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Schulkultur und Schulentwicklung im Förderschwerpunkt der
emotionalen und sozialen Entwicklung: Fallbeispiele, Materialien, Analyse– und
Reflexionsebenen, Handlungsmöglichkeiten - Hochschuldidaktisches Poster Nr. 4
Joachim Bröcher, Europa-Universität Flensburg
Durch die ständige KONFRONTATION MIT GRENZ-
SITUATIONEN, etwa in der Arbeit an einer Förder-
schule, die letztlich eine Multi-Problem-Schule ist, be-
kommen wir die Chance, Wahrhaftigkeit zu lernen und
zu leben, verstehen wir darunter einmal die Bewusst-
heit dessen was ist, selber Position zu beziehen, andere
nicht nur zu akzeptieren, sondern auch für sie dazusein,
im zumeist eher schwierigen kollegialen Miteinander
selbst mitzuspielen, Bedrohungen und Spannungen
auszuhalten, Illusionen aufzugeben, ohne dabei bitter
zu werden und zu resignieren. Letztlich gibt es ja doch
so etwas wie eine CHARAKTERBILDENDE, SINN-
STIFTENDE UND ZUFRIEDENSTELLENDE ER-
FAHRUNG DES HELFENS UND GEBRAUCHT-
WERDENS, worin eine Art höhere Form der persönli-
chen Entschädigung für die eigenen Mühen liegen
könnte.
Bröcher, Anders unterrichten, anders Schule machen, 2007, S. 21
Zur AUFRECHTERHALTUNG DER DISZIP-
LIN und zum Ausschalten unerwünschter Initiati-
ven von Seiten der Schüler wie auch zum Redu-
zieren der eigenen Ängste vor einer unkontrollier-
baren Situation, muss nun aus der Sicht vieler
Lehrkräfte ein HERRSCHAFTSSYSTEM instal-
liert werden, jedenfalls dann, wenn noch keine
Möglichkeit gesehen wird, sich auf adäquate Art
und Weise auf die Lernanliegen der Kinder und
Jugendlichen einzustellen. Doch die Durchsetzung
eines solchen KONTROLLSYSTEMS hat ihren
Preis: „Widerstand gegen die Schul-Lehre wird al-
so wahrgenommen, doch nur als Kraft, die ihre
Herrschaft bedroht. Mit dem Widerstand, der nur
mehr als externe Störbedingung verstanden wird,
zugleich wird ausgegrenzt, was ihn hervorbringt:
gesellschaftliche Erfahrungen von Schülern, die
durch die Schullehre nicht aufgenommen wer-
den“ (Thiemann 1985, S. 59 f.).
Bröcher, Anders unterrichten, anders Schule machen, 2007, S. 31; Thiemann, F.: Schul-
szenen. Vom Herrschen und vom Leiden, 1985, S. 59 f.; in der Gegenwart wäre ein sol-
ches Mittel etwa das Trainingsraum-Programm, vgl. Balke, S. (2001): Die Spielregeln
im Klassenzimmer, 2003; Bründel, H. & E. Simon: Die Trainingsraum-Methode, 2003
Die Leiterin von Waldgraben hatte gar keinen Über-
blick, sie schwamm in all den auf sie einströmenden
Details und hielt sich immer nur an Listen fest, die sie
sich zuvor geschrieben hatte. Die souveräne MODE-
RATION VON PROZESSEN war ihre Stärke nicht. Ihr
schon betagter Stellvertreter zog es vor zu schweigen
und sich hinter der Leiterin zu verstecken. Er sprach
nur ungern vor fünfundzwanzig Kolleginnen und Kol-
legen. Das Ergebnis war, dass die FÜHRUNG an der
Förderschule Waldgraben schrittweise von einer Grup-
pe AUS DEM KOLLEGENKREIS ÜBERNOMMEN
wurde. Allerdings handelte es sich dabei um eine Grup-
pe, die nicht an kollegialer Integration, an gründlicher
Reflexion und Diskussion sowie Konsensbildung inte-
ressiert war. Diese Gruppe verkörperte eine gewisse
Härte und eine ausgeprägte Orientierung an Regeln.
Der lose Verbund von sehr engagierten, eher an Kunst
und freien Projekten orientierten Kolleginnen und Kol-
legen, die bisher eher das Schulklima bestimmt hatten
und die auch das öffentliche Bild der Schule stark im
Positiven mitgeprägt hatten und die bis dahin auch die
Unterstützung der Leiterin genossen hatten, gerieten
nun immer mehr ins Abseits. Gab es in der Vergangen-
heit eher eine OFFENE, PLURALISTISCHE, SOZI-
ALPÄDAGOGISCH ORIENTIERTE SCHULKUL-
TUR, wo auch nachmittags oder samstags mal ein Pro-
jekt zu Kunst, Tanz oder Jugendkultur stattfand, wo
Kollegen und von diesen eingeladene Künstler mit den
Förderschülern arbeiteten, so veränderte sich die
Schulkultur durch das Eingreifen der oben genannten
Gruppe immer stärker in Richtung EINHEITLICH-
KEIT, KLARE REGELN, KONSEQUENZ UND DIS-
ZIPLIN. Letzteres waren denn auch die Schlüsselworte
des neu aufkommenden kollegialen Diskurses.
Bröcher, Anders unterrichten, anders Schule machen, 2007, S. 317
Kommen wir zu “LAUNCHING THE VEN-
TURE”: “There are no formal systems yet-no hi-
ring policies or pay scales, no fixed way of doing
things […] The people who thrive in this phase of
the organization‘s life cycle are good at improvi-
sing” (Bridges, 2003, S. 78 f.). Diese Art der Im-
provisation ist mir aus den Universitären Som-
mercamps durchaus vertraut. Sie hat etwas EU-
PHORISIERENDES. Ich arbeitete fünf Wochen
beinahe rund um die Uhr, ohne Rücksicht auf ei-
gene Energiereserven, andererseits GAB DIESE
ARBEIT AUCH EINE UNGEHEURE ENER-
GIE…Tagsüber Workshops auf Deutsch, auf Eng-
lisch, auf Französisch, pädagogische Tischgesprä-
che, erlebnispädagogische Aktivitäten, Sport, phi-
losophische Diskussionsrunden, ad hoc Konzepte
entwickeln und sogleich umsetzen, zwischendurch
mit akademischen Besuchern aus dem Ausland
sprechen, dann wieder Teambesprechungen, krea-
tive Ideenzirkel usw. leiten, PÄDAGOGISCHE
VISIONEN ENTWICKELN und das TÄGLICHE
OPERATIVE UMSETZEN all dessen. An neu ge-
gründeten Schulen, in Schulprojekten… mag es so
zugehen. In alteingesessenen Kollegien wohl eher
nicht. Doch warum nicht aus der Leitungsrolle
heraus, dieses „Launching the Venture” (Bridges)
NEU BELEBEN?
Bröcher, Anders unterrichten, anders Schule machen, 2007, S. 310; Bridges, Managing
Transitions, 2003, 78 ff.