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TRANSFER · BAND 1
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der MSH Medical School Hamburg
Herausgeberschaft Band 1: Kerstin Hof
Herausgeberschaft Transfer: Hannes Jahn
Konzept und Grafik: Mona Behfeld
Abbildung Buchumschlag: Birte Schlund
Lektorat: Juliane Furon & Antonia Cordes
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KERSTIN HOF
DREIERLEI MUT – COLLAGEN ZUR
RELEVANZ VON POESIE, LITERATUR & SCHREIBEN
IN GESELLSCHAFT & GESUNDHEIT
INHALTSVERZEICHNIS
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORTE
Hannes Jahn & Mona Behfeld
Publikationspraxis im Department Kunst, Gesellschaft & Gesundheit ............................8
Kerstin Hof
Erste Worte – Dreierlei Mut ...............................................................................................10
INHALTSVERZEICHNIS
BEITRAG 1-15
1 — Lucia Rainer & Mona Behfeld
44 Benutzerhandbuch Performanceschreibmaschine ....................................................14
2 — Peer de Smit
Reise nach Kannitverstan. Im Grenzgebiet von Kunst und Demenz .............................18
3 — Peter Sinapius
Alles voller Sprache – Schreiben als Versuchsanordnung ............................................ 36
4 — Leena Petersen
Über eine Poesie zwischenräumlicher Verortungen:
Inger Christensens Gedichtzyklus det .............................................................................. 42
5 — Jan Sonntag
Musikalische Aspekte der Sprache – Sprachveränderungen
bei Menschen mit Demenz................................................................................................48
6 — Klaus Peter Dencker
Optische Poesie ..................................................................................................................56
7 — Doris Cordes-Vollert
Fadensonnen // Horizontbeschreibung ..........................................................................72
8 — Laura Gene Wall & Hannes Jahn .........................................................................80
9 — Cindy Shearer
Offerings: A poetic approach to text and image .......................................................... 82
10 — Leonhard Fuest
Poetopharmacodes ............................................................................................................86
11 — Sabine Feldwieser
„Zum Schreiben braucht man Mut im ganzen Dasein“ .................................................90
12 — Michael Ganss
Poesie und Demenz ..........................................................................................................10 8
13 — Alexandra Hopf
Das kunsttherapeutische Gespräch als intermediales Ereignis .................................... 116
14 — Kerstin Hof
Rahmungen – Schreiben als ästhetische Resonanzbeziehung ....................................124
15 — Jana Meier & Marius Thieme
Automatisches Schreiben – Der Poetomat .................................................................... 13 0
MANIFEST KERSTIN HOF
Manifest, Vol. 1 – Schreiben als gesellschaftlich
und gesundheitlich relevante Kunst ................................................................................13 6
LITERATUR- UND BILDNACHWEISE
Literaturverzeichnis .......................................................................................................... 15 6
Abbildungsverzeichnis .....................................................................................................160
36PETER SINAPIUS
ALLES VOLLER SPRACHE
– SCHREIBEN ALS
VERSUCHSANORDNUNG
1. VERSUCH
Alles voller Sprache: auf Anzeigetafeln, in so-
zialen Netzwerken, in Briefen und E-Mails, in
Zeitungen und Illustrierten, in Nachrichten
und Eilmeldungen, in Konferenzen oder
Meetings, in meinem Kopf oder auf der Spei-
sekarte. Sprache ist allgegenwärtig. Ich in-
formiere, ich plane, ich reflektiere, ich struk-
turiere und ordne, ich erfinde und erzähle, ich
erinnere und identifiziere, ich definiere und
bewerte, ich konstatiere und zweifele, ich liebe
und hasse, ich nehme teil und weise zurück. Ich
kann nicht ohne Sprache sein. Und doch bleibt
Sprache allzu oft nur ein Versuch, mich in mein
Sein zu stellen. Die Sprache muss es aushalten
zwischen der Verfügbarkeit von Dingen und
Sachen und der Unverfügbarkeit des Seins.
Um Entfernungen zu überbrücken nutze
ich sprachliche und parasprachliche Mittel.
Ich versuche mein Getrenntsein von der Welt
zu überwinden. Ich beziehe mich sprachlich
auf jemanden oder etwas: „Sieh da, die Rose!“
Sprechend ergreife ich die Dinge, die in meine
Wahrnehmung dringen, und gebe ihnen Namen.
37 PETER SINAPIUS· BEITRAG 3 ·
Ich bezeichne sie, ich urteile, ich schätze sie ein,
ich stelle Bezüge zwischen Sachen her, ich suche
Zusammenhänge zu bilden oder löse Zusam-
menhänge auf. Ich schreibe und spreche.
Und dann spricht mich jemand an. Da ist
jemand, der mich meint. Dabei geht es nicht
um den Informationsgehalt der Sprache. Ich
werde „angerufen“: „Grüß Gott“ oder „Adieu“.
Ich werde bei meinem Namen genannt oder mit
einem Namen verspottet. Ich werde getroffen in
meinem leiblichen Sein: was ich höre, nehme ich
mit allen Sinnen wahr. Ich werde berührt, zu-
rückgestoßen oder gar verletzt – obgleich kein
Blut fließt, kein Bild erscheint, kein Ton er-
klingt, sich keine sichtbare Bewegung vollzieht.
Nur Buchstaben auf einem Blatt Papier, eine
beiläufige Bemerkung, ein Kommentar im Netz:
Ich höre einen Gruß, ich lese ein Gedicht, mich
trifft ein hingeworfener Satz, mich bedroht ein
Pamphlet oder eine Verleumdung. Und schon ist
es vorbei mit meiner Sprachgewalt. Ich besitze
die Sprache nicht. Die Sprache hat mich.
2. VERSUCH
Eine abweisende Haltung, ein Staccato in der
Stimmführung, ein sich mir Aufdrängen oder
ein vor mir Zurückweichen, eine Geste, die mich
nicht meint, ein Gegenüber, das sich mir versagt
– das sind Attribute eines Sprechens, das mich
auf Abstand hält oder mich in eine Abwehr-
haltung versetzt.
Ich suche nach einer Antwort. Mir fehlen die
Worte. Es gibt für sie keinen Ersatz. Mir helfen
keine Bilder, kein Tanz, keine Musik. Ich ringe
nach den Worten, über die ich nicht verfüge.
Ich versuche meine Redequalität wieder zu er-
langen. In Situationen der Sprachlosigkeit
merke ich, wie sehr ich der Sprache bedarf.
Hass. Die Rede trifft mich brutal, un-
verblümt, direkt, gewaltsam, unnachgiebig. Die
Hassrede ist unbedingt ehrlich und brandmarkt
ihr Gegenüber als falsch oder verlogen. Sie un-
terscheidet apodiktisch zwischen richtig und
falsch, zwischen Wir und Ihr, zwischen gut und
schlecht. Der so redet, lässt mir keine Wahl.
Er ist Opfer und Täter zugleich. Seine Rede
agiert aus der Position der Schwäche oder der
Missachtung. Sie verdankt sich einem Gefühl
des Sich-Bedroht-Fühlens, des Sich-Unge-
recht-Behandelt-Fühlens, des Um-Etwas-Be-
trogen-Worden-Seins. Sie meint mich und alle
anderen, die sich nicht zu ihr bekennen. Wenn
sie vorüber ist, stellt sich bei mir kein Frieden
ein, egal ob sie mich oder andere meint. Zurück
bleibt Hilflosigkeit und das andauernde Gefühl,
im Unrecht zu sein.
Die Quelle der Hassrede ist der vergiftete
Brunnen, aus dem wir alle getrunken haben.
Sie ist eine Behauptung, die ausschließlich
und hermetisch ist. Sie ist die Flamme, wo kein
Feuer ist. Sie ist eine Anklage, wo kein Recht ge-
sprochen wird.
Sie dringt tief in mich ein und verschließt
meine Kehle. Sie ist das Fremde in mir (Kristeva
1990) und ein Tropfen auf dem heißen Stein. Sie
ist das Vergebliche, das keine Vergebung kennt.
Sie erstickt meine Worte, bevor sie das Licht
erblickt haben. Ich bin um meine Sprache ge-
bracht. Mir blüht keine Rose und es vergeht
kein Schmetterling.
Wenn Hass zu mir spricht, stoße ich an
eine Grenze, die unüberwindbar scheint.
Aber ich habe keine Wahl: Ich muss es in dem
Raum zwischen hier und dort aushalten. Und
dieser Raum ist aus Sprache, die ihre Rede-
qualität verloren hat. „Hinter dem Vorhang der
Sprachen“ (Serres 1998) versuche ich das Gefühl
für ihre Sinnlichkeit, ihre Geschmeidigkeit oder
Schärfe, ihren Klang, ihren Rhythmus, ihre
Bewegung oder ihre Bildlichkeit wiederzuge-
winnen. Ich höre, wo ein Schweigen ist.
3. VERSUCH
Ich mag keine Schnittblumen. Sie stehen da und
ich wohne ihrem Zerfall bei. Das Vergehen ist
ein Motiv in der Literatur- und Kunstgeschichte,
mit dem die dekorativen Schnittblumen vom
Wochenmarkt nicht ohne Weiteres Schritt
38PETER SINAPIUS
halten können. Das Gedicht „Sommerbild“ von
Christian Friedrich Hebbel (1958) macht mir
das Verblühen sprachlich anders zugänglich,
als die verwelkende Blume in der Vase:
Ich sah des Sommers letzte Rose stehn,
Sie war, als ob sie bluten könne, rot;
Da sprach ich schaudernd im Vorübergehn:
So weit im Leben, ist zu nah am Tod!
Es regte sich kein Hauch am heißen Tag,
Nur leise strich ein weißer Schmetterling;
Doch, ob auch kaum die Luft sein Flügelschlag
Bewegte, sie empfand es und verging.
Der Unterschied zwischen der vergehenden
Schnittblume und der vergehenden Rose in
Hebbels Gedicht ist augenscheinlich: Der ver-
gehenden Schnittblume fehlt die Poesie, etwas,
was über die triviale Tatsache hinausweist,
dass da eine Blume verblüht, etwas, das dem
Vergehen einen Sinn gibt, bei dem es zu Ver-
weilen lohnt.
Nun sind solche Gedanken nicht nur eine
Reminiszenz an die Romantik, sondern sie
führen vor Augen, wie die Welt erst jenseits des
Faktischen zu uns sprechen vermag. Wie kann
es uns gelingen Räume zu öffnen, in denen uns
über das Faktische hinaus das Mögliche, das
Ferne oder auch das Nicht-Sagbare zugänglich
werden? Gibt es eine Sprache, die das Phänomen
des Vergehens nicht weniger im Blick hat, wie
das, was sich darüber als Tatsache sagen lässt?
Nicht selten wird der Sprache die Rolle zu-
gewiesen, sich in erster Linie mit Fakten zu be-
schäftigen, die sie repräsentiert oder auf die sie
verweist. Sie strukturiert unser Denken und
Handeln, indem es sie an Tatsachen und eine
ihnen vordergründig eingeschriebene lineare
Logik von Ursache und Wirkung bindet. Die
chronologische Zeit bildet den Hintergrund
für die Fakten, bei denen eins auf das andere
folgt: Die Rose wächst, blüht und vergeht.
Dem Werden folgt das Sein, dem Sein folgt das
Vergehen. Dem Subjekt folgt das Prädikat und
dem Prädikat folgt das Objekt.
Unser ganzes Leben scheint sich in einer
notwendigen Abfolge von immer wiederkeh-
renden Ereignissen zu erschöpfen. Wir wachen
auf aus unserem Schlaf, wir beginnen unseren
Arbeitstag, wir begeben uns in den Feierabend
und schließlich in die Nachtruhe, bis wir wieder
aufwachen. Das Alter macht irgendwann eine
Zäsur in diesem immer währenden Kreislauf.
Wir erreichen den „Lebensabend“, für den wir
versichert sind, etwas zurückgelegt haben oder
wir geraten in die (unverschuldete) Armut, das
Pflegeheim oder die Einsamkeit. Die Zeit geht
weiter. Unerbittlich geht sie dem Ende entgegen.
Eins folgt auf das Andere, kein Zurückgeworfen
werden in der Zeit, kein Verweilen und auch
kein zweiter Versuch. Nichts lässt sich erneut
auf Anfang drehen. Das Leben ist kein Spiel.
Das Vergehen ist ein Naturgesetz.
Mit diesem Denken sind die Naturwissen-
schaften spätestens seit der Moderne ungemein
erfolgreich. Die Architektur unseres Daseins
folgt ihrem Diktum: Wir haben die Orte ge-
schaffen, in denen das Werden, das Sein und
das Vergehen verwaltet werden. Wir haben
die Schulen, die auf das Leben vorbereiten, wir
haben die Arbeitsstätten und die privaten oder
öffentlichen Rückzugsorte, in denen sich das
Leben vollziehen kann, wir haben die Alters-
und Pflegeheime und schließlich die Friedhöfe,
um unserer Zeit danach einen Ort zu geben.
Aber: Die Sprache erschöpft sich nicht in
einer chronologischen und folgerichtigen An-
einanderreihung von Begriffen, die die tat-
sächliche Welt beschreiben, unabhängig davon,
wie wir sie wahrnehmen. Sie folgt nicht nur
einer linearen, ihr eingeschriebenen Logik und
Begrifflichkeit. Sie bietet noch ganz andere Op-
tionen, wenn sie ihre poetische Kraft entfaltet.
„Durch Lautlichkeit“, so schreibt die Schrift-
stellerin Ulrike Draesner (2011), „wird Leib-
lichkeit sinnlich zu Gehör gebracht… Sowohl
Stimme als auch Ohr sind Wege…“ Und sie be-
richtet von Erfahrungen, die sie bei ihren Au-
39 PETER SINAPIUS· BEITRAG 3 ·
torenlesungen gemacht hat, folgendes: die
„Stimme ist, so viel habe ich erfahren, vor allem
auch ein Organ der Antwort. Ich entdeckte, dass
das Publikum mir Bilder zurückwirft, Bilder,
die ich nicht sehe, aber körperlich “begreife”
oder sie ergreifen mich, und meine Stimme re-
agiert darauf, an einem Ort, der sich meiner wil-
lentlichen Steuerung entzieht. Denn die Stimme
ist etwas, womit man ohne Augen sehen kann.“
Die Sprache als ein Organ der Wahrnehmung:
Ich spreche zu Jemandem und bekomme im
gleichen Atemzug etwas zurück. Sprache ist ein
Gegenstand leiblicher Erfahrungen.
4. VERSUCH
Ich lese ein Buch und in ihm die Schrift. Ich
lese vom wirklichen Leben. Ich wüsste nichts
darüber, hätte ich nicht die Sprache und die
Sprache mich.
Ich lese von Tyll Uhlenspiegel. Ich begegne
ihm in einem Roman (Kehlmann 2017). Tyll Uh-
lenspiegel lebt in diesem Roman in der Zeit des
Dreißigjährigen Krieges, in einer rohen, mir
fremden und fernen Welt. Er lebt in einer Welt,
die der Leser sich nur erschließen kann, wenn
er sich lesend in sie hineinbegibt. Ich sehe mich
um, erlebe durch die Figuren der Geschichte
die Unerbittlichkeit der Natur oder des Krieges,
ohne sie selbst beschrieben zu finden.
Gegen Ende der Erzählung öffnet sich der
Boden und ich werde samt einer Gruppe von
Menschen plötzlich in die Tiefe eines Schachts
gerissen, der sich nach Dunkelheit, Erde,
Schweiß, Blut und Enge anfühlt, fast so, als sei
ich selber lebendig begraben. Davon aber wird
nicht erzählt, es fühlt sich so an. Ich fühle es
durch die derben Satzfetzen und Dialoge, die
die einzige Orientierung im Dunkel bilden.
Ich bin von einer undurchdringlichen Dun-
kelheit umgeben, aus der es kein Entkommen
gibt. Ich identifiziere nur langsam unter den
handelnden Personen Tyll Uhlenspiegel, der
selber einen Halt in der Dunkelheit zu finden
sucht. Ich vernehme die verzweifelten Zurufe,
das Stammeln, den Schweiß, das Ringen nach
Luft, das körperliche Eingeschlossensein. Fast
ist es so, als habe die Sprache Gewalt über mein
leibliches Dasein. Nicht die gedruckten Sätze
bestimmen das Bild, das ich gewinne. Ich höre,
sehe, spüre, was ich lese. Was ich lese, spricht
und mit ihm eine ganze Fülle sinnlicher Empfin-
dungen, aus denen sich ein Bild zusammenfügt,
das sprachlich gar nicht in Erscheinung tritt.
Offenbar ist es möglich etwas zu erzählen,
indem die Begriffe ihre eigentliche Bedeutung
verlieren: „…die Stimme ist etwas, womit man
ohne Augen sehen kann.“ (Draesner 2011) Auf
diesem Phänomen beruhen nicht nur gute Er-
zählungen und Romane, sondern auch die
Reden von Agitatoren, Verleumdern oder Hass-
rednern. Was kann ich ihrer Rede entgegen-
stellen?
Anders als es uns Lexika, Datenbanken oder
Klassifikationssysteme glauben machen wollen,
scheint sich Sprache nicht in erster Linie in
Fakten zu erschöpfen, auf die sie weist oder
die sie repräsentiert. Die Welt wird uns nicht
dadurch verfügbar, dass wir sie mit Begriffen
erschließen können. Ich bin leiblich mit der
Welt und ihren Erzählungen verbunden. Wir
brauchen ein Gespür, ein Bewusstsein und eine
Kompetenz für die Redequalität der Sprache.
Das wird gelegentlich übersehen, wenn von
unserem Verhältnis zur Sprache die Rede ist.
5. VERSUCH
Im Reigen der Künste wird der Sprache immer
wieder eine besondere, manchmal unterge-
ordnete, Rolle zugewiesen: „Wenn ich mit Worten
sagen könnte, was meine Tänze meinen, gäbe es
keinen Grund, sie zu tanzen.“ (Mary Wigman
1983 in Maderna 2008, 277) oder „Ich singe, was
ich nicht sagen kann“ (Rosemarie Tüpker, 1988)
oder „Wenn Worte fehlen, sprechen Bilder“
(Gertraud Schottenloher, 1994). Um die Sprache
scheint es schlecht bestellt zu sein: Wenn Worte
versagen, dann singen wir, malen Bilder oder
tanzen? Ist das wirklich so? Es ist nicht leicht
40PETER SINAPIUS
sich der Sprache zu verweigern. Wir denken in
ihr, wir nehmen durch sie und mit ihr Kontakt
zu Sachen, Dingen oder anderen Menschen auf
und selbst wenn wir schweigen, ist sie da: Als
Sprachlosigkeit, als Barriere, als Hindernis,
als Distanz oder Dissonanz. Stimmt es denn,
dass sich die nicht-sprachlichen Künste, das
Malen, Tanzen oder Singen als Alternative zum
Sprechen anbieten?
Nicht nur da, wo die Künste für pädago-
gische oder therapeutische Zielsetzungen
genutzt werden, selbst nach dem Besuch eines
Kinos, eines Konzertes, des Tanztheaters oder
des Museums sprechen wir darüber, versuchen
zu verstehen und uns in ein Verhältnis zu dem
zu bringen, was wir erfahren haben (Bertram
2014). Wenn wir tanzen, singen oder malen
sprechen wir danach über das, was wir gemacht
haben, um von anderen zu erfahren, wie sie
etwas gehört, gesehen oder empfunden haben.
Wir erörtern, wie es auch hätte sein können,
welche Möglichkeiten es noch gibt oder wie
wir es besser oder anders machen können. Die
Sprache scheint ein nicht unwesentliches Ins-
trument zu sein, damit wir ästhetische Erfah-
rungen in unser Leben integrieren.
Wir stoßen dabei ständig auf die Grenzen
der sprachlichen Kommunikation und er-
weitern sie um parasprachliche Mittel: Wir ges-
tikulieren, wir heben oder senken die Stimme,
verlangsamen oder beschleunigen die Rede, wir
versuchen etwas zu umschreiben oder greifen
nach Metaphern. Wenn wir sprechen, bewegen
wir uns immer schon an der Grenze zu anderen
Medien. Was wir zu Gehör bringen, vermittelt
sich intermedial: Wir hören etwas, ohne dass ein
Ton erklingt und ohne dass von Musik die Rede
ist, wir nehmen Bilder wahr, die sich an Erzäh-
lungen entzünden, ohne dass sie in Metaphern
ihren Ausdruck gefunden haben müssen, wir
tauchen ein in Atmosphären, die zwischen den
Zeilen vernehmbar werden, wir erleben die
Dramaturgie der Rede, wir erleben die Sprache
als Geste, die uns berührt, ohne dass sich eine
sichtbare Bewegung vollzogen haben muss. Ich
schlage vor, die Sprache und andere künstle-
rische Medien, durch die wir uns auf die Welt
beziehen können, nicht als Alternativen oder
gar Gegensätze zu denken. Die künstlerischen
Disziplinen operieren mit verschiedenen sinn-
lichen Modalitäten, die sich uns leiblich ver-
mitteln. In der Sprache sind sie aufeinander
bezogen: Wenn wir sprechen, vollziehen wir
eine Dynamik oder Bewegung, erzeugen Bilder
und Atmosphären oder realisieren musika-
lische und rhythmische Figuren. Unsere Wahr-
nehmung ist bereits intermedial angelegt, ohne
dass wir reflexiv Bezüge zwischen den Medien
herstellen müssten. Sprechen ist als integrale
Simultanität der Sinne zu verstehen, über
die verschiedene Medien latent aufeinander
bezogen sind.
6. VERSUCH
„Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose ist eine
Rose.“ (Stein 1968) Wie in einem Spiegelka-
binett reflektiert in diesem Satz die Rose die
Rose die Rose die Rose. Der Begriff wirft das
zurück, auf das er zeigt. Das ist anders, wenn
ich auf eine Blume zeige und sage: „Das ist eine
Rose“. Der Begriff „Rose“ spiegelt nicht die tat-
sächliche Rose, er ist ihr Platzhalter. Er ist nicht
ihr Spiegelbild.
Sprache hat immer eine Zeigequalität. Wir
meinen etwas oder jemanden oder wir zeigen,
was oder wen wir meinen. Durch Sprache be-
ziehen wir uns auf die Welt. Wir heben hervor,
wir betonen, wir begreifen, wir verstehen, wir
unterschlagen, wir untersuchen. Sprachlich
bewegen wir uns in der Welt, indem wir uns zu
Dingen und Sachen zeigend, hebend, greifend,
stehend, schlagend oder suchend in eine Be-
ziehung bringen. Sprechend setzen wir uns
leiblich zu Anderem in ein Verhältnis. Wenn
ich auf eine Blume zeige und sage: „Das ist eine
Rose“, geht das mit einer Fülle von sinnlichen
Empfindungen einher, durch die ich mich
leiblich mit der Welt verbunden fühle. Wenn
ich sage: „Das ist eine Tulpe und keine Rose“,
41 PETER SINAPIUS· BEITRAG 3 ·
weiß ich von der Rose, weil ich mir die sinn-
lichen Eindrücke vergegenwärtige, die mich
in ein leibliches Verhältnis zur Rose führen.
Sprechen ist keine Einbahnstraße. Was ich
benenne, wirft mir etwas zurück: „Die Welt
kommt auf das erfahrende Subjekt zu – und
dieses geht (handelnd und erschließend) in die
Welt hinein.“ (Rosa 2016, 211)
Sprechen ist nicht Übersetzen. Es ist nicht
das Überführen von etwas Nicht-Begrifflichen
in einen Begriff. Worte sind nicht Etiketten, die
an Sachen, Dingen, Situationen oder Menschen
haften, wie Preisschilder an der Ware im Su-
permarkt. Wer das Wort auf den Begriff re-
duziert, macht die Sprache zum bloßen Stellver-
treter, zum Symbol oder Zeichen und beraubt
sie ihrer poetischen Kraft.
Eine Sprache, die sich dem Dialogischen
versagt, hat keine Redequalität. Sie ist bloße
Chiffre. Natürlich gibt es eine Sprache, die den
Zweck hat, etwas zu bezeichnen, zu ordnen,
zu definieren, zu informieren, zu zitieren, hin-
zuweisen, zurückzuweisen, zu regeln, zu ver-
sichern, zu übersetzen, zu verbinden, zu struk-
turieren, zu warnen. Aber selbst dann, wenn
die Sprache nur Information sein will, zeigt sie
sich oder etwas. In der Art und Weise wie sie
das tut, spüre ich ihre Ecken und Kanten, ihre
Rundungen, ihren Rhythmus, ihre Leichtigkeit
oder ihr Drängen, ihren Duktus, ihren Klang
und ihre Temperatur, ihre Durchlässigkeit und
ihren Widerstand. Ich bewege mich im Raum
der Sprache und nicht nur in den ihr mitge-
gebenen Bedeutungen. Hören und Sprechen
sind vor allem eine Kompetenz der Sinne.
7. VERSUCH
Das Schweigen. Ich schweige nicht, weil ich
fertig bin oder weil ich nichts zu sagen habe.
Ich schweige, weil sich die Sprache nicht nur
im Modus des Hörens und Sprechens vollzieht.
Selbst wenn ich verstumme, erlischt nicht die
Rede. Weil die Sprache ein sinnliches Vermögen
ist, ist ihr Medium nicht nur das gesprochene
oder geschriebene Wort. Wer meint, dass sich
alles sprechend vermitteln lässt, „übersieht,
daß kaum merkliche Gesten gleichfalls lehren
können, er vergißt das stillschweigende Einver-
ständnis und die Komplizenschaft, er vergißt,
was sich von selbst versteht, ganz ohne Worte,
das stille Bitten um Liebe, die Eingebung, die
einschlägt wie ein Blitz, die Anmut einer Be-
wegung […]“. (Serres 1998, 137)
Wer Musik macht, spricht nicht. Wer tanzt,
braucht keine Worte. Bilder schweigen. Sie
brauchen nicht die Rede, um erschlossen zu
werden. Wir sprechen über Bilder um unsere
Erfahrungen zu teilen, nicht aber um sie zu
enthüllen. Die Sprache hingegen kann sich im
Modus des Bildhaften, der Musik und der Be-
wegung erst entfalten: „Ist das Bild immer
visuell? Es kann auch klanglich, das Guckloch
kann auch sprachlicher Art sein: Ich kann mich
in einen Satz verlieben, der mir gesagt wurde:
und nicht nur deshalb, weil er mir etwas sagt,
was meine Begierde betrifft, sondern aufgrund
seiner syntaktischen Wendung (seines „Hofes“),
die in mir heimisch werden wird wie eine Erin-
nerung.“ (Barthes 1988, 133)
Das Dialogische hat in der Sprache seinen Ur-
sprung und sein zu Hause. Es hat mit leib-
lichen Erfahrungen zu tun, die wir mit und
an ihr machen – selbst da, wo wir schweigen.
Ich brauche die Sprache und sie braucht mich.
Sprache ist ein Vermögen und braucht ein Ge-
genüber, an dem sie sich entzünden oder auf das
sie sich beziehen kann. Das Vermögen ist vor
allem ein Leibliches, das Gegenüber ist ein Du.
156LITERATURVERZEICHNIS
LITERATURVERZEICHNIS
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