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Abstract

The Reproduction Number in the Classical Epidemiological Model The Robert Koch Institute has the goal of „protecting the population from disease and improving their state of health“. To this end, it develops research-based concrete recommendations for policy and makes data available to the expert public. Since the 3 of April 2020, it has been publishing daily the numbers of corona infections reported by the health authorities, since the 9th of April 2020 also the number of deaths from this infection and since 25th of April 2020 the estimated number of convalescents. The reproduction figures reported since April the 7th have largely superseded all other criteria by which the public is guided. This article shows that the calculation of this figure is neither theory-based nor particularly reliable. Nevertheless, there is a simple way to determine its change more or less conservatively and accurately.
1
Georg Quaas
Die Reproduktionszahl im klassischen epidemiologischen Modell
Das Robert Koch-Institut hat das Ziel, „die Bevölkerung vor Krankheiten zu schützen und
ihren Gesundheitszustand zu verbessern.“ (RKI 2017) Dazu erarbeitet es forschungsgestützte
konkrete Empfehlungen für die Politik und stellt der Fachöffentlichkeit Daten zur Verfügung.
Seit dem 4. März 2020 publiziert es täglich die Zahlen der von den Gesundheitsämtern ge-
meldeten Corona-Infektionen, seit dem 9. März auch die Zahl der an dieser Infektion Ver-
storbenen und seit dem 25. März die geschätzte Zahl der Genesenen. Die seit dem 7. April
berichtete Reproduktionszahl hat inzwischen alle anderen Kriterien, an denen sich die Öf-
fentlichkeit orientiert, weitgehend verdrängt. In diesem Beitrag wird gezeigt, dass die Be-
rechnung dieser Zahl weder theoriegestützt noch besonders verlässlich ist. Dabei gibt es eine
einfache Möglichkeit, ihre Veränderung mehr oder weniger konservativ und exakt zu be-
stimmen.
Der theoretische Rahmen
Das klassische epidemiologische Modell (CEM) ist im Vergleich zu den ökonometrischen Mo-
dellen mittlerer Größenordnung, die zur Prognostik und Simulation wirtschaftspolitischer
Maßnahmen verwendet werden, recht übersichtlich, plausibel in seinen Annahmen und
auch in Teilen verwendbar. Auf der Basis täglicher Daten ist es durch folgende Gleichungen
charakterisiert (Hethcote 2000: 604):
(1)
S IS N
(2)
I IS N R
(3)
R I
und
sind empirisch zu bestimmende Parameter, N ist die Bevölkerungszahl, S die Zahl
der für eine Infektion Empfänglichen (zu Beginn der Krankheit und ohne Information über
die Anzahl der immunen Menschen in der Population wird sie gleich N gesetzt); I die Zahl der
Infizierten und Ansteckenden (mit dem Anfangswert null oder nahe null) und R die genese-
nen Menschen, für die Immunität unterstellt wird (ohne Informationen wird diese Zahl an-
fangs ebenfalls auf null gesetzt). Die exakte begriffliche Charakteristik der drei Bevölke-
rungsgruppen ist nicht ganz unwichtig, denn die „Empfänglichen“ müssen genauso wenig
„Gesunde“ sein wie die „Infizierten“ „erkrankt“ sein müssen (Donsimoni et al. 2020). Ob
dieses Modell auf COVID-19 anwendbar ist, hängt vor allem davon ab, ob die Genesenen
tatsächlich für eine Weile immun sind.
Die Logik hinter diesem Modell wird klar, wenn man die Anteile der beiden Bevölkerungs-
gruppen mit und ohne aktive Erreger an der Gesamtbevölkerung definiert:
und
s S N
. Diese Anteile können als Wahrscheinlichkeiten interpretiert werden, zufällig einen
Infektiösen bzw. einen Empfänglichen in der Bevölkerung anzutreffen. Dass sich beide Per-
sonen begegnen, hat die Wahrscheinlichkeit
i s
(Hamer 1906). Die Häufigkeit der
Ansteckungen steigt, so wird im Modell angenommen, mit dem Umfang der Bevölkerung, so
dass sich bis auf
der mittlere Term der Gleichung (2) ergibt, den wir mit
H
abkürzen:
2
(4)
2
ISN IS
isN H
N N
H kann unter praktischem Gesichtspunkt als Zahl der Möglichkeiten interpretiert werden,
sich in einer Bevölkerung vom Umfang N zu infizieren, sozusagen die abstrakte Gefähr-
dungslage. Der Parameter
spiegelt den eigentlichen Ansteckungsprozess wider, und zwar
unter dem Aspekt, wie viele Personen pro Zeiteinheit (hier: pro Tag) durchschnittlich von
einem Infektiösen angesteckt werden. Das hängt von einer Reihe von Faktoren ab, die im
Modell nicht explizit einbezogen worden sind: von der Dichte der Bevölkerung, von der An-
zahl täglicher Interaktionen, von den üblichen Verhaltensweisen (Hygiene, Hände schütteln
etc.). Ein Teil dieser Faktoren ist beeinflussbar, so dass die Politik einen Zugriff hat. Allerdings
wird die Wirkung der Einflussnahme durch den Parameter
mit einem Zeitverzug erfasst.
Im Falle von Corona ging man in den Medien anfänglich davon aus, dass jeder Infizierte wäh-
rend seiner infektiösen Phase drei weitere Personen ansteckt. Das RKI berichtet in seinem
Corona-Steckbrief eine Basisreproduktionszahl
0
R
zwischen 2 und 2,5. Erste Erfahrungsbe-
richte legen nahe, dass sich die ansteckende Phase über etwa 10 Tage erstreckt, so dass
durchschnittlich
0,3
gesetzt werden kann – so lange keine genaueren Schätzungen
vorliegen.
Es gibt eine vierte Variable, die im klassischen Modell keine explizite Rolle spielt: die Zahl der
Todesfälle D. Das Modell ist so interpretiert worden (an der Heiden, M; Buchholz U 2020:
S.1), dass die Zahl der Todesfälle in die Zahl der Genesenen einbezogen wird. Das klingt ein
wenig zynisch - aber aus statistischer Sicht ist ein anderer Aspekt wichtig: Wenn die Zahl der
Todesfälle empirisch verfügbar ist, so sollte das Modell damit ergänzt werden. Beide Zahlen,
die der Verstorbenen und die der Genesenen, reduzieren die Zahl der Infektiösen, so dass
Gleichung (2) präzisiert werden kann:
(2a)
I IS N R D
Die Zahl der Genesenen wird, sofern sie nicht bereits vom Datenproduzenten geschätzt wor-
den ist, mit Hilfe der Gleichung (3) bestimmt. Für die Todesfälle gilt unter der obigen An-
nahme:
(4)
D I
Der Parameter
misst die aktuell neu gemeldeten Todesfälle anhand der zu einem frühe-
ren Infektionszeitpunkt vorliegenden Infizierten. Todesfälle reduzieren die Zahl der Bevölke-
rung. Deshalb ist es bei einem kurzfristigen Geschehen mit eventuell hohen Opferzahlen
sinnvoll, die im Modell konstant gesetzte Bevölkerungszahl mit der Anzahl der Todesfälle zu
ergänzen und alle übrigen Variablen als zeitabhängig zu behandeln:
(5)
'
S t I t R t N D t N t
Für die Anpassung des Modells an die Empirie ist es zwingend erforderlich, Zeitverzögerun-
gen zu einzelnen Variablen entsprechend den Merkmalen der zugrunde liegenden Krankheit
hinzuzufügen. Dafür benötigt man medizinische Informationen (Schilling et al. 2020). Bei
Corona sind nicht alle Merkmale bekannt. Für die unbekannten Parameter müssen Annah-
men getroffen, um das Modell zu „füttern“. Besonders problematisch ist die durchschnittli-
3
che Dauer der Infektiosität einer infizierten Person, die sich offenbar nur schwer bestimmen
lässt. Außerdem ist zu beachten, dass die vom RKI berichtete akkumulierte Zahl der Infizier-
ten bzw. der von den Gesundheitsämtern als infiziert gemeldeten Personen nicht mit der
Zahl der Infektiösen
I t
des klassischen Modells übereinstimmt.
Messung der Kontaktintensität
Mit den obigen Gleichungen wird in der ersten Phase der Durchseuchung ein exponentielles
Wachstum modelliert: Erst steigen die Zahlen ganz langsam an, aber dann… Es wäre jedoch
ein Irrtum, durchweg ein exponentielles Wachstum zu unterstellen und damit die Neuinfek-
tionen erklären zu wollen. Je mehr sich die Wahrscheinlichkeiten verändern und die politi-
schen Maßnahmen die Kontaktrate
beeinflussen, umso mehr weicht die Entwicklung von
einem exponentiellen Wachstum ab. Letztlich entscheidend für das Umkehren der Entwick-
lung ist die Reduktion der für den Erreger Empfänglichen in der Bevölkerung durch Gene-
sung, Tod oder – Impfung. Abb. 1 zeigt den Verlauf, der nach dem CEM zu erwarten gewe-
sen wäre, wenn keine Maßnahmen ergriffen worden wären:
Modellparameter: 0, 26
; 0,026
;83,1 Mio.N
Die Anzahl der Corona-Opfer würde etwa bei 1 Mio. liegen und ist in der Abbildung am leich-
ten Rückgang der Bevölkerungskurve zu erkennen (Punkt C).
Solange kein Impfstoff zur Verfügung steht, sollte die Kontaktrate
im Mittelpunkt
pragmatischer Überlegungen stehen, denn sie spiegelt das wider, was die Politik beeinflus-
sen kann. Sie ist übrigens anhand der täglichen Neuinfektionen aufgrund der Gleichung (1)
oder (2) relativ einfach zu bestimmen – am besten als Durchschnitt, um statistische Schwan-
kungen auszugleichen. Da der Durchschnitt immer über die letzten x-Tage berechnet wird,
handelt es sich um eine konservative Schätzung, die, wenn es sich um Lockerungen handelt,
sicherlich nicht zu einem verfrühten Handeln verleitet. Geht es darum,
auf einem niedri-
gen Niveau zu halten und Änderungen möglichst früh zu erkennen, ist ein 3-Tages-Durch-
schnitt zu empfehlen, der auch recht stabile Messergebnisse liefert.
4
Anschaulicher und damit der Öffentlichkeit leichter zu vermitteln ist die „Replacement num-
ber“
R t
, die manchmal in der Literatur, aber auch vom RKI, „Reproduction number“ ge-
nannt wird. Sie stellt die Zahl der sekundären Infektionen dar, die ein typischer Infizierter
während der Dauer der Infektiosität
T
produziert (Hethcote 2000: 603 f.). Aufgrund der
Definitionen gilt:
(6)
R t t T
Prinzipiell ist an dieser Zahl problematisch, dass
T
für Corona noch nicht genau bekannt ist
und durch eine Annahme ersetzt werden muss. Doch da es im laufenden Prozess vor allem
auf die Veränderung der Kontaktrate
ankommt, ist das kein Hindernis, entweder
oder
R t
als Entscheidungsgrundlage heranzuziehen.
In Deutschland wurde der politischen Entscheidungsfindung anfangs rein pragmatisch und
orientiert an den verfügbaren Daten die Anzahl der Tage zugrunde gelegt, in der sich die
Zuwächse der Infizierten verdoppeln. Aus schwer durchschaubaren Gründen wurde die Zahl
14 favorisiert, die einen Tag vor der ersten Lockerung, nämlich am 15.04., vorlag. Zwar ist die
Kritik an dieser in hohem Maße fehleranfälligen Zahl berechtigt (Kaßmann 2020), kann alter-
nativ aber auch nicht durch rein mathematische, aus epidemiologischer Sicht a-theoretische
Methoden ersetzt werden.
Die Reproduktionszahl des RKI
Das RKI begann in ihren täglichen Lageberichten am 07.04.2020 damit, den Wert für fol-
gende Variable zu berichten:
"Die Reproduktionszahl wird aktuell auf R = 1,2 (95%-Konfidenzintervall: 0,9 - 1,6) geschätzt.
Diese Schätzung basiert auf den aktuell übermittelten COVID-19 Fällen (08.04.2020, 0:00
Uhr) und der Annahme einer mittleren Generationszeit von 4 Tagen. Lediglich Fälle mit Er-
krankungsbeginn in den 3 Tagen vor dem aktuellen Datenstand wurden nicht berücksichtigt,
da sie noch nicht in ausreichender Zahl übermittelt wurden und zu instabilen Schätzungen
führen würden." (Lagebericht vom 8. April)
Die Schätzung des RKI spiegelt einen Stand wider, der mindestens 3 Tage zurückliegt. Durch
Nachmeldungen der Gesundheitsämter sind die tatsächlichen Neuinfektionen erst nach
mindestens drei Tagen korrekt. Diese Zahlen werden auf dem vom RKI empfohlenen „Dash-
board“ berichtet. Nach einer Aggregation müssten sie mit den aktuellen Zahlen der täglichen
Lageberichte übereinstimmen, was aber nicht der Fall ist.
Auf die methodischen Grundlagen wird im Lagebericht vom 13. April verwiesen. Die Vorbe-
reitung der Daten für die Analyse beschreiben an der Heiden und Hamouda (2020: 10 ff.)
ausführlich: Mit Hilfe der durchschnittlichen Verzögerung im Meldesystem wird zunächst der
Infektionszeitpunkt jeder Infektion (z.T. völlig neu) festgelegt. Darauf aufbauend wird die
zeitabhängige Reproduktionszahl des RKI bestimmt, indem angenommen wird, dass es
durchschnittlich 4 Tage braucht, bis ein Infizierter den nächsten ansteckt
(= „Generationszeit“). In einer anderen Veröffentlichung wird die vermutliche Dauer der In-
fektiosität mit
10
T
Tagen angegeben (an der Heiden M, Buchholz 2020). Dem RKI-Steck-
brief zufolge konnte bei einigen Infizierten noch 8 Tage nach Ausbruch der Krankheit das
5
Virus nachgewiesen werden. Zusammen mit den durchschnittlich 2 Tagen eines infektiösen
Vorlaufes während der Inkubationszeit muss man also mit durchschnittlich 10 Tagen Infek-
tiosität rechnen. Auf dem Hintergrund dieser Fakten muss die Methode des RKI kritisch be-
urteilt werden, und zwar aus theoretischen und empirischen Gründen:
„Bei einer konstanten Generationszeit von 4 Tagen, ergibt sich R als Quotient der Anzahl von
Neuerkrankungen in zwei aufeinander folgenden Zeitabschnitten von jeweils 4 Tagen. Hat
sich die Anzahl der Neuerkrankungen im zweiten Zeitabschnitt erhöht, so liegt das R über 1.
Ist die Anzahl der Neuerkrankungen in beiden Zeitabschnitten gleich groß, so liegt die Re-
produktionszahl bei 1. Dies entspricht dann einem linearen Anstieg der Fallzahlen. Wenn
dagegen nur jeder zweite Fall eine weitere Person ansteckt, also R = 0,5 ist, dann halbiert
sich die Anzahl der neuen Infektionen innerhalb der Generationszeit.“ (an der Heiden und
Hamouda 2020: 13)
Die Verwendung der Generationszeit bei Nichtbeachtung der viel längeren Infektiosität in
der theoretischen Begründung der verwendeten Methode erweckt Zweifel. Konfrontation
dieser Methode mit dem CEM zeigt, dass die Zweifel berechtigt sind:
Basis der Berechnung der Reproduktionszahl sind die Zahlen der neu Infizierten bzw. als infi-
ziert Gemeldeten, die in Gleichung (2) durch
I
erfasst werden, wenn die Genesenen und
Verstorbenen außer Acht gelassen werden. Addiert man
I
in zwei aufeinanderfolgenden
Perioden von 1 bis 4 bzw. von 5 bis 8 und teilt die zweite Summe durch die erste, erhält man
die Reproduktionszahl des RKI:
(7)
8 8 8
5 5 5 5 8
1 8 1 8
4 4 4
1 4
1 1 1
,...,
i i i
i
i i i
RKI
i i i
i
i i i
I IS N H
R T R t t
I IS N H
Unter der vereinfachenden Annahme, dass sich der Term für die Häufigkeiten im fraglichen
Zeitraum nicht ändert, also gekürzt werden kann, berechnen die Autoren nicht die Repro-
duktionszahl des epistemiologischen Modells
R t
nach Gleichung (6), sondern die
multiplikativ ausgedrückte Änderung der 4-Tages-Kontaktraten. Da sich aber die Häufigkei-
ten zeitlich ähnlich stark ändern wie die Kontaktrate, überlagert dieser Effekt die Änderung
der Kontaktrate, so dass wir über diese genau genommen nichts erfahren – und dem ent-
sprechend auch nichts über die Änderung der Reproduktionszahl, die exakt die Änderung der
Kontaktrate ausdrückt (da T konstant ist).
Mathematisch gesehen ist
RKI
R
ein grobes Maß für die Krümmung der von den akkumulier-
ten Infektionszahlen gebildeten Kurve (siehe Abb. 1). Die Krümmung ist in der Anfangsphase
der Epidemie konvex („konvex“ im Sinne der Terminologie des Ökonomen), liefert also ein
1
RKI
R
, weil die jeweils folgenden Zuwächse zunehmen (der Bereich um Punkt A in Abb. 1).
An einem bestimmten Punkt, den der Mathematiker „Wendepunkt“ nennt, wird die Kurve
konkav, weil die jeweils folgenden Zuwächse kleiner sind als die vorhergehenden: Jetzt ist
1
RKI
R
(Punkt B in Abb. 1).
6
RKI
R liefert eine rein phänomenologische Charakteristik des epidemischen Verlaufs, wäh-
rend die Reproduktionszahl näher dran ist an dem Mechanismus, der den Verlauf determi-
niert. Die 4 Tage „Generationszeit“ bestimmen in der Methode des RKI lediglich die Länge
des Messintervalls zur Ausmittelung der Fehler in den Daten. Gäbe es keine Fehler, müsste
man sagen: Je kürzer das Messintervall, umso genauer wird die Krümmung erfasst, je länger,
umso gröber.
Der Krümmungsparameter
RKI
R wurde am 16.04.2020 zum ersten Mal mit einem Wert un-
ter 1 angegeben. Da lag die Reproduktionszahl
R t
, konservativ berechnet (10-Tagesdurch-
schnitt) und mit einem konservativen
12T
multipliziert, bereits bei 0,8 . Abbildung 2 ver-
gleicht die beiden „Reproduktionszahlen“ (nur am Punkt D möglich):
Datenquelle: Lageberichte des RKI sowie eigene Berechnungen von
R t
auf Basis des CEM.
Wie die Punkt-Strich-Linie in Abb. 2 erkennen lässt, sind die Messungen des RKI bislang recht
volatil. Es ist in der gegenwärtigen Phase nicht sehr wahrscheinlich, dass die Reproduktions-
zahl realiter derart heftig schwankt. Für den 19. April wurde kein
RKI
R wegen „technischer
Umstellungen“ berichtet; der fehlende Wert wurde in der Grafik durch den Mittelwert zwi-
schen den vom 18. und dem vom 20. April berichteten Wert eingefügt.
Gegen die hier vertretene Bevorzugung der echten Reproduktionszahl
R t
(CEM) könnte
eingewandt werden, dass das RKI mit seiner Methode den tatsächlichen Verlauf kontrolliert.
Doch wenn man bedenkt, dass die Infektionszahlen vor der Analyse in hohem Maß umda-
tiert werden, so dürfte daran ebenfalls zu zweifeln sein. Wenn es aus epidemiologischer
Sicht darauf ankommt, die Neuinfektionen im Blick zu behalten, so sollte die Kontaktrate
und außerdem die Zahl der Möglichkeiten H, sich in einer Bevölkerung von 83 Mio. Men-
7
schen zu infizieren (die abstrakte Gefährdungslage), ins Visier genommen werden, auch
wenn nur die Kontaktrate politisch beeinflusst werden kann. Die theoretisch zu erwartende
Zahl H der Möglichkeiten, sich anzustecken, kann helfen, die Zahl der Neuinfektionen zu er-
klären und ein realistisches Bild von der Gefährdungslage zu vermitteln.
Schlussfolgerung
Unter dem maßgebenden fachwissenschaftlichen Rat des RKI ist es der deutschen Politik
gelungen, in relativ kurzer Zeit die Kontaktrate entscheidend zu senken und damit die Ver-
breitung der ersten Welle der Corona-Epidemie einzudämmen. Im Weiteren wird es darauf
ankommen, diese Rate trotz Lockerungen möglichst nicht wieder ansteigen zu lassen. Ange-
sichts der hohen und wahrscheinlich steigenden wirtschaftlichen Kosten, die jeder zusätzli-
che, mit Kontaktsperren versehene Tag mit sich bringt, wäre es empfehlenswert gewesen,
sich bei der Berechnung der Kontaktrate bzw. der Reproduktionszahl an einem theoretisch
durchdachten Modell zu orientieren, dessen Parameter reale, weil wirkkräftige Sachverhalte
widerspiegeln. Darüber hinaus ermöglicht das Klassische Epidemiologische Modell aktuellere
und stabilere Schätzungen.
Persönliche Bemerkung
Der vorliegende Text spiegelt den Erkenntnisstand des Verfassers am 22. April 2020 wider.
Nach erfolglosen Versuchen, mit dem maßgeblichen RKI-Autor Kontakt aufzunehmen, wurde
die Studie am 20. April zur kurzfristigen Veröffentlichung dem „Wirtschaftsdienst“ und der
„Ökonomenstimme“ angeboten. Der Wirtschaftsdienst erklärte von vornherein, mit
CORONA-Beiträgen überlastet zu sein. Die Redaktion der „Ökonomenstimme“ unter der
Leitung von F. Kohler antwortete gar nicht erst. Nachdem eine kurzfristige Veröffentlichung
gescheitert ist, hat der Artikel wahrscheinlich nur noch Wert für eine historische Beurteilung
der Ereignisse auf der wissenschaftlichen Grundlage des Klassischen Epidemiologischen
Modells. Das RKI fährt fort, seine volatilen Reproduktionszahlen (siehe auch den Anhang) auf
der Grundlage aufbereiteter Daten zu berichten und warnt momentan vor dem nächsten
exponentiellen Anstieg. Die Mehrzahl der Bundesländer ist in der laufenden Woche dabei,
eine Maskenpflicht einzuführen. Wie immer in Zeiten der Krise, ist es schwer, mit sachlichen
Argumenten Gehör zu finden.
8
Literatur
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10.25646/6692
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in Deutschland, Wirtschaftsdienst, 100. Jahrgang, Heft 4, S. 272-276.
Hamer, W. H. (1906): Epidemic Disease in England, Lancet, 1, pp. 733-739.
Hethcote, H. W. (2000): The Mathematics of Infectious Diseases, SIAM Review, Vol. 42, No.
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https://www.rki.de/DE/Content/Institut/Leitbild/Leitbild_node.html
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www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Steckbrief.html
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https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Archiv.
html
Schilling, J., M. Diercke, D. Altmann, W. Haas, S. Buda (2020): Vorläufige Bewertung der
Krankheitsschwere von COVID-19 in Deutschland basierend auf übermittelten Fällen gemäß
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9
Anhang
Schätzung der Reproduktionszahl
Modell: CEM CEM RKI
x-Tages-Durchschnitt
x=10 x=3 x=4
Datum R R R
14.03.2020 3,321
3,462
15.03.2020 3,320
3,447
16.03.2020 3,162
3,087
17.03.2020 2,826
2,711
18.03.2020 2,451
2,304
19.03.2020 2,995
2,926
20.03.2020 3,120
3,110
21.03.2020 2,882
2,890
22.03.2020 2,408
2,397
23.03.2020 2,506
2,397
24.03.2020 2,551
2,411
25.03.2020 2,349
2,206
26.03.2020 2,310
2,293
27.03.2020 2,288
2,222
28.03.2020 2,256
2,143
29.03.2020 2,009
1,854
30.03.2020 1,856
1,653
31.03.2020 1,717
1,442
01.04.2020 1,653
1,320
02.04.2020 1,636
1,400
03.04.2020 1,584
1,418
04.04.2020 1,520
1,429
05.04.2020 1,472
1,387
06.04.2020 1,353
1,191
07.04.2020 1,253
1,040
1,30
08.04.2020 1,171
0,929
1,20
09.04.2020 1,159
0,882
1,10
10.04.2020 1,147
0,977
1,10
11.04.2020 1,113
0,993
1,30
12.04.2020 1,045
0,927
1,30
13.04.2020 0,970
0,803
1,20
14.04.2020 0,896
0,643
1,00
15.04.2020 0,838
0,575
0,90
16.04.2020 0,792
0,606
0,70
17.04.2020 0,801
0,685
0,70
18.04.2020 0,812
0,807
0,80
19.04.2020 0,795
0,824
*(
0,85
)
20.04.2020 0,743
0,765
0,90
21.04.2020 0,681
0,671
0,90
22.04.2020 0,657
0,594
NA
* Ergänzter Mittelwert
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Article
Many models for the spread of infectious diseases in populations have been analyzed mathematically and applied to specific diseases. Threshold theorems involving the basic reproduction number R0, the contact number σ, and the replacement number R are reviewed for the classic SIR epidemic and endemic models. Similar results with new expressions for R0 are obtained for MSEIR and SEIR endemic models with either continuous age or age groups. Values of R0 and σ are estimated for various diseases including measles in Niger and pertussis in the United States. Previous models with age structure, heterogeneity, and spatial structure are surveyed.
  • M Der Heiden
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an der Heiden, M., U. Buchholz (2020): Modellierung von Beispielszenarien der SARS-CoV-2-Epidemie 2020 in Deutschland, DOI 10.25646/6571.2
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Schilling, J., M. Diercke, D. Altmann, W. Haas, S. Buda (2020): Vorläufige Bewertung der Krankheitsschwere von COVID-19 in Deutschland basierend auf übermittelten Fällen gemäß Infektionsschutzgesetz, Epid. Bull. 2020, Nr. 17, S. 3 -9. DOI 10.25646/6670.