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Norris, Pippa, und Ronald Inglehart (2019): Cultural Backlash. Trump, Brexit, and Authoritarian Populism: Cambridge: Cambridge University Press. 564 Seiten. £ 22.99

Authors:
REZENSION VERGLEICH POLITISCHER SYSTEME
https://doi.org/10.1007/s11615-020-00246-2
Polit Vierteljahresschr (2020) 61:389–391
Norris, Pippa, und Ronald Inglehart (2019): Cultural
Backlash. Trump, Brexit, and Authoritarian Populism
Cambridge: Cambridge University Press. 564 Seiten. £ 22.99
Christian Stecker
Online publiziert: 23. April 2020
© Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft 2020
Seit den für viele überraschenden Erfolgen von populistischen Politikern (wie Do-
nald Trump) und Politiken (wie dem Brexit) hat die Suche nach politikwissenschaft-
lichen Erklärungen Hochkonjunktur. Woher kommt die Freude an populistischen
„Lösungen“ und Persönlichkeiten und wie lassen sich zumindest die demokratie-
gefährdenden Elemente dieser Entwicklung zurückdrehen? In dieser Debatte haben
sich zwei herausragende Vertreter der Disziplin, Pippa Norris und Ronald Inglehart,
klar positioniert. Kulturelle Triebkräfte so verraten sie schon im Titel sehen sie
hinter den jüngeren Entwicklungen und dies soll auf 540 Seiten auch bestätigt wer-
den.
Das Buch gliedert sich in vier größere Teile. In der „introduction“ wird zu-
nächst die Theorie des „cultural backlash“ entwickelt, die auf den prominenten
früheren Arbeiten Ingleharts fußt. Da sie in zunehmender materieller Sicherheit auf-
wachsen, adaptieren die Nachkommen der Kriegsgeneration demnach kontinuierlich
progressivere Werte als ihre Eltern (z.B. befürworten sie Umweltschutz, sexuelle
Selbstbestimmung und Geschlechtergleichheit). Diese schleichende, aber weitrei-
chende „stille Revolution“ bleibt jedoch nicht unwidersprochen. Vor allem abseits
der städtischen Zentren verharren viele Menschen (mit tendenziell niedrigeren Bil-
dungsabschlüssen) weiterhin in einem konservativen Wertegerüst und akzentuieren
Sicherheit, Konformität und Folgebereitschaft. Sie sehen diese Werte jedoch atembe-
raubend schnell verfallen. Durch Einwanderung beförderte kulturelle und ethnische
Vielfalt überfordert sie weiter und ökonomische Kümmernisse wirken als Katalysa-
tor ihrer kulturellen Rückbesinnung. Die Konfrontation zwischen Progressiven und
Konservativen kann schließlich einen „tipping point“ erreichen, an dem letztere zur
C. Stecker ()
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Universität Mannheim, Mannheim,
Deutschland
E-Mail: christian.stecker@mzes.uni-mannheim.de
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leichten Beute für die Ansprache autoritärer Populisten werden. Diese komplexen
Entwicklungen skizziert das Buch anhand von Daten des World Value Surveys und
des European Social Surveys (ESS) für die USA und Europa.
Zu dieser Nachfrage muss sich nun nur noch ein passendes politisches Angebot
gesellen, das Norris und Inglehart im autoritären Populismus erkennen. Ihre Po-
pulismusdefinition ist ähnlich (aber nicht identisch) zu Cas Muddes prominentem
Konzept der „thin-centered ideology“: Populismus sei vor allem ein rhetorischer Stil
und Populisten spielten ein vermeintlich homogenes, moralisch reines Volk gegen
eine verkommene Elite aus. Beimengungen autoritärer Grundeinstellungen begrün-
den schließlich einen „cult of fear“ (S. 7), aus dem heraus Ressentiments gegen das
politische Establishment und ethnisch bzw. kulturell definierte Outgroups gerichtet
werden. Der dritte Teil beleuchtet, wie sich (teils) autoritär-populistische Werte auf
individueller Ebene in die Wahl autoritär-populistischer Parteien übersetzen. Dazu
wird zunächst auch die Angebotsseite umfangreich vermessen. Auf Basis von Items
des Chapel Hill Expert Survey werden dazu 268 Parteien aus 31 Ländern auf drei
abstrakten politischen Dimensionen verortet (autoritär-liberal, populistisch-pluralis-
tisch und links-rechts). Dabei plädiert das Buch dafür, dichotome Konzepte durch
kontinuierliche zu ersetzen eine Partei kann demnach mehr oder weniger popu-
listisch bzw. pluralistisch sein. Auf Basis verschiedener Regressionsmodelle wird
sodann argumentiert, dass generationelle Unterschiede (vermittels des Wertewan-
dels) eine wichtige Teilerklärung für Wahlbeteiligung und Neigung zu autoritären
bzw. populistischen Politikangeboten liefern. Im Kern zeigt sich, dass autoritäre Po-
litikangebote vor allem vom mittlerweile auch hierzulande sprichwörtlichen alten
weißen, geringer gebildeten, religiösen Mann vom Lande gewählt werden.
Schließlich wird auch der institutionelle Einfluss des Wahlsystems berücksich-
tigt und Norris und Inglehart zeigen, wie Disproportionalität die elektorale Fortune
verschiedener autoritär-populistischer Bewegungen (z.B. FPÖ in Österreich, PVV
in den Niederlanden oder UKIP im Vereinigten Königreich) beeinflusst (allerdings
wirkt dieser Teil etwas bemüht aus Norris früheren Arbeiten in den Band hinein-
bugsiert). Abschließend folgen Fallstudien zu Trumps Amerika und Großbritanniens
Brexit, wobei hier neben der bekannten quantitativen Perspektive auf generationell
vermittelten Wertewandel auch interessante qualitative Empirie zu Wort kommt.
Norris und Inglehart haben ein konzeptionell und empirisch sehr reichhaltiges
Buch vorgelegt. Darin finden auch diejenigen interessante Ideen und Zusammen-
fassungen, die sich abseits der Populismusliteratur allgemeiner mit der Einordnung
von Parteien oder der Theorie des Wertewandels beschäftigen wollen. Der Umfang
der bearbeiteten Daten ist zweifellos beeindruckend und dokumentiert den funda-
mentalen Wandel der Wählermärkte und Parteiensysteme in Europa.
Mit der klaren Vorfestlegung auf den „cultural backlash“ als zentrale Erklärung
des autoritären Populismus fügt sich das Buch aber m.E. in einen unnötigen und
auch unfruchtbaren Streit eigentlich komplementärer ökonomischer und kultureller
Erklärungen. Die Verengung auf das Kulturelle macht zwar eine verlockend einfache
Theorie, aber eben noch keine überzeugende Erklärung. Zuletzt hat Philip Manow
etwas überspitzt überzeugend dargelegt, dass populistische Reflexe (auch) von (zu
befürchtenden) ökonomischen Entbehrungen angetrieben sind.
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Zudem steht die klare Festlegung auf Kultur auch in der eigenen Empirie auf
wackligen Beinen. Bereits bei der Messung der zentralen Konzepte werden teils arg
entfernte Proxies verwendet. So werden Parteien im empirischen Modell populisti-
scher, je wichtiger ihnen Antikorruptionspolitik ist und aus ESS-Items zu politischem
Vertrauen in Parlamente, Parteien und Politiker werden Indikatoren für populistische
Orientierungen („critical democrats“ können jedoch geringes Vertrauen in die Politik
haben ohne gleichzeitig antipluralistischen Ideen anzuhängen). Norris und Inglehart
ist zugutezuhalten, dass die verfügbaren Surveys keine besseren Items bereithalten,
da sie vor Trump, Brexit und AfD eben noch nicht für den (autoritären) Populismus
geeicht waren. Auch gehen sie sehr transparent mit diesen Limitationen um.
Die in der gesamten Empirie betonte Unterteilung in vier Generationen anhand
des Geburtsjahrs (1900–1945, 1946–1964, 1965–1979 und 1980–1996) kommt sehr
grob daher und hat, wenig überraschend, auch gar keine große Erklärungskraft.
Werden in den Regressionsmodellen zum Wahlverhalten zusätzliche Variablen auf
individueller Ebene aufgenommen (z.B. Bildung, Geschlecht, Religion, Klasse),
schmelzen die Generationeneffekte zusammen. Teils werden sie trotz der riesigen
gepoolten ESS-Samples sogar insignifikant. Die oft über zwei Seiten laufenden
Regressionstabellen sind spätestens für die leicht ablenkbare Generation der Mill-
ennials ohnehin schwer verdaulich. Visualisierungen der zentralen substanziellen
Effekte hätten hier den Zugang vereinfacht.
Für kulturelle Erklärungen des Rechtspopulismus wird das Buch sicher zu einer
Standardreferenz. Auf ein ähnlich opulentes Werk zum komplizierten Verhältnis
von Kultur und Ökonomie in der Erklärung populistischer bzw. autoritärer Reflexe
müssen wir aber weiter warten.
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... These debates primarily focus on socioeconomic inequalities that have significantly increased in many European countries over the past decades. They also increasingly touch on culturally driven conflicts surrounding issues such as migration and refugees, European integration, climate change, and questions of diversity and identity related to gender, ethnicity, race, and religion (Norris & Inglehart, 2019). Given the broad range of indicators and measures, the SCP allows for a comprehensive analysis of attitudinal and affective polarization and socioeconomic cleavages. ...
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Full-text available
The German Social Cohesion Panel (SCP) is a probability-based self-administered longitudinal study in a mixed-mode design (PAPI and CAWI) that is jointly carried out by the Research Institute Social Cohesion (RISC) and the German Socio-Economic Panel (SOEP). The aim of the study is to capture the diversity of social cohesion in Germany from multiple perspectives, particularly regarding the extent to which social cohesion changes over time. The annual surveys, which were implemented for the first time in 2021, are based on a representative sample drawn from German population registers. The SCP covers aspects of social inequality, social conflict and social cohesion; its first wave contains information of more than 17,000 individuals, while almost 8,000 persons participated in its third wave. This data brief provides information about the content and panel history of the first three waves of the SCP.
Article
Purpose. The purpose of the research is to develop a cognitive model of the behaviour of the social and economic system, which explains the causal mechanism between the development of the financial and public sectors using the concept of trust. Methodology of research. The research utilized general scientific methods, including dialectical analysis and synthesis, to determine the main variables of the model. The fuzzy Delphi method was employed to transform linguistic variables and determine the weight of each variable. FCM analysis facilitated the translation of the complex model's graphical representation into a mathematical form of the adjacency matrix, enabling algebraic calculations to identify various structural characteristics of the built model of multi-channel intersectoral transfer of behavioural attractors for macroeconomic stability of the country in the Mental Modeler software. Findings. The study identified 21st concepts related to the functioning of the financial and public sectors of the economy, enabling the construction of a cognitive map illustrating the cause-and-effect relationships between financial and public sectors within the context of trust among social and economic and behavioural variables. The research found that government policies, central bank policies, and exchange rate stability have the greatest impact on macroeconomic stability. On the other hand, concepts such as financial literacy, positive previous experience, saving time spent on service provision, and service failure are easily manageable but do not have a significant impact on macroeconomic stability. Trust in the financial sector and the government were proven to be key variables in ensuring macroeconomic stability, but also extremely difficult to manage. Originality. The study proposes a simulation model of the multi-channel intersectoral transfer of behavioural attractors for the macroeconomic stability of a country, considering the simultaneous influence of trust in the government and trust in the financial sector. Practical value. Weighty concepts based on research results can be useful for domestic scenarios of ensuring financial and macroeconomic stability in the country. Also, the results are of scientific value for further research and exploration. Key words: trust in the financial sector, trust in the government, macroeconomic stability, financial stability, simulation modelling, Delphi method, Mental Modeler
Article
Populism is a fairly young concept. It does not have a single definition, neither does it have a single ideology. Populists can operate in a wide spectrum — from the extreme left to the extreme right. They gain popularity by focusing on issues important to large groups of the population that are avoided by the political elite. In Europe it is immigration issue, in the USA it is the loss of jobs in industry; in Ukraine it is low income, unequal opportunities, unfair distribution of wealth, and corruption. Recently, there has been growing support for populist parties and politicians. Populists, in particular, support traditional social values, nationalism, and oppose immigration. Populists can influence politics, for example, the populist United Kingdom Independence Party initiated a referendum in June 2016 on the UK's membership in the European Union, which resulted in the victory of the supporters of Brexit - the exit of the UK. As Professor Inglehart notes, populism is spreading as a response to the transformation of values, populism expresses a "rollback" from post-materialist values. Populist politicians are unsuccessfully trying to find a solution to the new challenges that have arisen as a result of globalization and the formation of an artificial intelligence society. Thus, Donald Trump's proposals are predominantly xenophobic and authoritarian in nature. Another American politician, Bernard Sanders, notes the solution to the acute problem of economic inequality, but the reforms he proposes are ineffective. In this article, the author try to understand what this phenomenon is, what forms and drivers it has, and most importantly, how populism is measured in Europe and what examples of measurement there are in Ukraine. The results of a study in Ukraine presented in the article make it possible to identify trends of populism growth and find ways to oppose it.
Article
Понятия социальных размежеваний/кливажей, идейно-политических противостояний, социокультурных расколов, утвердившиеся в политической науке, характеризуют системные элементы эволюционных трансформаций современных обществ. При этом имеющийся категориальный аппарат не вполне адекватен исследовательским задачам, возникающим ввиду многозначности и динамизма прогрессирующих разделений, а содержательное наполнение описывающих их концептов зачастую остается непроясненным. На основании обзора теоретико-методологических подходов к анализу разделенных обществ как предметной социальной реальности и как категории политической науки авторы выделяют три ключевых ракурса их исследования: а) с точки зрения классической теории социальных кливажей и их политических проекций; б) с акцентом на осмысление практик политизации новых социальных размежеваний и потенциала их превращения в ресурс конкурентной борьбы политических проектов и в) с позиций анализа политических противостояний как фактора общественного развития. Обоснована потребность сопряжения выделенных подходов применительно к прогнозированию траекторий и альтернатив современного политического развития. Верифицируемыми характеристиками разделенного общества авторы считают не только растущее экономическое, социальное, культурное неравенство и конфликтную политическую конкуренцию, но также масштабы и остроту публичной дискуссии вокруг проблем культурной и социально-политической поляризации. В статье предложена типология социальных размежеваний, имеющих политическое измерение в рамках территориально локализованных и формирующихся экстратерриториальных сообществ. По итогам анализа политических дискурсов и практик разработана когнитивная карта соответствующего исследовательского поля. Дисфункции модели национально-территориального государства, проявляющиеся в условиях кризисного и посткризисного мироустройства на фоне растущего разнообразия форм институционализации политических противостояний, дают основания к постановке вопроса о пределах и условиях применимости концептов, сложившихся в ходе анализа социальных реалий западноевропейского модерна. Предлагается глубокий пересмотр подходов к оценке современной социальной динамики, в частности, на основе представленной авторами расширительной трактовки концепта разделенных обществ как категории политического анализа.
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