darin visualisiert Coca-Cola sein Motto
zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006 ‚It‘s your
Heimspiel! – Make it Real’ unter Zuhilfenahme
des größten Fußballfeldes aller Zeiten. Dieses
ist ca. 357.000 km2 groß und bietet Platz für
mehr als 80 Millionen Fans, gemeint ist näm-
Abbildung 3:
‚Skyplayer-Febbre’
auf den Dächern
der Altstadt Roms
(VESPA 2004: 109)
8 Mehr Informationen zu den römischen ‚Himmelskickern’ gibt es im Internet unter: www.aircalcettoroma.it (Zugriff:
27. März 2006) oder auf der Homepage von ‚Nike Roma Overground’: www.nccc3.com/pop.html (Zugriff: 28. Sep-
tember 2005).
Abbildung 4:
Deutschland
als Fußballfeld
(COCA-COLA
GmbH 2005)
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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lich das Fußballfeld ‚Deutschland’. In der offi ziellen Pressemitteilung des Konzerns heißt es
dazu: „Nicht die Star-Kicker, sondern Fans aus unterschiedlichen Regionen Deutschlands spielen
die Hauptrolle im neuen ‚Heimspiel’-Spot von Coca-Cola. Mit einem Kreidewagen ziehen sie
durchs Land und zeichnen weiße Linien in der Hauptstadt, am Ostseestrand und im Allgäu, bis
das Spielfeld eingekreidet ist. Travemünde, St. Peter Ording, Berlin, Potsdam, Tennsee und Mit-
tenwald sind nur einige Stationen, die auf der Route von Nord- nach Süd- und von West- nach
Ostdeutschland durchquert werden“ (COCA-COLA 2005).9
6. Dubai – (wüste) Inszenierung einer (Sport-)Metropole
In schwindelnder Höhe, 211 m über dem Persisch-Arabischen Golf, trainierten im Februar
2005 die Tennis-Profi s Andre Agassi und Roger Federer auf dem Hubschrauber-Landeplatz des
Hotels ‚Burj Al Arab’ in Dubai. Sie warben mit ihrem Schautraining auf dem Dach des einzigen
Sieben-Sterne-Hotels der Welt für das Tennisturnier der Stadt (vgl. Abbildung 5).
Wie kaum eine andere Stadt weltweit versucht sich die Wüstenstadt Dubai, mithilfe einer
gezielten und prestigeträchtigen städtebaulichen Konzeption als kosmopolitische Tourismusdes-
tination zu inszenieren. Als Medium der Festivalisierung sowie als Imageträger spielt der Sport
eine bedeutsame Rolle in dieser Inszenierung. So richtet Dubai mittlerweile mehrere internatio-
nale Sportveranstaltungen wie die schon erwähnten ‚Dubai Tennis Open’, das Golfturnier ‚Dubai
Desert Classic’ und das höchstdotierte Pferderennen der Welt, den ‚Dubai World Cup’, aus.
9 Nähere Informationen zum Werbespot des Getränkeherstellers lassen sich auf der Internetplattform http://www
.cokefridge.de/fridge.html (Zugriff: 27. März 2006) fi nden.
Abbildung 5:
Auf dem Dach
des ‚Burj al Arab’:
Federer vs. Agassi
(BURJ AL ARAB
2006)
14
© INOEK
Zudem hat sich das klimatisch vollaride Dubai zu einer der führenden Golfdestinationen des
Nahen Ostens entwickelt. Außerdem verfügt die Stadt seit September 2005 über die weltgrößte
Skihalle. Der Sport ist demnach gleichermaßen Motor und Objekt der ehrgeizigen Pläne des
Emirs von Dubai, Sheihk Maktoum Rashid al Maktoum (LAVERGNE & DUMORTIER 2000: 46).10
7. ‚Le Parkour – The art of movement’ oder ‘Sportgerät Stadt’
Im Spannungsfeld von körper- und bewegungskultureller Performanz, urbanem Raum, asia-
tischer Philosophie und populärer Kultur sorgt zurzeit ein neuer Extremsport weltweit für Aufse-
hen. Seine Anhänger nennen sich ‚Traceurs’ oder ‚Free Runner’ und hüpfen halsbrecherisch von
Hausdach zu Hausdach, laufen Wände hinauf und verwandeln so die Stadt in einen ‚Parcours’
(vgl. Abbildung 6). Von den ‚normalen’ Passanten lassen sich diese, durch die urbanen Zen-
tren rasenden Hochgeschwindigkeitskörper anhand der Merkmale Technizität, Geschwindigkeit
sowie durch ihre fl ugähnlichen Bewegungen deutlich unterscheiden. In der Mitte der 1990er
Jahre wurde diese neue ‚Untergrund-Sportart’, zu deren Vorläufern sich der Flâneur des 19.
Jahrhunderts ebenso zählen lässt wie die romantische Wandervogel-Bewegung, die Turngym-
nastik Turnvater Jahns oder die Skateboard-Artistik der 1980er, von dem Franzosen David Belle
in einem kleinen Vorort von Paris begründet (ROSENFELDER 2005: 48). Mittlerweile verstehen sich
die ‚Traceurs’ als ‚Flâneure der Postmoderne’ und wollen ihren Sport nicht zuletzt auch als Kunst
verstanden wissen, welche die scheinbar festgelegten Bedeutungszuweisungen und bestehen-
den Funktionen von Material und Orten hinterfragt und reinterpretiert. Die ‚Traceurs’ gelten
damit als Paradebeispiel jener postmodernen
Sportprotagonisten, die die räumlichen Be-
grenzungen des klassischen Sports sprengen,
indem sie den Hallen, Sportplätzen und Sta-
dien den Rücken kehren, um die öffentlichen
Räume als Repräsentationsforen und Präsen-
tationsbühnen ihrer Selbstdarstellung und Le-
bensstile zu nutzen (GEBAUER et al. 2004: 25;
vgl. auch PARKOUR WORLDWIDE ASSOCIATION (PAWA)
DEUTSCHLAND 2006).
8. ‚Sportifi cation of Urban Space’ – Stadtentwicklung durch Sport
Ein spektakuläres Beispiel für die Rückgewinnung urbaner Räume durch Sport bilden die
Ideen und Projekte des in Berlin und Halle beheimateten Planungsbüros ‚Complizen’. Diese
entwickeln visionäre Formen von Architektur und konzentrieren sich besonders auf Projekte
mit nachhaltiger Zukunftsperspektive. Zentral ist für die ostdeutschen Stadtplaner dabei die
10 Hier wäre eine weiterführende Forschungsarbeit unter dem Titel ‚Dubais Aufstieg zur globalen Tourismusdestination
unter besonderer Berücksichtigung des Sports’ interessant. So ist der deutsche Fußball-Rekordmeister ‚FC Bayern
München’ seit einigen Jahren während des Winter-Trainigslagers Gast des Scheichs. Die Fluggesellschaft ‚Emirates
Airlines’ der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), zu denen Dubai zählt, fungierte noch in der Saison 2005/2006
als Trikot-Sponsor des englischen Fußball-Klubs ‚FC Chelsea London’. Ab der Saison 2006/07 ist die Fluggesellschaft,
die auch zu den Hauptsponsoren der Fußball-WM 2006 zählte, Trikot-Sponsor des ‚FC Arsenal London’. Außerdem
sicherten sich ‚Emirates Airlines’ die Namensrechte an der Heimspielstätte der ‚Gunners’ in London.
Abbildung 6:
‚Traceurs’ und
ihr urbaner
Spielplatz (PAWA
DEUTSCHLAND
2006)
15
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Frage, wie viel Spaß, Sport und Eigeninitiative Stadtplanung zulässt und vor allem, wie Stadt
oder Architektur in neue Sportarten integriert werden können. Dabei zielen die Visionäre vor al-
lem auf eine sportliche Aneignung und Umwidmung von brachliegendem oder freiwerdendem
Stadtraum ab. „Als junge Planer haben wir die Vision, dass Mitteldeutschland Standort und
Treffpunkt für urbane Sportler sein wird. Städtische Großwohnsiedlungen können Anlaufstelle
für Mannschaften und Individualisten sein, denen es gelingt, neue und entwicklungsfähige Be-
tätigungsfelder zu erschließen“ (SPORTIFICATION 2006).
Prominentestes Projekt der jungen Stadtplaner ist das Netzwerk ‚Sportifi cation’, dessen Idee
2003 in den Hochhaus- und Plattenbausiedlungen von Halle-Neustadt entstand. Mithilfe krea-
tiver und innovativer Sportevents wie Downstairs-Competition (mit dem Fahrrad abwärts durch
Treppenhäuser fahren), Frisbeerace (Frisbee-Spiel über die Dächer mehrerer Hochhäuser) und
Foampit-Contests (spektakuläre Sprünge im Wettbewerb von Skatern und Bikern in Schaum-
stoffgruben) versucht das Netzwerk gezielt, den Sport als ein Mittel zur Stadtteilentwicklung
einzusetzen und so das Image von Hochhaus- und Plattenbausiedlungen aufzuwerten. Zu den
Sportaktivitäten gesellt sich ein musikalisches Rahmenprogramm, so dass für das junge und ak-
tive Publikum in seiner unmittelbaren räumlichen Wohnumwelt ein erlebnis- und actionreicher
Event veranstaltet wird.
‚Sportifi cation’ war im Jahr 2004 einer der deutschen Beiträge auf der Architektur-Biennale
in Venedig, anhand dessen die Symbiose von radikalem Sport und Architektur aufgezeigt wer-
den sollte (WOPP 2006: 401). „Durch den Tourcharakter des Events wird der Austausch auf indi-
vidueller und institutioneller Ebene intensiviert, Erfahrungssynergien genutzt und ein Netzwerk
geschaffen, welches lokale Standortkompetenz überregional verknüpft. Die Vision ist, dass in
einer zunehmend freizeitorientierten Gesellschaft die Neubauzentren wichtige Standorte für
den urbanen Sport sind beziehungsweise zu diesen werden können“ (SPORTIFICATION 2006).
Die acht einführenden Beispielen, denen zwar überwiegend das in Regeln, Punkten, Ergeb-
nissen und Rangplätzen ausgedrückte Sportfachliche fehlt (GEBAUER et al. 2004: 12), die aber
gerade deshalb die jüngere Entwicklung des Sportssystems abbilden, sollen einleitend die Breite
dessen aufzeigen, was unter Sportgeographie subsumiert werden kann und darüber hinaus
ein Gespür dafür vermitteln, in welchem konzeptionellen Spannungsfeld sich die Subdisziplin
aktuell bewegt.
1.2 Problemstellung und Zielsetzung
Die Vernachlässigung des Sports seitens der deutschsprachigen Geographie fi ndet in der
Nichtberücksichtigung der räumlichen Implikationen des Sports innerhalb der Sportwissenschaft
ihr Pendant. Die vorliegende Arbeit verfolgt deshalb im Wesentlichen zwei Ziele.
Zum einen soll, wie es für eine systematische Problematisierung von Sport und Raum sinnvoll
erscheint, die Sportgeographie als eine bisher insbesondere aus deutscher Perspektive vernach-
lässigte, aber durchaus lohnende wissenschaftliche Disziplin vorgestellt werden. Dabei soll nicht
die Frage nach der Existenz einer Sportgeographie maßgeblich sein, – denn in einem breiten
16
© INOEK
institutionalisierten Rahmen (es gibt zur Zeit weltweit weder einen Lehrstuhl für Sportgeogra-
phie, noch ein Fachmagazin, noch Wissenschaftler, die sich explizit als Sportgeographen be-
zeichnen, noch ist die Sportgeographie in den einschlägigen fachwissenschaftlichen Lexika als
solche aufgeführt) ist de facto bisher nirgendwo eine Sportgeographie vorhanden – sondern
vielmehr die Frage danach, was an sportwissenschaftlichen und geographischen Erkenntnissen,
Untersuchungen und Diskursen unter das Dach einer Sportgeographie gefasst werden kann.
Der Anspruch dieser Arbeit ist deshalb eher ähnlich dem von John Bale bei der Herausgabe
des Buches ,Sports Geography’: „Because sports geographic writing has been undertaken in a
wide range of disciplines and is found in often inaccessible and somewhat fugitive sources, the
prime aim of the present book is to draw together the major themes from a scattered literature
in a coherent form” (BALE 1989: 3). Zudem soll die Beschäftigung mit sportgeographischen Fra-
gestellungen ganz bewusst losgelöst sein von den bisherigen teildisziplinären, geographischen
Herangehensweisen (Sport aus Sicht der Stadtgeographie, Sport – eine wirtschaftsgeographi-
sche Perspektive; Untersuchung der regionalökonomischen Auswirkungen von Sportgroßveran-
staltungen, verkehrsgeographische Analyse des Verkehrsaufkommens durch Sportevents, etc.).
Es soll in dieser Arbeit vielmehr versucht werden, den Sport als räumliches und raumwirksames
Kulturphänomen ganzheitlich aus geographischer und sportwissenschaftlicher Perspektive zu
betrachten und die Erkenntnisse beider Disziplinen synthetisierend zusammenzuführen. Die
Sportgeographie wird in der vorliegenden Arbeit demnach nicht als eine Anwendung geogra-
phischer Theorien und Modelle auf das soziokulturelle Phänomen des Sports verstanden (vgl.
BALE 1982: vii), sondern als eine gleichberechtigte, interdisziplinäre Annäherung an den Sport
von zwei Seiten. Um einen umfassenden Überblick darüber geben zu können, was Sportge-
ographie im anglophonen Raum ist und in Deutschland sein könnte, war es notwendig, vor
allem die englischsprachige Literatur zur Thematik zu sichten und die ihr zugrunde liegenden
Konzepte, Theorien und Inhalte in die Arbeit einzufl echten.
Zum Zweiten soll der in der Sportwissenschaft beheimatete ‚Sport und Raum‘-Diskurs auf-
gegriffen, vorgestellt und als für die Sportgeographie zentral verortet werden. Dabei soll nicht
nur die reale Aktualität dieser bisher in der Sportwissenschaft völlig vernachlässigten Thematik
dargelegt, sondern aus der Genese des Wissenschaftsprozesses selbst die Dringlichkeit des Pro-
blems nachgewiesen werden.
Die vorliegende Arbeit stellt demnach den Versuch dar, den aktuellen Diskurs um ‚Sport und
Raum‘ unter Zuhilfenahme von aus der Sportgeographie abgeleiteten Erkennntnissen zu syste-
matisieren und so den Etablierungsprozess dieses noch jungen, interdisziplinären Forschungsfel-
des der deutschsprachigen Sportwissenschaft und Geographie voranzutreiben.
1.3 Aufbau der Arbeit
Einschließlich der Einleitung und der Bibliographie gliedert sich die vorliegende Arbeit in
fünf Kapitel. Im Anschluss an die Einleitung, in der eine Hinführung zum Thema erfolgt und
die Problemstellung der Arbeit skizziert wird, erfolgt in Kapitel zwei zunächst eine Erläuterung
des der Arbeit zugrunde liegenden Verständnis von Sport, Sportwissenschaft und Geographie,
17
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
um synthetisierend daraus ein mögliches Disziplinverständnis der Sportgeographie abzuleiten.
Darüber hinaus wird in Kapitel zwei ein Überblick über die Historie der Sportgeographie sowie
den aktuellen Forschungsstand der Disziplin gegeben.
Nachfolgend greift Kapitel drei mit dem Themenfeld ‚Sport und Raum’ einen sportgeogra-
phischen Diskurs heraus. Ausgehend vom Forschungsstand im Themenfeld ‚Sport und Raum’
wird hier ein Vorschlag für eine mögliche Systematisierung von Sporträumen aus einer sportge-
ographischen Perspektive unterbreitet. Die Tragfähigkeit der Systematik wird basierend auf ei-
ner Reinterpretation der eingangs des Kapitels vorgestellten Sportszenarien nachgewiesen. Ab-
schließend werden die wichtigsten Sportraum-Konzepte vorgestellt und vor dem Hintergrund
der zuvor angestellten theoretischen Überlegungen einer Bewertung unterzogen.
Kapitel vier fasst die wichtigsten Ergebnisse der vorhergehenden Kapitel zusammen und
stellt die Beziehung zwischen ‚Sport und Raum’ und Sportgeographie her.
18
© INOEK
2 Sportgeographie – sinnlos, aber lohnend
Geographie und Sportwissenschaft sind in ihrer Struktur dermaßen breit gefächert und weit
zerfasert, dass es wenig sinnvoll erscheint, diese Aufsplitterung durch die Begründung einer
Sportgeographie noch weiter zu forcieren. Dennoch soll im folgenden Kapitel die Notwendig-
keit einer solchen Entwicklung herausgearbeitet werden, die im Wesentlichen aus der veränder-
ten gesellschaftlichen Relevanz des Sports resultiert.
2.1 Zum Verständnis von Sport
Sport wird im Allgemeinen als ein Phänomen angesehen, das derart vieldeutig, vielschichtig
und facettenreich daherkommt, dass es sich einer eindeutigen Begriffsbestimmung entzieht.
Für eine erste Annäherung an diesen diffusen Sammelbegriff können die einzelnen Sport-
arten als Strukturmerkmal herangezogen werden. Wird Sport doch in Form von bestimmten
Sportarten (zum Beispiel Fußball, Turnen etc.) häufi g in Sportvereinen (zum Beispiel Fußballver-
ein, Turnverein usw.) betrieben, die in Sportverbänden wie zum Beispiel dem Deutschen Fußball
Bund (DFB) oder dem Deutschen Turnerbund (DTB) organisiert sind. Allerdings ist Sport nicht
gleichbedeutend mit Vereins- und Wettkampfsport, der sich wiederum in Berufs-, Spitzen-,
Leistungs- und Breitensport gliedern ließe. Ein solches Begriffsverständnis schlösse nämlich bei-
spielsweise Formen des Gesundheits-, Erlebnis- oder auch Schulsports aus.
Eine weitere Möglichkeit der Operationalisierung des Sportbegriffs erwächst aus dem Al-
ter und dem sozialen Kontext der Sporttreibenden. In Abhängigkeit einzelner Lebensphasen
können Kleinkindersport, Kindersport, Schulsport, Studentensport, Militärsport, Betriebssport
sowie Alterssport voneinander unterschieden werden.
Doch auch dieser Versuch einer Erfassung des Sports wird dem weitläufi gen Phänomen nicht
gerecht. In Anlehnung an einen Roman von Günter Grass könnte man das Phänomen Sport so-
mit als ‚Ein weites Feld’11 bezeichnen, das einer endgültigen Gegenstandsbestimmung nach wie
vor harrt. Es bleibt deshalb zu konstatieren, dass im deutschen wie im englischen Sprachraum
für den Begriff ‚Sport’ eine Vielzahl von Defi nitionen existiert, die in Abhängigkeit von histo-
rischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen, politischen und rechtlichen Variablen aus unter-
schiedlichen lebensweltlichen und alltagssprachlichen Kontextualisierungen resultieren und zu
jeweils eigenen Konstitutionen des Sportbegriffs führen. Ein breiter gesellschaftlicher Konsens
ließe sich sicherlich mit der Aussage ‚Fußball ist ein Sport’ erzielen. Doch ist auch Kegeln Sport?
Oder gar Schach? (HAVERKAMP 2005: 52).
Die Schwierigkeiten, den Sportbegriff zu operationalisieren, führten dazu, dass sich weite
Teile der deutschen Sportwissenschaft darauf verständigten, dass der funktional ausdifferen-
zierte Sport nicht mit einer Defi nition zu erfassen sei. So muss auch das ‚Sportwissenschaftliche
Lexikon’ die Nicht-Defi nierbarkeit des Sports aufgrund seines historischen und soziokulturellen
11 Der Roman ‚Ein weites Feld’ von Günter Grass erschien 1997 in dritter Aufl age im Deutschen Taschenbuch Verlag
(dtv).
19
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Bedeutungswandels eingestehen: „Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich Sport zu einem
umgangssprachlichen, weltweit gebrauchten Begriff entwickelt. Eine präzise oder gar eindeu-
tige begriffl iche Abgrenzung lässt sich deshalb nicht vornehmen“ (RÖTHIG & PROHL 2003: 493).
Dennoch gehen die Bestrebungen um eine allgemeine und zielgenaue Defi nition des Sports
durch die Sportwissenschaft weiter (vgl. HAVERKAMP 2005). Das bisherige Fehlen einer allgemein-
gültigen Gegenstandbestimmung, die im Zuge einer weiteren Ausdifferenzierung des Sports
und der Sportwissenschaft zudem immer unwahrscheinlicher wird, macht es für die vorliegende
Arbeit notwendig, das ihr zugrunde liegende Sport-Verständnis näher zu erläutern.
Sport als soziokulturelles Phänomen ist in eine gesellschaftliche Realität eingebettet, die sich
im Zuge des fortschreitenden Modernisierungsprozesses gleichermaßen rasant wie radikal wan-
delt. Dieser Wandel ist vor allem gekennzeichnet durch die Freisetzung der Individuen (Individua-
lisierung), die Entgrenzung des Handelns (Subjektivierung) sowie einen allgemeinen Wertewan-
del (vgl. BECK 1986; SCHULZE 1992). Rezente gesellschaftliche Entwicklungen wie das Auftauchen
neuer Lebensstile, der Bedeutungsverlust traditioneller Sinninstanzen (Religion, Familie etc.),
veränderte Persönlichkeits- und Körperideale sowie innovative Formen der Selbstdarstellung
üben von außen einen massiven Einfl uss auf das Sportsystem aus, das mit circa 27 Millionen
Mitgliedern in 90.000 Vereinen die größte Nicht-Regierungs-Organisation der Bundesrepublik
bildet (DEUTSCHER SPORTBUND 2005). Seit geraumer Zeit ist deshalb von einer ‚Versportlichung der
Gesellschaft’ (DIGEL & BURK 2001: 16; dazu eingehender CACHAY 1988), von ‚Sportisierung’, dem
‚sportiven Zeitalter’ (FRANZOBEL 2004) und von Sport als neuem Megatrend die Rede, von einem
zweifelsohne zunehmenden Stel-
lenwert des Sports als bis zur Zivil-
religion12 steigerbare postmoder-
ne Sinninstanz (BETTE 1999: 163
f). Bis in die 1980er Jahre hinein
fand das in der Sportsoziologie
der 1950er und 1960er Jahre
konzipierte, klassische Pyrami-
denmodell des Sports, mit einer
breiten Basis des Freizeitsports
und einer schmalen Spitze des
Berufssports, uneingeschränkte
Zustimmung (vgl. Abbildung 7).
Doch im Folgenden schlug sich der allgemein-gesellschaftliche Wandel auch System imma-
nent in einem Strukturwandel des Sports nieder. Fortan wurde das ehemals breit akzeptierte Py-
ramidenmodell den bewegungs- und körperkulturellen Praxen der Sportakteure nicht mehr ge-
recht. „Wo vor wenigen Jahren noch der Hinweis auf die Körper-, Wettkampf- und Leistungsori-
entie
rung sportlichen Handelns, die Vereinsgebundenheit der Akteure und deren Verpfl ichtung
Leichtathletik
Schwimmen
Turnen
Volleyball
Fußball
Basketball
Handball
Rudern
Fechten
Tennis
Breitensport
Leistungssport
Spitzensport
Berufssport
12 Hierzu bemerkt GLEICH: „Sportliche Großereignisse können die Qualität moderner Rituale oder Zeremonien anneh-
men, bei denen sich die Zuschauer den Werten, Normen und Traditionen der Gesellschaft versichern können, was
ansonsten in den modernen Gesellschaften aufgrund der zunehmenden Individualisierung und Diversifi zierung kaum
mehr möglich ist“(2000: 516).
Abbildung 7:
Pyramidenmodell
des Sports (DIGEL
& BURK 2001: 20)
20
© INOEK
auf bestimmte ethische Werte reichte, um bereits Wesentliches über den Sport auszusagen,
zeigt sich gegenwärtig ein Sozialbereich, der in seiner Symbolik, Ästhetik, Rollenausprägung
und institutionellen Anbindung durch ein hohes Maß an Differenzierung und Pluralisierung
geprägt ist“ (BETTE 1999: 147).
Der in seiner Komplexität gesteigerte Sport zeichnet sich nach RITTNER (1984: 45 ff.) aus
durch
• die Erweiterung seines Themenrepertoires (beispielsweise Abenteuer- und Erlebnissport, Fit-
ness- und Trendsport),
• die Inklusion neuer Bevölkerungsgruppen (Auftauchen bislang sportabstinenter Gruppen,
zum Beispiel Kleinkinderschwimmen, Alterssport),
• neue Formen der Organisation (Zunahme der unorganisierten Aktivitäten, Veränderung der
Beziehung zwischen Mitgliedern und Organisationen, Erosion des Ehrenamtes),
• Kommerzialisierung (Umstellungen des Sportsystems auf Signale der Medien und des Mark-
tes),
• Professionalisierung (neue Sportanbieter, Genese von Dienstleistungen) sowie durch
• Modifi kationen der Sportmotivationen, die sich zum einen in einer Abmilderung des Leis-
tungsmotivs, zum anderen im Aufkommen der Trends Gesundheit, Wellness, Fitness, Spaß
und Körperformung zeigen.
Als Folge dieser funktionalen Ausdifferenzierung unterscheidet DIGEL fünf Sportmodelle, die
als Teilsysteme den Gesamtkomplex Sport konstituieren (vgl. Abbildung 8).
Spaß
Sport ohne
organisierten
Wettbewerb
Instrumenteller
Sport
Alternativsport Berufssport
Wettkampf
Spannung
„Amateur“
Vereins-
mitgliedschaft
Präventions-
instrument
Rehabilitations-
instrument
Soziales
Erziehungs-
instrument
Soziale
Dienstleistung
Kommerz
Entspannung
Körperkultur
Subkultur
Profi
Wettkampf
Medien
Organisierter
Wettkampfsport
Freude
Mitmachen
Selbstwert
Offene
Organisation
Offene
Organisation Arbeitsvertrag
Abbildung 8:
Säulenmodell des
Sports (DIGEL &
BURK 2001: 21)
21
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
RUMMELT veranlasste die Ausdifferenzierung und Pluralisierung dazu, den Sport in der Summe
seiner Erscheinungsformen als ‚Spiel-, Sport- und Bewegungskultur’ zu fassen. „Sport ist heute
nicht nur ein universelles Massenphänomen, nicht nur Bestandteil einer sportiven Alltagskul-
tur, nicht nur Ausdruck eines modernen Lebensstils, sondern die Entwicklung des Sports setzt
vor allem in den letzten Jahren neue qualitative und quantitative Maßstäbe. Aufgrund des
erheblichen Bedeutungszuwachses und dem damit verbundenen Ausdifferenzierungsprozess
des Sports zu einer pluralen Spiel-, Sport- und Bewegungskultur besitzt die moderne Spielkul-
tur, die moderne Sportkultur, die moderne Bewegungskultur (auch die moderne Körperkultur)
nahezu zu allen anderen Subsystemen sehr viel mehr direkte als indirekte Beziehungen. Nur vor
diesem komplexen Beziehungsgefl echt der Herausbildung einer Spiel-, Sport- und Bewegungs-
kultur werden interdependente Zusammenhänge zur Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur
einschließlich ihrer eigenen Subsysteme deutlich“ (1998: 3).
Auch DIGEL & BURK plädieren für ein solches, erweitertes Sportverständnis, wenn sie schrei-
ben: „Sport ist dabei [in der gesellschaftlichen Kommunikation] längst zu einem Synonym für
die gesamte Bewegungs-, Spiel- und Körperkultur unserer Gesellschaft geworden. Es ist zu
einer Ausweitung der Semantik des Sportbegriffs gekommen und man kann allenthalben beo-
bachten, wie Orte mit dem Begriff ‚Sport’ besetzt und Tätigkeiten mit dem Begriff ‚Sport’ näher
gekennzeichnet werden“ (2001: 16).
Da auch dieser Arbeit ein erweitertes Sportverständnis zugrunde liegt, seien an dieser Stelle
kurz und explizit das erweiterte und das enge Sportverständnis gegenübergestellt.
a) Ein enges Sportverständnis orientiert sich an der traditionellen Idee des Regel geleiteten
Wettkampfsports, der meist an traditionelle Sportarten, Betriebs- und Organisationsformen
(Mannschaft, Verein) gebunden ist. Nach wie vor dominiert dieses Sportverständnis den
gesellschaftlichen Diskurs (RITTNER 1991: 11).
b) Ein erweitertes Sportverständnis hingegen, wie es für eine sportgeographische Auseinan-
dersetzung mit dem Phänomen ‚Sport’ sinnvoll erscheint, impliziert auch und ganz bewusst
jene ‚körper- und bewegungskulturellen Praxen’ (BECKER 1995: 143), die dem traditionellen
Leistungssport mit seinem zentralen Kriterium der Begrenzung von Subjektivität fern sind.
Das dieser Arbeit zugrunde gelegte Sportverständnis ist demnach eher sportethnologisch-
anthropologisch als ‚Bewegungspraxis moderner Gesellschaften’ (HIETZGE 2002: 11) zu ver-
stehen. BOSCHERT fasst es folgendermaßen: „Der moderne Sport kann in dieser Perspektive als
körperlich-sinnliche Aufführung von Bewegungen, als performative Handlungen verstanden
werden, die sich in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Praxis formieren und als
solche die soziale Praxis gestalten und ihr sozusagen erst eine Gestalt geben“ (2002: 19).
Warum ist es aber so wichtig, im Rahmen einer geographischen Auseinandersetzung mit
dem Thema Sport ein erweitertes Sportverständnis vorauszusetzen?
Bezöge sich die Sportgeographie lediglich und ausschließlich auf den traditionellen Leis-
tungs- und Wettkampfsport als Forschungsgegenstand, so erwüchsen auch daraus zwar inter-
essante Forschungsperspektiven, die sich überdies noch klar gegenüber einer ‚Geographie der
Freizeit und des Tourismus’ abgrenzen ließen. Die Sportgeographie würde dann jedoch nicht
nur ihrem Forschungsgegenstand, einem sich weiter ausdifferenzierenden Sport, in keiner Wei-
22
© INOEK
se gerecht, sondern sich auch als wissenschaftliche Disziplin unnötigerweise beschränken und
einengen. Denn aus geographischer Perspektive sind Yoga, Lacrosse, Tai-Chi, Fallschirmsprin-
gen und Canyoning13 nicht minder interessante Untersuchungsobjekte als die selbstverständlich
unter den Sportbegriff subsumierten traditionellen Sportarten wie Leichtathletik, Turnen oder
Schwimmen. Sie alle werden so in ihrer Raumgebundenheit und -wirkung zu einem potenziel-
len sportgeographischen Forschungsobjekt.
2.2 Zum Verständnis von Sportwissenschaft
Während Leibesübungen und Sport an Universitäten auf eine schon Jahrhunderte währende
Tradition zurückblicken, gilt die Sportwissenschaft als eine noch recht junge Disziplin. Seit dem
Ende der 1960er Jahre hat sie sich innerhalb der Wissenschaften etabliert und ist inzwischen
nahezu an allen Universitäten in Form von Lehrstühlen und Instituten vertreten. Der Weg dahin
war kompliziert und weit. Doch soll es an dieser Stelle nicht darum gehen, die detaillierte disziplin-
historische Genese der Sportwissenschaft zu skizzieren, müsste die Überschrift dann doch anders
lauten. Vielmehr geht es hier darum, prägnant das aktuelle Wissenschaftsverständnis der Sport-
wissenschaft, ihren Gegenstandsbereich sowie ihr Selbstverständnis zu charakterisieren. „Wäh-
rend die Theorie der Leibeserziehung – wie der Name ja auch deutlich macht – eine eindeutig und
unzweifelhaft pädagogische Ausrichtung aufgewiesen hat, […] , handelt es sich bei der Sport-
wissenschaft um ein interdisziplinäres System, das ganz bewusst entpädagogisiert sein sollte,
indem einerseits die Teildisziplinen gleichberechtigt nebeneinander stehen, andererseits in einem
Ganzen verbunden und aufeinander angewiesen sind“ (WILLIMCZIK & SCHILDMACHER 2000: 69).
GRUPE (1995: 31) führt drei wesentliche Gründe an, die im Nachkriegsdeutschland zur Etablie-
rung dieses interdisziplinären Systems als eigenständige wissenschaftliche Disziplin beitrugen.
Das waren (1) die zunehmende gesellschaftliche Bedeutung und das quantitative wie funk-
tionale Wachstum des Sports, die nach einer systematischen wissenschaftlichen Bearbeitung
verlangten. Zur Institutionalisierung einer eigenen Disziplin trugen des Weiteren (2) ein wach-
sender Sportlehrerbedarf und eine zunehmende Professionalisierung Sport bezogener Berufe
sowie (3) die allgemeine Verwissenschaftlichung der modernen Welt, die auch vor dem Sport
nicht halt machte, bei.
In der jüngsten Aufl age des ‚Sportwissenschaftlichen Lexikon’ defi nieren RÖTHIG & PROHL
Sportwissenschaft als „die Gesamtheit jener Erkenntnisse, Erörterungen und Methoden […],
die – wissenschaftlichen Grundregeln folgend – Probleme und Erscheinungsformen von Sport
zum Gegenstand haben“ (2003: 555). Zu den wissenschaftlichen Grundregeln sind jene Prin-
zipien, Kriterien und Regeln wie Voraussetzungslosigkeit, Wertfreiheit, Unabhängigkeit, Nach-
prüfbarkeit, Allgemeingültigkeit, Offenheit, Systematisierbarkeit und Kooperationsfähigkeit zu
13 Unter Canyoning wird das Begehen einer Schlucht von oben nach unten (in der Frühzeit des sportlichen Canyoning
auch von unten nach oben) verstanden. Durch Abseilen, Klettern, Springen, Rutschen, Schwimmen und manchmal
sogar Tauchen bewegen sich die Sportler in geeigneter Ausrüstung durch die Schlucht. Als Erlebnissportart etablierte
sich Canyoning vor gut zwei Jahrzehnten in Spanien und Südfrankreich. Mittlerweile gelang dieser neuen Extrem-
sportart auch der Durchbruch in den Nordalpen.
23
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
zählen, aus denen Wissenschaften ihr Selbstverständnis ableiten und damit ‚wissenschaftsfähig’
werden (RÖSCH 1978: 4).
Zentraler Forschungsgegenstand der Sportwissenschaft ist demnach der Sport, in all seiner
im vorhergehenden Kapitel geschilderten Heterogenität und mit der Weite seines aktuellen
semantischen Verständnisses. Dazu merkt DREXEL allerdings an: „Im Grunde genommen gibt es
gar keinen ‚Gegenstand’ der Sportwissenschaft, sondern nur theorien- bzw. paradigmenspe-
zifi sche ‚Gegenstände’. Solange es keine einheitliche Theorie, kein einheitliches Paradigma der
Sportwissenschaft gibt, kann es auch nicht die Konstruktion eines einheitlichen Gegenstandes
für die gesamte Sportwissenschaft geben“ (1995: 128).
Die Sportwissenschaft als ‚multiparadigmatisches Gebilde’14 (DREXEL 1995: 132) wirft dem-
nach eine derart weit gestreute Perspektive auf den Sport, dass sie dem Anspruch einer gesamt-
disziplinären Vollständigkeit nicht genügen kann. Dies sei an folgendem Beispiel illustriert.
Obwohl zwei sportwissenschaftliche Subdisziplinen (Sportmedizin und Sportökologie) den-
selben Gegenstandsbereich (beispielsweise ‚Alpines Skilaufen’) untersuchen, sind ihr Erkennt-
nisinteresse und ihre Forschungsmethodik, ihre Perspektive auf denselben Sport also, völlig
unterschiedlich. Während sich die Sportökologie mit den ökosystemaren Folgen der Sportaus-
übung auseinandersetzt, beschäftigt sich die Sportmedizin mit physiologischen und anatomi-
schen Parametern der Athleten. Diese Unvereinbarkeit subdisziplinärer Zugänge liegt auch in
der inneren Struktur der Sportwissenschaft begründet, zu deren Beschreibung RÖSCH (1978: 9)
ein additives und ein integratives Verständnis sportwissenschaftlicher Felder unterscheidet.
Die integrative Sportwissenschaft ergibt sich vorwiegend aus den Bezugs- und Problem-
feldern des Sports, so zum Beispiel von ‚Sport und Bewegung’, ‚Sport und Training’, ‚Sport
und Gesundheit’, ‚Sport und Erziehung’, ‚Sport und Gesellschaft’, ‚Sport und Leistung’, ‚Sport
und Spiel’, ‚Sport und Freizeit’, ‚Sport und Landschaft’, ‚Sport und Umwelt’, ‚Sport und Raum’
oder ‚Sport und Freizeit’. Unter additive Sportwissenschaft fasst RÖSCH (1986: 8) stattdessen das
lose Zusammenfügen verschiedener am Sport interessierter Wissenschaftsgebiete (zum Beispiel
Sportmedizin, Sportpsychologie, Sportphysiologie, Sportpädagogik, Sportgeschichte, Sportso-
ziologie, Sportphilosophie, Sportdidaktik, Sportmeteorologie, Sportökologie, Sportökonomie
oder auch Sportpublizistik). Am deutlichsten hat sich bislang die Richtung einer Sportwissen-
schaft durchsetzen können, die sich aus den Herkunfts-, Quell-, Mutter- oder Basiswissenschaf-
ten herleitet, also die additive Sportwissenschaft. Doch welche Konsequenzen hat dies für die
Sportgeographie?
In Anbetracht der Vielzahl sportwissenschaftlicher Subdisziplinen ist es erstaunlich, dass ei-
ner Sportgeographie bis dato derart wenig, in Deutschland nahezu gar keine, Aufmerksamkeit
beigemessen wurde. Jedoch sorgt diese Konstellation auch dafür, dass die Sportgeographie
ihre Daseinsberechtigung als wissenschaftliche Subdisziplin ohne Legitimationsnöte einfordern
kann. Insofern stellt sich nun die Frage nach der spezifi schen, sportgeographischen Perspektive
auf das Phänomen ‚Sport‘.
14 Die metatheoretische Konzeption des Paradigma-Begriffes stammt von Kuhn. Unter Berufung auf Kuhn versteht
WEICHHART unter Paradigma „ein kognitives System, das von einer bestimmten Gruppe von Wissenschaftlern als ver-
bindliche und nicht näher zu refl ektierende Ausgangsposition der spezifi schen Problematisierung von ‚Wirklichkeit’
akzeptiert wird“ (2001: 184).
24
© INOEK
2.3 Zum Verständnis von Geographie als Wissenschaft
Wer sich als Geograph zu erkennen gibt, muss damit rechnen, mit topographischen Fragen
konfrontiert zu werden: Wie heißt die Hauptstadt Ugandas? Wo liegt die Bering-Straße? Wie
heißt der längste Fluss Russlands? Wie viele Einwohner zählt Rio de Janeiro? Die Erinnerungen
an die eigene Schulzeit und damit an den Erdkundeunterricht prägen bis heute nicht nur das
Bild der Erdkunde, sondern auch das der Geographie. Dabei bildet das, was alltagssprachlich
unter ‚Erdkunde’ und ‚Geographie’ gefasst wird, nämlich vornehmlich länderkundliches Wis-
sen, nicht die Breite dessen ab, was die Geographie als Wissenschaft untersucht. Insofern macht
derartiger ‚Erdkundeunterricht’ vielleicht seinem Namen Ehre, nicht jedoch der wissenschaftli-
chen Geographie.
Anders als die Sportwissenschaft blickt die Geographie auf eine lange Forschungstradition
zurück. So war bis in das 19. Jahrhundert das Bild vom Geographen als das eines reisenden
Berichterstatters dominierend. Geographie wurde demnach bis dato als Disziplin zur Sammlung
und Darstellung des Wissens über andere Erdgegenden verstanden und entsprach damit weit-
gehend jener Bedeutung, die bereits der Grieche Herodot mit ‚Geographie’ verbunden hatte:
Erdbeschreibung und Erdzeichnung (WERLEN 2000: 92).
Doch im Laufe der Zeit wandelte sich das Disziplinverständnis und differenzierte sich derge-
stalt aus, dass es der Geographie heute, wie der Sportwissenschaft auch, schwer fällt, eine ein-
heitliche und präzise Defi nition ihres Forschungsgegenstandes vorzunehmen; unterliegt dieser
doch zum einen historischen Einfl üssen (Wissenschaft als Abfolge von Paradigmen), zum ande-
ren aber auch der jeweiligen, teildisziplinären Perspektive des Forschers (vgl. Abbildung 9).
Allen Bemühungen, den Forschungsgegenstand der Geographie zu operationalisieren, ist
jedoch die Auseinandersetzung mit den Phänomenen der Erdoberfl äche, das Interesse für die
Abbildung 9:
Geographie – ein
differenziertes
System (BLOTEVO-
GEL 2002: 15)
25
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
räumliche Organisation der menschlichen Bevölkerung und ihre ökologische Beziehung zur glo-
balen Umwelt zu eigen (HAGGETT 1991: 758).
BLOTEVOGEL schlägt im ‚Lexikon der Geographie’ ein umfassendes Disziplinverständnis vor,
welches ein Bemühen, sowohl die ‚Physische Geographie’ als auch die ‚Humangeographie’ zu
fassen, erkennen lässt. „Geographie kann im weitesten Sinne aufgefasst werden als ein System
von umwelt- und speziell erdraumbezogenen Kognitionen und Handlungen. Als ein integraler
Bestandteil der menschlichen Alltagspraxis umfasst Geographie das Wissen über die Umwelt,
die Orientierung im Raum sowie das Handeln der Menschen in ihren materiellen und geistigen
Umwelten. Geographie gehört insofern nicht nur zum Alltagswissen der Menschen, sondern
sie ist zugleich auch Kontext, Medium und Ergebnis ihres alltäglichen Handelns. Systematisiert
und refl ektiert wird die Alltagsgeographie in der wissenschaftlichen Geographie, [ ... ]. Geogra-
phie als Wissenschaft wird üblicherweise defi niert als die Wissenschaft von der Erdoberfl äche in
ihrer räumlichen Differenziertheit, ihrer physischen Beschaffenheit sowie als Raum und Ort des
menschlichen Lebens und Handelns“ (2002: 15). Die wissenschaftliche Geographie, die genau
im Grenz- oder Verschneidungsbereich zwischen Natur- und Sozialwissenschaften angesiedelt
werden muss, ist derartig in eine Vielzahl von Teil- oder Subdisziplinen zerfasert, dass es dem
Geographen bisweilen unmöglich ist, den Gesamtüberblick über sein Fach zu behalten. Einige
dieser Teildisziplinen werden einem weit verbreiteten Gliederungsschema der Wissenschaften
zufolge den Naturwissenschaften, andere den Geistes- und Kulturwissenschaften und wieder
andere den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zugerechnet (WIRTH 1979: 51). Traditionel-
lerweise wird das Fach in zwei Hauptarbeitsbereiche gegliedert: Während sich die ‚Physische
Geographie’ mit den Systemzusammenhängen zwischen den natürlichen Elementen der Geo-
sphäre befasst, konzentriert sich die ‚Humangeographie’ auf den Menschen und die von ihm
geschaffenen Geofaktoren (WEICHHART 2001: 183). Als üblich gilt zudem die Gliederung des
Faches in eine ‚thematische’ und eine ‚regionale’ Geographie.
Die thematischen Geographien lassen sich in Abhängigkeit von der Forschungsperspektive in
der zuvor schon skizzierten Weise in einen physischen und einen humangeographischen Bereich
unterteilen. Zur ‚Physischen Geographie’ werden die Klimageographie, die Geomorphologie,
die Geoökologie, die Vegetationsgeographie etc. gezählt. Dagegen werden unter ‚Humangeo-
graphie’ vor allem Wirtschaftsgeographie, Kulturgeographie und Sozialgeographie, aber auch
Bevölkerungsgeographie, Stadtgeographie, ‚Geographie des ländlichen Raumes’ oder ‚Geogra-
phie der Freizeit und des Tourismus’ gefasst.
Die ‚regionale Geographie’ hingegen verfolgt einen ganzheitlichen Ansatz. Diese Form ge-
ographischer Forschung galt bis in die 1960er Jahre, insbesondere auf der Maßstabsebene der
Länderkunde, als ‚Königsdisziplin’ des Faches, bei der mit Hilfe eines ordnenden Struktursche-
mas und eines bestimmten Sets von Beschreibungs- und Analyseformen die Spezifi ka einer
distinkten Region untersucht werden (GEBHARDT et al. 2004: 295).
Obwohl sich die Geographie heute nicht mehr, wie noch in den 1960er Jahren, als reine
Raumwissenschaft versteht, stehen Raum, Ort, Region und Landschaft als Basiskategorien ge-
ographischer Forschung nach wie vor im Zentrum des Faches, dessen breiter Forschungsfokus
dazu geführt hat, dass sich teildisziplinäre Konzeptionen (‚Physische Geographie’ vs. ‚Human-
geographie’) desselben Gegenstandes substantiell voneinander unterscheiden können. So sind
26
© INOEK
in Bezug auf die erwähnten Basiskategorien Raum, Ort, Landschaft und Region naturwissen-
schaftliche Zugänge von geistes- und sozialwissenschaftlich dominierten Konzeptualisierungen
zu differenzieren.
Während für die in der Tradition des Positivismus stehende naturwissenschaftliche Geogra-
phie das methodologische Prinzip gilt, dass der reale Forschungsgegenstand (Ausschnitte der
Erdoberfl äche usw.) unabhängig vom Beobachter existiert sowie wahr und unverzerrt in den
Ergebnissen der wissenschaftlichen Arbeit (Texte, Karten usw.) repräsentiert wird, ist diese Vor-
stellung für die in der Tradition der Geisteswissenschaften stehende Humangeographie nicht
einlösbar, weil deren Gegenstände immer (auch) der sozialen und geistigen Welt angehören
und insofern nicht als außerhalb unseres Denkens und unserer Sprache existent angenommen
werden können.
„Ebenso wie die Vergangenheit niemals objektiv gegeben ist, sondern nach den Maßstä-
ben des Historikers ins Blickfeld rückt, also das Produkt einer Rekonstruktion ist, sind auch die
geistigen (sozialen und kulturellen) Objekte der Humangeographie und der Landes- und Län-
derkunde durch die hier und heute lebenden Geographen konstituiert. Wenn sie Länder und
Regionen untersuchen und darstellen, ‚konstruieren’ sie aufgrund ihrer spezifi schen Annahmen
und (Fach-)Interessen ganz bestimmte ‚Geographien’. Schon Geographinnen sehen die Welt
in vieler Hinsicht anders, und dies gilt erst recht, wenn beispielsweise japanische, chinesische,
arabische oder afrikanische Geographen oder Geographinnen ihre Geographien konstruieren“
(BLOTEVOGEL 2002: 16).
Die Erkenntnis, dass ‚Geographien’, oder präziser die geographischen Basiskategorien Raum,
Ort, Landschaft und Region, der humangeographischen Perspektive zufolge also stets lediglich
eine ‚Repräsentation’ darstellen, die einerseits von ihrem ‚realen’ Gegenstand, andererseits von
den soziokulturell geprägten Erkenntnisvoraussetzungen der Geographinnen und Geographen
bestimmt wird, ist insbesondere für die im Rahmen dieser Arbeit in Kapitel drei angestellten
Überlegungen von eminenter Bedeutung (BLOTEVOGEL 2002: 16).
2.4 Sportgeographie: Sport als räumliches System
Der aus dem allgemein-gesellschaftliche Wandel resultierende Strukturwandel des Sports,
wie er in Kaptitel 2.1 näher beschrieben wurde, erzeugt nicht zuletzt auch eine veränderte
Raumwirksamkeit und neue Raumansprüche des postmodernen Sports (vgl. Abbildung 10,
S.27). „Sport ist mittlerweile […] allerorten. War früher der Sport auf die Anlagen des tra-
ditionellen Sports begrenzt, das heißt auf die rechteckige Turnhalle und die Freiluftplätze,
die der Sport über seine Regeln defi niert hat – so wird der Sport mittlerweile in der Luft, am
Boden und im Wasser betrieben und er zeigt dabei alle Varianten auf, die diese Räume ihm
ermöglichen“ (DIGEL & BURK 2001: 16). Der nunmehr ubiquitäre Sport dringt damit ausgehend
von den traditionellen Sportstätten und Leistungszentren wie Sportplätzen, Schwimm- und
Turnhallen in neue Areale vor. „Die Entdeckung von Stadt und unverbrauchter Landschaft
brachte den Sport in Räume hinein, in denen Training und Wettkampf bisher verpönt waren“
(BETTE 1999: 148).
27
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Luft
Land
Wasser
Sporträume Aktivitätsformen
Fallschirmspringen,
Hängegleiten, Motorflug,
Segelflug
Beachsport, Klettern,
Bergsteigen, Laufen, Wandern,
Spazieren, Radsport, Reitssport,
Rollsport, Schießsport,
Schneesport
Tauchen, Segeln, Schwimmen,
Baden, Rudern, Paddeln,
Motorboot, Boardsportarten
Abbildung 10:
Sportraum
‚Landschaft‘
Inlineskater, BMX-Radfahrer, Skateboarder, Streetballer oder Inlinehockey-Spieler lassen sich
demnach nicht nur von den Bewegungsmöglichkeiten ihrer neuen Sportgeräte, sondern auch
von der Atmosphäre, der Vielfältigkeit und Lebendigkeit, den Freiheitsgraden und Erfahrungs-
möglichkeiten des öffentlichen Raumes faszinieren (GEBAUER et al. 2004: 26). Dieser muss als
nicht originäre Sportstätte jedoch erst in einem Prozess ‚sekundärer Rahmung’ (GOFFMAN 1996:
52 ff) erobert und als Sportraum markiert, defi niert und gestaltet werden. Hier konstituiert sich
der Sportraum folglich in der körperlichen Aufführung und theatralen Inszenierung von Bewe-
gung (GEBAUER et al. 2004: 26).
Im Gegenzug dazu, gewissermaßen als Reaktion auf die semantische und räumliche Expan-
sion des Sports, entdecken gerade in jüngster Zeit Städte, Kommunen, Tourismusregionen, ja
sogar Nationalstaaten in zunehmenden Maße den Sport als weichen Standortfaktor, wie die
infl ationäre Verwendung von Begriffen wie ‚Sportstadt’, ‚Sportlandschaft’ oder ‚Sportregion’
belegen. Sie dienen der systematischen Vermarktung und Außendarstellung von Räumen und
bringen damit genuin geographische Kategorien in einen sportlichen Zusammenhang. Doch
was macht eine Landschaft sportlich? Wann darf sich eine Stadt als ‚Sportstadt’ bezeichnen?15
Solche und ähnliche Fragen dringen in das Zentrum dessen vor, was in der vorliegenden Ar-
beit unter ‚Sportgeographie’ verstanden werden soll, eine Beschäftigung mit wissenschaftlichen
Fragestellungen, die sich im Kontext der Verknüpfung von Sport und Raum bewegt.
15 ALBERS bemerkt dazu: „Der Titel ‚Sportstadt’ wird nicht durch den ‚Deutschen Sportbund’ (DSB) verliehen; er stellt
deshalb auch bisher keinen geschützten Begriff dar. Aus diesem Grunde fi nden sich heute zahlreiche Städte, die
sich aus den unterschiedlichsten Motiven und Zielsetzungen heraus mit diesem Prädikat hervorzuheben versuchen“
(2004: 88 ff). Dabei lassen sich laut Albers nach Selbsteinschätzung der Städte drei zentrale Gründe unterscheiden:
Eine ‚Sportstadt’ sollte Austragungsort bedeutender Sportevents, ein bedeutender Standort des Leistungssports und/
oder ein bedeutender Standort des Breitensports sein.
28
© INOEK
Nimmt man vereinfachend an, dass sich die Geographie der Untersuchung des ‚Räumlichen’
verschrieben hat und die Sportwissenschaft den Sport zu ihrem Forschungsgegenstand erklärt
hat, so bildet der ‚Sport als räumliches System’ die Schnittmenge von Geographie und Sportwis-
senschaft und damit den Forschungsgegenstand einer Sportgeographie (vgl. Abbildung 11).
Die Sportgeographie versteht sich demnach als gemeinsamer Nenner von Geographie und
Sportwissenschaft in Fragen des ‚räumlichen Systems Sport’, das die Strukturen und Funktionen
von Räumen prägen kann und das zugleich eigenständige Funktionsgefüge und Interaktions-
räume aufweist.
Aus Sicht der Sportgeographie ist der Sport als räumliches System deshalb von doppelter
Relevanz. Zum einen ‚spielen’ räumliche Kategorien als Sportsystem immanentes Phänomen der
Spielrealität (zum Beispiel in der Geometrie der Spielfelder und ihrer Begrenzungen) eine der-
art zentrale Rolle (beispielsweise Raumgewinn beim American Football), dass man wie WAGNER
(1981: 92) Sport als „struggle over space“ defi nieren kann. Zum anderen ist auch das Sport-
system als Ganzes außerhalb der Spielrealität an Raum gebunden und Raum prägend (zum
Beispiel in Form von Landschaftssport, Sport in der Stadt, Sport in Schutzgebieten, Stadien und
Parkplätze als physische Muster in der Landschaft etc.), wie nicht zuletzt die vielfältigen Bemü-
hungen der kommunalen Sportstättenplanung zeigen.
In Anlehnung an MITCHELLS (2000: xvi) Defi nition von Kultur als „ […] socially produced
through myriad struggles over and in spaces, scales and landscapes”, könnte ein Versuch, den
Sport im Gesamten aus einer distinktiv geographischen Perspektive zu fassen, ihn als jenes
soziokulturelle Produkt defi nieren, das sich aus der Vielzahl von (Wett-)Kämpfen um Raum
SPORTWISSENSCHAFT GEOGRAPHIE
SPORTGEOGRAPHIE
Sport Raum
Metaebene
Ebene
der
Phäno-
mene
Sportraum
Sport als räumliches System
Abbildung 11:
Sportraum als
Schnittmenge
von Sportwis-
senschaft und
Geographie
29
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
SPORTWISSENSCHAFT GEOGRAPHIE
Sportgeographie
Sportpädagogik
Sportmedizin
Sportphilosophie
Sportgeschichte
andere ...
Klimageographie
Geographie der Freizeit
Geomorphologie
andere ...
Sportsoziologie
Sportökologie
Wirtschaftsgeographie
Kulturgeographie
Sozialgeographie
Abbildung 12:
Wissenschaftli-
che Verortung
der Sportgeogra-
phie
auf unterschiedlichen Maßstabsebenen konstituiert. In Mitchells Konzeption und Terminologie
bleibend, könnte Sport demnach kurz und knapp auch als „culture war for space“ begriffen
werden.16
2.5 Stellung der Sportgeographie innerhalb der wissenschaftlichen Dis-
ziplinen
Die weite Dimension der Sportgeographie führt dazu, dass die Disziplin – wie ihre beiden
Mutterwissenschaften auch – Anleihen in den Nachbarwissenschaften machen muss. Von be-
sonderem Interesse für die Sportgeographie sind deshalb die Fächer Biologie, Geologie, Klima-
tologie und Ökologie im Bereich der Naturwissenschaften sowie Philosophie, Anthropologie,
Soziologie, Psychologie, Freizeitwissenschaften, Pädagogik und Geschichte im Bereich der Geis-
tes- und Sozialwissenschaften.
Innerhalb der Sportwissenschaft weist die Sportgeographie eine große Nähe zur Sportsozi-
ologie auf (vgl. Kapitel 2.7), ist aber auch auf Anleihen aus der Sportökologie oder der Sport-
pädagogik angewiesen. In der Geographie kommt es teilweise zu Überschneidungen mit der
‚Geographie des Freizeitverhaltens und des Tourismus’ (vgl. Abbildung 12).
16 Damit – so könnte ironisch eingeworfen werden – liegt die sportgeographische Konzeption des Sports nicht weit
entfernt von der des Schriftstellers George Orwell. Dieser hat Sport nämlich als „war minus the shooting“ bezeichnet
(ORWELL (1945) zitiert nach BALE 2005: 9). Am deutlichsten sind diese Bezüge, in denen der Sport als eine Form der
Ersatz-Kriegsführung aufgefasst wird, in den so genannten Kampf-Sportarten.
30
© INOEK
BALE (2003a: 2) veranlasste diese Übereinstimmung gar dazu, die Sportgeographie vor allem
auf den Berufssport auszurichten, der sich per defi nitionem der Freizeitgeographie entzieht.
Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis erscheint eine solche Verengung der sportge-
ographischen Perspektive auf den Berufs- und Hochleistungssport jedoch als wenig sinnvoll
(vgl. Kapitel 2.1). Zum einen sind die Übergänge zwischen Freizeit- und Berufssport derartig
fl ießend, dass es nahezu unmöglich erscheint, in diesem Bereich präzise zu differenzieren. Zum
anderen sind die räumlichen Implikationen der sportlichen Praxis, unabhängig davon, ob es
sich um amateurhaft betriebenen Leistungssport oder professionellen Berufssport handelt,
dieselben. Das Spezifi kum einer ‚Geographie des Sports’ im Unterschied zur ‚Geographie des
Freizeitverhaltens und des Tourismus’ ist demnach die zusätzliche, aber nicht ausschließliche
Beschäftigung mit dem Berufssport.
Als Schnittstelle der Erkenntnisinter-
essen von Sportwissenschaft und Geo-
graphie greift die Sportgeographie die
teildisziplinären Diskurse beider Mut-
terwissenschaften, die in jenen lediglich
marginalen Status erlangen, im Bemü-
hen um eine interdisziplinäre Ganzheit-
lichkeit auf und führt diese synthetisie-
rend zusammen (vgl. Tabelle 1).
So kann Sportgeographie auch als
Summe derjenigen Diskurse verstanden
werden, die sich allesamt mit dem The-
menkonglomerat von bewegungs- und
körperkultureller Praxis, Umwelt und Raum auseinandersetzen. „Sport and Geography share
an interest in regionalisation, in environment and its infl uence on human behaviour, in the
signifi cance of people-place attachments and in a scientifi c and quantitative approach” (BALE
1982: vii ).
2.6 Stellung der Sportgeographie innerhalb der wissenschaftlichen
Disziplinen
Bevor es darum geht, mit welchen Fragestellungen sich Sportgeographie beschäftigt, er-
scheint zuerst eine Differenzierung zwischen ‚Sportgeographie’ und ‚Geographie(n) des Sports’
notwendig.
Als ‚Geographien des Sports’ werden im Folgenden jene Arbeiten verstanden, die den
Sport lediglich beiläufi g als ein Anwendungslaboratorium für geographische Modelle, Theorien
und Konzepte betrachten, deren Untersuchung des Sports also eher zufällig erfolgt und des-
halb als eine Annäherung an ein beliebiges Phänomen der Alltagspraktiken moderner Gesell-
schaften verstanden werden muss (vgl. Abbildung 13). Symptomatisch für die Konzeption der
‚Geographie(n) des Sports’ sind deshalb die beiden folgenden Zitate: „ […] sport for its part can
Tabelle 1:
Sportgeographie
als Bündelung
teildisziplinärer
Diskurse
‚Sport auf dem Lande‘‚Sport und Stadt‘
etc.etc.
‚Stadtgeographie und Sport‘
‚Kommunale
Sportstättenplanung‘
‚Tourismusgeographie und Sport‘
‚Sport und
Entwicklungszusammenarbeit‘
‚Freizeitgeographie und Sport‘
‚Sport und Landschaft‘
‚Wirtschaftsgeographie und Sport‘‚Sporttourismus‘
‚Verkehrsgeographie und Sport‘
‚Sport und Umwelt‘
‚Regionalökonomische Effekte
von Sportgroßveranstaltungen‘
‚Sport und Raum‘
GEOGRAPHIESPORTWISSENSCHAFT
31
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Abbildung 13:
‚Geographie(n)
des Sports‘
provide an arena in which geographical mo-
dels and ideas may be evaluated or tested
(BALE 1982: vii). „Sport could be regarded as
applied geography” (BALE 2000a: 8).17
‚Geographien des Sports’, welche die
geographische Beschäftigung mit dem
Sport über Jahrzehnte dominiert haben,
werden somit weder der Komplexität des
Sports noch der Sportwissenschaft gerecht,
sprechen sie dem Sport doch eine eigen-
ständige Systemlogik sowie ein spezifi sches
Funktionsgefüge ab. ‚Geographien des Sports’ gerieten daher in die Kritik. So merkte der ka-
nadische Geograph DAVID LEY an: „There is a substantial literature in the sociology of sport to
aid such a research agenda, and cultural geography would be strengthened by drawing upon
it” (1985: 417).
Während also die ‚Geographien des Sports’ die Sportwissenschaft als Erkenntnis-Ressource
ignorierten, versteht sich die ‚Sportgeographie’ als ein interdisziplinäres Projekt, das weit über
die engen Disziplingrenzen eines Faches hinweg agiert und die unterschiedlichen Perspektiven
und Expertisen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen in sich zu vereinen sucht. In einer
Metapher des Sports könnte Sportgeographie auch als ‚Doppelpass der Disziplinen Geographie
und Sportwissenschaft’ bezeichnet werden.
Doch womit beschäftigt sich nun ‚Sportgeographie’? In welcher Form wird die Auseinander-
setzung mit Sport, Gesellschaft, Raum und Umwelt problematisiert?
Bereits 1962 stellte der australische Geograph TERENCE M. BURLEY einen Themenkanon auf, in
dem er fünf mögliche Hauptfelder sportgeographischer Forschung defi nierte.
„These are illustrated in the form of possible research topics:
a) economic aspects – How important is major league baseball to the entertainment industry
of the U.S.A.?;
b) social aspects – What are probable effects on social patterns of the recent introduction of
American tenpin bowling to Australia and the United Kingdom?;
c) cultural origins – How far is the distribution of cricket and baseball an indication of the pe-
netration of English and United States cultures, respectively;
d) physical conditions – To what degree do the opportunities for open air activity contribute to
the per capita dominance of Australia in international sport?; and
e) urban land use – How great has been the role of the Olympic Games in modifying urban
land use patterns” (1962:56)?
Der von Burley unterbreitete Vorschlag, der, wie die sich an die Themenfelder anschließen-
den Fragestellungen nur allzu deutlich zeigen, stark von dem in den 1960er Jahren dominanten
17 So wurde beispielsweise noch im April 2004 in der Zeitschrift ‚Geographie heute’ eine Ausgabe zum Thema ‚Geogra-
phie und Sport’ publiziert, die eine ernsthafte geographische Problematisierung des Sports völlig vermissen lässt.
Geographie Sport
Theorie der zentralen
Orte
Wirtschaftsgeographie
Verkehrsgeographie
Tourismusgeographie
...
32
© INOEK
deskriptiven, raumwissenschaftlichen Geographie-Verständnis geprägt ist, orientiert sich ein-
deutig an den subdisziplinären Feldern der thematischen Geographie (Wirtschaftsgeographie,
Sozialgeographie, Kulturgeographie, Physische Geographie, Stadtgeographie).
Etwa ein Jahrzehnt nach Burley entwarf auch Rooney eine Forschungsagenda der Sportge-
ographie. Seine Konzeption beinhaltet folgende sechs Felder:
1. the spatial variation on sports, that is the place-to-place differences in the games which
people play and with which they identify;
2. the spatial organization of sport at different competitive levels;
3. the origins and diffusion of sports and sportsmen;
4. the social and symbolic impact of the spatial organization of sport;
5. the effect of sport on the landscape;
6. the relationship between the spatial organization of sport and national character (ROONEY
1974: vi).
Über die Ausweisung von Themenfeldern hinaus beschäftigte sich Rooney auch mit der kon-
zeptionellen Fundierung einer Geographie des Sports, indem er von folgender These ausging:
„There is a geography of every game and a sports geography of every area” (ROONEY 1975: 55).
Dabei unterscheidet Rooney zwei Formen der geographischen Analyse des Sports (vgl. Abbil-
dung 14).
Während der thematische Zugang auf der Analyse einer Sportart, ihrer Herkunft, ihrer raum-
zeitlichen Diffusion und räumlichen Organisation und Interaktion beruht, konzentriert sich der
A CONCEPTUAL FRAMEWORK FOR THE
GEOGRAPHIC ANALYSIS OF SPORT
SPORT
(Topical)
PROTO-TYPES
POINT OF ORIGIN
DIFFUSION
SPATIAL ORGANIZATION
SPATIAL INTERACTION
REGIONALIZATION
AREA
(Regional)
Inventory of the Sports
Ranking of Interest and Importance
Analysis of the spatial Organization of
the Sports
Analysis of spatial Variation and
Regionalization of Interest and
Involvement
Analysis of internal and external
spatial Interaction associated with
Sport
Assessment of Sports‘ Impact on the
Landscape
Prescription for spatial Reorganzation
TIME
LANDSCAPE CHANGE
SPORTTECHNOLOGY CHANGE
Abbildung 14:
Rooneys Kon-
zeption einer
Geographie des
Sports (verändert
nach ROONEY
1975: 56)
33
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
regionale Ansatz stärker auf das Sport-Inventar einer konkreten Region (beispielsweise Sport in
Nordrhein-Westfalen). Mit diesen konzeptionellen Überlegungen prägte Rooney die von ihm
vehement eingeforderte Subdisziplin für die folgenden Jahrzehnte (vgl. Kapitel 2.7).
Einen weitreichenden und kreativen Vorschlag unterbreitete der deutsche Sportwissen-
schaftler HEINZ-EGON RÖSCH (1986: 33 ff) in seiner wenig beachteten Schrift zur Begründung einer
Geographie des Sports. Darin weist Rösch 14 Forschungsfelder aus und zeigt so die thematische
Breite einer vielseitig konzipierten Sportgeographie auf:
1. Grundsätzliche Fragestellungen im Verhältnis Sportwissenschaft und Geographie
2. Sport und naturräumliches Potenzial/Landschaft
3. Sport und Länderkunde/Entwicklungsländer
4. Sport und geographische Siedlungs-, Verkehrs-, und Wirtschaftsstrukturen
5. Sport und regionale und überregionale Planung
6. Erholungs- und Freizeiträume (Naherholung, Naturparks, Spielplätze, Sommer- und Winter-
sportgebiete, Tourismus)
7. Sport und Kartographie (Wander-, Radwanderkarten, Freizeitkarten, Wasser- und Winter-
sportkarten)
8. Sport und Klimageographie, Meteorologie
9. Sport und Biogeographie (Menschen, Tiere, Pfl anzen)
10. Sport und geoökologische Komponenten (Gewässer, Wald, Lärm, Abgase, Immissionsschä-
den usw.)
11. Sport und Geomedizin
12. Sport und Sozialgeographie
13. Internationaler, olympischer Sport und Geographie
14. Sportpolitische und sportgeographische Aussagen und Forderungen.
Dieser von RÖSCH 1986 vorgelegte Themenkatalog gibt einen umfassenden Überblick über
die Vielzahl sportgeographischer Diskurse, von denen sich einige in den vergangenen 20 Jah-
ren, wie zum Beispiel die Themenfelder ‚Sport und Biogeographie’ und ‚Sport und geoökolo-
gische Komponenten’ unter dem Titel ‚Sport und Umwelt’ oder der Bereich ‚Erholungs- und
Freizeiträume’ unter dem Titel ‚Sporttourismus’, stärker als andere ausdifferenziert und etabliert
haben.
BALE definierte 41 Jahre nach Burley Sportgeographie folgendermaßen:
„In brief, sports geography is concerned with the exploration of:
1. sports activity on the earth’s surface and how the spatial distribution of sport has changed
over time;
2. the changing character of the sports landscape and the symbiosis between the sports envi-
ronment and those who participate in it; and
3. the making of prescriptions for spatial and environmental change in the sports environ-
ment” (2003a: 4).
Das hier von BALE zugrunde gelegte Verständnis von Sportgeographie ist symptomatisch
für eine an der traditionellen Geographie orientierte Sportgeographie. Doch im Rahmen einer
34
© INOEK
jüngeren Entwicklung der Geistes- und Sozialwissenschaften, die auch die Fächer Geographie
und Sport erfasste, wird diesen eher traditionellen Zugängen die Perspektive der postmoder-
nen, poststrukturalistischen und postkolonialen Geographie hinzugefügt.18 Diese Entwicklung
wird auch für die Sportgeographie zunehmend bedeutsam und sollte deshalb in einer aktuellen
Defi nition des Fachinhaltes Berücksichtigung fi nden. In Kapitel 2.8 erfolgt ein Vorschlag, wie
auch die jüngsten wissenschaftlichen Entwicklungen in den Themenkanon der Sportgeographie
aufgenommen werden können.
2.7 Stand der sportgeographischen Forschung – Von Pausanias zur Post-
moderne, vom Positivismus zum Postkolonialismus
Die Sportgeographie als eigenständige, wissenschaftliche (Sub-)Disziplin fand ihren Ursprung
gegen Ende der 1960er Jahre in Nordamerika, als John F. Rooney am Geographischen Institut
der ‚Oklahoma State University’ als einer der ersten begann, sich in empirischen Untersuchun-
gen – systematisch und nicht etwa zufällig oder beiläufi g – mit dem Phänomen des Sports unter
dem Gesichtspunkt der Raumwirksamkeit auseinanderzusetzen (vgl. BALE 1989: 3). Doch auch
schon vor Rooney gab es Beobachtungen und Forschungen, die als solche zwar sicherlich nicht
in den Bereich einer ‚Sportgeographie’ gefasst werden können, dennoch aber aus einer geogra-
phischen Perspektive auf das soziokulturelle Phänomen ‚Sport’ blickten. Im Folgenden werden
diese geographischen Arbeiten, die sich eher zufällig und beiläufi g mit der Raumwirksamkeit
und den Räumen des Sports (und nicht mit denen der Kunst, der Literatur, der Wirtschaft) be-
fassen, deshalb, gemäß der in Kapitel 2.6 vorgeschlagenen Differenzierung, als ‚Geographie(n)
des Sports’ bezeichnet.
Das Kapitel liefert eine chronologische Aufarbeitung der Entwicklung der Sportgeographie.
Zur besseren Übersichtlichkeit ist diese in vier Phasen gegliedert, deren zeitlicher Rahmen sich
an Meilensteinen der sportgeographischen Forschung sowie an maßgeblichen theoretischen
Entwicklungen der Wissenschaften im Allgemeinen orientiert. Da einige allgemein-wissen-
schaftliche Entwicklungen die (Sport-)Geographie erst retardiert erreichten, WEICHHART (2001:
18 Mit dem Begriff der ‚Postmoderne’ wird ähnlich wie mit den Konkurrenzkonzepten der ‚Spätmoderne’, der ‚zwei-
ten Moderne’ oder der ‚refl exiven Moderne’ mehr als eine neue zeitgeschichtliche Großformation verstanden, die
sich an die Epoche der Moderne anschließt. ‚Postmoderne’ in einer stärker konzeptionellen Lesart beschreibt einen
tiefgreifenden gesamtgesellschaftlichen Wandel, eine zunehmende Vielfalt gesellschaftlicher Entwürfe sowie eine
erkenntnistheoretische Kritik an den essentialistischen Wahrheitsentwürfen (REUBER & SCHNELL 2006: 14). Unter ‚Post-
strukturalismus’ werden verschiedene theoretische Konstruktionen gefasst, die die Analyse der gesellschaftlichen
Strukturen mit der individuellen Erfahrung verbinden. Ziel dieser Ansätze ist die Entwicklung von Strategien zum
Aufbrechen hierarchischer Strukturen und Mechanismen. Es handelt sich um Theorien, die die Beziehung zwischen
Gesellschaftsordnung, Subjektivität und Macht thematisieren. Zentral ist den poststrukturalistischen Ansätzen die De-
konstruktion, deren Ziel es ist, die Herstellung von verschiedenen, zum Teil einander widersprechenden Bedeutungen
zu erfassen und gesellschaftliche Machtstrukturen aufzudecken (BAURIEDL et al. 2000: 130). Seit einigen Jahren hat
sich der so genannte ‚Postkolonialismus’ als neue wissenschaftliche Strömung unter anderem in der Geschichts-
wissenschaft, der Literaturwissenschaft und der politischen Theorie durchgesetzt. Auch in der Geographie kommt
dem Konzept, das sich mit Begriffen wie Identität, Differenz und Subjektivität befasst, eine zunehmende Bedeutung
zu. Neue Fragen nach ‚kolonialem Blick’, ‚Herrschaftsdiskurs’, ‚Eurozentrismus’ und ‚Hybridität’ werden anhand von
literarischen Texten und anderen kulturellen Artefakten untersucht.
35
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
183) bezeichnet die Geographie spöttisch gar als „verspätete Wissenschaft’, oder von man-
chem Forscher bis heute ignoriert werden, ist die Gliederung nicht immer in sich schlüssig. So
ist es aus der Orientierung des Kapitels an einer Veröffentlichungschronologie, insbesondere am
Werk von John Bale, resultierend durchaus möglich, dass rein positivistisch-deskriptive Arbeiten
zwar inhaltlich unpassend, aber zeitlich treffend der Phase der postmodernen Sportgeographie
zugeordnet werden.
2.7.1 Frühe ‚Geographien des Sports‘
Frühe ‚Geographien des Sports’ existierten bereits in der griechischen Antike. Zwischen 160
und 180 n. Chr. beschäftigte sich der aus Kleinasien stammende Schriftsteller und Geograph
Pausanias in seiner ‚Periégesis tes Hellados’ mit den Sportstätten und Sporträumen der griechi-
schen Antike. Pausanias setzte sich insbesondere mit dem antiken Olympia, dem Austragungs-
ort der Olympischen Spiele der Antike auseinander (vgl. RÖSCH 1986). „Neben der ausführlichen
Topographie der Landschaft am Kronoshügel im Mündungsgebiet des Kladeos in der Landschaft
Elis auf dem Peloponnes beschreibt er [Pausanias] den mythischen Ursprung der Olympischen
Spiele, die Tempelbauten und Opferstätten, die Schatzhäuser und Siegerstatuen, die Unterkünf-
te der Athleten und der Besucher und die Sportstätten: Stadion, Hippodrom, Gymnasium, Pala-
estra und die Thermen“ (RÖSCH 1986: 20). Pausanias entwirft so in seinen Reisebeschreibungen
einen ersten geographischen Themenkanon der Untersuchung des Sports.
Fast 1500 Jahre später setzte der deutsche, humanistische Gelehrte Sebastian Münster
(1488-1552) in seinem Werk ‚Cosmographia – das ist die Beschreibung der gantzen Welt [...]’
dieses fort. Darin beschreibt Münster Wanderungen, Leibesübungen und vor allem die an ver-
schiedenen Orten stattfi ndenden Turniere (vgl. RÖSCH 1986: 73).
Der Philantrop Johann Christoph Guts Muths (1759-1839) ist in der Sportwissenschaft als
‚Vater des Schulturnens’ vor allem für sein Hauptwerk ‚Gymnastik für die Jugend’ von 1793
bekannt. Doch Guts Muths engagierte sich nicht nur als Sportlehrer, sondern beschäftigte sich
darüber hinaus auch mit geographischen Fragen der Schulerdkunde. So erschien 1813 in Leipzig
von Guts Muths ein ‚Lehrbuch für Geographie – Zum Gebrauch der Lehrer beim Unterricht’, in
dem er „das heimatkundliche Prinzip im Erdkundeunterricht begründete und es bei zahlreichen
Exkursionen (‚Fußreisen’) mit seinen Schülern in der Verbindung von Geographie und Körperer-
ziehung praktizierte“ (RÖSCH 1986: 21). Daneben war Guts Muths von 1785 bis 1796 Lehrer des
berühmten Geographen und ersten Lehrstuhlinhabers für Geographie, Carl Ritter (1779-1859),
der durch die Vielseitigkeit seines Mentors Guts Muths vielerlei Impulse zur Begründung einer
wissenschaftlichen Geographie und Länderkunde erhielt (RÖSCH 1986: 21).
Zu einem Ereignis von ausgeprägtem sportgeographischen Interesse wurden die Olympi-
schen Spiele, die von ROONEY (1974: 289) als „excellent laboratory for geographical investigati-
on“ bezeichnet wurden und von denen der englische Sportgeograph BALE sagt: „The Olympic
Games are an intrinsically geographical phenomenon. The Games can be said to represent
the world – an ‚earth writing‘, a geography. The Games write the world through a common
language, the cultural currency of sports. Yet the Games also reveal a geographical mosaic, a
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© INOEK
patchwork of nations some of which produce an abundance of champions, a wealth of medals,
and others who fail to appear on the medal table” (2000c: 223). Diese Beobachtung hatte auch
schon Pierre de Coubertin (1863-1937), der Begründer der Olympischen Spiele der Neuzeit,
gemacht, als er 1911 auf die Existenz einer ‚Sporting Geography’ hinwies (BALE 2003a: 3).
Coubertins Beobachtung, dass Erfolge in bestimmten Sportarten eher in Bezug zur Rasse
der Sportler als zur ihrer nationalstaatlichen Herkunft (political geography) zu setzen seien, lässt
sich in einen direkten Zusammenhang zu denjenigen Untersuchungen setzen, die der deutsche
Sportmediziner Ernst Jokl (1907-1997)19 mit Hilfe fi nnischer Kollegen bei den Olympischen Spie-
len 1952 in Helsinki durchführte.
Jokl wiederum griff mit seiner komplexen Systematik zur Auswertung der Platzierungen von
Olympioniken und ihrer nationalstaatlichen Herkunft (vgl. BALE 2000: 223) nicht nur dem Werk
des nordamerikanischen Pioniers der Sportgeographie, John F. Rooney, um über ein Jahrzehnt
vor, sondern erlaubte zudem tiefe Einblicke in das geographische Denken seiner Zeit. So ist
seine aufwendige Interpretation der Olympia-Ergebnisse als Paradebeispiel für eine in der Hu-
mangeographie als Umwelt-Determinismus20 bezeichnete Phase zu verstehen, in der Kultur als
Prozess der Anpassung an vorwiegend klimatische Faktoren verstanden wurde (CRANG 1998:
15). Auf den Sport bezogen, wurde der Umwelt-Determinismus als ein wissenschaftliches Er-
klärungsmuster zur Begründung des sportlichen Erfolgs beziehungsweise Misserfolgs einzelner
Nationen herangezogen.
Zu Beginn der 1960er Jahre beschäftigte sich der australische Geograph Terence M. Burley
mit dem Stellenwert einer ‚Geographie des Sports’ innerhalb der ‚Geographie der Freizeit und
des Tourismus’. Burley, der als erster den Begriff einer ‚Geography of sport’ verwendete, wies
für eben diese neue Disziplin fünf Forschungsfelder aus (vgl. BURLEY 1962: 56 sowie Kapitel
2.6).21
2.7.2 Positivistische Ansätze einer Sportgeographie
1974 gelang dem nordamerikanischen Geographen John F. Rooney mit der Veröffentlichung
seiner Monographie ‚A Geography of the American Sport: From Cabin Creek to Anaheim’ ein
Meilenstein in der geographischen Erforschung des Sports. „The geographic investigation of
19 Jokl wurde 1991 an der Deutschen Sporthochschule Köln mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Ein Jahr nach
seinem Tod übergab seine Familie 1998 die umfangreiche Bücher- und Zeitschriftensammlung aus seinem Nachlass
an die Zentralbibliothek der Deutschen Sportwissenschaften in Köln. Die erwähnte Studie wurde publiziert: ERNST JOKL
et al. (1956): Sports in the Cultural Pattern of the World. Helsinki: Institute of Occupational Health.
20 In der Geographie sind neben der Bezeichnung Umwelt-Determinismus auch die Begriffe Geo- oder Natur-Determi-
nismus durchaus geläufi g.
21 WERLEN (2000: 39) erinnert daran, dass das Auftauchen einer neuen Disziplinbezeichnung uns ein Hinweis auf das
Erkennen jener Probleme und Phänomene sein kann, die sie zu untersuchen und zu lösen beansprucht. Dabei ist
jedoch das Auftreten einer Disziplinbezeichnung klar von ihrer institutionellen Etablierung an der Universität zu
unterscheiden. Beim ersten steht die Problemidentifi kation im Vordergrund, beim zweiten die bildungs- und for-
schungspolitische Durchsetzung. Das erste Auftauchen der Begriffl ichkeit ‚Geographie des Sports’ ist insofern zwar
als Meilenstein für die Entwicklung des Faches zu erachten, jedoch keinesfalls Hinweis auf eine breite Entfaltung des
Faches als wissenschaftliche Disziplin.
37
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
sport is a relatively new development. Its emergence, however, as a serious sub discipline is
necessary for the solution of numerous problems which confront the realm of sport” (ROONEY
1975: 112).
Erstmalig beschäftigte sich ein Autor in einem Buch ausschließlich mit sportgeographischen
Fragestellungen. Das brachte Rooney rückblickend die Bezeichnung „Father of modern Sports
Geography“ (BALE 2003a: 3) ein, da er als erster das der geographischen Erforschung des Sports
innewohnende Potenzial erkannte (vgl. ROONEY 1974: 289) und zudem in der Lage war, die not-
wendige Aufmerksamkeit für die neue Disziplin zu generieren. „The prime mover in such stu-
dies was John Rooney of Oklahoma State University who was to raise the image of a geography
of sport and create, in the USA at least, a recognizable sub-discipline” (BALE 2003a: 61).
In seiner Erforschung des Sports werden von Rooney allerdings keine tief greifenden wis-
senschaftstheoretischen Darlegungen erbracht. Vielmehr besteht der Wert seiner Arbeit da-
rin, ein erstes Arbeitsschema zum geographischen Aufbau des Sports erstellt zu haben (Rösch
1986: 14). Dieses Arbeitsschema basiert auf den damals aktuellen Theorien und Konzepten
einer raumwissenschaftlich betriebenen Geographie. So war die Geographie der 1960er und
1970er Jahre vor allem geprägt durch eine Hinwendung zu quantitativen Forschungsmethoden.
„Geography became synonymous with ‚spatial science’. Geographers seemingly began to map
anything and everything for which statistical data were available” (BALE 2000: 226). Rooneys
Forschungen sowie die frühe, moderne Sportgeographie im Allgemeinen beschränkten sich
– aus heutiger Perspektive – im Wesentlichen darauf, das Vorkommen von Vereinen, die Ver-
breitung einzelner Sportarten oder die Herkunft von Spielern quantitativ zu erfassen und diese
kartographisch abzubilden. Die Sportgeographie der 1960er, 1970er und 1980er Jahre blieb
demnach überwiegend deskriptiv (vgl. ROONEY 1974; BALE 1982 oder auch ROONEY & PILLSBURY
1992).
1976 untersuchte Hartmut Baumann die wirtschafts- und verkehrsgeographischen Auswir-
kungen von Sportveranstaltungen mit hohem Publikumsinteresse.22 Baumann begründete da-
mit einen ersten geographischen Schwerpunkt in der Erforschung des Sports (vgl. zur Untersu-
chung von Sportgroßveranstaltungen HAART & STEINECKE 1996; BÜCH ET AL. 2002; GANS ET AL. 2003;
HÜRTEN 2004), wenngleich er zu dem überraschenden Ergebnis kommt, „daß die vorhandenen
vielfältigen Auswirkungen in der Größenordnung geringer waren, als zunächst einmal ange-
nommen wurde“ (BAUMANN 1976: 90).
Seit dem Ende der 1970er Jahre beschäftigte sich auch der britische Geograph John Bale
mit dem Sport. Bale wurde im Folgenden – und er ist es bis heute – zum zentralen Impuls- und
Ideengeber der internationalen Sportgeographie. Seine thematisch und innerdisziplinär weit
gestreuten Veröffentlichungen hatten für die Sportgeographie Disziplin defi nierenden Charak-
ter. Gleichzeitig machen sie aber auch die Fortentwicklung des nun mehr vornehmlich in die
Sozial- und Kulturwissenschaften eingebetteten Faches deutlich. Deshalb wird nachfolgend die
22 BAUMANN (1976) untersuchte im Rahmen seiner Dissertation die geographischen Auswirkungen von Massensportver-
anstaltungen anhand dreier Sportgroßveranstaltungen: 1. Fußballländerspiel Deutschland-Ungarn am 9. September
1970 im Frankenstadion in Nürnberg; 2. 1000 km-Rennen des ADAC auf dem Nürburgring am 30. Mai 1971; 3. ‚200
Meilen von Nürnberg’ auf dem Norisring am 11. Juli 1971.
38
© INOEK
weitere Forschungsentwicklung der ‚Geographie des Sports’ an den veröffentlichten Monogra-
phien Bales orientiert.
Im Jahr 1982 publizierte Bale die Monographie ‚Sport and Place: A Geography of Sport in
England, Scotland and Wales’ und setzte damit ein erstes sportgeographisches Ausrufezeichen.
Analog zu den Studien von Rooney vertrat auch Bale zum damaligen Zeitpunkt den Standpunkt,
dass die spezifi sch-geographische Sicht auf den Sport in der Darstellung der Geschichte einzel-
ner Sportarten, ihrer historischen Diffusion und räumlichen Verbreitung sowie in der Interpreta-
tion und kartographischen Darstellung eines für die einzelnen Sportarten und Akteure (Sportler,
Zuschauer, etc.) existenten quantitativen Datenmaterials läge. „The geographical perspective
on sport is largely concerned with who plays what where” (BALE 1982: 1). Durch Interpretation
eines für die einzelnen Nationalstaaten, Bundesländer etc. vorliegenden Datenmaterials gelang-
ten Rooney und Bale zu einer regionalen Differenzierung von Sportregionen.
Die in der Geographie übliche Unterscheidung zwischen Stadt und Land führte Hans Jürgen
Schulke 1984 vermutlich zu seiner Untersuchung zum Sport auf dem Lande. Darin identifi zierte
SCHULKE für den Sport im ländlichen Raum eine spezifische Problemlage: „Ein zentrales Problem
bei der Entwicklung des Sports auf dem Lande ist die unbefriedigende Sportstättensituation.
Das gilt insbesondere für witterungsabhängige überdachte Sportfl ächen“ (1984: 84; zum ‚Sport
im ländlichen Raum’ vgl. auch DWERTMANN 1992 sowie TONTS & ATHERLEY 2005).
Während die ‚Association of American Geographers’ (AAG) in Nordamerika schon seit Be-
ginn der 1970er Jahre jährliche Tagungen zur ‚Geographie des Sports’ abhielt, fand 1985 auch
in London eine erste Konferenz zur geographischen Dimension der Sportwissenschaft statt.23
Im Jahr 1986 unternahm dann der deutsche Sportwissenschaftler Heinz Egon Rösch den ersten
und bis dato einzigen Versuch der Begründung einer neuen Disziplin, der ‚Sportgeographie’,
in Deutschland. Röschs Suche nach Gemeinsamkeiten von Geographie und Sportwissenschaft
fand in der Bundesrepublik jedoch nur ein geringes Echo. Das könnte darin begründet lie-
gen, dass die Arbeit wenig prominent in der ersten Ausgabe der ‚Schriftenreihe des Instituts
für Sportwissenschaft der Universität Düssseldorf’ publiziert wurde, ohne in den einschlägigen
Fachmagazinen präsent gewesen zu sein. Vielleicht war die Zeit in Deutschland aber einfach
noch nicht reif für eine Sportgeographie?
In den USA jedenfalls trieb Rooney die Etablierung der Sportgeographie als wissenschaftli-
che Disziplin voran, indem er ab dem Winter 1987 als Herausgeber der Zeitschrift ‚Sport Place
– An international Journal of Sports Geography’ fungierte. Das im Winter 2000 wieder einge-
stellte Magazin war während seiner 13 Jahre währenden Existenz das einzige eigenständige
Fachjournal der internationalen Sportgeographie.24
23 Der einzige Hinweis auf die in London ausgerichtete ‚Geographical Dimensions of Sport Studies Conference’ fi ndet
sich im Vorwort des Buches ‚Leistungsräume: Sport als Umweltproblem’ von HENNING EICHBERG (1988), in dem dieser
einen Vortrag John Bales auf ebendieser Konferenz erwähnt.
24 In den Jahren 1997 bis 1999 wurde die Zeitschrift nicht veröffentlicht, ehe sie im Winter 2000 ganz aufgegeben
wurde. „Due to a lack of suitable paper submissions, ‚Sport Place: An International Journal of Sports Geography’
will cease formal publication with Volume 10, Number 2, which will be dated Fall/Winter 2000 […]”, heißt es dazu
auf der Homepage des Geographischen Institutes der ‚Oklahoma State University’ (http://www.geog.okstate.edu
/journals/sprtplac/sprtplac.htm (Zugriff: 26. November 2005)).
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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In England veröffentlichte John Bale 1989 – nach einem Jahrzehnt intensiver Forschung
– sein Buch ‚Sports Geography’. Retrospektiv kann die Veröffentlichung dieses Werkes, das
als erstes einen Überblick über den Stand der sportgeographischen Forschung zu vermitteln
versucht, als die Initialzündung auf dem Weg zu einer international breiteren Akzeptanz der
Subdisziplin Sportgeographie betrachtet werden.
2.7.3 ‚Qualitative Revolution‘ in der Sportgeographie
Die Existenz eines grundlegenden Werkes (BALE 1989: ‚Sports Geography‘) führte zu Beginn
der 1990er Jahre dazu, dass die Zahl der Publikationen, die unter Sportgeographie subsumiert
werden können, erheblich wuchs und sich die Sportgeographie – wenngleich häufi g unter an-
derem Label – weiter ausdifferenzierte.
1991 war es erneut Bale, der eine Untersuchung über die Rekrutierung ausländischer Sport-
ler für die ‚College-Teams’ amerikanischer Universitäten veröffentlichte. In dieser unter dem
Titel ‚The Brawn Drain’ publizierten Analyse versucht Bale – als Reaktion auf eine grundlegende
Veränderung des methodischen Zugangs der geographischen Forschung, der sich in einer zu-
nehmenden Skepsis gegenüber quantitativen Erhebungsmethoden und einer Hinwendung zu
qualitativen, insbesondere interpretativen Verfahren äußerte – die bis dato weitestgehend auf
der rein deskriptiven Ebene verharrende Sportgeographie an diese Fortentwicklung anzupassen.
„Typically, the geographic treatment of sports has exemplifi ed a research style where descrip-
tion takes precedence over interpretation, too often the human beings involved, their emoti-
ons, feelings, and perceptions, are buried beneath a welter of per capita indices, people have
tended to be reduced to dots on maps or parts of fl ow lines between places” (BALE 1991: 5).
Und deutlicher – nicht ohne Ironie – formulierte er: „The fl edgling sub discipline of ‘sports ge-
ography’ has tended to be locked into a time warp of ‘cartographic fetishism’ […]” (BALE 1994:
9). Bale reagierte damit auf die deutliche Kritik LEYS (1985: 417), welcher der Sportgeographie
eine Forschungsmethodik vorwarf, in der noch immer der reinen Deskription der Vorrang vor
der Interpretation gegeben würde. BADENHORST fügte dem hinzu: „The geography of sport could
be further enriched by drawing on the expansive non-geographical literature on sport and by
shifting the focus of attention from pattern to process” (1988: 12).
Bales Untersuchung der ausländischen Studierenden in den Sportprogrammen der amerika-
nischen Universitäten setzte sich 1994 in der Herausgabe des Sammelbandes ‚The Global Sports
Arena: Athletic Talent Migration in an Interdependent World’ gemeinsam mit Joseph Maguire
fort. Darin beschäftigen sich verschiedene Autoren mit den weltweiten Wanderungsströmen
von Berufssportlern. Einem Phänomen, das sich im Zeitalter der Globalisierung in verstärktem
Maße beobachten lässt. So zieht es beispielsweise den deutschen Basketballer Dirk Nowitzki in
die nordamerikanische Profi liga NBA, während der Torhüter der US-amerikanischen Fußball-Na-
tionalmannschaft, Kasey Keller, in der deutschen Fußball-Bundesliga spielt.
Zu einem weiteren Themenfeld entwickelte sich in dieser Phase der Komplex von ‚Sport und
Stadt’. Dazu legte im Jahr 1993 neben Bale auch Riiskjaer eine interessante Aufsatzsammlung
vor, so dass in Deutschland hier ebenfalls ein weiteres sportgeographisches Betätigungsfeld
40
© INOEK
entstand (vgl. BALE 1993 sowie RIISKJAER 1993). Städte wie Kaiserslautern (Fußball-Bundesligist)
oder Gummersbach (Handball-Bundesligist) sind vor allem durch ihre Sportvereine ein Begriff.
Der Sport kann einen Ort repräsentieren und ganz entscheidend das Image einer Stadt be-
einfl ussen. Die Stadt wird demnach in ihrer sozialen und gesamträumlichen Komplexität we-
sentlich auch durch den Sport (Sportgroßveranstaltungen, Sportstätten und -gelegenheiten,
Wirtschaftsfaktor ‚Sport’, Imagefaktor ‚Sport’, Sportpolitik etc.) geprägt (BERG & KOCH 1996:
161). Einen besonderen Schwerpunkt innerhalb dieses Themenfeldes weist die deutsche Sport-
wissenschaft jedoch im Bereich der kommunalen Sportstättenentwicklung auf. Schon der in
den 1960er Jahren erarbeitete ‚Goldene Plan’ weist auf eine lange sportraum-planerische Tra-
dition hin (RUMMELT 1998:
239). Der ‚Goldene Plan’ galt jahrelang als die Rahmenrichtlinie des
Sportstättenbaus, eine Richtschnur zur Planung von Sportstätten, die sich überwiegend an der
Einwohnerzahl orientierte. Doch der rasante und dynamische Wandel des Sportsystems führte
im Laufe der Jahre dazu, dass die von den Kommunen und Städten bereitgestellten Sport-
stätten und -räume nicht mehr den Sport- und Bewegungsbedürfnissen der Bevölkerung ent-
sprachen. Daraus erwuchsen für die Kommunen veränderte Problemlagen. Einer Statistik der
SPORTMINISTERKONFERENZ (2002: 28) zufolge wurde für jede dritte bundesdeutsche Sportstätte ein
Sanierungsbedarf konstatiert. Die Schwierigkeiten unter den veränderten Bedingungen erga-
ben sich nun nicht mehr nur daraus, in Zeiten öffentlicher Geldknappheit die erforderlichen
Mittel zu beschaffen, sondern hinzukam die Frage nach dem ‚Wie’ einer Nachfrage gerechten
und Bedürfnis orientierten Sportstättenmodernisierung. „Damit hat der Strukturwandel des
Sports auch die tradierten Grundlagen von Sport(stätten)entwicklungsplanung à la ‚Golde-
ner Plan’ grundlegend erschüttert. Notwendig werden substanziell veränderte Konzepte der
Sportraumplanung: Sportstättenplanung muss (1) infrastrukturelle Entsprechungen zu den
unterschiedlichen Logiken der Sportnachfrage und der Sportaktivität entwickeln und (2) in
dem Maße dynamisch werden, wie sich die Sportbedürfnisse und die Sportarten verändern“
(BREUER 2004: 31).
Während in Deutschland also der Fokus traditionell auf Fragestellungen zur ‚sportgerechten
Stadt’ und zur ‚modernen Sportkommune’ lag, wurde in England der Sport schon früher als
Mittel der sozioökonomischen Regeneration von Stadtteilen, bei Flagship-Developments25 oder
in der Imagewirkung untersucht und eingesetzt.
Ein weiteres Kapitel sportgeographischer Forschung schlug Bale 1994 mit der Veröffentli-
chung von ‚Landscapes of modern Sport’ auf: die Beziehung zwischen Sport und Landschaft. In
seinem Buch stellt Bale den geographischen Landschaftsbegriff vor, betrachtet die Entwicklung
von Sportlandschaften (den so genannten ‚Sportscapes’) von der Antike bis zur Gegenwart und
wendet schließlich unterschiedliche humangeographische Landschafts-Konzepte auf den Sport
an (vgl. BALE 1994).
Einen ähnlichen Zugang zur Sportgeographie fi ndet nur ein Jahr später der an der US-ameri-
kanischen ‚University of Kentucky’ lehrende Geograph Karl Raitz. Dieser vergleicht den moder-
nen Sport mit dem Theater und versteht Sportlandschaften als Ensembles einer vielschichtigen
25 Der aus der anglophonen Stadtgeographie stammende Begriff ‚Flagship-Development’ lässt sich in das Deutsche
treffend mit ‚Leuchtturmentwicklung’ übersetzen.
41
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Kulturlandschaft. „A sporting event takes place in a distinctive setting that is kind of a theater”
(RAITZ 1995: vii).
Zu einem interessanten Forschungsfeld entwickelten sich in der Mitte der 90er Jahre die
Sportstätten. Gemeinsam mit dem Schweden Olof Moen untersuchte Bale 1995 die Rolle von
Stadien in der Stadt. Auch hier kristallisierte sich ein mittlerweile viel bearbeitetes Themengebiet
heraus, wozu in Deutschland sicherlich die Modernisierung der Fußball-Stadien zu Arenen im
Hinblick auf die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 beitrug (vgl. KLEBER 2003).
Bis zum Jahr 1995 hatte sich dann auch in Frankreich die Sportgeographie so weit entwi-
ckelt, dass Jean Pierre Augustin sein Buch: ‚Sport, Géographie et Aménagement’ veröffentli-
chen konnte. AUGUSTIN gliedert seine Begründung einer französischen Sportgeographie in zwei
Teile: „La première est consacrée à la géogaphie du sport et analyse successivement le déve-
loppement spatial du fait sportif, les modes des diffusions et de territorialisation, les hiérarchies
et les aires d’infl uence urbaines et enfi n les fl ux démographiques et le rôle des acteurs dans la
société sportive. La seconde s’attache aux questions d’aménagement qui s’imposent en raison
de la croissance des pratiques sportives“ (1995: 7).
1996 geben Eichberg und Hansen mit ihrem Sammelband ‚Bewegungsräume – Körperan-
thropologische Beiträge’ einen Überblick über die Spielräume, Bewegungsorte und Sportland-
schaften der körper- und bewegungskulturellen Praxen der Moderne.
Zwar wird die ‚Sportgeographie’ heute überwiegend als sozial- und kulturwissenschaftliche
Disziplin betrieben, doch gab und gibt es immer wieder auch naturwissenschaftliche Zugänge,
gewissermaßen ‚Physische Geographie(n) des Sports’.
Obwohl die 1981 auch in deutscher Sprache veröffentlichte Arbeit ‚Sport und Meteorologie’
von Tadeusz Lobozewicz als Begründung der Sportmeteorologie gilt, könnte sie großzügig auch
der Klimageographie zugeordnet und damit unter das weite Dach der Sportgeographie gefasst
werden. Nach dem Verständnis von LOBOZEWICZ (1981) beschäftigt sich die Sportmeteorologie
als wissenschaftliche Subdisziplin mit der Untersuchung und Bestimmung des Einfl usses der
atmosphärischen Bedingungen und meteorologischen Elemente auf die sportlichen Leistungen.
Eine Beschäftigung, wie sie vor allem für eine Vielzahl der so genannten Natur- und Outdoor-
Sportarten (Segeln, Segelfl iegen, Skifahren, Wandern, Bergsteigen, etc.) unabdingbar erscheint.
„Regional differences in the physical environment clearly infl uence sporting performances. Tem-
perature, wind, soil, rainfall and relief (to name a few factors) vary from place to place and
affect sporting outcomes in a variety of ways” (BALE 2003a: 27). Daraus folgert der Klimatologe
ALLEN PERRY (2005): „There is a need for climatologists to collaborate with the new and develo-
ping fi eld of sports science to initiate and develop a research agenda.” Die Notwendigkeit einer
solchen Agenda unterstreicht PERRY (2005), indem er auf die zentrale Rolle des Klimawandels
für den Tourismus und eine Vielzahl von Outdoor-Sportaktivitäten wie zum Beispiel das alpine
Skilaufen hinweist.
Mit einem stärker medizinisch ausgerichteten Thema befassten sich die Sportmediziner Dick-
huth, Kindermann, Niess und Urhausen im Vorfeld der Olympischen Spielen beziehungsweise
der Paralympics des Jahres 2004 in Athen. Sie arbeiteten für alle teilnehmenden Athleten eine
Handreichung aus, die den Sportlern Tipps für sportliche Aktivität bei großer Hitze und unter
den Smog-Bedingungen der griechischen Metropole gab (DICKHUTH et al. 2004).
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© INOEK
Ebenfalls in den Bereich von Sport und Umweltphysiologie fallen Aktivitäten wie das Berg-
steigen in großen Höhen, das Tiefseetauchen oder Sport in extremer Hitze oder Kälte (vgl.
dazu eingehend ARMSTRONG 2000 sowie REILLY & WATERHOUSE 2005). Hier liegt das besondere
Potenzial der Sportgeographie in der Verknüpfung medizinisch-physiologischer Faktoren mit
geographisch-anthropologischen Variablen. Insbesondere zur Höhenkrankheit beim Bergstei-
gen existieren bereits interessante Werke wie das 2002 von Elisabeth Simons und Oswald Oelz
veröffentlichte Buch ‚Kopfwehberge: Eine Geschichte der Höhenmedizin’ oder ‚High Life: A
History of High-Altitude Physiology and Medicine’ von John B. West (1998).
2.7.4 Postmoderne Sportgeographie
Die Phase der postmodernen Sportgeographie soll hier als die Fortsetzung dessen verstanden
werden, was zuvor aus der qualitativen Revolution der Sozialwissenschaften im Allgemeinen re-
sultierte, nämlich als ein – im Vergleich zu früheren Ansätzen – Prozess der Individualisierung und
Subjektivierung des sportgeographischen Forschungsinteresses. Stärker als zuvor konzentriert
sich die postmoderne Sportgeographie auf den Sportakteur und sein Handeln im Raum.
Zudem ist diese Phase gekennzeichnet durch das Wegfallen disziplinärer Grenzen und damit
durch eine Öffnung der Sportgeographie für eine Vielzahl koexistenter und rivalisierender Para-
digmen. So wird die postmoderne Sportgeographie in ganz entscheidender Weise von sozial,
geistes- und kulturwissenschaftlichen Theorien und Konzepten (Poststrukturalismus, Postko-loni-
alismus, Cultural Studies, ‚Postmoderne Theorien des Raumes’) geprägt.
Die Öffnung des Faches ging zwangsläufi g mit einer weiteren Ausdifferenzierung in Teildiskur-
se einher, so dass die postmoderne Sportgeographie als Gesamtheit derjenigen Diskurse verstan-
den werden muss, die sich im Spannungsfeld von körper- und bewegungskultureller Praxis auf
der einen Seite und Umwelt, Raum und Landschaft auf der anderen Seite bewegt.
Auch die jüngste Entwicklung des Faches wurde von Bale angetrieben, als er sich gemeinsam
mit Joe Sang der Kultur des Laufens in Kenia sowie den ‚imaginären Geographien’ und westlichen
Repräsentationen des afrikanischen Athleten annahm (BALE & SANG 1996). Das aus dieser Untersu-
chung resultierende Buch ‚Kenyan Running: Movement Culture, Geography and Global Change’,
lässt sich der geisteswissenschaftlichen Strömung des Postkolonialismus zuordnen und läutete
damit die Ära der postmodernen Sportgeographie ein.
In dem von Mike Cronin und David Mayal 1998 herausgegebenen Buch ‚Sporting Nationa-
lisms: Identity, Ethnicity, Immigration and Assimilation’ setzten sich die Autoren mit grundlegen-
den und für den Stand der human- und kulturgeographischen Forschung zum Ende der 1990er
Jahre zeitgemäßen und typischen Fragestellungen auseinander. Ähnliches gilt für die von Chris
Philo und John Bale (1998) veröffentlichten Aufsätze Henning Eichbergs ‚Body Culture – Essays
on Sport, Space and Identity’.
Die Notwendigkeit der verstärkten geographischen Auseinandersetzung mit dem Sport proble-
matisiert der brasilianische Geograph Gilmar Mascarenhas Jesus. In seinem Aufsatz ‚À Geografi a
dos esportes – Uma Introdução’ fordert JESUS (1999) eine empirisch wie theoretisch-konzeptionell
angelegte Aufarbeitung des Sports aus human- und kulturgeographischer Perspektive.
43
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Der erste Schritt in Richtung einer Institutionalisierung sportgeographischer Forschung in
Deutschland ergab sich aus der Einrichtung des ‚Instituts für Natursport und Ökologie’ an der
‚Deutschen Sporthochschule Köln’ im Jahr 1999. Erstmalig öffnete sich die Sportwissenschaft
in institutioneller Form für geo- und ökowissenschaftliche Fragenstellungen. Die Einrichtung
eines Lehrstuhls für Natursport und Ökologie trug insbesondere der Tatsache Rechnung, dass
ab Mitte der 1990er Jahre die Zahl der Publikationen und Konferenzen im Bereich ‚Sport und
Umwelt’ sehr stark zugenommen hatte (vgl. LIEDTKE 2005; SCHEMEL & ERBGUTH 2000; SEEWALD et al.
1998; WÖHRSTEIN 1998; KRINGE 1997; KUHN 1996; LAUTERWASSER 1991; PRÖBSTL 1991).
Ein anderer sportgeographischer Forschungsschwerpunkt entwickelte sich in der Unter-
suchung der regionalökonomischen Effekte von Sportgroßveranstaltungen (vgl. HÜRTEN 2004;
GANS et al. 2003; BUECH et al. 2002; GLAESSER 2000). Fortan standen nicht mehr nur die Olym-
pischen Spiele und Fußball-Weltmeisterschaften als geeignete ‚Laboratorien’ im Blickfeld des
Forschungsinteresses, sondern mit der ‚Tour de France’, dem Nürburgring, Wintersportveran-
staltungen sowie den neuen Arenen der Fußball-Bundesliga erweiterte sich die Perspektive er-
heblich.
Im Jahr 2000 bereitete Bale mit dem Buch ‚Sportscapes’ einen kleinen Ausschnitt seiner
sportgeographischen Forschungsarbeit für Schülerinnen und Schüler an englischen Schulen auf
(BALE 2000a). Auf diese Weise versuchte er, sportgeographische Forschung in die schulischen
Curricula und Strukturen zu transportieren.
Am Geographischen Institut der ‚Johannes Gutenberg-Universität’ in Mainz wurde vom
1. Juli 1999 bis 30. Juni 2001 unter der Leitung von Anton Escher das Forschungsprojekt ‚ENSA
– Trend- und Natursportarten’ bearbeitet. Das Projekt untersuchte Trend- und Natursportarten
in ihren Raumwechselbeziehungen, ihren Auswirkungen auf Natur und Umwelt und in ihren
allgemein-gesellschaftlichen Wechselbeziehungen.
Innerhalb des Projektes kam es – neben einer Vielzahl anderer Veröffentlichungen26 – im
Dezember 2001 auch zur Publikation der Dissertation von Heike Egner. Zum Thema ‚Trend- und
Natursport als System. Die Karriere einer Sportlandschaft am Beispiel Moab, Utah’ setzte sich
Egner darin mit der Genese von Sportlandschaften auseinander; einem Thema also, das als zen-
tral für die sportgeographische Forschung betrachtet werden muss. Nach Egners Verständnis
werden Natur- und Kulturlandschaft durch die von der Sportart strukturierte Wahrnehmung
des betrachtenden Sportlers zur Sportlandschaft. Die Sportlandschaft wird demnach im Sinne
Werlens ‚alltäglichen Geographie-Machens’ erst im Auge des Betrachters konstruiert (vgl. EGNER
2001: 11 ff, WERLEN 2000: 305 ff sowie Kap. 3.2).
Im Sommersemester 2002 wurde am ‚Geographischen Institut der Albertus Magnus-Uni-
versität Köln’ von Ulrich Radtke und Tobias Chilla ein humangeographisches Geländepraktikum
unter dem Titel ‚Natursportarten und Ökologie’ angeboten.27 Darin wurde der Nutzungsdruck
26 Hingewiesen sei an dieser Stelle lediglich auf folgende zwei Sammelbände: ESCHER (2000) ‚Trend- und Natursportarten
in den Wissenschaften: Forschungsstand – Methoden – Perspektiven’ sowie EGNER (2001) ‚Natursport – Schaden oder
Nutzen für die Natur?’.
27 Der komplette Abschlussbericht der Lehrveranstaltung kann auf der Homepage des ‚Geographischen Institutes der
Universität zu Köln’ unter http:// uk-online.uni-koeln.de/remarks/ d187/rm465.pdf (Zugriff: 29.12.2005) herunterge-
laden werden.
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der Rhein-Ruhr-Agglomeration auf Teile des Nordrandes der Mittelgebirgsschwelle im Kölner
Umland (Klettern im Rurtal der Eifel und Mountainbiken im Siebengebirge) untersucht.
Mit der vielschichtigen Aufwertung und seiner gesellschaftlichen Ausweitung wurde dem
Sport nun seitens der Politik auch eine Rolle in der Stadtplanung und Sozialraum-Gestaltung
zugeschrieben. Vor allem in Großbritannien konnte im Bereich der sozialverträglichen Regene-
ration von Städten durch Sport nicht nur Grundlagenforschung betrieben werden, sondern es
kam auch eine Vielzahl von Projekten in Gang. In ihrem instruktiven Sammelband geben CHRIS
GRATTON und IAN P. H ENRY (2001) einen Überblick über die vielseitigen Funktions- und Leistungs-
gefl echte des Sports in der Stadt (Sport und soziale Regeneration, Ausrichtung von Sportgroß-
veranstaltungen, Städtischer Sporttourismus, Sozialleistungen des Sports in der Stadt).
In seinem 2002 veröffentlichten Buch ‚Imagined Olympians: Body Culture and Colonial Rep-
resentation in Rwanda’ beschäftigt sich Bale mit den imaginären und realen Sportgeographien
des ‚gusimbuka-urukiramende’, einer körper- und bewegungskulturellen Praxis Ruandas, die in
den westlichen Repräsentationen als Leistungssport interpretiert und als ‚Tutsi High Jumping’
bezeichnet wurde (vgl. dazu BALE 2002a: 110 ff).
Adolf Friedrich Herzog zu Mecklenburg hatte von der deutschen wissenschaftlichen Zen-
tral-Afrika-Expedition 1907-1908 Bilder aus Ostafrika mitgebracht, die zeigen, wie die Watussi
beim Hochsprung eine durchschnittliche Höhe von 2,50 m erreichten (vgl. Abbildung 15). Diese
Fotos sollten im Folgenden eine sportwissenschaftliche Karriere machen. Erst RUMMELT (1996: 86
ff) konnte nachvollziehbar und beweiskräftig die durchschnittliche Sprunghöhe von 2,50 m auf
eine Höhe von ca. 1,80 m relativieren (dazu eingehender auch BALE 2002: 110 ff).
Abbildung 15:
Hochsprung der
Watussi in Ruan-
da (MECKLENBURG
1909: 114)
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
In dem von John Bale und Mike Cronin 2003 herausgegebenen Sammelband ‚Sport and
Postcolonialism’ wird das globale Sportssystem auf seine (post)koloniale Prägung hin unter-
sucht. In ihrem einleitenden Aufsatz unterscheiden BALE und CRONIN dabei sieben unterschiedli-
che Formen postkolonialen Sports (2003: 4):
1. Precolonial body-cultures that survived colonialism (for varying periods of time) and were
never sportized – e.g. Rwandan ‘high jumping’.
2. Indigenous body-cultures that were transformed into modern sports – e.g. lacrosse.
3. Body-cultures that were ‘invented’ by a former colony – baseball and basketball in the USA,
for example.
4. Colonial sports that were modifi ed by former colonies into distinctly ‘national sports’ – e.g.
Gaelic and Australian football.
5. Sports that have been diffused by Empire and adopted, without rule changes, in colonized
countries – e.g. soccer, cricket.
6. Sports initially introduced during colonization but that have (been said to have) adopted
‘regional styles’ of their own – e.g. Brazilian soccer, Kenyan running.
7. Hybrid sportoids – e.g. Trobriand cricket.
Im selben Jahr wurde eine zweite, überarbeitete Aufl age von Bales ‚Sports Geography’ auf-
gelegt. Schon die Gestaltung des Einbandes weist deutlich auf einen Wandel des Sportsystems
seit der Erstaufl age hin, macht aber auch auf eine veränderte Konzeption der geographischen
Beschäftigung mit dem Sport aufmerksam. Zudem wurde dem Werk das Kapitel ‚Imaginative
Geographies’ neu hinzugefügt.
2003 gaben Verner Møller und John Nauright den Sammelband ‚The Essence of Sport’ her-
aus, in dem BALE (2003b) ein Kapitel zur theoretischen Fundierung der Sportgeographie verfasst
hat. An der ‚Université de Neuchâtel’ befasste sich zu dieser Zeit der Geograph Roger Besson
mit der räumlichen Allokation des Spitzensports in der Schweiz. In seinem Buch ‚Performance
sportives, hiérarchies territoriales: Une géographie du sport d’élite en Suisse’ stellt Besson ein
Modell der zentralen Sportorte auf, das sich stark an der klassischen ‚Theorie der zentralen
Orte’ Christallers orientiert.
Das von John Bale und Mette Krogh Christensen ebenfalls 2004 herausgegebene Buch
‚Post Olympism? Questioning Sport in the Twenty-First Century’ ist das Produkt einer Konferenz
gleichnamigen Titels, die im September 2002 in Aarhus/Dänemark stattgefunden hat. Darin be-
schäftigen sich Autoren vornehmlich skandinavischer Provenienz mit der Rolle der Olympischen
Spiele in der postmodernen, globalisierten Gesellschaft.
Als Herausgeber des Sammelbandes ‚Sites of Sport: Space, Place, Experience’ grenzen Patri-
cia Vertinsky und John Bale (2004) deutlich zwei sowohl für den Sport als auch für die Geogra-
phie zentrale Kategorien, nämlich ‚space’ und ‚place’, voneinander ab. BALE & VERTINSKY (2004)
verstehen ‚place’ als einen Ort mit eigenem Charakter, mit eigener Erinnerung und einer kon-
notativen Zuweisung in Form einer spezifi schen Bedeutung. In Abgrenzung dazu wird ‚space’
verstanden als allgemeiner, steriler und formloser Raum.
Mit ‚Sport als Imageträger im Tourismus’ hat sich Aline Albers in ihrer 2004 am Geographi-
schen Institut der Universität Paderborn veröffentlichten Dissertation beschäftigt. Darin unter-
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© INOEK
sucht Albers am Beispiel der radsportlichen Landesrundfahrt ‚deutschland tour’ die Auswirkun-
gen und Chancen von Sportevents für touristische Destinationen. Zudem beschäftigt sich Albers
am Beispiel Stuttgarts aber auch im Allgemeinen mit der Frage, wann eine Stadt als ‚Sportstadt’
bezeichnet werden kann.
Den aktuellen Forschungsstand der deutschen Sportgeographie komplettiert die laufende
Promotion Dennis Hürtens am Geographischen Institut der Albertus Magnus-Universität in Köln.
Hürten befasst sich in seiner Arbeit, die er – anders als EGNER (2001) und ALBERS (2004) – ganz
bewusst sportgeographisch einordnet, mit dem Radsporttourismus auf Mallorca. Besonderes
Gewicht legt Hürten in seiner Studie auf die Genese der ‚Sportscape Mallorca’.
Eine vollständige Übersicht über den Forschungsstand der Sportgeographie kommt aus
deutscher Perspektive jedoch nicht ohne den Hinweis auf sportsoziologisch bedeutsame Un-
tersuchungen und Publikationen aus. Zum einen zeichnet sich die Sportgeographie durch eine
große inhaltliche Nähe zur Sportsoziologie aus. Zum anderen hat die inhaltlich und institutionell
schon seit Jahrzehnten innerhalb der Sportwissenschaft etablierte Sportsoziologie in Deutsch-
land – aufgrund der Absenz von Geographen in der Sportwissenschaft und des daraus resul-
tierenden Fehlens einer systematisch-geographischen Erforschung des Sports – auch die spezi-
fi sch-geographische Perspektive auf den Sport übernommen.
Deshalb werden im Rahmen des hier vorgelegten Überblicks auch die geographisch relevan-
ten sowie die zentralen Werke sportsoziologischer Forschung kurz vorgestellt.28
Aus geographischer Perspektive ist dem Sportsoziologen Karl-Heinrich Bette besondere Be-
achtung zu schenken; verliert der an der ‚Technischen Universität Darmstadt’ lehrende Bette in
seinen Monographien ‚Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit’,
,Systemtheorie und Sport’ sowie ‚X-treme. Zur Soziologie des Abenteuer- und Risikosports’
doch auch die räumliche Komponente des Sportgeschehens nie aus dem Blick.29
So konstatiert BETTE im Zuge des gesellschaftlich fortschreitenden Modernisierungsprozesses
für den Sport: „Die Entdeckung von Stadt und unverbrauchter Landschaft brachte den Sport
in Räume hinein, in denen Training und Wettkampf bisher verpönt waren“ (1999: 148). Als
Beispiel für die räumliche Dispersion des in seiner Komplexität gesteigerten Sports führt BETTE
das Joggen in den Innenstädten, die künstliche Natürlichkeit des Kletterns in Hallen oder Be-
achvolleyball in den urbanen Marktzonen an (1999: 148). Diese Liste ließe sich nahezu unbe-
grenzt fortsetzen und macht eine von der Sportsoziologie klar herausgearbeitete Entwicklung
des Sports in Deutschland deutlich. Einer veränderten Bedeutung der Sportstätten steht eine
zunehmende Relevanz von Sportgelegenheiten gegenüber.30 Diese Entwicklung lässt sich in
ein stark entwickeltes Forschungsfeld der deutschen Sportsoziologie integrieren, nämlich in
28 Doch nicht nur ausschließlich dort, wo sich die Sportsoziologie um direkte räumliche Bezüge kümmert, ist sie für die
Sportgeographie fundamental. Auch in Bereichen des nicht-direkten Bezugs wie zum Beispiel dem Strukturwandel
des Sports fungiert die Sportsoziologie als wichtiges Fundament der Sportgeographie.
29 Bettes Monographie ‚Körperspuren’ aus dem Jahr 1989 wurde 2005 völlig überarbeitet und neu aufgelegt. Vgl. dar-
über hinaus BETTE (1999): Systemtheorie und Sport (insbesondere Kapitel sechs: ‚Asphaltkultur. Zur Versportlichung
und Festivalisierung urbaner Räume’) sowie BETTE (2004): ‚Xtreme – Zur Soziologie des Abenteuer und Erlebnissports’
(insbesondere Kapitel sieben: ‚Wiederaneignung der Zwischenräume’).
30 Empirisch wurde diese Entwicklung vom ‚Institut für Sportsoziologie’ an der DSHS am Beispiel der Stadt Bocholt im
Westmünsterland nachgewiesen.
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
das der ‚Kommunalen Sport-(stätten)entwicklung’. Hier ist auch die im Jahr 2004 an der DSHS
vorgelegte Habilitationsschrift von Christoph Breuer zum Thema ‚Sportsystemberichterstattung
– ein Beitrag zur Aktivierung und wissensbasierten Steuerung von Sportregionen’ thematisch
einzuordnen.
Einen ähnlich starken geographischen Bezug wie die Arbeit Breuers weist auch ein aktuelles
Projekt der Kölner Sportsoziologie auf. Das Projekt ‚Sport in Metropolen’31 beschäftigt sich mit
der kommunalen Sportentwicklung der Stadt Köln.
An der Freien Universität in Berlin untersucht ein Sonderforschungsbereich mit dem Titel ‚Kul-
turen des Performativen’ das Verhältnis von Performativität32 und Textualität sowie die Funktionen
und Bedeutungen des Performativen in den großen europäischen Kommunikationsumbrüchen im
Mittelalter, in der Frühen Neuzeit und in der Moderne. Unter der Leitung des Sportwissenschaft-
lers Gunter Gebauer beschäftigt sich ein Teilprojekt mit der ‚Aufführung der Gesellschaft in Spie-
len’ (GEBAUER et al. 2004). Die Ergebnisse dieses Teilprojektes bilden zusammen mit der Habilitati-
onsschrift ‚Zeichen, Körper und Bewegung. Aufführungen von Gesellschaft im Sport’ von Thomas
Alkemeyer (2000) eine theoretisch fundierte, interessante Fragen aufwerfende sportsoziologische
Grundlage der Sportgeographie (vgl. dazu auch BOSCHERT 2002 sowie ALKEMEYER 2003).
Die rezente Entwicklung macht deutlich, dass die vormals nahezu ausschließlich im anglo-
phonen Raum (USA, England, Kanada, Australien) beheimatete ‚Sportgeographie’ nun zuneh-
mend auch in anderen, nicht englischsprachigen Ländern (Dänemark, Norwegen, Frankreich,
Schweiz, Deutschland, Brasilien) Fuß fasst. Es bleibt indes abzuwarten, ob es der lange Zeit
marginalisierten ‚Sportgeographie’ zukünftig gelingen wird, sich als lohnende Subdisziplin der
Geographie wie der Sportwissenschaft zu etablieren und zu profi lieren und so aus ihrem Schat-
tendasein herauszutreten.
2.7.5 Entwicklung der Sportgeographie im Überblick
Die in den Kapiteln 2.7.1 bis 2.7.4 detailliert dargestellte Entwicklung der Sportgeographie
wird hier abschließend zusammengefasst (vgl. Tabelle 2, S. 48):
a) ‚Geographien des Sports’ blicken auf eine bis in die griechische Antike reichende Forschungs-
tradition zurück.
b) Zur Begründung einer systematischen ‚Sportgeographie’, die sich von den eher zufälligen
‚Geographien des Sports’ unterscheidet, trugen ab Ende der 1960er Jahre vor allem der
US-Amerikaner Rooney sowie der Brite Bale, insbesondere mit der Veröffentlichung seines
Buches ‚Sports Geography’ (1989/2003a), bei.
c) So wie allgemein-wissenschaftliche Paradigmenwechsel die Geographie und die Sportwis-
senschaft erfassen, bilden sich Paradigmenwechsel der Mutterwissenschaften auch in der
Sportgeographie ab. Die frühe, moderne ‚Geographie des Sports’ der 1960er und 1970er
31 Seit September 2003 kooperieren das ‚Ministerium für Städtebau und Wohnen, Kultur und Sport des Landes NRW’,
der ‚Landessportbund NRW’, der ‚Stadtsportbund Köln’ sowie das ‚Institut für Sportsoziologie’ der DSHS in dem
Projekt ‚Sport in Metropolen’, das eine grundlegende Untersuchung Kölns als Sportstadt anstrebt.
32 Zu den Begriffen ‚Performanz’ und ‚Performativität’ aus Sicht der Sportwissenschaft vgl. ALKEMEYER 2000: 149 ff.
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© INOEK
Jahre basierte auf einer rein quantitativen Methodik und war überwiegend deskriptiver Na-
tur. Deutlich zeigte sich in dieser Phase eine Prägung der ‚Geographie des Sports’ durch die
als Raumwissenschaft betriebene, objektivistische Geographie.
d) Im Folgenden orientierte sich die Sportgeographie, im Zuge einer allgemeinen als ‚qualita-
tive Revolution’ der Sozialwissenschaften bezeichneten Entwicklung, stärker am Verhalten
der Menschen im Raum. Zudem zeichnete sich die Sportgeographie der 1980er Jahre im
Vergleich zu den früheren Ansätzen durch eine Individualisierung und Subjektivierung ihrer
Perspektive aus.
e) Charakteristisch für die jüngste Entwicklung der Sportgeographie ist eine fortschreitende
Öffnung des Faches für die schier unbegrenzte Anzahl sozial- und geisteswissenschaftlicher
Paradigmata, durch welche die Geographie wie die Sportwissenschaft momentan in gleicher
Weise geprägt werden. Die Koexistenz rivalisierender Paradigmata gilt als ein Charakteristi-
kum der Wissenschaft in der fortschreitenden Moderne und bildet damit treffend auch die
jüngere Entwicklung einer als postmodern attribuierten Sportgeographie ab.
f) Vor allem in Nordamerika und Großbritannien erfolgt derzeit eine sich an den ‚weißen Fle-
cken’ der sportgeographischen Forschungs-Landkarte orientierende Ausdifferenzierung der
Sportgeographie (vgl. VAN INGEN 2003, MARKOVITS et al. 2003). So wird für die Felder ‚Stadi-
ongeographie’ (GAFFNEY & BALE 2004), ‚Body Geography’, ‚Health Geography’ und ‚Fitness
Geography’ (ANDREWS et al. 2004) ein erhöhter Forschungsbedarf angemeldet. TANGEN (2004)
und VAN INGEN (2003) fordern zudem eine theoretische Fundierung des Diskurses um ‚Sport
und Raum’.
g) Die ‚Sportgeographie’ zeichnet sich durch eine große inhaltliche Nähe zur Sportsoziologie
aus, die als etablierte und institutionalisierte sportwissenschaftliche Subdisziplin weite Felder
dessen, was eigentlich genuin geographischer Untersuchungsgegenstand im Sport und in
der Sportwissenschaft wäre, für sich besetzt hat.
P
AUSANIAS
, G
UTS
M
UTHS
,
C
OUBERTIN
, J
OKL
Frühe ‚Geographie(n) des
Sports‘
Antike – 1960
Europa
B
ALE
, G
RATTON
, V
ERTINSKY
,
Y
OUNG
, V
AN
I
NGEN
, G
AFFNEY
,
T
ANGEN
, B
ETTE
, F
USCO
,
T
OMLINSON
, M
ARKOVITS
Ausdifferenzierung
sportgeographischer Diskurse,
Paradigmenvielfalt
2000 - heute
global
B
ALE
, R
AITZ
, B
ESSON
, E
ICHBERG
,
A
UGUSTIN
Etablierung einer
‚Sportgeographie‘, qualitative
Revolution, Hinwendung zu
interpretativen Verfahren
1989 - 2000
global
B
URLEY
, R
OONEY
, B
ALE
, R
ÖSCH
,
P
ILLSBURY
, E
ICHBERG
‚Geographie(n) des Sports‘
deskriptiv,
raumwissenschaftlich
1960 - 1989
englischsprachiger Raum
(USA, CA, UK, AUS)
AkteureMerkmalePhase + Vorkommen
Tabelle 2:
Vier Phasen der
Entwicklung der
Sportgeographie
49
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
2.8 Anwendungs- und Forschungsfelder einer Sportgeographie
Welchen Fragestellungen widmet sich die Sportgeographie momentan und wo liegen Ent-
wicklungspotenziale einer lukrativen Beziehung zwischen Sportwissenschaft und Geographie?
Um sich als lohnende Disziplin in der heutigen Forschungslandschaft etablieren zu können,
muss sich die Sportgeographie als ein interdisziplinäres, internationales und postmodernes Wis-
senschaftsprojekt verstehen. Das ist für die Sportgeographie deshalb unabdingbar, weil zum
einen der Sport als soziokulturelles Phänomen die gesamte Bandbreite der wissenschaftlichen
Disziplinen anregt, zum anderen weil sich die Geographie erst sehr viel später als andere Diszi-
plinen (wie Soziologie, Psychologie oder auch Philosophie) mit dem Sport befasst hat.
Ein weiteres wichtiges Kriterium für eine zeitgemäße Sportgeographie ist neben ihrer Inter-
disziplinarität, insbesondere aus deutscher Perspektive, ihre Internationalität. Die wichtigsten
Impulsgeber der Sportgeographie stammen aus dem anglophonen Raum. Dort hat sich längst
eine eigene sportgeographische Szene etabliert, während in Deutschland Geographen und
Sportsoziologen unisono nach wie vor die Existenz einer derartigen Disziplin leugnen und das
aus ihr erwachsende Potenzial verkennen. Vor allem in Nordamerika blickt die Sportgeographie
– nicht zuletzt aufgrund der höheren gesellschaftlichen Wertschätzung des Kulturphänomens
Sport – auf eine längere Geschichte zurück. Sie ist dort den Kinderschuhen, der Argumentation
für eine eigenständige (Sub-)Disziplin, entwachsen und hat sich den wesentlichen fachlichen
Fragen zugewandt. Mit der größten Selbstverständlichkeit beschäftigen sich dort auch Geogra-
phen mit Sport beziehungsweise im Umkehrschluss Sportwissenschaftler mit geographischen
Konstrukten. Es scheint, dass im anglophonen Raum nicht nur der sportgeographische Diskurs
auf eine längere Historie zurückblickt und weiter entwickelt ist als in Deutschland, sondern auch
die Selbstverständlichkeit, mit der interdisziplinär gearbeitet wird, sehr viel ausgeprägter ist.
So weist die ‚Association of American Geographers’ schon seit dem Beginn der 1970er Jahre
eine eigene Sektion für Sportgeographie auf (BALE 1988: 507). Jüngst wurde dem sogar eine
Kommission für Stadiongeographie hinzugefügt. Von kanadischer Seite wird darüber hinaus
seit geraumer Zeit die Vernachlässigung des Körpers in der sportgeographischen Auseinan-
dersetzung bemängelt und Untersuchungen zu Körper-, Gesundheits- und Fitnessgeographien
eingefordert (vgl. VAN INGEN 2003, ANDREWS et al. 2004).
Die mittlerweile in beachtlicher Form ausdifferenzierte englischsprachige Sportgeographie
wird aktuell überwiegend sozialwissenschaftlich betrieben. Dabei wird den ‚Cultural Studies’,
der ‚Postmodern Spatial and Social Theory’ sowie der Kultur- und Sozialgeographie ein zentraler
Stellenwert beigemessen.
In Deutschland hingegen ist der Stellenwert der Sportgeographie, wie in Kapitel drei anhand
des Beispiels ‚Sport und Raum’ aufgezeigt werden wird, ein völlig anderer. Die im März 2006
gegründete Kommission für ‚Sport und Raum’ der ‚Deutschen Vereinigung für Sportwissen-
schaft’ (dvs) verzichtete bislang völlig auf die geographische Expertise im Umgang mit räumli-
chen Phänomenen und konzentriert sich weitestgehend auf die (kommunale) Sportstättenpla-
nung und Sportentwicklung.
Um also den Ansprüchen und der thematischen Breite einer postmodernen Sportgeographie
gerecht werden zu können, werden im Folgenden, basierend auf den Konzeptionen von BURLEY
50
© INOEK
(1962), ROONEY (1974), RÖSCH (1986) und BALE (1989/2003a) wie sie in Kapitel 2.6 vorgestellt
wurden, zehn Themenfelder sportgeographischen Interesses mit jeweils drei Schlagworten skiz-
ziert (vgl. Abbildung 16).
1. ‚SportGeographie und Theorie’
Wie für jedes andere neue wissenschaftliche Fach ist es auch für die Sportgeographie un-
abdingbar notwendig, sich theoretisch und konzeptionell stärker als bisher zu verorten. Nur
so kann die Sportgeographie ihre Daseinsberechtigung gegenüber anderen Disziplinen gel-
tend machen und sich weiter im wissenschaftlichen Fächerkanon etablieren. Hier steht nach
wie vor eine grundlegende, wissenschaftstheoretische Beschäftigung mit Fragen, die sich im
Spannungsfeld von Sport, Körper, Raum, Kultur und Gesellschaft bewegen, aus. So würde
beispielsweise, in Anlehnung an GIULIANOTTIS (2004) Publikation ‚Sport and Modern Social Theo-
rist’, eine Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Sport and (Post)Modern Spatial Theory’ die so
dringend benötigte theoretische Grundlage liefern; erwächst doch aus den zurzeit dominanten
sozial- und geisteswissenschaftlichen Theoriegebäuden (Foucault, Bourdieu, Luhmann, Gid-
dens, Baudrillard etc.) auch für die Sportgeographie ein großes Potenzial, wie TANGEN (2004) in
der Anwendung von Luhmanns Systemtheorie auf die Räume des Sports und VAN INGEN (2003)
am Beispiel von Lefébvres ‚Produktion des Raumes’ eindrucksvoll zeigen konnten. Des Weite-
ren ist eine systematische Aufarbeitung der theoretischen Fundierungen sportgeographischer
Forschung auch deshalb so notwendig, weil sehr viel mehr Publikationen existieren als es den
Anschein hat. Allerdings sind diese Werke disziplinär genauso weit gestreut wie in ihrer sprach-
lichen und geographischen Provenienz, so dass es auf den ersten sportgeographischen Blick
nahezu unmöglich erscheint, den Diskurs überhaupt auch nur zu erkennen. Eine Sammlung
Postmoderne
Sportgeographie
Sport – Markt –
Globalisierung
SportRaum –
Planung SportRaum –
Ökologie
SportLandschaft –
Kultur
SportStadt –
Sportstätten
SportLandschaft –
Reisen – Tourismus
SportRaum in Historie
und Literatur
SportGeographie
und Theorie
POSTMODERNE
SPORTGEOGRAPHIE
SportOrt – Identität
SportKommune –
Erziehung – Politik
Abbildung 16:
Themenfelder
einer postmoder-
nen Sportgeo-
graphie
51
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
der verschiedenen bereits existenten Ansätze in kohärenter Form wäre der Sportgeographie
deshalb ungemein förderlich.
2. ‚SportRaum in Historie und Literatur’
„Sports exist in time and space“ (BALE 2000b: 172). Damit sind die Räume des Sports auch
aus einer historischen Perspektive von sportgeographischem Interesse. Wie haben sich die Sport-
räume im Verlaufe der Zeit verändert? Kannte die Antike Sportgelegenheiten? Welche räumli-
che Entwicklung nahm der Sport von der Antike bis zur Gegenwart? So wie heute die modernen
Sportstätten Gegenstand sportgeographischer Untersuchungen sind, eignen sich in gleicher
Weise auch antike oder mittelalterliche Sportstätten und -räume. Während BALE (2003a: 129 ff)
bei den modernen, weltweit denselben Normen globaler Sportverbände unterliegenden Sport-
stätten eine Technologisierung und Standardisierung beobachtet, stellt sich die Frage: Gibt es
ähnliche Entwicklungen oder Tendenzen in einem früheren Stadium der Entwicklung des Sports
oder in einer fremden Kultur? Welche Rolle spielte die sinnliche Wahrnehmung in Stadien der
Antike? Welche Narrative sind der Architektur griechischer Stadien eingeschrieben und was
verraten diese über die Sporträume der damaligen Zeit? Worin lag der Unterschied zwischen ei-
ner römischen Arena und einem griechischen Stadion? Welche Information birgt die räumliche
Organisation mittelalterlicher Turniere? Wie wirkt sich Kultur auf die Räume des Sports aus?
Interessant wäre es auch, historische Untersuchungen zur Veränderung der Umwelt- und
Naturwahrnehmung, wie sie von NASH (2001) zur Erklärung der nordamerikanischen ‚Wilder-
ness-Bewegung’ herausgearbeitet wurden, in Beziehung zum Sport zu setzen. Wie wirken sich
die historischen Veränderungen in der Wahrnehmung der Natur auf den Landschaftssport aus?
Welches Naturverständnis liegt den modernen Sporträumen zugrunde?
Hochaktuell und gleichzeitig historisch relevant ist der Themenkomplex ‚Literarische Sport-
landschaften’. Ausgehend von den Geographien antiker Sporträume bei Homer und Pausanias
merkt RÖSCH an: „Es könnten für die Antike, das Mittelalter, die Zeit des Humanismus, der
Aufklärung und für das 19. Jahrhundert der ganze Bereich der ‚Reisebeschreibungen’ in diese
historische Rückblende miteinbezogen werden, eine Thematik, die eine eigene, groß angelegte
Studie zu diesem Gegenstand rechtfertigt in der Verbindung von ‚Fußreisen’, Erkundungsfahr-
ten (Alexander von Humboldt u.a.), Entdeckungen, Wallfahrten-Pilgerfahrten, Wanderschaft
usw. […]“ (1986: 72).
Da sich Reisen und Sport die Bewegung als konstitutives Element teilen, bietet sich für
eine sportgeographische Literaturstudie zuallererst die Analyse von Reiseliteratur an. Hier sind
insbesondere diejenigen Schriften der Reiseliteratur von Interesse, die sich mit körper- und be-
wegungskulturellen Praxen wie Fußreisen beschäftigen (vgl. SOLNIT 2001 und AMATO 2004). Am
deutlichsten sind diese Bezüge bei Autoren wie Bruce Chatwin, Patrick Leigh Fermor oder auch
Reinhold Messner (vgl. BOOMERS 2004). Insbesondere das ethnologisch anmutende Werk des
Engländers Chatwin, das sich überwiegend mit dem Nomadentum und der menschlichen ‚Ana-
tomie der Ruhelosigkeit’ befasst, enthält Anknüpfungspunkte zur Sportgeographie. Liegt die
Wurzel des Ausdauersports im menschlichen Nomadismus begründet? Kann der Nomade als
‚Vorläufer’ des Fußreisenden, des Flâneurs, des Wanderers und Trekkers betrachtet werden?
Kann dann Trekking als moderne Form des Nomadismus aufgefasst werden? Treiben Nomaden
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© INOEK
eigentlich Sport? Oder ist dieser auch deshalb mittlerweile ein solch dominantes Phänomen
unserer Gesellschaft, weil unsere Zivilisation im Zeitalter der Motorisierung so körperfeindlich
und bewegungsmüde geworden ist? So ließen sich zum Beispiel Salzkarawanen im Himalaja
oder in der Sahara untersuchen, um zu eruieren, welche Rolle Sport, Spiel und Bewegung in der
Kultur von Nomaden spielt. Wie unterscheiden sich der Sport und das Sportinteresse auf den
hochgelegen Bergbauernhöfen der Alpen oder in den abgelegen Hirtendörfern der kretischen
Sfakiá von dem in den europäischen Großstädten? Treiben körperlich arbeitende Menschen wie
Bergbauern überhaupt Sport? Wenn ja, aus welchen Motivlagen?
Die Analyse ‚literarischer Sportlandschaften’ ist jedoch keineswegs auf die Reiseliteratur be-
schränkt. Jedwede literarische Form, in der Sport und Sportraum eine Rolle spielen, ist von
Interesse. Erneut ist es Bale, der als Pionier auch in diesem neuen Feld sportgeographischer
Forschung aktiv wurde (vgl. BALE 2004).
Das Interesse an literarischen Landschaften leitet zu einem weiteren potenziellen Themenfeld
der Sportgeographie über, dem der allgemeinen medialen Repräsentation des Sports im Film, im
Fernsehen oder in Zeitungsberichten. Welche Rolle spielt der Sport für die Repräsentation eines
Ortes? Wie werden Sportstätten und -räume in Filmen konzeptualisiert?
3. ‚SportLandschaft – Reisen – Tourismus’
Sport spielt zunehmend auch im Tourismus eine wichtige Rolle. Ob Aktivurlaub, Trainings-
und Wettkampfreisen, Sportferien oder Erholungsreisen: Der Sporttourismus entwickelt sich
mehr und mehr zu einem wichtigen Markt der Freizeitindustrie.
Aus sportgeographischer Sicht ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Destination,
wie er in der Tourismuswissenschaft seit etlichen Jahren gebräuchlich ist, von Interesse. ALBERS
(2004: 4) defi niert Destination als denjenigen geographischen Raum (Ort, Region etc.), den der
Gast als Reiseziel auswählt. Die Destination enthält zudem sämtliche für einen Aufenthalt not-
wendige Einrichtungen der Beherbergung, Verpfl egung sowie der Unterhaltung. Wie lässt sich
dieses Modell für den Sporttourismus spezifi zieren? Welche Rolle spielen Sportlandschaften und
-regionen als Destinationen im Tourismus?
Eine spezifi sche Form der Sportreise stellt der Besichtigungstourismus von Sportstätten dar.
So ist die neu errichtete Allianz Arena in München in den ersten Monaten seit ihrer Eröffnung
ein Zuschauermagnet. Von den insgesamt 2,2 Millionen Besuchern des Stadions kamen rund
700.000, also nahezu ein Drittel, außerhalb des Spielbetriebs in das Stadion. Dabei nahmen al-
lein 400.000 Personen an Führungen durch die neue Arena teil (FC BAYERN MÜNCHEN AG 2006).
4. ‚SportStadt – Sportstätten’
Der Sport spielt nicht nur in der Stadt, sondern auch für die Stadt eine zunehmend bedeut-
same Rolle (vgl. TAUBER 2006). Aus Sicht der Sportgeographie erwächst im Spannungsfeld von
Sport, Stadt und Sportstätten ein nahezu unerschöpfl iches Reservoir interessanter Fragestellun-
gen. Gegenstand von Untersuchungen könnten zum Beispiel die Konfl ikte um Bewegungsräu-
me im urbanen Raum (Aneignung von öffentlichen Plätzen durch Skater), der Sport als Mittel der
urbanen Regeneration, Konzepte zur sportgerechten Stadt, Analysen der sozioökonomischen
Erlöse des Sports in der Stadt, Untersuchungen kommunaler Sportstrukturen, Sport als weicher
53
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Standortfaktor einer Stadt33, die Rolle der Stadien und Arenen für die Stadt, die sozioökonomi-
schen Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen (Olympische Spiele, Weltmeisterschaften,
etc.) auf Städte unter der Berücksichtigung der zunehmenden Bedeutung des Imagefaktors
Sport, Sportgelegenheiten in Stadtparks, auf städtischen Grünfl ächen und in Fußgängerzonen
sowie Sport als Element der Stadtplanung sein. Welche Formen neuer Sportstätten (Skihallen,
Kartbahnen, Freizeit- und Erlebnisparks) und Sportarten tauchen in Städten auf? Welche Rolle
spielt der Sport im Rahmen der ‚Festivalisierung’ der Stadtpolitik (Bladenights, Stadt-Marathons,
Beachvolleyball auf urbanen Märkten etc.)? Lässt sich mit Sport wirklich das Image einer Stadt
grundlegend verbessern (‚Sporting a new Image’)?
5. ‚SportLandschaft – Kultur’
Das Themenfeld Sport, Landschaft und Kultur beschäftigt sich mit Fragestellungen, die sich
im Spannungsfeld zwischen (Sport-)Ethnologie und Kulturgeographie bewegen und sich mit
Fragen des Einfl usses der Kultur auf Sport und Raum beschäftigen.
Ein traditionelles Themenfeld in diesem Bereich ist das des Sports in der Entwicklungszu-
sammenarbeit, wie es von DIGEL (1989) und RUMMELT (1986) bearbeitet wurde. Was kann der
Sport im Rahmen der Entwicklungshilfe leisten? Eng damit verknüpft ist der Bereich ‚Sport und
(Post)Kolonialismus’ wie er von BALE & CRONIN (2003) aufgearbeitet wurde.
Interessant wäre beispielsweise eine vergleichende Studie über die bewegungskulturellen
Praxen und ihre Räume in den präkolumbianischen Hochkulturen Amerikas (nordamerikani-
sche Indianer, Maya, Azteken, Inka).34 Beispielsweise sind in den Museen von Mexiko-Stadt
unter dem Begriff ‚Pelota’ Ballspiele alter Hochkulturen dokumentiert. Darüber hinaus sind in
ganz Mexiko mehr als 1500 Spielfelder alter Hochkulturen bekannt. „Alle sind rechtwinklig, die
größten sind 170 m lang. Der Ball wurde mit Hüften, Oberschenkeln und Ellenbogen gespielt.
Wahrscheinlich glaubten die Spieler an einen mystischen Sinn ihres Tuns – sie hielten mit dem
Schlagen des Balles Sonne und Mond in Bewegung. Möglicherweise wurde die unterlegene
Mannschaft der lebensspendenden Sonne geopfert“ (BURGER 2006).
Lange Zeit wurde Kultur als Reaktion auf vornehmlich klimatische Bedingungen verstan-
den (CRANG 1998: 15). Wie wirkt sich also die Landesnatur auf den Sport aus? Konnte das
bewegungskulturelle Phänomen ‚Friluftsliv’35 nur in Skandinavien entstehen? Oder ist eventuell
die Thalassotherapie in Griechenland das mediterrane Pendant zum skandinavischen Friluftsliv?
Warum ist die ‚Wilderness-Bewegung’ typisch für die nordamerikanische Kultur? Welches Na-
turverständnis liegt einem Indianer-Spiel wie Lacrosse zugrunde? War das Stierspringen in der
33 Dem Sport kann eine Vielzahl von Erlösen für das Leben in der Stadt zugesprochen werden. Sport steigert die
Lebensqualität einer Stadt, schafft Arbeitsplätze (Ausrichtung von Sportgroßereignissen, Bundesligaverein etc.), re-
duziert Vandalismus, erhöht die Identifi kation mit der Stadt, verbessert den Gesundheits- und Fitnesszustand der
Bevölkerung einer Stadt und hat damit Einfl uss auf die Arbeitsproduktivität. Sport ist zudem ein wichtiges Mittel
der Außendarstellung, der Stadtentwicklung und der sozialen Integration. Aus dem Sport kann darüber hinaus ein
Eventtourismus generiert werden (vgl. GRATTON & HENRY 2001).
34 So erlangte beispielsweise ‚Pok ta Pok’, ein Ballspiel der Maya, als Teil des offi ziellen Kulturprogramms der Fußball-
WM 2006 auch in Deutschland eine größere Bekanntheit (BURGER 2006).
35 Unter Friluftsliv wird ein bewegungskulturelles Phänomen verstanden, das nach einem ‚reichen Leben mit einfachen
Mitteln’ strebt und in skandinavischen Ländern besonders ausgeprägt ist (vgl. LIEDTKE 2005).
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minoischen Kultur ein Sport? Welche Rolle spielt der Sport für Nationen und Nationalstaaten?
Kann die Popularität des Skifahrens in Österreich, des Eishockeys in Kanada und Finnland oder
des Fußballs in England mit der naturräumlichen Ausstattung dieser Länder in Zusammenhang
gebracht werden? Wie kommt es dann aber, dass die in Vancouver lebenden Kanadier nichts
mehr als Eishockey lieben, während in unmittelbarer Nähe in Seattle, das allerdings südlich des
49. Breitengrades und damit in den USA liegt, Baseball, Basketball und American Football die
Hauptsportarten darstellen? Worin besteht die ‚Magie’ des 49. Breitengrades?
Schon immer wurde Sport als Mittel der kulturellen Repräsentation eingesetzt, in besonders
extremer Form zum Beispiel bei den Olympischen Spielen während der Zeit des Kalten Krieges,
wurde hier doch mit Hilfe olympischer Medaillen die Überlegenheit eines ideologischen Systems
zu dokumentieren versucht. Auch schon früher geschah das. Im Dritten Reich wurde beispiels-
weise das Bergsteigen (deutsche Himalaja-Expedition, Erstbesteigung der Eiger-Nordwand etc.)
dazu benutzt, die scheinbare Überlegenheit der arischen Rasse zu dokumentieren.
Welche Rolle spielt die kulturelle Prägung eines Menschen in Bezug auf sein sportliches Welt-
und Menschenbild? In dem von MITCHELL (2001: 3 ff) vorgeschlagenen Verständnis wird Kultur
sichtbar in so genannten ‚culture wars’. Welche ‚culture wars’ kennt der Sport? Lässt sich der
Kampf von Frauen in muslimischen Ländern für eine freie Sportausübung als Teil eines ‚culture
war’ zwischen westlicher Orientierung und Besinnung auf Religion und Tradition verstehen?
Wie manifestiert sich die soziale Rolle der Frauen muslimischer Länder in den Sporträumen?
Lässt sich ein Prozess der Eroberung des Sports und der Inbesitznahme von Sportstätten (bei-
spielsweise Schwimmbäder mit bestimmten Öffnungszeiten nur für Frauen etc.) beobachten?36
Welche Rolle spielt in diesen Prozessen der Köper und wie wird die Körperwahrnehmung von
der Kultur bestimmt?
6. ‚SportRaum – Ökologie’
Eine seit Anfang der 1980er Jahre steigende Anzahl von Tagungen, Publikationen und Re-
solutionen zum Thema ‘Sport, Raum und Ökologie’ muss als Indiz dafür gewertet werden, dass
eine bis dato als unproblematisch geltende Beziehung problematisch geworden ist. Dies führte
dazu, dass diese Thematik als erster sportgeographischer Teildiskurs zu Beginn der 1990er Jahre
stärker in den Fokus der wissenschaftlichen Fachwelt geriet.
Zu den Themenfeldern ‚Sport und Umwelt-, Natur- und Artenschutz’, ‚Sport in Schutzgebie-
ten’, ‚Sport und Gesundheit’ sowie ‚Sport und nachhaltige Entwicklung’ ist seitdem in umfas-
sendem Maße geforscht und publiziert worden.
7. ‚SportRaum – Planung’
Auch der Themenkomplex ‚Sportraumplanung’ hat Konjunktur; wirft doch der Struktur-
wandel des Sports völlig neue Probleme einer sportbezogenen Regional-, Stadt- und Land-
schaftsplanung auf. Für die Kommunen, Landkreise und Tourismusregionen bedeutet dies,
36 Das erste Heimspiel der Frauenfußball-Nationalmannschaft Irans gegen eine aus Berlin-Kreuzberg stammende türki-
sche Mannschaft am 4. Mai 2006 löste unter den Frauen Teherans wahre Begeisterungstürme aus (vgl. dazu KARICH
2006: 39).
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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dass sie ihre Sportentwicklungsplanung grundlegend umstellen müssen, um so der verän-
derten Sportnachfrage gerecht werden zu können. Der Boom dieses Themenfeldes ist nicht
zuletzt auch mit der veränderten Struktur der Hochschullandschaft zu erklären. Da sich wis-
senschaftliche Einrichtungen immer stärker über Forschungsaufträge, so genannte Drittmittel,
defi nieren und fi nanzieren (müssen), liegt in diesem anwendungsorientierten Segment großes
Potenzial, dringend benötigte Gelder zu akquirieren. Doch auch inhaltliche Kriterien tragen
zum Aufkommen der Sportraumplanung bei. Beispielweise bedarf die zunehmende Anzahl
von Sporttreibenden in naturnahen Räumen eines Besucherlenkungssystems. Mit Hilfe the-
matischer Karten (Wanderkarten oder Radwanderkarten) ist es den Besuchern einer Region
möglich, sich auch ohne Ortskenntnis zu orientieren. Mittlerweile benötigt nahezu jede Natur-
sportart ein eigenes Wegenetz und damit auch ein spezielles Kartenwerk (Skilanglauf, Nordic-
Walking, Canyoning etc.). Zum wichtigsten Planungsinstrument sind Geographische Informa-
tionssysteme (GIS) geworden, die auch im Sport (selbst in der Leistungsdiagnostik) mehr und
mehr Anwendung fi nden. Am ‚Institut für Natursport und Ökologie’ der DSHS entsteht derzeit
unter dem Titel ‚Sport Area Management Systems’ eine Dissertation von Alexander Krämer, in
der die Integration moderner Geoinformationstechnologien in die Sportraumplanung erprobt
und analysiert wird.
8. ‚Sport – Markt – Globalisierung’
Das wohl am stärksten Disziplin übergreifend diskutierte wissenschaftliche Konzept ist seit
den 1990er Jahren das der Globalisierung. Hiervon ist nicht zuletzt auch der Sport als welt-
weiter Wirtschaftfaktor ebenso wie als global vermarktetes Kulturgut betroffen.37 So wartet
beispielsweise die Fußball-Bundesliga, ja der gesamte europäische Fußball, aus Gründen der
Vermarktungsstrategie auf Stars aus Asien (vorzugsweise aus China, Indien oder Japan). Wel-
che Rolle mittlerweile ökonomische und strategische Überlegungen auch bei Spielerverpfl ich-
tungen spielen, zeigte der Fall David Beckham im Jahr 2003. Die von ‚Real Madrid’ an ‚Man-
chester United’ zu zahlende Transferentschädigung von 35 Millionen Euro konnte aufgrund
der Popularität Beckhams, vor allem in Asien, durch Einnahmen im Merchandising refi nanziert
werden.
Doch unter dem Einfl uss der Medien sind nicht mehr nur die populären, sportlichen Großer-
eignisse (Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften) Sportevents von globalem Aus-
maß. Inzwischen kommt es im Sport im Allgemeinen zu global-lokalen Maßstabs- und Ortsver-
fl echtungen, wie sie unter dem Stichwort der Glokalisierung in vielen Bereichen der Alltagswelt
beobachtet werden können. Dabei sind aus geographischer Sicht vor allem Prozesse der Kreoli-
sierung oder Hybridisierung, der Mehrörtigkeit von Sportereignissen und der Netzwerkbildung
von Interesse (zur Glokalisierung im Sport vgl. GIULIANOTTI 2005).
Darüber hinaus wird der Sport in Deutschland vom Prozess der Europäisierung begleitet.
Wie manifestiert sich im Sport (zum Beispiel in der UEFA Champions League) der europäische
Einigungsprozess und die europäische Idee? Wie trägt der Sport zum Einigungsprozess bei?
37 Im Deutschen Sport & Olympia Museum in Köln lief vom 4. März bis zum 5. Juni 2006 die Ausstellung ‚Global Play-
ers’, in der die Geschichte deutscher Fußballer und Trainer im Ausland aufgearbeitet wurde.
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9. ‚SportOrt – Identität’
„Die Orts- und Raumverbundenheit des Menschen wird in seiner sportlichen Betätigung oft
noch intensiver erfahren als in anderen Lebensbereichen“ (RÖSCH 1986: 18). Sport spielt eine
zentrale Rolle für die Identifi kation mit einem Ort. So existiert zum Beispiel das Phänomen des
Heimvorteils: Was geschieht da? Welche Bedeutung hat das Stadion für die Fans? Wie verän-
dert die Neukonzeption der Stadien zu Arenen das Erlebnis der Fans? Warum gelingt es dem
Sport stärker als anderen kulturellen Phänomenen, einen ‚sense of place’ (VERTINSKY 2004: 8) zu
generieren?
Der menschliche Lebensraum und damit die Landschaften und Orte um uns herum sind
voller Erinnerungen, Bedeutungen und Symbole. Viele von diesen haben eine deutliche Raum-
wirksamkeit im Sinne einer traditionellen Geographie, zum Beispiel indem sie einen starken
Besucherreiseverkehr auslösen (Stadien, Tourismus, Wallfahrten etc.). Dem Konzept der ‚Lieux
de mémoire’ von Pierre Nora erwächst deshalb auch für die Sportgeographie ein großes Poten-
zial. Wohl jedes Stadion der englischen Premiere-League ließe sich treffl ich als Erinnerungsort
untersuchen. Doch auch Stadien wie das Berliner und das Münchener Olympia-Stadion oder
das Wankdorf-Stadion in Bern, in dem die deutsche Fußball-Nationalelf 1954 ihren ersten Welt-
meistertitel errang, sind interessante sportgeographische Erinnerungsorte. Wie könnte ein Kon-
zept eines Sport-Erinnerungsortes aussehen?
10. ‚Sport(Kommune) – Erziehung – Politik’
Im Rahmen seiner gesellschaftlichen Expansion spielt der Sport mittlerweile auch eine nicht
zu unterschätzende Rolle in der Politik38, wie die Fußball-WM 2006 in Deutschland oder auch
die sportwissenschaftliche Beschäftigung mit sportpolitischen Themen und Fragestellungen ein-
drucksvoll unter Beweis stellen. „Der Sport ist ein echter Standortfaktor und prägt politische
Entscheidungen“ (TAUBER 2006: 105). In diesem Themenfeld wäre beispielsweise die Lobbyar-
beit des Deutschen Olympischen Sportbundes (DSOB) als Nicht-Regierungsorganisation bei der
Europäischen Union (EU) in Brüssel ein interessantes sport- und geopolitisches Betätigungsfeld.
Welche Rolle spielt der Sport auf der Ebene der Internationalen Regierungsorganisationen? Zum
Thema ‚Governance im Sport’ wurde an der DSHS im Jahr 2005 eine Ringvorlesung angeboten.
Wie zentral mittlerweile der Sport für die Politik einer Stadt oder Region geworden ist, zeigt
die (absurde) Tatsache, dass in den USA Stadien und Hallen für American Football, Baseball, Eis-
hockey und Fußball auch dann noch mit öffentlichen Geldern gebaut werden, wenn die allge-
meine Haushaltslage der Städte dies nicht im geringsten zulässt. RICHMOND merkt dazu spöttisch
an: „The City is full of ruined houses, the jails are overcrowded, the dome is falling off the city
hall, there are potholes in the streets, crippled children can’t get to school – but we are going
to have a sports complex” (1993: 50).
Auch im Bildungssektor spielt der Sport in Zeiten von Adipositas und Bewegungsarmut eine
wichtige Rolle. Sportgeographie kann hier wichtige Beiträge im Bereich der Umweltbildung und
des anwendungsorientierten Lernens in außerschulischen Projekten leisten. Insbesondere vor
38 Vgl. dazu die Reportage ‚Die Mission der Elefanten’ von Ullrich Fichtner in ‚Der Spiegel’ 14/2006, in der die politische
Bedeutung des Fußballs am Beispiel der Nationalspieler der Elfenbeinküste thematisiert wird.
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
dem Hintergrund der Einrichtung von Ganztagsschulen wären extra-curriculare sportgeographi-
sche Angebote wünschenswert. So könnte in der Verbindung von Heimatkunde, Ökologie und
Bewegung (Natursport, ‚Draußensein’) ein sportgeographischer Führer ‚Natur und Landschaft
erleben’ erstellt werden. In diesem Themenbereich sind auch ganze Unterrichtsreihen denkbar.
So könnte Sportgeographie als ein Angebot in der Differenzierungsstufe der Gymnasien oder in
Form fächerübergreifender Projekte Eingang in die schulischen Curricula fi nden.
Um das Thema Sportgeographie in der Schule im Erdkunde-, Sport- oder Gesellschaftskun-
deunterricht einsetzen zu können, müssten Lehrpläne und Konzepte für die Anwendung des
Themas in Schulen entwickelt werden. BALE (2000a) nutzt in seinem Buch ‚Sportscape’ den Sport
als ein Instrument mit hohem Aufforderungscharakter, um lebensweltliche Bezüge herzustellen
und die Schüler so für den Erdkundeunterricht zu begeistern. Warum also nicht die ‚Theorie der
zentralen Orte’ auf die geographische Lage der Fußball-Bundesligisten übertragen?
Des Weiteren könnte Sportgeographie in der Schule über das rein kognitive Lernen hinaus-
gehen und zur körperlich-sinnlichen und spielerischen Erfahrung der konkreten Schul-Umge-
bung eingesetzt werden.
Aufgrund der Vielzahl von Experten – die Fächerkombination Sport und Erdkunde erfreut
sich bei Lehramtsstudenten großer Beliebtheit – könnte sich die Sportgeographie aufgrund ihrer
Interdisziplinarität als eine für den schulischen Alltag durchaus fruchtbare und deshalb interes-
sante neue Disziplin erweisen.
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3 Sport und Raum
Der Raum sportlicher Handlungen galt lange Zeit als übersehenes und unterbewertetes The-
ma sportwissenschaftlicher Grundlagenforschung (FRANKE 1985: 19). Jüngst jedoch wird das
Themenfeld ‚Sport und Raum’, das als theoretische Basis und damit als zentraler Forschungs-
strang einer Sportgeographie gelten muss, in der deutschen Sportwissenschaft verstärkt pro-
blematisiert.
3.1 Räume des Sports – eine Annäherung
Welche Räume produzieren Sport und Bewegung? Eine Annäherung an die Räume des
Sports sei anhand von drei alltäglichen Sportgeographien39 vorgestellt.
1. Fußball-Bundesligaspiel im Stadion
Das für den Besucher zentrale Charakteristikum eines Stadions ist die Spielfl äche. Dieses
als Spielfeld bezeichnete ebene Rechteck ist im geometrischen Sinne ein durch rechte Winkel,
Kreise und linienhafte Markierungen geprägter Raum. Die erdräumliche Ausdehnung des so
genannten ‚Platzes’, die weltweit an einheitliche Standardmaße gebunden ist, wird von Seiten-
linien begrenzt.40 Die linienhaften Markierungen auf dem Spielfeld unterteilen dieses in Zonen.
Jeder Zone kommen spezifi sche Bedeutungen zu. So wird jeder Mannschaft zu Beginn einer
Halbzeit eine Hälfte des Spielfeldes zugewiesen, die sie fortan als die ‚eigene Hälfte’ betrachtet.
Beim Anstoß beispielsweise müssen sich dann beide Mannschaften in ihre ‚eigenen Hälften’
zurückziehen. Darüber hinaus markieren die weißen Linien auf dem Spielfeld regulative Zonen,
in denen einzelne Spieler mit besonderen Kompetenzen ausgestattet werden. Dem Torhüter
werden beispielsweise im Fünf- und Sechzehn-Meterraum, dem so genannten Strafraum, be-
sondere Kompetenzen eingeräumt. Hier darf er den Ball mit den Händen berühren und wird in
höherem Maße als die Feldspieler gegen Angriffe geschützt.
Von diesen statischen Räumen (Mittelkreis, Sechzehnmeterraum, Fünfmeterraum etc.) las-
sen sich dynamische Räume differenzieren. Das berühmte ‚Abseits’ ist ein solcher dynamischer
Raum, der abhängig von der Relation der eigenen Position41 zu der der Gegen- und Mitspieler
ist. Neben dem dynamischen Verbotsraum des Abseits existiert innerhalb des Regelwerkes au-
ßerdem eine Vielzahl räumlich gebundener Verbote. So darf während des Anpfi ffs der Mittel-
kreis lediglich von der anstoßenden Mannschaft betreten werden. Wird ein Freistoß ausgeführt,
39 Der Begriff ‚Sportgeographie’ wird hier im ursprünglichen Sinne des Wortes ‚Geographie’ als eine Beschreibung der
Erdoberfl äche, in diesem Fall unter besonderer Berücksichtigung des Sports, verstanden.
40 Der DFB schreibt eine Länge des Fußballfeldes zwischen 90 m und 120 m sowie eine Breite zwischen 45 m und 90
m vor. Dabei muss die Länge der Seitenlinien in jedem Fall die Länge der Torlinien übertreffen. Auf dem Spielfeld un-
terliegen auch der Torraum, der Strafraum, der Mittelkreis und der Eckraum sowie alle anderen Markierungen (Tore,
Eckfahnen, Elfmeterpunkte etc.) exakt defi nierten räumlichen Vorgaben.
41 Bei der Verwendung des Begriffes ‚Position’ muss an dieser Stelle unterschieden werden: Zum einen meint ‚Position’
die Verortung eines Akteurs im absoluten Raum der Spielfl äche. Zum anderen geht mit der ‚Position’ eines Akteurs
in einem Sportspiel immer auch eine funktionale, auf die Erreichung des Spielziels ausgerichtete Komponente einher.
Aus dem jeweiligen Kontext wird jedoch klar, wie der Begriff ‚Position’ zu verstehen ist.
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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so darf sich die verteidigende Mannschaft dem ausführenden Spieler höchsten bis auf 9,15 m
nähern (vgl. SCHINDLER 2006).
Als besonderer Gefahrenraum gilt der
Strafraum, in dem Fouls der verteidigenden
Mannschaft mit einem Elfmeter sanktioniert
werden. Die Entscheidung, welches Foul als
‚elfmeterreif’ eingestuft werden muss, liegt
jedoch im Ermessensspielraum des Schieds-
richters. Überhaupt können die Zonen vor
den beiden Toren als die räumlichen Zentren
des Spiels angesehen werden (vgl. Abbildung
17 sowie HARD 1995: 24 f).
Vor dem Beginn des Spiels weist der Trainer jedem der elf Akteure seiner Mannschaft eine dy-
namisch-funktionale Position zu. Diese markiert den wesentlichen Aktionsraum des Spielers und
koppelt daran strategische Ziele. So spielt der linke Verteidiger in einer Vierer-Abwehrkette meist
‚hinten links’. Seine vorrangige Funktion liegt in der Verteidigung des ‚eigenen’ Tores sowie des
ihm zugewiesenen Ausschnittes des Spielfeldes. In Abhängigkeit von der taktischen Ausrichtung
seiner Mannschaft und der konkreten Position seiner Mitspieler kann ‚hinten links’ aber auch ‚hin-
ten in der Mitte’ oder ‚vorne links’ bedeuten. Durch die Wahrnehmung der Gesamtkonstellation
der Positionen im Raum des Spielfeldes wird es dem Akteur möglich, sich auf die jeweilige Situ-
ation einzustellen. Bestimmte funktionale Positionen (beispielsweise Mittelfeldspieler) erfordern
besondere Fähigkeiten in der optischen und haptischen Wahrnehmung des Raumes (‚peripheres
Sehen’, ‚Gespür für den Raum’). Auch die akustische Reichweite von Akteuren spielt für die Kom-
munikation der mannschaftstaktischen Ausrichtung eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Werbebanden und Zäune oder Gräben trennen die Sportler im Innenraum der Stadien von
den Zuschauern auf der Tribüne. Der Zugang zu den Tribünen wird lediglich jenen Stadionbe-
suchern gestattet, die eine Eintrittskarte vorweisen können. Ordner regulieren den Zutritt. Die
beiden Fangruppen der gegnerischen Mannschaften werden von den Veranstaltern im Stadion
möglichst weit auseinander platziert. Meist stellen die Fans der Heimmannschaft die Mehrheit
der Stadionsbesucher. In allen Stadien gibt es Räume, in denen die besonders treuen Fans einer
Mannschaft zu fi nden sind. Dafür, dass es vor, während und nach dem Spiel zwischen den Fan-
Gruppen nicht zu Ausschreitungen und Randalen kommt, sorgt die in hohem Maße präsente
Polizei. Mit Hilfe von Kameras werden die einzelnen Blöcke eines Stadions überwacht. Neben der
Zugehörigkeit zu der einen oder der anderen Fangruppe unterscheiden sich die Plätze auf der
Tribüne auch durch den Preis der Eintrittskarte, der nach der Qualität der Sicht auf das Spielfeld
bemessen wird. Zudem existieren Steh- und Sitzplätze, eine Ehrentribüne für besondere Gäste
sowie die von Firmen für repräsentative Zwecke angemieteten Logen. Auch den Journalisten
werden bevorzugte Plätze auf der Tribüne zugebilligt. Damit werden diesen die optimalen Vo-
raussetzungen geschaffen, den thematischen Raum der Sportberichterstattung zu füllen. Die
Sportberichterstattung wiederum fungiert als Grundlage desjenigen kommunikativen Raumes,
der in den Tagen nach einem Bundesligaspiel vor allem in Gesprächen von Fans, aber auch allge-
mein-gesellschaftlich eine wichtige Rolle spielt. Deshalb sind die ortsansässigen Zeitungen und
Abbildung 17:
Spuren der
Aktionsräume
auf dem Spielfeld
(eigenes Foto
vom 24. Juni
2005)
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Magazine meist noch Tage danach mit der Aufarbeitung eines Bundesliga-Spiels beschäftigt. Für
den Ort, in dem ein Bundesliga-Verein beheimatet ist, hat dieser demnach nicht nur eine ökono-
mische Bedeutung. Der Sport trägt auch maßgeblich zur Bekanntheit von Orten bei. Als gutes
Beispiel kann in diesem Zusammenhang der Gelsenkirchener Stadtteil Schalke herangezogen
werden. Dieser verdankt seine Bekanntheit vornehmlich seinem Fußball-Bundesligaverein.42
Aus allen Himmelrichtungen reisen die Fans zu einem Spiel an, um das sportliche Geschen
auf dem Rasen verfolgen zu können. Dieser Raum wird als Einzugsgebiet bezeichnet.
2. Wandern in der Landschaft
Der Weg ist das Ziel, heißt es beim Wandern. Dennoch zeichnet sich dieser sanfte Natur-
sport immer auch durch einen Ausgangs- und einen Zielort aus. Das Überwinden der zwischen
diesen beiden Orten liegenden Strecke erfolgt auf einer Wanderroute, die vom Wanderer meist
mit großer Sorgfalt ausgearbeitet wird. So versucht dieser zu gewährleisten, dass er sich den
durchwanderten Raum optimal erschließt. Der Reiz des Wanderns hängt in hohem Maße von
der Attraktivität der Landschaft ab. Deshalb eignen sich für den Natursport vor allem attrakti-
ve Natur- und Kulturlandschaften. Insbesondere Hoch- und Mittelgebirgsräume erfreuen sich
bei Wanderern großer Beliebtheit. Diese sind als funktionale Erholungslandschaften auch in-
frastrukturell darauf ausgerichtet, den Aufenthalt von Besuchern annehmlich und abwechs-
lungsreich zu gestalten (Hotels, Restaurants, Seilbahnen etc.). Um Nutzungskonfl ikte zwischen
unterschiedlichen Interessengruppen (Wanderer, Jäger, Naturschützer, Segelfl ieger etc.) zu ver-
meiden, kommen unterschiedliche Instrumente der Besucherlenkung zur Anwendung, wie sie
sich beispielsweise in Wanderkarten oder in Wandertafeln manifestieren. Am striktesten existie-
ren Formen der Lenkung von Besucherströmen in Nationalparks und Naturschutzgebieten. Dort
werden sogar Verbotsräume ausgewiesen, die der Wanderer nicht betreten darf.
Das Wandern bringt den sportlichen Körper darüber hinaus in einen Bewegungsrhythmus
hinein, der durch einen Wechsel von Anspannung und Entspannung neben den äußeren Räu-
men auch innere Räume erschließt. Phantasien, Hoffnungen, Alltagsprobleme, Siege und Nie-
derlagen können so beim Wandern ‚bearbeitet’ werden (BETTE 2005: 81).
3. Der Stadtmarathon
Was im Mittelalter der Jakobsweg nach Santiago de Compostela darstellte, ist der Stadtma-
rathon in der Moderne: eine Suche nach Sinn, Sinnlichkeit und Gewissheit. Im Laufe der Jahr-
hunderte hat sich allerdings die Sinninstanz und mit ihr die Motivation der ‚körperlich Reisen-
den’ verschoben. Während im Mittelalter religiöse Jenseitsversprechen die Menschen zu einer
Pilgerreise motivierten, steht heute der Körper als zentraler Repräsentant des Diesseits im Mit-
telpunkt der Aufmerksamkeit. Vermittelt dieser dem modernen Individuum doch als vielleicht
letzte und unhintergehbare Instanz auf überzeugende Art Sinn und Gewissheit, die in einer sich
42 Ähnliche Beispiele für die Repräsentation eines Ortes durch einen Sportverein gibt es in der Handball-Bundesliga
mit den Vereinen SG Wallau/Massenheim, TV Großwallstadt oder VfL Gummersbach. Diese Vereine sind dem Sport-
interessierten nahezu ausnahmslos ein Begriff. Doch die geographische Lage der einzelnen Orte bleibt hinter der
Assoziation des Vereinsnamens mit der Handball-Bundesliga verborgen. Ähnliches gilt für andere, am Rande des
medialen Interesses stehende Sportarten wie Tischtennis (Grenzau, Gönnern), Fechten (Tauberbischofsheim) oder
dem Frauen-Fußball (Rumeln-Kaldenhausen).
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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immer weiter ausdifferenzierenden Realität verloren gegangen zu sein scheinen (BETTE 1999:
163 f). Das Laufen und mit ihm eine Vielzahl anderer moderner Körperpraxen, -techniken und
-moden muss demnach als eine individuelle Konterstrategie des modernen Menschen begriffen
werden, die durch die gesellschaftliche Inszenierung des urbanen Spektakels ‚Stadtmarathon’
noch verstärkt wird. So sind die Langläufe in den Städten mittlerweile nicht nur zu einer Zu-
schauersportart geworden (BETTE 2005: 83), sondern darüber hinaus auch zu einem wichtigem
Element der Stadtpolitik (zur Festivalisierung und Eventisierung der postindustriellen Stadt vgl.
KLEIN 2004). Insbesondere jene Agglomerationen, die sich als Sportstädte verstanden wissen
möchten, schmücken sich mit den werbewirksamen und imageträchtigen Laufveranstaltungen,
bei denen sich mehrere Tausend Sportler gleichzeitig auf die 42,195 km lange Strecke machen.
Diese verläuft meist durch interessante innerstädtische Quartiere (vgl. Abbildung 18).
Abbildung 18:
Köln-Marathon
1998: Strecken-
verlauf, Stimmung
und Zuschauer-
dichte (NUTZ 2001:
21)
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Alle Läufer verfolgen das für den Leistungssport symptomatische Ziel, in möglichst kurzer
Zeit eine zuvor festgelegte Distanz zu überwinden. Dabei eignen sich die Sportler städtische
Räume an, die in ihrer eigentlichen Funktion anderen Zwecken dienen (Verkehrswege, Fuß-
gängerzonen, Parkanlagen etc.). Die Exploration des Raumes mittels des Körpers reduziert
zwangsläufi g und unweigerlich das hohe Fortbewegungstempo auf den modernen Verkehrs-
wegen. Die daraus resultierende Langsamkeit in der Fortbewegung vermittelt dem Marathon-
läufer jene sinnliche Qualität zurück, die bei hoher Durchquerungsgeschwindigkeit verloren
geht (BETTE 2005: 95). So wird die gesamte Stadt zur Sportgelegenheit und damit zu einem
temporären Sportraum. Für die Planer eines Marathons erwächst daraus jedoch ein komplexes
Unterfangen:
Erstens soll die Marathonstrecke für die Sportler ansprechend, abwechslungsreich und at-
traktiv sein. Die Route muss zweitens dergestalt verlaufen, dass die Zuschauer an der Sportver-
anstaltung teilhaben können. Drittens muss allen Straßensperrungen, Umleitungen und Sonde-
regelungen zum Trotz – nicht selten legt ein Marathon dennoch die Infrastruktur einer gesam-
ten Stadt für die Zeit der Veranstaltung lahm – der Alltag in der Stadt weitergehen können.
Diese, vornehmlich deskriptive Aufnahme von Sporträumen anhand der Beispiele ‚Fußball-
spiel im Stadion’, ‚Wandern in der Landschaft’ und ‚Stadtmarathon’ offenbart zwei Dinge:
1. Der Raum stellt ein unabdingbar konstitutives Element der menschlichen Bewegung und
des Sports dar (vgl. WETTERICH et al. 2005: 28). Sport als soziokulturelle Praxis benötigt, nutzt,
produziert, gestaltet und repräsentiert Raum.
2. Die durch den Sport generierten Räume sind das Produkt unterschiedlicher Konstitutionen
und Konstruktionen. So unterscheidet sich der geometrische Raum des Spielfeldes vom
Ermessens- und Entscheidungsspielraum des Schiedsrichters. Der Ermittlung des Einzugs-
gebietes eines Fußball-Bundesligaspiels
(‚Fanscape’) liegt ein anderes Raum-Ver-
ständnis zugrunde als dem des für einen
Wanderer attraktiven Landschaftsraumes
(vgl. Tabelle 3).
Doch wie lassen sich die unterschiedli-
chen Räume des Sports strukturieren und
systematisieren? Die Geographie als „wis-
senschaftliche Disziplin der Erforschung
des Räumlichen“ (WERLEN 2000: 11) bietet
dafür ein theoretisches Instrumentarium.
3.2 Forschungsstand des ‚Sport und Raum‘-Diskurses
Jede wissenschaftliche Disziplin nimmt die Wirklichkeit – oder zumindest das, was sie dafür
hält – aus einer ihr eigenen Forschungsperspektive wahr. Dadurch generiert sie eine spezifi sche
‚Sehschärfe’ für die Phänomene ihres Zuständigkeitsbereiches. Gleichzeitig entstehen aber auch
DistanzWahrnehmungsraum
der Sportler
Tribüne
StadionAusgangsortRoute
PositionSportregion
Landschaftsraum
(Natur-, Kultur-)
Start- und ZiellinieAbseits
Einzugsraum eines
Vereins
(‚Fanscape’)
thematischer Raum
(Berichterstattung,
Kommunikation)
Sportstadt
Aktionsraum des
Spielers
Strafraum
Ermessensspielraum
des Schiedsrichters
Spielfeld, Platz
Tabelle 3:
Vielfältigkeit des
Raumbegriffes
im Sport
63
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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tote Winkel (WERLEN 2000: 13). Im ‚Niemandsland’ zwischen den disziplinären Fronten stellten
die Räume des Sports lange Zeit einen solchen toten Winkel dar, dessen sich weder die Geo-
graphie noch die in der Sportwissenschaft beheimatete Soziologie annahm. Während sich die
Soziologie als Wissenschaft vornehmlich mit der „Erforschung der gesellschaftlichen Dimension
menschlicher Lebensformen“ (WERLEN 2000: 11) beschäftigt, konzentriert sich die Geographie
in ihrem zentralen Fokus auf die Erforschung des Räumlichen. Das führte forschungshistorisch
dazu, dass der Geographie im Allgemeinen eine ‚Raumversessenheit’ unterstellt, der Soziologie
hingegen eine ‚Raumvergessenheit’ (WERLEN 2000: 12) oder ‚Raumblindheit’ (LÄPPLE 1991: 163)
attestiert wurde. Vor diesem Hintergrund stellen die jüngsten wissenschaftlichen Bemühungen
im Themenfeld von ‚Sport und Raum’ ein Kuriosum dar, zeichnet sich hier doch rezent eine
inverse Entwicklung ab.
Während die deutsche Soziologie, insbesondere die schon seit Jahrzehnten institutionalisierte
Sportsoziologie, im Zuge einer allgemein-soziologischen ‚Wiederentdeckung des Räumlichen’43
den Räumen des Sports verstärkte Aufmerksamkeit schenkt, hat sich die als ‚Wissenschaft des
Räumlichen’ apostrophierte Geographie den Räumen des Sports gegenüber noch immer nicht
(systematisch) geöffnet.
Dabei kommt der Debatte um ‚Sport und Raum’ in Theoriebildung und Forschung heute
eine besondere politische, gesellschaftliche und sozialwissenschaftliche Bedeutung zu, wie WET-
TERICH et al. (2005: 28) anhand von zwei Entwicklungen belegen können.
So wird zum einen schon gegenwärtig von Kommunen, Regionalverbänden, Sportorganisatio-
nen etc. ein hoher Bedarf an wissenschaftlicher Beratung in Bezug auf eine adäquate Gestaltung
des Verhältnisses von Sport und Raum signalisiert und bei verschiedenen Institutionen (Sportver-
bände, privatwirtschaftlich organisierte Institute, Universitäten) in Anspruch genommen.
Zum anderen lässt sich im Zuge dieses öffentlichen Bedeutungszuwachses eine sowohl
quantitative als auch qualitative Zunahme sportwissenschaftlicher Studien zum Thema ‚Sport
und Raum’ sowie zur Sportentwicklungsplanung feststellen.
Aus internationaler Perspektive lässt sich dem eine dritte Dimension hinzufügen: Der Diskus-
sion um ‚Sport und Raum’, die in Deutschland überwiegend als Sportentwicklungsplanung be-
trieben wird, fehlt bis dato der theoretische Unterbau. So fordert VAN INGEN: „ […] postmodern
spatial theory is needed in sport to examine the geography of social relations or what Lefebvre
(1991) calls social space“ (2003: 201).
Diese Entwicklungen gemeinsam mündeten schließlich im Herbst 2005 in die Gründung einer
Kommission für ‚Sport und Raum’ innerhalb der ‚Deutschen Vereinigung für Sportwissenschaft’.
Von der Institutionalisierung des Diskurses erhoffen sich die Begründer des Arbeitskreises
eine verstärkte interdisziplinäre Analyse und Hinterfragung von ‚Sport und Raum’ sowie der
zugehörigen Planungs- und Steuerungsprozesse (auf den unterschiedlichen Ebenen der Des-
kription, der theoretischen Fundierung und Refl exion, der Entwicklung einer angemessenen
Forschungsmethodik, der Implementation und Beratung sowie der Evaluation). Auch eine Be-
43 Der Prozess der Globalisierung, immer schnellere Transporttechnologien, die Entstehung von virtuellen Räumen so-
wie die daraus abgeleitete scheinbare Schrumpfung oder gar Aufl ösung des Raumes haben seit Mitte der 1990er
Jahre in den Sozialwissenschaften zu einer Renaissance der Kategorie ‚Raum’ geführt (LÖW 2001: 10).
64
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standsaufnahme der vielfältigen
Dimensionen des Raumbegriffes
aus den Forschungsperspektiven
unterschiedlicher Disziplinen wur-
de für die Arbeit der Kommission
als wesentlich erachtet (WETTERICH
et al. 2005: 30). Dabei wurden die
Dimensionen des Raumbegriffes
nach disziplinären Brillen und den
daraus resultierenden unterschiedli-
chen Sehschärfen differenziert (vgl.
Tabelle 4).
Überraschenderweise bleibt die Geographie in der Aufzählung der disziplinären Konzeptio-
nen des Räumlichen ungenannt. Dabei wäre doch gerade eine Beteiligung der Geographie, hier
insbesondere der Sportgeographie, an der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema ‚Sport
und Raum’ wünschenswert. Zum einen könnte die sich als ‚Wissenschaft des Räumlichen’ ver-
stehende Geographie mit ihrer Erfahrung und Systematik in der Erforschung des ‚Räumlichen’
dazu beitragen, den ‚Sport und Raum’-Diskurs voranzutreiben. Zum anderen sind aber auch
die Sportgeographen gefordert, bildet der ‚Sport und Raum’-Diskurs doch den zentralen For-
schungsstrang ihrer Disziplin. Wenn also – wie es in dieser Arbeit versucht wird – die Notwen-
digkeit der Sportgeographie aufgezeigt werden soll, dann ist es im Umkehrschluss für deren
Legitimation zwingend notwendig, dass sich auch (Sport-)Geographen an dem für die Sportge-
ographie zentralen Diskurs beteiligen.
Eine Berücksichtigung der Geographie in der ‚Sport und Raum’-Diskussion ist darüber hi-
naus aus einem weiteren Grund notwendig. Die von WETTERICH et al. (2005: 30 ff) vorgelegte
Systematisierung des Raumes, die sich an disziplinären Konzeptualisierungen (Raum in der Ar-
chitektur, Raum aus Sicht der Stadtplanung etc.) orientiert, ist aus geographischer Sicht proble-
matisch. Anders als von der Kommission ‚Sport und Raum’ vorgeschlagen erscheint es deshalb
aus geographischer Perspektive sinnvoller, (Sport)Raum nach seiner Genese und Konstitution zu
unterscheiden (vgl. Kapitel 3.3).
Doch wo ist das Themenfeld ‚Sport und Raum’ in der Geographie zu verorten?
Am sinnvollsten lässt es sich der Sozial- und Kulturgeographie zuordnen. Den wissenschaft-
lichen Fokus der Sozialgeographie fasst WERLEN folgendermaßen: „Mit ihrem Kerninteresse, das
Verständnis für das Verhältnis von ‚Raum’ und ‚Gesellschaft’ zu vertiefen, ist die Sozialgeogra-
phie an der Schnittstelle der klassischen Erkenntnissinteressen von Geographie und Soziologie
angesiedelt“ (2000: 11). Im Wesentlichen geht es in der Sozialgeographie nach Werlens Dafür-
halten um die Frage: Wie nutzt Gesellschaft Raum? Auf den Sport übertragen bedeutet dies:
Welche soziokulturellen Praxen konstituieren in welcher Weise die Räume des Sports?
Auch für die jüngeren Entwicklungen im Bereich der Kulturgeographie stellt der Sportraum
ein interessantes Untersuchungsobjekt dar. „Kultur wird – das ist allen neueren Auffassungen
gemein – nicht als Gegenstand verstanden, sondern als Prozess der sinnhaften Kartierung der
Welt und der Verortung des Selbst“ (BLOTEVOGEL 2003: 10). Auch hier ließe sich der Sport als
RAUM AUS ÖKONOMISCHER SICHT:
• Produktionsfaktor für sportliche Leistungen und Dienstleistungen
• Inputfaktor zur Erstellung sportbezogener Dienstleistungen
RAUM AUS SICHT DER (SPORT)PÄDAGOGIK:
• eröffnet oder begrenzt Ziele, Inhalte, Methoden und Organisationsformen
schulischer und außerschulischer Lehr- und Lernprozesse
RAUM AUS SICHT DER SOZIOLOGIE:
• nicht nur physikalischer Behälter, sondern in sozialen Praktiken selbst neu
geschaffen und überschrieben
• relationales Netzwerk von Praktiken und Kommunikationen
RAUM AUS SICHT DER STADTPLANUNG:
• Thema der Landesplanung, Regionalplanung sowie der Bauleitplanung
• gezielte Erhaltung oder Veränderung von Standorten und Flächennutzung
orientiert an den Bedürfnissen der Bevölkerung
RAUM IN DER ARCHITEKTUR:
• sinnlich wahrnehmbare Struktur, die Aktionen und Interaktionen fördert oder
verhindert
Tabelle 4:
Disziplinäre
Konzeptionen
des Raumbe-
griffes (nach
WETTERICH et al.
2005: 30)
65
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
kulturelle Praxis der Verortung des Selbst in der Gesellschaft eingliedern, als ein wichtiger Be-
standteil des Lebensstils und der Konsumpraktiken, die den Einzelnen und seinen Status in der
Klassengesellschaft defi nieren (vgl. SCHULZE 1992). „Der Raum der Sportarten […] muss mit dem
sozialen Raum, der sich darin äußert, in Verbindung gebracht werden“ (BOURDIEU 1992: 194).
Ebenso wie der Sozialgeographie lässt sich der Diskurs um ‚Sport und Raum’ damit auch der
Kulturgeographie zuordnen. So existieren beispielsweise Bezüge zur Kulturlandschaftstheorie
Carl Ortwin Sauers, in der die Kulturlandschaft als Produkt des menschlichen Handelns im Raum
betrachtet wird. Auch Sporträume und Sportlandschaften können als eine Schicht der Kultur-
landschaft aufgefasst werden. Für DON MITCHELL, den Vorreiter der vielfältigen Perspektiven der
‚Neuen Kulturgeographie’, ist Kultur „socially produced through myriad struggles over and in
spaces, scales and landscapes“ (2000: xvi). Kultur wird Mitchells Konzept zufolge wahrnehm-
bar in „culture wars, which allow us to see culture in the making”. Wo, wenn nicht im Sport,
wird der Wettstreit und -kampf um Räume signifi kant, wird demnach der Entstehungsprozess
von Kultur offenbar? Sporträume sind aus dieser kulturgeographischen Perspektive deshalb das
Produkt der ritualisierten Austragung von Konfl ikten (‚culture war’).
3.3. Eine geographische Systematisierung des Räumlichen
„Heimat ist kein Ort, Heimat ist ein Gefühl.“
H. Grönemeyer
Wenn vorhergehend von ‚Raum’ oder dem ‚Räumlichen’ als Sammelbegriff für die geogra-
phischen Basiskategorien Raum, Ort, Landschaft und Region die Rede war, so bedarf diese für
den Gedankengang der weiteren Argumentation zentrale Kategorie einer vertiefenden Klä-
rung des Begriffsverständnisses. Nur wenige Worte sind – insbesondere in einer geographischen
Kontextualisierung – so komplex wie ‚Raum’ (vgl. Kapitel 3.1). Dieser stellt als erdoberfl ächliche
Anordnung physisch-materieller Gegebenheiten gemeinsam mit der Zeit die Basiskonstellation
menschlichen Lebens sowie des gesellschaftlichen Zusammenlebens im Besonderen dar (WERLEN
2000: 392). Doch natürliche Ereignisse (zum Beispiel einen Vulkanausbruch) oder menschliche
und kulturelle Aktivitäten (beispielsweise Sport) einfach nur als räumlich zu attribuieren, „um
jeden daran zu erinnern, dass sie im Raum stattfi nden und räumliche Eigenschaften haben“
(SACK 1986: 25) ist redundant und daher nicht als Ausgangspunkt wissenschaftlicher Forschung
geeignet (HAMHABER 2004: 31). LÄPPLE schlägt deshalb vor: „Statt von ‚Raum’ zu sprechen, er-
scheint es mir deshalb sinnvoller, von Raumbegriffen oder Raumkonzepten zu sprechen und
dabei gleichzeitig (durch Verwendung eines sinnbestimmenden Adjektivs, wie z.B. physikalisch,
geographisch, sozial, ökologisch etc.) anzugeben, auf welche Problemstellung sich der jeweilige
Raumbegriff bezieht“ (1991: 163).
Doch wie kann im Rahmen der Auseinandersetzung mit den Räumen des Sports der Begriff
des ‚Raumes’ sinnvoll und ‚sinnbestimmend’ attribuiert werden? Als Grundlage einer Unter-
scheidung bietet sich aus geographischer Sicht die ‚Drei Welten-Theorie’ des Philosophen Karl
Popper an. Darin unterteilt Popper die Welt in drei Sphären:
66
© INOEK
1. die physische, erdräumliche Dingwelt,
2. die mentale Welt der subjektiven Wahrnehmung und Bewusstseinszustände sowie
3. die symbolische, geistige Welt der Begriffe und Theorien (vgl. HAMHABER 2004: 36 ff).
Im Transfer auf die unterschiedlichen
Konzeptionen des Räumlichen kann daraus
resultierend ein euklidisch-physikalischer
Objektraum von einem mehr oder weniger
individuell oder sozial defi nierten Raum un-
terschieden werden (vgl. Tabelle 5).
In ähnlicher Weise differenzieren auch LÖW
(2001: 24 ff) und LÄPPLE (2001: 190) zwischen
‚absolut(istisch)em’ und ‚relativ(istisch)em
Raum’. Die Vorstellung von relativ(istisch)en, sich wandelnden und subjektiven Raumkonzepten
sind dabei keineswegs nur eine jüngere Entwicklung. Diese wurde schon früh in der abendlän-
dischen Philosophie vorbereitet und von der modernen Naturwissenschaft unter anderem durch
Albert Einstein bestätigt. „Am wichtigsten ist zunächst [...] die Tatsache, daß die vermeintlich
unveränderlichen Grundkoordinaten der Zeit und des Raumes sich aus relativistischer Sicht als
‚deformierbar‘, genauer gesagt als dehnbar oder kontrahierbar erweisen, und daß all diese Ver-
änderungen von der Position und dem Bewegungszustand des Beobachters, beziehungsweise
des von ihm beobachteten Geschehens abhängen. Des weiteren ist von großer Bedeutung, daß
Zeit und Raum nicht mehr als voneinander unabhängige Größen betrachtet werden dürfen,
sondern in einem relativistischen ‚Raum-Zeit-Kontinuum‘ in eigenartiger Weise miteinander ver-
quickt sind“ (CIOMPI 1988: 85 f.).
Besonders deutlich wird dies an der beschleunigten Entwicklung der Raumüberwindungs-
technologien, in deren Folge Raumdistanzen auf immer kürzere Zeiträume reduziert werden.
Dieser Prozess der Entkopplung von Raum und Zeit hat auch dazu geführt, dass der ‚Raum’ als
Gegenstand wissenschaftlicher Beschäftigung wieder eine erhöhte Aufmerksamkeit genießt.
Boschert sieht diesen Wandel sowohl in der körperthematischen Wende der Sozialwissenschaf-
ten in den vergangenen zwanzig bis dreißig Jahren (zum Beispiel in den Arbeiten Foucaults) als
auch in Prozessen der Globalisierung, das heißt dem Zusammenschluss der Weltgesellschaft zu
einem ‚Global Village’, begründet. „So lassen beispielsweise neue Transport- und Kommuni-
kationstechnologien, die Prozesse der Globalisierung oder die Möglichkeiten, sich in virtuellen
Räumen zu bewegen, Gewissheiten über den Raum wie auch über den Körper ins Wanken ge-
raten“ (BOSCHERT 2002: 22). Das Nachdenken über den Raum wird demnach durch die Prozesse
der ‚Enträumlichung’ (KROMREY 1984: 45 zitiert nach BOSCHERT 2002: 21) und Entkörperlichung
sozialen und kommunikativen Verhaltens stimuliert.
So sind Räume, Landschaften, Orte und Regionen für Menschen zwar einerseits materielle
Gegebenheiten und damit physikalisch existent. Andererseits werden sie aber erst durch in-
dividuelles oder gesellschaftliches Handeln konstituiert oder produziert und sind deshalb nur
im Rahmen der ihnen eingeschriebenen soziokulturellen Praktiken und diskursiven Traditionen
deutbar. Auch LEFÈBVRE differenziert ,Raum’ in ähnlicher Weise, wie es in der vorliegenden Arbeit
symbolische, geistige
Welt der Begriffe und
Theorien
mentale Welt der
subjektiven
Wahrnehmung und
Bewusstseinszustände
physisch-
erdräumliche
Dingwelt
‚Drei-Welten-Theorie‘
(Popper)
kollektiv-sozialer
Raum
Soziale Welt
individuell-
mentaler Raum
(Wahrnehmungsraum,
Konstruktionsraum)
Mentale Welt
physikalisch-
euklidischer Raum
Physische Welt
Raumkonzeption
Tabelle 5:
Raum-Systematik
in Anlehnung
an Poppers Drei
Welten-Theorie
(nach HAMHABER
2004: 36)
67
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
aus Poppers ‚Drei Welten-Theorie’ abgeleitet wird: „The fi elds we are concerned with are, fi rst,
the physical – nature, the Cosmos; secondly the mental, including logical and formal abstrac-
tions; and, thirdly, the social” (1991: 11).
Doch welches Verständnis von Raum verbirgt sich hinter den drei Kategorien?
3.3.1 Der physikalisch-euklidische Raum
Die Vorstellung vom Behälterraum, von Einstein mit der Kurzformel ‚container’ verbildlicht,
dominiert bis heute unser alltägliches Begriffsverständnis des Raumes (LÖW 2001: 27). Der Raum
wird dabei unter dem Aspekt seiner geometrisch messbaren, dreidimensionalen Ausdehnung ge-
sehen und dient damit der klassischen Naturwissenschaft als Untersuchungsrahmen. „Der absolu-
te Raum, der aufgrund seiner Natur ohne Beziehung zu irgendwas außer ihm existiert, bleibt sich
immer gleich und unbeweglich“ (NEWTON 1988: 44 (original 1687) zitiert nach LÖW 2001: 25).
Diese reifi zierende Betrachtung des Raumes bildet die Grundlage des chorischen Raumkon-
zeptes der Geographie, das die Disziplin bis in die jüngere Zeit prägte und das in der ‚Physischen
Geographie’ aufgrund der Naturgesetzlichkeit nach wie vor Gültigkeit hat. Raum wird in dieser
Tradition als Ordnungsschema zur Beschreibung von Lageeigenschaften, von Standorten und
Räumen einer euklidisch-metrischen Geosphäre verstanden.
Zwar wurden schon zu Newtons Zeit Bedenken am Konzept des starren, absolut(istisch)en
Raumes angemeldet. So hob beispielsweise LEIBNIZ hervor: „Ich habe mehrfach betont, daß ich
den Raum für etwas rein Relatives halte; für eine Ordnung der Existenzen im Beisammensein,
wie die Zeit eine Ordnung des Nacheinander ist“ (1966, original 1715/16:134 zitiert nach LÖW
2001: 27). Doch zu einer tief greifenden und weit reichenden Überwindung der Reifi kation
von Raum kam es in der Geographie erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In diesem
Sinne kann Leibniz (nach ihm dann Kant, Einstein und andere) als einer der ersten Wegbereiter
relativ(istisch)er Raumkonzepte gelten, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit in individuell-
mentale und kollektiv-soziale Räume unterschieden werden.
Zudem offenbart sich in der Unzulänglichkeit des physikalischen Raumes, dass es offensicht-
lich eines erweiterten Raumkonzeptes bedarf, um subjektiv-mentale und kollektiv-soziale Räu-
me aus ihrem ‚qualitativen’, das heißt ihrem gesellschaftlichen Funktions- und Entwicklungs-
zusammenhang heraus, erklären zu können. Der ‚Raum’ ist dabei weder lediglich neutraler
‚Behälter’ noch passive ‚Resultante’ körperlicher Objekte. Vielmehr muss ein derartiges Konzept
auch die subjektiv-mentalen und gesellschaftlichen ‚Kräfte’ einbeziehen, die das materiell-phy-
sische Substrat dieses Raumes und damit auch die Raumstrukturen ‚formen’ und ‚gestalten’
(LÄPPLE 1991: 191).
3.3.2 Der individuell-mentale Raum
Schon Kant verstand Raum als etwas, das Menschen durch ihre Vorstellung schaffen (LÖW
2001: 29). Auch die individuell-mentale Raumkonzeption basiert auf der Erkenntnis, dass (räum-
68
© INOEK
liche) Realität – oder das, was dafür gehalten wird – abhängig ist von der Wahrnehmung, dem
Begriffsverständnis und der Perspektive des Beobachters. „Die Umwelt wird nicht mehr naiv
mit der Natur oder einem objektiven Raum gleichgesetzt. Die Umweltbezüge werden vielmehr
bewusstseinsmäßig differenziert. Entsprechend wird die Beziehung zwischen Bewusstsein und
räumlicher Umgebung zentral“ (WERLEN 2000: 283). Geht die Perzeptionsgeographie doch da-
von aus, dass die kognitive Raumrepräsentation das Verhalten im Raum beeinfl usst. „Wie man
sich im Raum verhält, hängt also wesentlich von der kognitiven Raumrepräsentation ab“ (WER-
LEN 2000: 284). Folglich wurden jene positivistischen Ontologien, die auf der Annahme beruhen,
dass die von einer Person erzeugten Repräsentationen die wahre Struktur der Wirklichkeit wi-
derspiegeln, durch konstruktivistische Perspektiven in Frage gestellt. So führte in Bezug auf den
Raum erst die klare Unterscheidung zwischen ‚Signifi kand’ und ‚Signifi kat’ zu der Erkenntnis,
dass es keine Räume, Landschaften, Orte oder Regionen per se gibt, die von ihrem Wesen her
vorgegeben sind, sondern ihre empirischen Ausprägungen davon abhängen, wie sie als Begriff
defi niert, aus welcher Perspektive und in welchem Kontext sie produziert werden (WERLEN 2000:
215). Mentale Räume sind demnach als eine subjektivierte Konzeption von Alltagsräumen zu
verstehen. Diese individuell produzierten Räume lassen sich in Perzeptions- und Konstruktions-
räume unterteilen. Als Paradebeispiel für Perzeptionsräume gelten ‚kognitive Landkarten’, die
auch als ‚Mental Maps’ bezeichnet werden. Diese repräsentieren als Resultat einer Kartierung
des ‚inneren Raumes’ die geographischen Umwelt, wie sie nur im subjektiv-mentalen Bewusst-
sein eines Menschen existiert. ‚Mental Maps’ bilden somit die Art und Weise ab, wie sich In-
dividuen mit der sie umgebenden Welt auseinandersetzen und diese wahrnehmen und reprä-
sentieren. Die kognitiven Raumrepräsentationen liefern wichtige Erkenntnisse über subjektive
Wahrnehmungs- und individuelle Aktionsräume.
Perzeptionsgeographische Untersuchungen der letzten Jahre haben immer wieder (zum
Beispiel in Bezug auf Distanzen oder Regionen) aufgezeigt, dass in Folge der selektiven Wahr-
nehmung der Umwelt die individuell-mentale Repräsentation des ‚realen’ Raumes nur teilweise
mit dem ‚objektiven’, metrisch-euklidischen Absolutraum korreliert (vgl. WERLEN 2000: 287 ff).
Dadurch wird die ‚kognitive Landkarte’ zu einem subjektiv-mentalen Relativraum.
Der Konstruktionsraum ‚imaginärer Geographien’ hingegen unterscheidet sich vom Wahr-
nehmungsraum durch die Aktivität des Subjekts. Während dem traditionell-behavioristischen
Ansatz der Wahrnehmungsgeographie ein passives, lediglich wahrnehmendes Individuum zu
Grunde liegt, wird dieses im konstruktivistischen Ansatz zum aktiven ‚Schöpfer’ des Raumes.
Raum im konstruktivistischen Sinne ist demnach als ein kognitiv-mentales Produkt anzusehen,
dessen Verständnis sich nur über eine Dekonstruktion der ihm eingeschriebenen Narrative of-
fenbart.
3.3.3 Der kollektiv-soziale Raum
Die kollektiv-soziale Konzeption des Raumes befasst sich mit der Frage der gesellschaftli-
chen Konstitution von Raum und weist deutlich handlungstheoretische Bezüge auf, in denen
das ‚Räumliche’ als Dimension des Handelns gesehen wird, nicht umgekehrt. Im Fokus des
69
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Interesses stehen deshalb die gesellschaftlichen Interaktions- und Handlungsstrukturen bezie-
hungsweise die gesellschaftliche Praxis der mit der Produktion, Nutzung und Aneignung des
Raumsubstrats befassten Menschen.
Der soziale Raum ist dementsprechend nur aus dem gesellschaftlichen Herstellungs-, Ver-
wendungs- und Aneignungszusammenhang seines materiellen Substrats unter Einfl uss von
Machtverhältnissen, klassenmäßiger Differenzierung (Status), Geschlecht, Rasse, Ethnizität so-
wie lokaler Traditionen und Identitäten zu erklären (LÄPPLE 1991: 192 ff).
Für Lefèbvre ist der soziale Raum Produkt sozialer, politischer und ideologischer Konfl ikte.
Löw hingegen konzipiert einen kollektiv-sozialen Raum, der sich aus der Wechselwirkung von
Handeln und Strukturen ergibt. Raum wird diesem Konzept zufolge nicht nur als perzeptive
oder konstruktive Konfi guration von Dingen, sondern als relationale Anordnung von Lebewe-
sen und sozialen Gütern defi niert. Der Mensch produziert nicht nur Raum, sondern muss auch
als ein Element desselben betrachtet werden. Zwei Prozesse determinieren die Konstitution des
Raumes nach LÖW (2001: 158 ff): Zum einen das als ‚Spacing’ bezeichnete Platzieren von sozi-
alen Gütern und Menschen; zum zweiten die Syntheseleistung, in der über Wahrnehmungs-,
Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse die sozialen Güter und Menschen zu Räumen zusam-
mengefasst werden. Zur Analyse des Prozesses der Raumkonstitution ist es nach Löw deshalb
notwendig, Kenntnisse sowohl über die sozialen Güter und Menschen, deren Beziehungen zu-
einander sowie über deren Verknüpfung mit sie umgebenden Ensembles zu verfügen. Die Ver-
knüpfungen, Beziehungen und Verteilungen, die die Konstitution des sozialen Raumes prägen,
machen diesen häufi g zum Gegenstand sozialer Auseinandersetzungen. In diesem Sinne muss
der kollektiv-soziale Raum als Territorium verstanden werden, als eine mit Macht aufgeladene
Regionalisierung.
Festzuhalten bleibt, dass der soziale Raum auf einer Vielzahl koexistenter physischer und
mentaler Räume basiert und damit als die Summe der unterschiedlichen Konzeptionen des
Räumlichen mit „intersubjektiv gültigem Charakter“ (WERLEN 1988: 180 zitiert nach HAMHABER
2004: 42) verstanden werden muss. „Such a way of conceptualizing the spatial, moreover, in-
herently implies the existence in the lived world of a simultaneously multiplicity of spaces: cross-
cutting, intersecting, aligning with one another, or existing in relations of paradox or antago-
nism. Most evidently this is so because the social relations of space are experienced differently,
and variously interpreted, by those holding different positions as part of it” (MASSEY 1994: 3).
Raum und mit ihm die verwandten geographischen Basiskategorien Ort, Landschaft und
Region existieren demnach für Menschen nicht ausschließlich als natürlich-physikalische Ge-
gebenheiten, sondern auch als Objekte sozialer und kultureller Konstruktion. Räume werden
folglich produziert, konstruiert und durch soziales Handeln konstituiert.
3.3.4 Das Zusammenspiel der Kategorien des Räumlichen
Die hier vorgelegte Unterscheidung von Räumen in drei Kategorien ist jedoch keineswegs
so zu interpretieren, dass sich der absolute, physikalisch determinierte Objektraum und die
individuell-mental und kollektiv-sozial konstruierten, relativ(istisch)en Räume gegenseitig aus-
70
© INOEK
schließen. Vielmehr überlagern individuell-mentale und soziale Räume den physischen Raum.
Der Raum kann demnach nur als die Vielfalt der miteinander verfl ochtenen Räume verstanden
werden (LÖW 2001: 111). STICHWEH (2003: 98) führt dafür als Beispiel an, dass Begriffe wie ‚so-
ziale Distanz’ oder ‚soziale Position’ Korrelationen immer auch mit physischen Distanzen und
Ortszuweisungen im physischen Raum aufweisen, der als unsichtbare, aber faktisch unhinter-
gehbare Struktur einer räumlichen Ordnung fungiert. „Man könnte denselben Sachverhalt der
Überlagerung des Physischen durch das Soziale auch als Überlagerung topographischer Räume
durch relationale Räume beschreiben“ (STICHWEH 2003: 99). WERLEN fügt dem hinzu: „Auch wenn
die natürlichen Dinge immer nur zugewiesene Bedeutungen aufweisen können, stellen sie für
viele unserer Tätigkeiten eine nicht hintergehbare Bedingung dar, weil wir aufgrund unserer ei-
genen Körperlichkeit selbst auch Bestandteil der Welt der Körper sind“ (2000: 308). So besitzen
Räume einerseits ein natürliches Substrat, für das die Physik, die ‚Physische Geographie’, die Ge-
ologie, die Biologie, die Ökologie etc. wissenschaftlich zuständig sind. Zum anderen existieren
Konzepte eines produzierten, konstruierten Raumes, der nicht außerhalb seiner Einbettung in
soziokulturelle Praktiken und Hierarchien zu begreifen ist. Mit diesen Raumkonstrukten, in de-
nen räumliche und soziokulturelle Strukturen ineinander greifen, befassen sich die Psychologie,
die Soziologie und die Sozial- und Kulturgeographie.
Aus einer sozial- und kulturgeographischen Perspektive wird Raum demzufolge als ein Kon-
strukt und nicht als Entität verstanden. Gegenstand der Erforschung des ‚Räumlichen’, damit
auch der Räume des Sports, kann folglich nicht mehr der ‚Raum’ an sich sein. Im Fokus einer
solchen, postmodernen, sozial- und kulturgeographisch orientierten Sportgeographie müssen
vielmehr die räumlichen Praktiken (‚spatial practice’) der Sportler unter Anwendung der ver-
schiedenen Raumkonzeptionen stehen. Sporträume lassen sich aus dieser Perspektive im Sinne
Giddens als Resultat des ‚alltäglichen Geographie-Machens’ interpretieren.
In ähnlich komplexer und letztlich unbefriedigender Weise ließen sich an dieser Stelle, wie
oben schon erwähnt, weitere geographische Basiskonstrukte wie ‚Landschaft’, ‚Ort’ und ‚Re-
gion’ hinterfragen und diskutieren. Darauf soll hier in ausführlicher Form verzichtet werden.
Um jedoch ein präzises Begriffsverständnis der schon existierenden Konzepte von ‚Sport und
Raum’ in Kapitel 3.5 gewährleisten zu können, erfolgt eine kurze geographische Bewertung
der Begriffl ichkeiten.
Was versteht also die zeitgenössische Humangeographie unter Landschaft, Ort und Region?
Und worin liegen die Unterschiede und Anknüpfungspunkte zum Raum?
Obgleich jeder Begriffl ichkeit eine eigene disziplinhistorische Genese innewohnt, gilt für alle
drei Begriffe das, was exemplarisch am ‚Raum’ dargestellt wurde: Auch sie werden in neueren
Ansätzen als mentales und soziales Konstrukt verstanden.
Der Begriff ‚Landschaft’, neben dem ‚Raum’ häufi g als die zentrale Kategorie der Geogra-
phie bezeichnet, kann in der Tradition der Landschaftsgeographie als der von einem bestimmten
Standpunkt aus beobachtbare Gesamteindruck eines Teilstücks der Erdoberfl äche verstanden
werden (WERLEN 2000: 388). Neueren Auffassungen entsprechend wird Landschaft wie folgt
defi niert: „Landscape above all implies a collective shaping of the earth over time. Landscapes
are not individual property; they refl ect a society´s – a culture´s – beliefs, practices and techno-
logies” (CRANG 1998: 14).
71
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
© INOEK
Auch Ort und Raum weisen unmittelbare Bezüge auf, wird der geographische Ort doch
meist in Bezug zum Raum defi niert. Orte können im Rahmen dieser Relation als ein Punkt im
physischen Raum defi niert werden, als Knoten innerhalb des abstrakten Netzes des Raumes.
Orte sind konkret und erlebbar und können mit Repräsentationen und Phantasmen gefüllt wer-
den. Orte sind also gleichzeitig physisch präsent wie mental und sozial konstruiert. Sie entstehen
dort, wo Menschen zusammenkommen, einander begegnen und miteinander kommunizieren.
Sie verfügen deshalb über ein zeitlich gewachsenes Erinnerungspotential, eine spezifi sche At-
mosphäre (Ambiente, Flair, Esprit) und werden deshalb als identitätsstiftend wahrgenommen.
Orte sind distinkte Räume.44
Unter Region versteht die raumwissenschaftliche Geographie einen Ausschnitt der Erdober-
fl äche, der sich aufgrund eines sachlichen Kriteriums (Landschaftsstruktur, Sprache, Bevölke-
rungsdichte, etc.) von dem ihn umgebenden Erdraum unterscheidet. In der handlungstheore-
tischen Sozialgeographie wird ‚Region’ als eine sozial konstruierte Einheit konzeptualisiert, die
durch symbolische Markierungen begrenzt wird. „Symbolische Markierungen, wie beispielswei-
se Staatsgrenzen, können dabei an physisch-materiellen Gegebenheiten (Wände, Flüsse, Täler,
usw.) festgemacht werden. Sie bleiben aber Ausdruck der sozialen Aneignung des Raumes“
(WERLEN 2000: 393).
3.4 Anwendung der Systematik auf Sportraum-Szenarien
Im Folgenden sollen nun die drei, eingangs des Kapitels aufgeführten alltäglichen Sportsze-
narien (‚Fußballspiel im Stadion’, ‚Wandern in der Landschaft’ und ‚Stadtmarathon’) im Hinblick
auf die vorgestellte Systematik von Raum reinterpretiert werden. Deutlich werden soll dabei vor
allem die Koexistenz und Überlagerung der unterschiedlich konstituierten Konzeptionen des
‚Räumlichen’. Auch für den Sport gilt nämlich, was MASSEY treffend so formulierte: „ […] people
are everywhere conceptualizing and acting on different spatialities” (1994: 4).
1. Fußballspiel im Stadion
Das Stadion als physischer Raum bildet eine markante ‚Landmarke’ im Stadtkörper. Es ist im
physikalischen Sinne gekennzeichnet durch die euklidisch-geometrische Dimension des Spiel-
feldes, durch ein spezifi sches Fassungsvermögen und durch seine Situiertheit im verkehrsinfra-
strukturellen Gefüge seines Umfeldes. Gleichzeitig ist das Stadion als individuell-mentaler Raum
mit einer Fülle von Bedeutungen aufgeladen. Dem Fan bedeutet es etwas anderes als dem
Journalisten. Das Stadionerlebnis der Logenbesucher ist ein völlig anderes als das des Sportlers
auf dem Platz. Die in die Architektur eines Stadions vom Architekten eingeschriebenen Narrative
44 Im Prozess der fortschreitenden Modernisierung büßen insbesondere im Zuge der postfordistischen Rationalisierung
allerdings manche Orte ihre spezifi schen Atmosphären und sozialen Eigenschaften ein. So verwandeln sich beispiels-
weise Flughafenterminals, Bankfoyers, Schnellstraßen, Hotelketten oder Einkaufszentren in einseitig funktionale
und ausschließlich ökonomischen Kriterien genügende Standorte. Deren Ortslosigkeit, die sich in einer veränderten
Raum-Individuum-Beziehung auswirkt, veranlasste den französischen Ethnologen Marc Augé zu seiner Konzeption
der Nicht-Orte. Diese sind neutralisierte Orte der Segmentierung und Simulation. Sie erzeugen weder eine Identität,
noch weisen sie distinkte Eigenschaften und eine spezifi sche Atmosphäre auf (vgl. AUGÉ 1995).
72
© INOEK
wirken auf jedes Individuum in anderer Weise. Im Rahmen einer kollektiv-sozialen Raum-Kon-
zeption kann das Stadion als ein in hohem Maße territorialisierter Raum betrachtet werden.
BALE (1993: 121 ff) begreift das Stadion in Anlehnung an Sack als Territorium, als „the attempt
by an individual or people to affect, infl uence, or control people, phenoma and relationships”
und bezugnehmend auf Foucault als „the arena controlled by a certain kind of power”. Als Bei-
spiel für die Kontrolle des Stadionraumes können die Zugangsbarrieren und Eintrittskontrollen
(Ordner als ‚Gatekeeper’), die hohe Polizeipräsenz sowie die Videoüberwachung des gesamten
Stadionraumes aufgeführt werden.
2. Wandern in der Landschaft
Die physischen Eigenschaften des Naturraumes (Reliefenergie, Oberfl ächenformen etc.) prä-
gen das Wandern in der Landschaft. Sie beeinfl ussen zudem die sportliche Attraktivität von
Landschaftsräumen. Doch die Wirkung dieses physischen Raumes auf den einzelnen Wanderer
könnte unterschiedlicher nicht sein. Während die einen lange Strandwanderungen an der Nord-
see lieben, präferieren andere hochalpine Berglandschaften zum Wandern. Entscheidend ist für
diese subjektiv-mentale Raumkonzeption, wie der Wanderer die Landschaft wahrnimmt und
welche Landschaft er in seinem Kopf konstruiert?
Für das touristische Destinationsmanagement spielt hingegen die kollektiv-soziale Konzep-
tion einer Landschaft eine wichtige Rolle. Hier wird über Marketing-Maßnahmen gezielt ver-
sucht, das Image eines Raumes effektvoll zu beeinfl ussen.
3. Marathon in der Stadt
Die Länge von 42,195 km und das Streckenprofi l eines Marathons basieren auf dem physi-
schen Raum-Konzept. Doch was geht innerlich in den Athleten vor? Schon nach einigen Kilo-
metern unterscheidet sich deren Gefühlswelt derartig, dass der eine an Aufgabe denkt, wäh-
rend andere ausschließlich auf das Einhalten ihrer Durchgangszeiten fi xiert sind. Als sozialer
Raum profi tiert eine Stadt von der Imagewirkung des Sportereignisses ‚Stadtmarathon’, obwohl
ihr soziales Gefüge für die Zeit der Veranstaltung völlig verändert wird (Straßensperrungen,
Umleitungen etc.).
Als Beispiele für die simultanen Interaktionen und Überlagerungen der unterschiedlichen
Konzeptionen des ‚Räumlichen’ mögen an dieser Stelle die Untersuchungen Youngs (2003)
zum Münchener Olympiastadion und Vertinskys (2004) zum ‚War Memorial Gymnasium’ fun-
gieren. Beide Arbeiten sind zudem symptomatisch für den gegenwärtigen Stand der sportgeo-
graphischen Beschäftigung mit den Räumen des Sports.
Der britische Germanist CHRISTOPHER YOUNG (2003: 1476 ff) beschäftigt sich in seinem instruk-
tiven Essay ‚Kaiser Franz and the Communist Bowl – Cultural Memory and Munich’s Olympic
Stadium’ mit der sportgeographisch relevanten Kulturhistorie des Münchener Olympiastadions
(vgl. Abbildung 19, S. 74).
Das für die Olympischen Spiele 1972 in München errichtete Olympiastadion wurde auf dem
Gelände des Oberwiesenfeldes, vier Kilometer von der Stadtmitte entfernt, in Europas größtem
Sport- und Freizeitpark errichtet. Das Stadion in seiner physischen Dimension gilt als markanter
73
Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Körper der Münchener Stadtlandschaft und als „Europe’s most instantly recognisable stadi-
um“ (YOUNG 2003: 1478). Das Olympiastadion sowie der Olympiapark sind außerdem eine der
größten Touristenattraktionen Münchens. Das als Multifunktionsarena errichtete Stadion hat
nach den Olympischen Spielen als Austragungsstätte der Fußball-Weltmeisterschaft 1974, der
Fußball-Europameisterschaft 1988, unzähliger Fußball-Länderspiele und internationaler Fuß-
ballvereinsspiele (zum Beispiel UEFA Champions League-Finale 1997) gedient. Zudem wurden
regelmäßig die Heimspiele der beiden Münchener Fußballmannschaften ‚FC Bayern München’
und ‚TSV 1860 München’ in diesem Stadion ausgetragen. Trotz der Dominanz der Nutzung
durch den Fußball wurde das Stadion auch für Leichtathletik-Wettkämpfe (zum Beispiel Euro-
pameisterschaft 2002), als Start- und Zielort der Deutschland-Rundfahrt sowie für kulturelle
Veranstaltungen (Open-Air-Konzerte, Kirchentage etc.) genutzt (vgl. OLYMPIAPARK MÜNCHEN GMBH
2006; RADTKE 2005).
Gegen Ende der neunziger Jahre, spätestens jedoch seit der Vergabe der Fußball-Weltmeis-
terschaft 2006 nach Deutschland, wurde der Unmut über das Olympiastadion als Austragungs-
ort der Heimspiele des ‚FC Bayern München’ größer. Immer lauter wurden die Stimmen im
Umfeld des ‚FC Bayern München’, die nach einem ‚reinen Fußballstadion’ riefen. „Bayern no
longer wanted the open-plan-beauty of a Greek amphitheatre but a Roman Coliseum, or He-
xenkessel, as it was most commonly described in the ensuing debate: A stadium with steeply
banked terracing, which without the barrier of the running track, sat practically on top of the
pitch” (YOUNG 2003: 1479).
In den darauf folgenden Monaten entbrannte in München eine heiße Debatte über die Zu-
kunft des Olympiastadions. Während radikale Umbaupläne eine Tieferlegung des Spielfeldes
vorsahen, wurden Freunde der Architektur des Olympiastadions nicht müde, dessen hohen
architektonischen Wert zu betonen. Franz Beckenbauer als Präsident des ‚FC Bayern Mün-
chen’, Vizepräsident des DFB sowie als Chef des Organisationskomitees der WM 2006 spielte
in diesem Diskurs die zentrale Rolle. Als Befürworter eines radikalen Umbaus des Olympias-
tadions oder eines Neubaus bezeichnete Beckenbauer die Architektur des Olympiastadions
als ‚Kommunistenschüssel’ und erhöhte den Druck auf die Stadt München, indem er drohte,
dass München mit dem Olympiastadion als Austragungsort von WM-Spielen nicht berück-
sichtigt werden könnte. Gleichzeitig dachte der ‚Kaiser’ öffentlich darüber nach, den ‚FC
Bayern München’ aus der Stadt in das Umland zu verlagern und ‚München’ aus dem Namen
zu streichen.
Weil der Architekt des Olympiastadions schließlich sein erst nach 99 Jahren verstreichendes
Recht am Design des Stadions geltend machte, musste ein Bürgerentscheid über die zukünftige
Spielstätte des Münchener Fußballs bestimmen. Im Herbst 2001 votierte dabei eine Zwei-Drit-
tel-Mehrheit für den Neubau eines ‚reinen Fußballstadions auf der grünen Wiese’ im Norden
der Stadt. Dieses konnte nach weniger als drei Jahren Bauzeit schließlich am 30. Mai 2005 als
‚Heimstätte’ der beiden Münchener Vereine ‚TSV 1860’ und ‚FC Bayern’ den Spielbetrieb auf-
nehmen.
Doch worin unterscheiden sich die beiden Stadien im Wesentlichen? Ist nicht die Größe des
Spielfeldes identisch? Ist nicht das Fassungsvermögen der beiden Stadien nahezu gleich? War
nicht auch die verkehrsinfrastrukturelle Anbindung des Olympiastadions so gut, dass sie den
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Abbildung 19:
Das Münchener
Olympiastadion
und der Olym-
piapark (RADTKE
2005: 21)
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Ansprüchen der Fußball-WM 2006 hätte genügen können? Auf der Ebene des physischen Rau-
mes lässt sich die Komplexität der Faktoren, die zu einem Stadion-Neubau geführt haben, nicht
entschlüsseln. Vielmehr müssen beide Stadien als Produkt einer mentalen und soziokulturellen
Konstitution von Raum aus ihrer Historie und unter Berücksichtigung der dieser inkorporierten
Narrative und Körperpraxen interpretiert werden.
Das Olympiastadion wurde von seinem Architekten, Günther Behnisch, als architektonischer
Ausdruck der Moderne konstruiert und stand symbolisch für das demokratische Deutschland
der Nachkriegszeit. „Constructed of light materials such as glass and steel, open and transpa-
rent in appearance, modern architecture stood in clear contrast to the heavy, monumentalised
neoclassical architecture favoured by the Nazi (and Stalinist) dictatorship” (ROSENFELD 2000: 153
zitiert nach YOUNG 2003: 1481). So hoffte man, Erinnerungen an die vom Nazi-Regime gepräg-
ten Olympischen Spiele von 1936 in Berlin zu vermeiden. „[…] history, ideology, and aesthetics
merged in the original ideology of Munich as a forum for expunging the memory of Berlin
1936 and marking a new future for Germany” (BALE 1994 zitiert nach YOUNG 2003: 1482). Im
Laufe der drei Dekaden nach den Olympischen Spielen ging der Prozess der fortschreitenden
Modernisierung mit einer Vielzahl soziokultureller Veränderungen einher. Nicht zuletzt führte
diese Entwicklung auch dazu, dass die kollektiv-soziale Aneignung des Stadion-Raumes durch
die Fans nicht mehr deckungsgleich mit der mental-individuellen Konzeption des Raumes durch
den Architekten war. Die dem Olympiastadion eingeschriebenen Narrative (Moderne, Demo-
kratie, Transparenz, Weite, Natürlichkeit) trafen nicht mehr den ‚Zahn der Zeit’ der dem Raum
inkorporierten bewegungs- und körperkulturellen Praxen. Das Olympiastadion ‚verkörperte’
nicht mehr die Sehnsüchte der Massen. Insofern kann der Neubau der Allianz Arena als Fol-
ge der Inkongruenz der individuell-mentalen und kollektiv-sozialen Konstitution des Raumes
‚Olympiastadion’ betrachtet werden. YOUNG betont die zentrale Rolle, die dem Körper bei der
Sinnzuschreibung und Inkorporierung des ‘Cultural Memory’ des Stadions zukommt: „[…] sup-
porters turn almost immediately to distinctly body functions acts – they get wet and cold, the
players taking a corner at the far side are too small to make out, and their shouts of support
evaporate immediately” (2003: 1485). Die Konstruktion des Stadions ließ die habitualisierte,
körperliche Praxis der Fans außen vor. Dabei wird durch diese wohl der zentrale Erlebnisreiz
eines ‚Fußballfestes’ generiert. „For ceremonies or rituals to function, the participants must be
not simply cognitively competent to execute the performance; they must be habituated to those
performances. This habituation is to be found […] in the bodily substrate of the performance”
(CONNERTON 1989: 71 zitiert nach YOUNG 2003: 1485).
Die Schweizer Architekten der neuen Arena, Jaques Herzog und Pierre de Meuron, versuch-
ten dem Rechnung zu tragen, indem sie die sportliche Praxis auf dem Spielfeld und die Kör-
perkultur der Fans auf den Rängen als Einheit konzipierten: „The exteriors are then, of course,
very specially constructed, like skin that has to breathe. […] The building is like an interactive
organism that continually mutates and seems to breathe and express the energy of the crowd
and the events on the pitch” (YOUNG 2003: 1487). Dafür schien auch Uli Hoeness, Manager des
FC Bayern, intuitiv ein Gespür entwickelt zu haben, als er bei der Eröffnung der neuen Arena
sagte: „Mit der Allianz Arena haben die Fans ihr Stadion“ (ALLIANZ ARENA MÜNCHEN STADION GMBH
2006).45
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Als zweites Beispiel soll das ‚War Memorial Gymnasium’ an der ‚University of British Colum-
bia’ (UBC) in Vancouver im Westen Kanadas fungieren. Zwar unterscheidet die Sporthistorikerin
Patricia Vertinsky in ihrer Untersuchung ebenso wenig wie zuvor Young die Räume des Sports
in der in Kapitel 3.3 vorgestellten Systematik. Dennoch aber lassen sich auch am Beispiel von
Vertinskys Analyse die in der vorliegenden Arbeit differenzierten Konzeptionen des ‚Räumli-
chen’ deutlich voneinander abgrenzen. Besonderes Augenmerk richtet VERTINSKY (2004a: 48) in
ihrer Untersuchung auf die ‚power geometries’ der Produktion von Räumen und Orten in der
Planung, Konstruktion, Architektur und Nutzung der Universitätssporthalle. Doch wie wirkt sich
die Architektur eines Gebäudes, der physische Raum, auf die Konstitution des sozialen Raumes
aus?
Ähnlich wie beim Münchener Olympiastadion lassen sich die räumlichen Konfl ikte in und
um das ‚War Memorial Gymnasium’ in ihrer Komplexität nur aus einem breiteren Kontext de-
konstruieren.
Das 1951 im Zentrum des damaligen Uni-
versitäts-Campus eröffnete ‚War Memorial
Gymnasium’ war zum Zeitpunkt seiner Errich-
tung Kanadas größte und modernste Sport-
halle und galt unter den Bauwerken der Uni-
versität als Prunkstück. Der mit Preisen über-
häuften modernen Architektur des Gebäu-
des sind Werte wie Uniformität, Rationalität,
Stärke und Macht eingeschrieben, gleichzeitig
propagiert die Architektur des Gebäudes aber
auch Exklusion, Restriktion und Dominanz
(vgl. Abbildung 20).
Vertinsky arbeitet in ihrer Analyse explizit heraus, dass die moderne Architektur des ‚War
Memorial Gymnasium’ den sozialen Raum der Sporthalle defi niert und strukturiert. Basierend
auf der Erkenntnis, dass „in the gymnasium, bodies and places are woven together through
intimate webs of social and spatial rules that were made by and made embodied sporting sub-
jects” (VERTINSKY 2004a: 50), erscheint es offensichtlich, dass das ‚War Memorial Gymnasium’
kein Ort für jedermann war. „Based on Le Corbusier’s conception, with his passionate adherence
to straight lines and Newtonian view of the body as a machine, a gymnasium logically had to be
a machine for training the body in – and the shape of gymnasium had to refl ect this function“
(VERTINSKY 2004b: 44). Die von der Architektur vorgegebene Konzeption des ‚Körpers als Maschi-
ne’ defi niert demnach den sozialen Raum der Sporthalle in einer Weise, die eine Vielzahl sozialer
45 Das Münchner Olympiastadion ist jedoch nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Neubaus der Allianz Arena von
sportgeographischem Interesse. So löste beispielsweise der Oscar prämierte Dokumentarfi lm ‚One Day in September’
(Regisseur: Kevin Mc Donald) aus dem Jahr 2000, der die Geiselnahme israelischer Sportler durch ein arabisches
Terrorkommando bei den Olympischen Spielen 1972 in München thematisiert, eine wissenschaftliche Kontroverse
aus. Massiv kritisierte Edward Said die unausgewogene Berichterstattung und einseitige Parteinahme der Filmema-
cher (vgl. YOUNG 2000). Nur sechs Jahre später nahm sich mit Steven Spielberg in seinem Film ‚München’ erneut ein
Regisseur der Ereignisse während der Olympischen Spiele 1972 an.
Abbildung 20:
Das ‚War Memo-
rial Gymnasium’
der UBC in Van-
couver (eigenes
Foto vom 25.
Februar 2006)
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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Gruppen exkludiert. Schon während der Bauphase der Sporthalle wurde durch den Ausschluss
von Bauarbeitern asiatischer und afrikanischer Herkunft betont, wessen Körper in der Sporthalle
erinnert und ausgebildet werden sollten.
Doch neben dieser rassistischen Exklusion existierten weitere Formen eher unterschwelliger
Ausgrenzung. „In its daily usage, the War Memorial Gym was not a place for everyone, and it
was certainly not always home to many female students, athletes and staff who were excluded
in many ways from the social and working spaces of the gym (except for the secretarial and jani-
torial work, that is, where women occupied a subordinate service role). Nor did it feel like home
to many gay and lesbian athletes, students and coaches who felt pressed to hide their sexuality
in the locker rooms, at team gatherings and even in the board room” (VERTINSKY 2004a: 51).
Abschließend lässt sich aus Vertinskys Dekonstruktion der ‚Macht-Geometrien’ des ‚War Me-
morial Gymnasium’ ableiten, dass der physische Raum, hier in Form der modernen Architektur
der Sporthalle, als ein wichtiges Instrumentarium sozialer Macht und Kontrolle für die Konstitu-
tion sozialer Räume von zentraler Bedeutung ist. Umgekehrt wirkt sich auch die soziale Praxis
fortwährend auf die Konstruktion und Konstitution des physischen Raumes aus. In den Jahrzehn-
ten seit der Errichtung der Sporthalle im Westen Vancouvers wurden dadurch eine Vielzahl von
Veränderungen an Design und Ausstattung der Sporthalle notwendig. „Within its walls, working
spaces have been re-apportioned, administrative structures changed, social relations reconfi gu-
red and patterns of activity transformed […], a computer lab has now been inserted into a good
portion of that ‘uneasily disciplined’ social and hygienic space […]” (VERTINSKY et al. 2004: 157).
Die Snackbar des Gebäudes wurde durch Coca-Cola Automaten ersetzt. „[…] another potential
triumph of machine over body” (VERTINSKY et al. 2004: 158). Selbst das Auseinanderdriften einer
eher theoretisch angelegten Sportwissenschaft (‚Sport Science‘) und der auf die sportliche und
körperliche Praxis ausgerichteten Lehrer- und Trainerausbildung (‚Physical Education‘, ‚Athletic
Programme‘), wie es seit Jahrzehnten für die Sportwissenschaft charakteristisch ist, lässt sich an
der räumlichen Geschichte und Konfi guration des ‚War Memorial Gymnasium’ ablesen.
Der Sportraum kann demnach als Verkörperung diskursiver Traditionen, Narrative und Hege-
monien dekodiert und interpretiert werden. FUSCO bezeichnet die Räume des Sports in diesem
Zusammenhang als ‚racialized landscapes’. „We know that sports landscapes are highly gende-
red, (hetero)sexualised, classed, constructed for able-bodied individuals, places where dominant
masculine subjects prevail, and are linked to imperialism” (2005: 285).
3.5 Wichtige ‚Sport und Raum‘-Konzepte im Überblick
Welche Konzepte und Ideen existieren bisher schon in der wissenschaftlichen Annäherung
an die Räume des Sports?
Ausgehend von der zuvor begründeten Unterscheidung zwischen den physikalisch-euklidi-
schen, individuell-mentalen und kollektiv-sozialen Konzeptionen des ‚Räumlichen’, sollen hier
wichtige sportgeographische Raumkonzepte vorgestellt werden. Dabei soll die vorgeschlage-
ne Systematik helfen, die Vielzahl koexistenter Konzeptionen des Räumlichen bewusst zu ma-
chen.
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1. Der Goldene Plan
Zu allererst muss an dieser Stelle auf die sportpolitische Praxis der Bundesrepublik nach dem
‚Zweiten Weltkrieg’ eingegangen werden. Kommunale Sportstättenentwicklung wurde über
viele Jahrzehnte hinweg zunächst lediglich in West-Deutschland, nach der Wiedervereinigung
dann auch in Ostdeutschland auf der Grundlage von Einwohner bezogenen, städtebaulichen
Orientierungswerten mit Hilfe des so genannten ‚Goldenen Planes’ betrieben.46 „Dieser um-
fangreiche Maßnahmenkatalog in der Bau- und Entwicklungsplanung von Sportstätten wurde
1960 von der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG) ausgerufen und ist das Ergebnis von
Untersuchungen, die in den 50er Jahren von der DOG und kommunalen Spitzenverbänden
durchgeführt wurden. Der ‚Goldene Plan’ basiert auf der Feststellung, daß in westdeutschen
Kommunen ein Defi zit an Erholungs-, Spiel- und Sportanlagen vorliegt. Er sollte zunächst für
einen Zeitraum von 15 Jahren die Kommunen planerisch unterstützen“ (LISCHKA 2000: 8).
Der ‚Goldene Plan’ ist damit genau das, was WERLEN als angewandte Geographie bezeichnet.
„Engagierte angewandte Geographie bedeutet […], für Entscheidungen jene Informationen
bereitzustellen, die politisch angemessene Lösungen möglich machen“ (2000: 148). Die Zeit
des Wiederaufbaus nach dem ‚Zweiten Weltkrieg’ verlangte nach einer umfassenden räum-
lichen Koordination der Planungsprojekte und ihrer Umsetzung auf nationaler und sub-natio-
naler Ebene. Der ‚Goldene Plan’ war damit das raumplanerische Instrument, mit dessen Hilfe
der Wiederaufbau der bundesdeutschen Sportinfrastruktur gewährleistet werden sollte. Doch
welches Konzept von ‚Sportraum’ liegt diesem Planungsinstrument zugrunde?
Basierend auf einem Drei-Ebenen-Modell der Sportaktivitäten (Spitzensport, Wettkampf-
und Schulsport sowie Freizeit- und Breitensport) werden in der sportsoziologischen und -poli-
tischen Beschäftigung bis dato drei Formen von Sporträumen unterschieden:
a) Spezielle Wettkampfsportanlagen, in denen nationale und internationale Vergleiche ausge-
tragen werden können;
b) reguläre Sportstätten, die gegen Bezahlung genutzt werden können beziehungsweise für
den Schul- und Vereinssport vorgesehen sind sowie
c) Sportgelegenheiten, deren Nutzung prinzipiell jedem offen steht (LISCHKA 2000: 18).47
„Die Ebene des Spitzensports ist demnach mit Großanlagen wie Stadien verbunden. Der
organisierte Sport in Schule oder Verein steht mit traditionellen Sportstätten in Verbindung, wie
Sportplätze und Sporthallen. Die Ebene der nichtorganisierten spontanen Bewegungsaktivitä-
ten im Alltag zielt vor allem auf Sportgelegenheiten im Wohnumfeld“ (LISCHKA 2000: 18).
Diese Unterscheidung von Sporträumen basiert also weitestgehend auf einem physikalisch-
euklidischen Raumkonzept, das als statische Planungsgrundlage mit Hilfe kartographischer
Methoden und mathematischer Berechnungen, der Anzahl an Bundesbürgern pro Kommu-
ne (Stadtteil, Fläche) ein Maß an Sportraum zuweist. In jüngster Zeit scheint dieses statische
46 Der ‚Goldene Plan Ost’ wurde 1992 vom Deutschen Sportbund (DSB) verabschiedet.
47 Der Begriff ‚Sportgelegenheit’ wird von LISCHKA im Rahmen seiner Dissertation folgendermaßen defi niert: „Sportge-
legenheiten sind Flächen, die ursprünglich nicht für sportliche Zwecke geschaffen wurden, aber dennoch räumlich
und zeitlich Möglichkeiten für eine sportliche Sekundärnutzung bieten. Sie stehen allen Bürgerinnen und Bürgern,
insbesondere für informelle Sportaktivitäten, kostenlos zur Verfügung“(2000: 23).
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Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum
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System jedoch nicht mehr zu funktionieren. Die allgemein-gesellschaftlichen Veränderungen
einer sich fortschreitend wandelnden Gesellschaft setzen auch das Sportsystem Turbulenzen
aus, die ein statisches Konzept wie der ‚Goldenen Plan’ nicht mehr zu lösen vermag. Da der
stärker ausdifferenzierte Sport der Postmoderne nicht mehr ortsfest ist, sondern ‚Räume’ jeg-
licher Beschaffenheit für sich entdeckt hat, bedarf es der Entwicklung neuer Konzepte, die
dieser erhöhten Komplexität Rechnung tragen. „Notwendig werden substanziell veränderte
Konzepte der Sportraumplanung: Sportraumplanung muss (1) infrastrukturelle Entsprechungen
zu den unterschiedlichen Logiken der Sportnachfrage und der Sportaktivität entwickeln und
(2) in dem Maße dynamisch werden, wie sich die Sportbedürfnisse und Sportarten verändern“
(BREUER 2004: 30).
2. Administrative Sportregionen
Eine weitere sportpolitische Praxis, anhand derer sich die Räume des Wettkampfsports ord-
nen lassen, sind die ‚administrativen Sportregionen’. „Most sports are organised on the basis of
administrative regions” (BALE 1982: 12). So gliedert sich zum Beispiel der DFB in fünf Fußballre-
gionalverbände (Norddeutscher, Westdeutscher, Süddeutscher, Ostdeutscher und Südwestdeut-
scher Fußball-Verband), die wiederum in Landesverbände unterteilt sind. Die Landesverbände
gliedern sich in so genannte ‚Fußballkreise’, die auf lokaler Ebene für den Spielbetrieb in den
lokalen Ligen verantwortlich zeichnen, während in den regionalen und nationalen Ligen die
jeweils hierarchisch höher stehenden Fachverbände als Koordinatoren fungieren.
Die Organisation des Spielbetriebs in dieser streng hierarchisch geordneten Form resultiert
vor allem aus der schlichten Notwendigkeit, die Reisedistanzen der Mannschaften zu Auswärts-
spielen zu minimieren. Im Fußball bedeutet dies beispielsweise, dass mit der Höhe der Spiel-
klasse die Entfernungen zu den Auswärtsspielen zunehmen. Die Distanz zur ‚Heimstätte’ der
gegnerischen Mannschaften ist jedoch auch von der Verbreitung der Sportart abhängig. Je
weniger Mannschaften einer Sportart nachgehen, desto größer sind die Entfernungen zu den
Auswärtsspielen.
3. Einfl usssphäre eines Sport-Knotenpunktes (‚Nodal Region’)
Das Konzept der ‚Nodal Region’ ist vor allem durch eine große Ähnlichkeit mit dem Ent-
wurf der ‚administrativen Sportregionen’ gekennzeichnet (BALE 1982: 13 f). Mit ‚Nodal Region’
bezeichnet Bale die Einfl usssphäre und das Einzugsgebiet eines Knotenpunktes