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Abstract

Die digitale Transformation der Gesellschaft betrifft auch die professionellen Prakti- ken und die Organisationsbedingungen der Sozialen Arbeit (Bertsche/Como-Zipfel 2017; Kutscher/Seelmeyer 2017) und stellt bereits jetzt eine große Herausforderun- gen für die Soziale Arbeit dar (Coulton u.a. 2015), welche sich in den nächsten Jahr- zenten weiter zuspitzen wird. In der Sozialen Arbeit existieren vor allem im Rahmen des Kinderschutzes unterschiedliche Verfahren und eine unüberschaubare Menge an Instrumenten, die helfen sollen, das Risiko einer Kindesmisshandlung oder -ver- nachlässigung einzuschätzen. In diesem Beitrag werden Chancen und Gefahren des Einsatzes von „Big Data Analytics“ im Kinderschutz kritisch betrachtet.
Pascal Bastian, Mark Schrödter
2ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2/2019
Pascal Bastian, Mark Schrödter
Risikodiagnostik durch „Big Data Analytics“ im
Kinderschutz
Die digitale Transformation der Gesellschaft betrifft auch die professionellen Prakti-
ken und die Organisationsbedingungen der Sozialen Arbeit (Bertsche/Como-Zipfel
2017; Kutscher/Seelmeyer 2017) und stellt bereits jetzt eine große Herausforderun-
gen für die Soziale Arbeit dar (Coulton u.a. 2015), welche sich in den nächsten Jahr-
zenten weiter zuspitzen wird. In der Sozialen Arbeit existieren vor allem im Rahmen
des Kinderschutzes unterschiedliche Verfahren und eine unüberschaubare Menge
an Instrumenten, die helfen sollen, das Risiko einer Kindesmisshandlung oder -ver-
nachlässigung einzuschätzen. In diesem Beitrag werden Chancen und Gefahren des
Einsatzes von „Big Data Analytics“ im Kinderschutz kritisch betrachtet.
Über Fragen der Treffsicherheit, Angemessenheit und Handhabbarkeit sowie über die
Auswirkungen vor allem standardisierter Verfahren auf die professionelle Soziale Ar-
beit wird heftig gestritten (Bastian 2016). Der höchste Standardisierungsgrad mit dem
geringsten menschlichen Einfluss dürfte dabei computergestützten Prognoseverfahren
zukommen, mit der die Soziale Arbeit bislang noch wenig konfrontiert wird, die aber
zunehmend in anderen gesellschaftlichen Bereichen, vor allem in der Wirtschaft, der
Medizin und den sozialen Medien unter dem Label „Big Data Analytics“ oder „Machi-
ne Learning“ diskutiert werden. „Big Data Analytics“ kann dabei als eine Weiterführung
bereits vor allem in den Vereinigten Staaten genutzter statistischer Risikoassessmenttools
eingeordnet werden. Gleichzeitig handelt es sich durch die Möglichkeit der vollständig
automatisierten Nutzung riesiger, rasant anwachsender und vielfältiger Datenmengen
um eine ganz neue und revolutionäre Form der Zukunftsprognostik.
Um diese „Digitalisierungsrevolution“ besser einordnen zu können, soll im Folgenden
auf der Grundlage eines Fallbeispiels, die Aufgabe von (Risiko-)Prognosen im Kinder-
schutz und deren Schwierigkeiten erläutert werden, um dann einen kritischen Einblick
in die Datenerhebungs- und -verarbeitungsmethode von Big Data Analytics zu gewäh-
ren. Am Schluss soll über die Möglichkeiten einer bedingungslosen Kinder- und Ju-
gendhilfe diskutiert werden, als ein Vorschlag, um weitgehend auf Risikoerfassung zu
verzichten.
Die Inobhutnahme – Ein Fallbeispiel
Das folgende Fallbeispiel stammt von einer Studentin aus einem sozialpädagogischen
Master-Studiengang. Es wurde im Rahmen eins Seminars zum Thema „Urteilsbildung
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Risikodiagnostik durch „Big Data Analytics“ im Kinderschutz
ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2/2019
im Kinderschutz“ diskutiert wurde (zum Fallbeispiel und zur Interpretation vgl. auch
Bastian 2019):
Während einer Teamsitzung innerhalb meines Berufspraktikums beim Jugend-
amt kam ich erstmals in einer Teambesprechung mit dem Fall der Familie in
Berührung. Die Familie– bestehend aus einem verheirateten Ehepaar und ih-
ren zwei Kindern (Mädchen ein Jahr, Junge fünf Jahre alt)– stand schon seit
über einem Jahr mit dem Jugendamt in Kontakt. Grund für die Hilfemaßnah-
men war die Vernachlässigung der Kinder wegen der psychischen Erkrankung
der Mutter. Diese hatte bereits mehrere ambulante Therapien absolviert und
befand sich auch zu diesem Zeitpunkt in einer solchen.
Vor allem das Thema Hygiene stand im Fokus der Hil-
femaßnahmen. Im Haushalt lebten ein Hund und zahl-
reiche Katzen.
In der Fallbesprechung schilderten die eingesetzten
Erziehungshelfer*innen den aktuellen Stand in der Fa-
milie und im Haushalt. Die Hilfen würden allesamt gut
angenommen, vor allem habe die Familie sich in Be-
zug auf das Hauptthema der mangelnden Hygiene im
Haushalt und in der Kinderpflege deutlich gebessert.
Einige Tage später befanden sich meine Praxisanleite-
rin und ich nachmittags aufgrund eines Termins in dem
Wohnort der Familie. Meine Praxisanleiterin schlug vor,
der Familie einen spontanen Besuch abzustatten. Als wir
das Grundstück betraten, roch es dort schon streng nach
Tierkot. Im Haus roch es ebenso danach. Auf dem Sofa
sowie in der Küche lag dieser überall herum. Nach einem
kurzen Gespräch mit den Eltern verließen wir das Haus
wieder. Zurück im Büro hatten wir eine Besprechung mit
dem stellvertretenden Leiter des Jugendamtes, von dem
ich nach meiner Meinung gefragt wurde. Ich schilder-
te mein Entsetzen über die wohnlichen Verhältnisse der
Familie– drastischer, als es meine Praxisanleitung zuvor
getan hatte. Ich konnte die Familie aus der vorherigen
Fallbesprechung der Erziehungshelfer*innen nicht mit
der von mir besuchten Familie zusammenbringen. Das mir gebotene Bild war
völlig kontrovers zu den positiven Schilderungen der Erziehungshelfer*innen,
die die Familie wöchentlich unterstützten. Daraufhin bekamen wir den Auftrag,
am folgenden Tag der Familie nochmals einen Besuch abzustatten und gegebe-
nenfalls weitere Maßnahmen einzuleiten. Bei diesem Besuch fanden sich noch
weitere Dinge, die den Verdacht der akuten Kindeswohlgefährdung bestätigten
Prof. Dr. Pascal Bastian
lehrt Sozialpädagogik an der
Universität Koblenz-Landau.
E-Mail: pascal.bastian@uni-
landau.de
Prof. Dr. Mark Schrödter
lehrt Sozialpädagogik des
Kindes- und Jugendalters an
der Universität Kassel.
E-Mail: mark.schroedter@
uni-kassel.de
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(u.a. verschimmelte und für Kinder ungeeignete Lebensmittel im Kühlschrank,
Gefahr durch den ungebändigten Hund etc.). Das Kleinkind wurde an diesem
Tag noch in Obhut genommen, der Junge zu den Großeltern gebracht.
In dem Beispiel geht es um die Grundfrage im Kinderschutz, nämlich ob in der betref-
fenden Familie eine Kindeswohlgefährdung vorliegt oder nicht. Gleichzeitig zeigen sich
aber auch die Schwierigkeiten bei dieser Einschätzung. Interessant sind vor allem zwei
Aspekte. Zum einen scheint es eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Einschätzung
der Erziehungshelfer/innen und der Praktikantin zu geben, die diese Fallgeschichte be-
richtet, hinsichtlich des Hygienezustands und der damit zusammenhängenden Ange-
messenheit der Haushaltführung für die Kinder. Die Einschätzung der Praktikantin wird
am Ende auch von den Verantwortlichen im Jugendamt geteilt, und es kommt zu einer
Inobhutnahme, d.h. die Kinder werden vorläufig durch das Jugendamt aus der Fami-
lie herausgenommen, was in einer akuten Krisensituation ohne richterlichen Beschluss
grundsätzlich möglich ist. Interessant ist zum anderen, dass die Gefährdung nicht direkt
durch die Eltern verursacht wird, z.B. durch Gewalteinwirkung, sondern durch eher
indirekte Faktoren, da vor allem der Zustand der Wohnung zur Begründung herange-
zogen werden. Hier zeigt sich, dass die Einschätzung, was als eine Gefahr angesehen
wird, sehr stark auch zwischen professionellen Fachkräften differieren kann.
Das Problem scheint zu sein, dass die Fachkräfte nicht auf objektive, für alle Familien
geltende Gefährdungsmarker zurückgreifen. Insgesamt wird im Fachdiskurs davon aus-
gegangen, dass Kindeswohl und Kindeswohlgefährdung als sozial-kulturelles Konstrukt
nicht eindeutig zu klären sind und daher von einer Nichtvergleichbarkeit und Einzigar-
tigkeit des Einzelfalls ausgegangen werden muss, die sich nicht generell festlegen lässt
(Schone/Hensen 2011). Dies bedeutet, dass bereits in der Konstruktion des Begriff Kin-
deswohlgefährdung als unbestimmter Rechtsbegriff angelegt ist, dass er sich immer nur
im Einzelfall beurteilen lässt, und sich weder festgelegen lässt, wonach genau geschaut
werden soll, noch wie stark einzelne Aspekte zu berücksichtigen sind.
Wenn der Computer die Riskoeinschätzung vornimmt: statistische
Risikoprognosen
Wäre es nicht gut, wenn es objektive Kriterien gäbe, um Kindeswohlgefährdung unab-
hängig von der subjektiven Meinung einzelner Professioneller zu bestimmen? Dies ist
bei einer statistischen Risikoerfassung möglich, insofern man die Wahrscheinlichkeit
des Zutreffens von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung als hinreichend objekti-
ves Kriterium ansieht. Auch wenn das Wort Risiko in dem oben beschriebenen Beispiel
gar nicht vorkommt, spielt es dennoch beim Auftrag des Kinderschutzes eine Rolle.
Auch der Begriff Kindeswohlgefährdung verweist auf ein Ereignis – in diesem Fall eine
Schädigung des Kindeswohls –, das erst in der Zukunft stattfinden wird. Es besteht zwar
die Gefahr einer Schädigung, diese ist aber gegenwärtig noch nicht eingetroffen.
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Risikodiagnostik durch „Big Data Analytics“ im Kinderschutz
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Was bei einem Verdacht auf eine solche Gefährdung geschehen soll, wird im Kinder-
und Jugendhilfegesetz (Achtes Buch Sozialgesetzbuch [SGB VIII]) im § 8a als „Gefähr-
dungsrisiko“ konkretisiert, welches „im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte“ einge-
schätzt werden soll. Der Kinderschutz ist somit als Tätigkeitsfeld der Sozialen Arbeit
deshalb so interessant, weil hier – anders als in vielen anderen Bereichen – sehr explizit
eine Risikoprognose gefordert wird.
Für eine solche Risikoeinschätzung müssen eine Menge an Informationen über den zu
bearbeitenden Einzelfall zu einem Urteil über die Gefährdung verdichtet werden: die
Vorgeschichte der betreffenden Familie, Hinweise aus Gesprächen mit den betroffe-
nen Eltern und Kindern, den Lehrkräften, Nachbar/innen usw., aktuelle Eindrücke von
Hausbegehungen und auch die Ergebnisse pädagogischer, psychologischer und medi-
zinischer Gutachten und Tests. Die Prognose lässt sich mithilfe verschiedener Verfahren
erzielen. Dabei sind weniger die Datenquellen entscheidend, sondern die Art und Wei-
se, wie sie ausgewertet werden. Werden die Daten nach festgelegten Regeln gewichtet
und kombiniert, spricht man von mechanischer bzw. statistischer oder aktuarialistischer
Urteilsbildung. Solche Verfahren basieren auf empirischen Studien zu Kinderschutzfäl-
len, in denen statistisch Indikatoren identifiziert wurden, die zukünftige Kindeswohlver-
letzungen gut prognostizieren.
Aktuarialistische Verfahren werden fast nur in den USA und in Australien eingesetzt. In
Deutschland verwendet man hingegen eher diskursive bzw. interpretative Vorgehens-
weisen. Dabei können aber auch klassifikatorische Diagnosebögen Verwendung fin-
den wie etwa der Stuttgarter/Düsseldorfer Kinderschutzbogen (Kindler u.a. 2008), der
den Fachkräften helfen soll, zu einem ausgewogenen Gefährdungsurteil zu kommen.
Solche Diagnosebögen sind in der Regel das Ergebnis einer Sichtung der empirischen
Forschung zu Risiko- und Schutzfaktoren sowie normativer, im Konsens von Expert/
innen erzielter Verständigungen darüber, was zentrale Bedürfnisse und notwendige Le-
bens- und Entwicklungsbedingungen von Kindern sind. Im Unterschied zu den aktua-
rialistischen Bögen sind es aber die Fachkräfte, die die Gefährdung im konkreten Fall
einschätzen (Schrödter u.a. 2019).
Dies bedeutet: Während beim interpretativen Verfahren das Urteilen ganz und
gar in der Hand der professionellen Fachkraft bleibt, wird in statistischen Verfah-
ren das Urteil mechanisch nach einer zuvor festgelegten Formel gefällt. Profes-
sionelle entscheiden zwar über das Zutreffen einzelner Prädiktoren, fällen aber
nicht das schlussendliche Urteil.
Die dazu nötigen rein statistisch gebildeten Prädiktoren haben aber häufig kaum Rele-
vanz für die Frage, wie eine hilfreiche Intervention aussehen kann. Im Fallbeispiel war
ja das wichtigste Kriterium der Hygienezustand der Wohnung. Dies ist bei nicht statis-
tischen Verfahren häufig ein wichtiger Indikator, etwa für Vernachlässigung. Hinweise,
ob die Wohnung sauber, vermüllt, ungepflegt, aufgeräumt etc. ist, finden sich nahezu
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in allen Akteneinträgen von Hausbesuchen im Rahmen des Kinderschutzes (Bastian/
Schrödter 2015). Schauen wir uns hingegen ein gängiges aktuarialistisches Verfahren,
das California Family Risk Assessment-Tool (CFRA, vgl. CRC 2008; Johnson u.a. 2015)
an, so findet sich bei den statistisch relevanten zwölf Prädiktoren für Vernachlässigung
kein Eintrag, der auf den Hygienezustand der Wohnung hinweist. Es gibt nur die etwas
allgemeinere Frage nach der „Momentanen Wohnsituation“ mit den Antwortmöglich-
keiten: „keine Besonderheiten“ „physisch unsicher/wohnungslos“ – hier müsste eine
Fachkraft schon sehr gut begründen, wenn sie die in der Fallgeschichte geschilderte
Situation als physisch unsicher kategorisiert.
Der Grund für die Diskrepanz ist einfach zu erklären: Der Hygienezustand ist aus Fach-
kräftesicht ein sehr wichtiges Kriterium, um daraus eine Hilfe für die Familie abzuleiten,
z.B. in Form eines Haushaltsorganisationtrainings. Er ist aber kein guter statistischer
Prädiktor für Vernachlässigung, d.h. er zeigt sich in Studien zur Kindesvernachlässigung
als weniger relevant als andere, um Risikogruppen zu bilden.
Statistische Kriterien geben demnach selten Auskunft über die ursächlichen
Problemstrukturen, weshalb sich keine gehaltvollen Lösungsansätze aus ihnen
ableiten lassen. Ihre Relevanz ergibt sich nicht anhand inhaltlicher, das heißt
für eine Intervention relevanter, sondern nur anhand probabilistischer Kriterien.
Auch wenn einige Items aus den statistischen Bögen relativ einfach zu beantworten
sind, z.B. die Anzahl der vorangegangenen Meldungen oder das Alter des Kindes, wer-
den doch für andere Fragen (z.B. „Bezugsperson gewährleistet körperliche Pflege, die
den kindlichen Bedürfnissen entspricht“ oder „Eine der Bezugspersonen wendet exzes-
sive oder unangemessene Strafen an“) gute diagnostische Fähigkeiten der Fachkräfte be-
nötigt. Wie auch bei statistischen Verfahren menschliches und mechanisches Urteilen
miteinander verwoben werden, lässt sich in ethnografischen Studien zeigen (Bastian
2017). Wer also auf „objektive“ im Sinne statistisch abgesicherter Befunde setzt, muss
hier eine Schwäche solcher Verfahren ausmachen: der menschliche Faktor. Wie könnte
sich der aber wegrationalisieren lassen?
Wenn der Faktor Mensch komplett wegfällt: Big Data Analytics
Durch Aufkommen der neuen Technologie des Big Data Analytics tritt zu den bisher eta-
blierten Verfahren ein neues hinzu, in dem, wie auch bei der aktuarialistischen Urteils-
bildung, die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Verletzung des Kindeswohls durch
eine Formel berechnet wird. Allerding müssen dazu keine aufwendigen empirischen
Studien mehr durchgeführt werden, denn in der mustererkennenden (Big Data-)Vari-
ante können sehr viel umfangreicher Daten aus sehr unterschiedlichen Datenquellen
genutzt werden. Darunter fallen sämtliche Daten, die von Fachkräften erhoben werden,
die mit dem Schutz von Kindern betraut sind, also von Sozialarbeiter/innen, Lehrer/in-
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Risikodiagnostik durch „Big Data Analytics“ im Kinderschutz
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nen, Ärzt/innen, Erzieher/innen und Hebammen. Neben klassischen Daten aus Akten,
wie medizinische oder therapeutische Daten, können auch die öffentlich zugänglichen
Aktivitäten der Eltern und Kinder in sozialen Netzwerken einen dynamisch anwachsen-
den Datenpool abgeben.
Big Data Analytics kann diesen Datenpool nutzen, um ihn nach Mustern zu
durchforschen, die Hinweise auf Kindeswohlgefährdung geben, und ist damit
eben nicht mehr von der Interpretationsleistungen der Fachkräfte abhängig. Die
riesigen, dynamisch anwachsenden Datenmengen können stetig und automati-
siert durchforstet werden, um immer bessere Prognosemodelle zu generieren,
indem die Programme aus eigenen Fehlern lernen (Zielesny 2016).
Wir kennen diese Verfahren bereits aus der Privatwirtschaft, um die Ergebnisse von
Suchmaschinenanfragen zu optimieren, individualisierte Werbung in sozialen Medien
einzuspielen, Versicherungsbetrug aufzudecken und Spam-Mails herauszufiltern. Rein
technisch spricht nichts dagegen, diese auch für soziale Zwecke einzusetzen und in
einigen wenigen Beispielen wird dies auch bereits gemacht. Es werden dort bestehen-
de Datenbanken der öffentlichen Verwaltung zusammengeführt und einheitliche Per-
sonenidentifikationsnummern eingeführt. So wird in den USA erprobt, Datenbanken
der Schulbehörden und der Jugendämter zusammenzuführen (La Valle u.a. 2016) und
in England wird versucht, umfassende Datenbanken zusammenzuführen, die die Inob-
hutnahme von Kindern dokumentieren (Broadhurst u.a. 2015). Am weitesten ausgereift
ist zurzeit das an der Universität von Auckland in Neuseeland entwickelte predictive
risk model (PRM). Das PRM wurde anhand der Daten von 57.986 Kindern aus einem
großen Pool an öffentlichen Wohlfahrts- und Kinderschutzdienst-Daten erstellt. Die
Modellierung basiert auf 132 Variablen, die je nach Verfügbarkeit und bekannten Ri-
sikofaktoren ausgewählt wurden. Vor allem in den oberen beiden Dezilen zeigte sich
das Modell als besonders treffsicher, sodass in Neuseeland bereits ein Praxisprojekt zur
Nutzung des lernenden Algorithmus in Planung ist (Gillingham 2016).
Diskussion: Ist ein Kinderschutz ohne Risikoerfassung möglich?
Die standardisierte Berechnung der Kindeswohlgefährdung wird in der internationalen
disziplinären Fachdebatte als Deprofessionalisierung gesehen. Exemplarisch steht da-
für die Einschätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren e.V., die
verlautbart:
„Die Nutzung der Bögen stellt ein Qualitätsrisiko in der Gefährdungseinschät-
zung dar und begünstigt Fachfehler, 1. wenn die Gestaltung der Bögen a) Ob-
jektivität und Sicherheit suggerieren, b) aus sich heraus zu einem verbindli-
chen Ergebnis führen (Punkte-, Ampelsystem) und damit dazu verführt, dass
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der Bogen und nicht mehr der Mensch entscheidet (im Extrem im Sinne einer
PC-Software-gebundenen Auswertung)“ (Die Kinderschutz-Zentren 2011, 3).
Dennoch zeigt eine fast unübersichtliche Anzahl an Studien und Meta-Analysen, dass
statistische Verfahren weitaus treffsicherer das Risiko von Kindesvernachlässigung und
-misshandlung einschätzen als alle diskursiven oder interpretativen Verfahren (z.B. John-
son 2011; Baird/Wagner 2000, Johnson u.a. 2015; Meta-Analyse: van der Put u.a. 2017).
Wenn wir davon ausgehen, dass das Risiko zukünftiger Ereignisse, wie etwa
einer Kindesmisshandlung, treffsicher und auch sinnvoll nur durch statistische
Verfahren prognostiziert werden kann (Bastian/Schrödter 2015), wäre Big Data
Analytics folglich die beste Wahl, um den gesetzlichen Auftrag zu erfüllen.
Man müsste also entweder zu „Befürworter_innen evidenzbasierten und/oder standar-
disierten Vorgehens, die effizienz- und effektivitätsgesteuerten Rationalisierungsstra-
tegien folgen“ (Marks u.a. 2018, 13) werden, oder sich ernsthaft mit der Frage aus-
einandersetzen, ob ein Kinderschutz ohne Risikoorientierung möglich ist. Denn nur
durch ein solches radikales Neu-Denken von Kinderschutz lässt sich tatsächlich die
Notwendigkeit einer probabilistischen Modellierung, einer standardisierten Erfassung
und einer versicherungsmathematischen Analyse von Risikokonstellationen vermeiden.
Die Einführung des Risikobegriffs im § 8a SGB VIII ist nur ein Symptom einer größe-
ren internationalen Transformation, die häufig als Risiko- oder Sicherheitsorientierung
diskutiert wird (Dollinger 2014). Im Zuge sozialstaatlicher Transformierungsprozesse
und aktivierungspolitischer Regierungsweisen gewinnen Präventions- und staatliche
Kontrollbestrebungen immer mehr an Bedeutung, die sich durch eine stärkere Adres-
sat/innen-Responsibilisierung (Oelkers 2009) und durch die Individualisierung sozialer
Probleme auszeichnet. Die damit verbundene Idee, Risiken messbar zu machen und
vor allem Schädigungen des Kindeswohls frühzeitig zu bearbeiten, hat Auswirkungen
auf die gesamte Kinder- und Jugendhilfe, die sich laut Dahmen/Kläsener zunehmend
zu einer „Kindeswohlgefährdungsvermeidungsstrategie“ (2019, 199) entwickelt. Dies
wirkt sich auch natürlich auch auf das Handeln der Fachkräfte im Kinderschutz aus
(Freres u.a. 2019; Bastian u.a. 2017).
Um diesen Entwicklungen etwas entgegenzusetzen, müsste man über grund-
legende Reformen des Kinder- und Jugendhilfesystems und vor allem über die
Vergabepraxis von Erziehungshilfen nachdenken. Denn nur, wenn die Struk-
turen in den Kommunen eine größtmögliche Teilhabe aller Eltern ermöglichen
und Hilfen weitgehend entstigmatisiert werden, kann einer Riskoorientierung
sinnvoll begegnet werden.
Wie kann also die Idee einer größtmöglichen Teilhabe von Kindern, Jugendlichen und
ihren Familien verwirklicht werden? Aus unserer Sicht wäre eine gute Möglichkeit, in
eine Debatte über eine „bedingungslose Jugendhilfe“ einzutreten. Der Grundgedan-
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Risikodiagnostik durch „Big Data Analytics“ im Kinderschutz
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ke ist banal: Jugendhilfe sollte dann als bedingungslos bezeichnet werden, wenn alle
Familien auf ihre Leistungen zurückgreifen können, unabhängig davon, ob sie ein psy-
chosoziales Defizit geltend machen oder nicht. Diese Idee ist nicht besonders radikal
mit Blick auf weite Teile des SGB VIII, etwa in der Jugendarbeit oder faktisch auch in der
Erziehungsberatung. Die fundamentale Erweiterung besteht allerdings darin, dass dies
für alle anderen erzieherischen Hilfen auch gelten sollte.
Die bislang nötige Bedarfsprüfung bei der Gewährung erzieherischer Hilfen kann als
entwürdigend und ungerecht bezeichnet werden und sie widerspricht einem breit ver-
standen Inklusionsgedanken. So bedeutet Inklusion die grundsätzliche Anerkennung
von menschlicher Vielfalt und Differenz in allen gesellschaftlichen Bereichen sowie die
Teilhabe aller Menschen an gesellschaftlichen Regelsystemen (Oehme/Schröer 2014).
Teilhabe oder Hilfe soll gerade nicht durch Allokation und Selektion von Menschen
über individuelle Merkmale erfolgen, sondern durch eine Veränderung und Anpassung
der Institutionen und Strukturen an die Bedarfe der Menschen. Die Bedarfsprüfung bei
der Gewährung erzieherischer Hilfen scheint aber Familien auf eine Weise zu katego-
risieren, die sie doppelt exkludiert: Sie werden zum einen durch die Defizitdiagnose
stigmatisiert und als gesonderte Gruppe dem Hilfesystem überantwortet. Zum anderen
werden Familien, bei denen kein Hilfebedarf diagnostiziert wurde, vom Anspruch einer
erzieherischen Hilfe ausgeschlossen.
Fazit
Abschließend lässt sich festhalten: Wer gegen eine statistische oder mustererkennende
Einschätzung von Risiken im Kinderschutz ist, kann sinnvollerweise nicht für eine in-
terpretative oder dialogische Form des Risikoassessment plädieren. Stattdessen müssen
die dahinterliegenden systemimmanenten gesetzlichen Grundlagen, die politischen
Diskurse, sozialpolitischen Präventionslogiken und neoliberalen Wohlfahrtstransforma-
tionen kritisch durchleuchtet werden. Anschließend muss über tiefgehende strukturelle
Veränderungen dieser Kontextbedingungen des Kinderschutzhandelns fachlich disku-
tiert werden, um zu einem neuen System zu kommen, welches vielleicht ein bisschen
mehr auf Hilfe und ein bisschen weniger auf (präventiven) Schutz setzt – etwa in Form
einer „bedingungslosen Jugendhilfe“ (Schrödter/Freres 2019).
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... Im Fachdiskurs wird nach wie vor problematisiert, dass eine statistische Vorhersage im Einzelfall dennoch falsch sein kann und daher die Bedeutung der individuellen Erfahrung der Fachkräfte hervorgehoben (M. Schrödter et al., 2020). Der tatsächliche Einsatz von KI in diesem Feld wird in Deutschland bisher vor allem theortisch diskutiert. ...
... In Neuseeland wurden bereits 2016 vielfältige öffentliche Datenquellen verknüpft und damirt ein Risikomodell mit 132 verschiedenen Variablen trainiert (M. Schrödter et al., 2020). Zwar sind diese internationalen Anwendungen in Ländern entstanden, die ein anderes Verständnis vom Schutz der personenbezogenen Daten aufweisen (Bellman et al., 2004), dennoch ist davon auszugehen, dass auch in Deutschland entsprechende Techologien angeboten werden. ...
Chapter
Wie kann das Aufwachsen von Kindern möglichst gut geschützt werden? Wann und wie muss der Sozialstaat eingreifen, wenn Eltern mit der Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder überlastet sind oder dieser Aufgabe aus anderen Gründen nicht gerecht werden können und damit das Kindeswohl gefährdet ist? Wie können kind- und elterngerechte Entscheidungen für bestimmte Maß-nahmen, beispielsweise der ambulanten Unterstützung oder der zeitweiligen oder überdauernden Herausnahme aus der Familie, getroffen und legitimiert werden? Sind technische, algorithmengestützte Hilfsmittel geeignet, um der hohen Verantwortung in der Einschätzung und Entscheidungsfindung in Fragen des Kindeswohls besser gerecht zu werden? Diese Fragen machen deutlich, dass Kinderschutz als besonders prominentes Beispiel aus dem Kontext Sozialer Arbeit für den vorliegenden Sammelband zu Technik und Verantwortung gelten kann.
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Der Beitrag stellt Befunde des Projekts „Wissenschaftliche Unterstützung professioneller Handlungsfelder im Umgang mit Kindeswohlgefährdung und beim Aufbau tragfähiger Kooperationsstrukturen im Kinderschutz“ vor. Die Fallstudien zu Kinderschutzpraxen verdeutlichen einen wenig partizipativen Umgang mit Familien, tendenziell selbstbegrenzende Praktiken in Kooperationen mit anderen Berufsgruppen sowie eine Bevorzugung von vermeintlich objektivierbaren, standardisierten Daten. access to a view-only version: https://rdcu.be/KVV9
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Zusammenfassung „Risiko“ ist eine historisch vergleichsweise junge Denkform, die die moderne Sozialpolitik mitkonstituiert hat und in der Sozialen Arbeit zunehmend anzukommen scheint. Am Beispiel zweier ethnographischer Studien zur deutschen resp. US-amerikanischen Kinderschutzpraxis wird danach gefragt, welchen Stellenwert die „Risikoorientierung“ in der konkreten Handlungspraxis von Sozialarbeiter*innen hat. Es zeigt sich, dass in beiden Kontexten die Risikoorientierung präsent ist, für die Entscheidungsfindung in Kinderschutzfällen aber unterschiedlich relevant wird. In der deutschen Kinderschutzpraxis sprechen Fachkräfte zwar von der gesetzlich geforderten Risikoeinschätzung, nehmen jedoch faktisch meist eine Perspektive ein, die im US-amerikanischen Kontext als Sicherheitsorientierung bezeichnet wird, so dass die Risikokategorie teilweise umgedeutet, ersetzt oder überlagert wird. In der US-amerikanischen Praxis wird dagegen mit einer scharfen Unterscheidung zwischen Risiko- und Sicherheitseinschätzung operiert, wobei die Risikoorientierung einen deutlich geringeren Stellenwert einnimmt als bislang in der Fachdebatte angenommen. Die hier eingeschlagene praxeologische Perspektive auf professionelle Urteilsbildung bringt somit zutage, wie Fachkräfte selbst unter den Bedingungen der standardisierenden Denkform „Risiko“ Spielräume professioneller Urteilsbildung aufrechterhalten.
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This article focuses on the challenges of decision-making in child protection. Comparative studies show that standardized risk assessment tools predict future maltreatment more accurately than interpretative assessment. Despite a long tradition of research on statistical decision-making, few studies deal with how such instruments are used and integrated into professional decision- making practice, and – from a transnational perspective – how speci c national regulations in uence such instruments and decision-making at street level. The article discusses concerns about the fact that such classi cation systems might have a negative impact on professional discretion. Based on a materialist approach, it highlights the actual practice of professional decision-making under the conditions of the application of actuarial tools. Using data from an ethnographical study, a practice of negotiation can be shown between the social workers and the assessment tools. The idea is discussed that this negotiation practice can be interpreted neither as manipulation of the tools nor principally as a decline in discretion. The main argument developed in this article is that a highly standardized practice can activate reconstructive processes and can even lead to greater discretionary powers. This thesis is discussed on a professional and an organizational level. The article concludes with a discussion of evidence-based social work as a traveling concept between nations.
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Recent developments in digital technology have facilitated the recording and retrieval of administrative data from multiple sources about children and their families. Combined with new ways to mine such data using algorithms which can ‘learn’, it has been claimed that it is possible to develop tools that can predict which individual children within a population are most likely to be maltreated. The proposed benefit is that interventions can then be targeted to the most vulnerable children and their families to prevent maltreatment from occurring. As expertise in predictive modelling increases, the approach may also be applied in other areas of social work to predict and prevent adverse outcomes for vulnerable service users. In this article, a glimpse inside the ‘black box’ of predictive tools is provided to demonstrate how their development for use in social work may not be straightforward, given the nature of the data recorded about service users and service activity. The development of predictive risk modelling (PRM) in New Zealand is focused on as an example as it may be the first such tool to be applied as part of ongoing reforms to child protection services.
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There is international concern about the population of birth mothers who experience repeat court-ordered removal of children. This article reports the findings from a population profiling study that provides the first picture of the scale of women's repeat involvement in public law proceedings in England. Based on national records from the Children and Family Court Advisory and Support Service (Cafcass) (n = 43,541 birth mothers, 2007-14), two subsets of mother, child and legal proceedings data were created. The aims of the study were to:(i) produce a descriptive profile of recurrent cases, (ii) estimate the probability and timing of recurrence and (iii) examine the relationship between maternal age and recurrence. Quantitative analysis comprised descriptive statistics for profiling purposes and methods of survival analysis to estimate probabilities. Findings indicate that the family justice system recycles a sizeable percentage of wo men (24 per cent) through repeat episodes of care proceedings, with young women aged sixteen to nineteen years most at risk of recurrence. Implications for social workers and the family courts are outlined with reference to new innovations in England.
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Risk assessment is crucial in preventing child maltreatment since it can identify high-risk cases in need of child protection intervention. Despite widespread use of risk assessment instruments in child welfare, it is unknown how well these instruments predict maltreatment and what instrument characteristics are associated with higher levels of predictive validity. Therefore, a multilevel meta-analysis was conducted to examine the predictive accuracy of (characteristics of) risk assessment instruments. A literature search yielded 30 independent studies (N=87,329) examining the predictive validity of 27 different risk assessment instruments. From these studies, 67 effect sizes could be extracted. Overall, a medium significant effect was found (AUC=0.681), indicating a moderate predictive accuracy. Moderator analyses revealed that onset of maltreatment can be better predicted than recurrence of maltreatment, which is a promising finding for early detection and prevention of child maltreatment. In addition, actuarial instruments were found to outperform clinical instruments. To bring risk and needs assessment in child welfare to a higher level, actuarial instruments should be further developed and strengthened by distinguishing risk assessment from needs assessment and by integrating risk assessment with case management.
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(1) Identify validation design and accuracy assessment standards for medical prognostic models applicable to evaluation of child abuse/neglect (CA/N) risk assessment models. (2) Assess the accuracy of the California Family Risk Assessment (CFRA) in predicting CA/N using the foregoing standards. (3) Compare the prediction accuracy of the CFRA with the prediction accuracy of coronary heart disease (CHD) prediction models.
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Analysis of the validity and implementation of a child maltreatment actuarial risk assessment model, the California Family Risk Assessment (CFRA). QUESTIONS ADDRESSED: (1) Is there evidence of the validity of the CFRA under field operating conditions? (2) Do actuarial risk assessment results influence child welfare workers' service delivery decisions? (3) How frequently are CFRA risk scores overridden by child welfare workers? (4) Is there any difference in the predictive validity of CFRA risk assessments and clinical risk assessments by child welfare workers? The study analyzes 7,685 child abuse/neglect reports originating in 5 California counties followed prospectively for 2 years to identify further substantiated child abuse/neglect. Measures of model calibration and discrimination were used to assess CFRA validity and compare its accuracy with the accuracy of clinical predictions made by child welfare workers. The extent of use of an override feature of the CFRA and child welfare worker reliance on CFRA risk scores for making service decisions were analyzed. Imperfect but better-than-chance predictive validity was found for the CFRA on a range of measures in a large temporal validation sample (n=6,543). For 114 cases where both CFRA risk assessments and child welfare worker clinical risk assessments were available, the CFRA exhibited evidence of imperfect but better-than-chance predictive validity, while child welfare worker risk assessments were found to be invalid. Child welfare workers overrode CFRA risk assessments in only 114 (1.5%) of 7,685 cases and provided in-home services in statistically significantly larger proportions of higher- versus lower-risk cases, consistent with heavy reliance on the CFRA. CONCLUSIONS/PRACTICE IMPLICATIONS: Until research identifies actuarial models exhibiting superior predictive validity when applied in every-day practice, the CFRA is, and will be a valuable tool for assessing risk in order to make in-home service-provision decisions.
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ARCHIV für Wissenschaft und Praxis der sozialen Arbeit 2/2019