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Moritz Baßler
Die kulturpoetische Funktion des Archivs
1
Es gibt eine erschütternde Episode in Wilhelm Raabes später Erzählung Die Akten
des Vogelsangs (1896), wo Velten Andres nach dem Tode seiner Mutter das
gesamte Inventar seines Elternhauses verheizt. Er zerstört damit die letzten
Zeugnisse einer vergangenen nachbarschaftlichen Idylle im Vogelsang, einer
Gegend, die inzwischen von Fabriken und Vergnügungsetablissements geprägt
und zur Unkenntlichkeit modernisiert ist. Veltens Schulfreund Krumhardt, den
gutbürgerlichen Ich-Erzähler, ergreift über diesem Autodafé eine ihm selbst
unheim liche Begeisterung:
Worin lag nun der Zauber, der mich [...] jeden Tag nach der alten Heimstätte trug, die jetzt
zu einer Stätte der Vernichtung geworden war? [...] Wohl selten ist je einem Menschen die
Gelegenheit geboten worden, seine „besten Jahre“ in die unruhvolle Gegenwart so zurück-
zurufen wie mir in Velten Andres’ Krematorium. Wie wir im Vogelsang in der Nachbarschaft
[...] gelebt hatten, das erfuhr ich nun noch einmal im reichsten Maße und konnte meine
Lebensakten in wünschenswertester Weise dadurch vervollständigen. Der Wanderer auf der
wankenden Erde [= Velten Andres] schob aus seinem Hausrat kaum ein Stück in den Ofen
oder auch auf den Küchenherd, an dem nicht auch für mich eine Erinnerung hing und mit
ihm in Flammen aufging und zu Asche wurde. (Raabe 1988, 166)
Der Ziegenhainer, die Zerevismütze, das alte Schaukelpferd – alle werden sie
noch einmal Anlass, die mit ihnen einst verbundenen Diskurse zu erinnern und
aufzuschreiben, ad acta vitae zu legen, die dann jenes Buch ausmachen, das den
Titel Die Akten des Vogelsangs trägt. Krumhardt selbst, sein fiktiver Verfasser, ist
da übrigens längst vom Vogelsang weggezogen – in der Erzählgegenwart ist er
wohnhaft in der Archivstraße!
Mit Archiven hat man es hier in zweierlei unterschiedlicher Form zu tun: zum
einen mit dem Elternhaus voller Objekte aus vergangenen Zeiten, zum anderen
mit den schriftlichen Akten, in denen ein Zeitzeuge die „Nachbarschaft“, d. h. die
Kontiguitätszusammenhänge notiert, in denen diese Objekte einst standen – in
jenen Zeiten, da sie noch Bestandteile praktischen Lebens und nicht bloß Sam-
1Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Version meines Aufsatzes Was nicht ins Archiv kommt. Zur
Analysierbarkeit kultureller Selektion (vgl. Baßler 2007). Die zugrundeliegende Archivtheorie
habe ich ausführlich entwickelt in Die kulturpoetische Funktion und das Archiv (vgl. Baßler 2005).
Open Access. © 2020 Moritz Baßler, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist lizenziert
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https://doi.org/10.1515/9783110696479-003
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melstücke im „Herzensmuseum“ der alten Frau Andres waren. Schon dort
konnten sie ja nur deshalb ein Refugium finden, weil jene Zusammenhänge eben
im Herzen und im Bewusstsein seiner Bewohnerin gespeichert geblieben waren.
Mit deren Ableben aber wären sie derselben erinnerungslosen Zerstörung qua
Modernisierung anheimgefallen wie der übrige Vogelsang, wenn sich nicht
Archivar Krumhardt eingefunden hätte, um sie in einem anderen Medium, dem
des Textes, aufzuzeichnen und diesmal ausdrücklich für die Nachwelt abzuspei-
chern.
Allerdings wäre dieser Akt der Archivierung wohl niemals erfolgt, wenn
Velten Andres nach seiner Heimkehr nicht eben jenes grenzpathologische Zerstö-
rungswerk in Gang gesetzt hätte, das die Bürger des Städtchens zugleich verstört
und fasziniert. Es ist Krumhardts braver Ehefrau vorbehalten, den impliziten
Horror dessen zu formulieren, was hier vorgeht: „ich habe“, jammert sie,
doch noch letzte Nacht geträumt, auch du habest mich mit unserem Jungen – ich meine
unsere letzte Photographie – verbrannt wie er die Bilder seiner Eltern und seiner als ganz
kleines Kind verstorbenen Schwester! O bitte, da nimm uns, Ferdi und mich, doch lieber
jetzt gleich mit und schieb uns in euren Ofen in deinem Vogelsang! (Raabe 1988, 166)
Ihr Gefühl trügt nicht: Es ist letztlich der Merkwürdigkeit Veltens, eines nach bür-
gerlichem Maßstab gescheiterten Charakters zwischen Genie und Freak (Lord
Byron und Affenmensch), zu verdanken, dass der idyllische Alltag im Vogelsang
in Form von Literatur der Nachwelt überliefert wird, während die eigene leben-
dige Gegenwart der Familie Krumhardt frei von allem Außergewöhnlichen ist und
daher – trotz bürgerlicher Routinearchivierung im Medium der Fotografie – aller
Voraussicht nach klanglos zum Orkus hinabgehen wird. Raabes leicht marottifi-
zierte Prosa substituiert dabei den lebendigen Zusammenhang von Mutter und
Kind durch seine Aufzeichnung und spitzt dadurch bestimmte Charakteristika
des Archivierungsprozesses zu bis zur Unerträglichkeit. Wenn man Fotos ver-
brennt, dann kann man eigentlich auch gleich Menschen verbrennen – so radikal
steht es bei Raabe. Und in der Tat: Letztlich teilen Fotos ohne diskursives Umfeld
das Schicksal der auf ihnen Abgebildeten. Auch zu vielen der fotografierten Per-
sonen aus den Alben, die ich aus meinem Elternhaus aufbewahrt habe, werde ich
kaum je mehr die Namen, geschweige denn die Anlässe und Schicksale erfahren.
Allenfalls die Textualisierung, die Aufnahme in die Akten, die Verwandlung in
Literatur – so legt Raabes Erzählung nahe – vermag diesen Prozess der Isolie-
rung, des Stummwerdens und letztlich der Zerstörung der Dinge des Lebens auf-
zuhalten.
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2
When my father died
We put him in the ground
When my father died
It was like a whole library had burned down
heißt es in einem Song von Laurie Anderson (1995). Analoge Vergleiche kann
man in letzter Zeit auch immer wieder im Feuilleton lesen, wenn darüber reflek-
tiert wird, dass die letzten Zeugen einer Generation, die Weltkrieg und Holocaust
im erwachsenen Alter erleben musste, allmählich aussterben. Was sie nicht mehr
zu Protokoll geben, heißt es, ist für die Nachwelt verloren.
Es scheint mir nun kein Zufall, dass das Medium der rettenden Archivierung
in solchen Wendungen stets die textuelle Aufzeichnung ist: die Akten, die Biblio-
thek. Auch wenn die Archivierungsprojekte Spielbergs und die Datenbanken im
Netz längst zu akustischen, filmischen und digitalen Aufzeichnungen übergegan-
gen sind – entscheidend sind zwei Eigenschaften: erstens Speicherung (d. h.
Objektförmigkeit, Lagerungsfähigkeit und wiederholte Zugänglichkeit) und zwei-
tens Verbalität (d. h. Lesbarkeit). In Kombination ergeben diese beiden Faktoren
die Definition eines weiten, aber nicht-metaphorischen Textbegriffes. Für einen
so verstandenen Text gilt das Wort Bachtins: „Der Text [...] ist die primäre
Ge gebenheit [...] allen Denkens in den Humanwissenschaften [...]. Wo kein Text
ist, da ist auch nichts, worüber zu forschen oder zu denken wäre“ (Bakhtin 1986,
103). Textualität wird hier also nicht als ein Medium unter anderen, sondern als
basale Eigenschaft von Archiven verstanden. Gespeicherte, d. h. einer überprüf-
baren wissenschaftlichen Analyse zugängliche Kontexte sind textuell oder sie
sind nicht – so ließe sich Bachtins Verdikt archivtheoretisch reformulieren. Um
diese kühne, derzeit ein wenig gegen den (performativen, kognitiven, präsenz-
theoretischen) Trend gesprochene Annahme zu plausibilisieren, sei ein kleiner,
aber hoffentlich erhellender Umweg über die Systemtheorie erlaubt.
Auch für Niklas Luhmann erfüllen Texte eine dem Gedächtnis menschlicher
‚Bewusstseine‘ analoge Aufgabe: Sie speichern Wissen und halten es transsituativ
als Vergleichswissen für je aktuelle Operationen psychischer und sozialer
Systeme bereit. Dirk Baecker konkretisiert diesen Gedanken, indem er Kultur
überhaupt als dieses Vergleichswissen definiert, mit der Betonung auf „Vergleich“:
„Kultur“ ist das, was unvergleichbare Lebensweisen vergleichbar macht. [...] Der moderne
Kulturbegriff ist das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Vergleichens. [...] es geht um die
scheinbar ganz harmlose intellektuelle Geste, irgend etwas für „interessant“ zu halten und
sich mithilfe des Vergleichswissens, das man sich angelesen hat, Gedanken über dieses
Interessante zu machen. (Baecker 2000, 47–48)
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Verglichen werden können bedeutsame Kulthandlungen wie das Beten in ver-
schiedenen Religionen, genausogut kann aber auch von Kinderspielzeug, Pop-
musik oder Essbesteck die Rede sein. Entscheidend ist, dass in Baeckers Modell
all dies, selbst die Kulthandlung (das Beten), nicht per se Kultur ist, sondern dass
Kultur daraus wird als Ergebnis einer bestimmten Betrachtungsweise. Diese
Betrachtungsweise ist der Vergleich. Und wie nichts gleichsam essentiell Kultur
ist, so gilt auch umgekehrt, dass es nichts gibt, was per se nicht unter Kultur sub-
sumierbar wäre.
Alles läßt sich vergleichen, alles kann „interessant“ oder „uninteressant“ gemacht werden,
von der Frage der Weinbaukunst bis zur Frage der ehelichen Liebe. Alles erscheint doppelt,
nämlich einmal als das, was es ist, und einmal als das, was es im Rahmen eines Vergleiches
bedeutet. Und natürlich schlagen die Konjunkturen der Bedeutung zurück auf das, was
etwas „ist“. Schließlich „ist“ nichts mehr etwas, wenn es nicht zugleich auch etwas „bedeu-
tet“. (Baecker 2000, 67)
„Alles läßt sich vergleichen“, in einer elaborierten Kultur finden sich keine Dinge,
die nicht auch Bedeutung haben, eine Bedeutung, die ihnen aber wie gesagt
nicht ontologisch anhaftet, sondern die ihnen aufgrund einer bestimmten intel-
lektuellen Praxis zugeschrieben werden kann. Wo Baecker über die ethnologi-
sche Methode des Kulturvergleichs handelt, benennt er auch, um was für eine
Praxis es sich hier handelt:
Eine im strengen Sinne des Wortes ethnologische Kulturbeschreibung dürfte [...] nicht
an thropologisch, das heißt mit Referenz auf die Unterschiedlichkeit (und Gleichheit) der
betei ligten Menschen, sondern sie müßte semiotisch verfahren, das heißt mit Referenz auf
die Zeichen, die den Kulturkontakt so oder anders schwer oder leicht machen. (Baecker
2000, 17–18)
Eine kulturpoetische Betrachtungsweise ethnologisiert gleichsam die eigene
Kultur (vgl. Rabinow 1986, 241). Die kulturpoetische Praxis des Vergleichens ist
dabei wesentlich eine semiotische, denn „Zeichen“ sind ja eben Dinge im Modus
des Vergleichs.
„Kultur ist [demnach] das Ergebnis der intellektuellen Praxis des Verglei-
chens“ (Baecker 2000, 81). Das Interessante dabei: Textualistisch gefasst ist der
2Insofern kann es nicht wirklich verwundern, daß Eckhard Henscheid in satirischer Absicht
hunderte sogenannter Kulturen zusammentragen konnte (vgl. Henscheid 2001).
3Baecker setzt sich mehrfach in dieser Weise von der kulturanthropologischen und -soziologi-
schen Tradition in Deutschland ab, etwa von Friedrich Tenbruck und Hans Peter Thurn (vgl.
Baecker 2000, 81–82).
Die kulturpoetische Funktion des Archivs 31
Vergleich, den Baecker im Zentrum seines Kulturbegriffs ansiedelt, zuallererst
ein Tropus, und zwar jener Tropus, der Äquivalenzbeziehungen herstellt. Der Ver-
gleich stiftet eine Äquivalenz zwischen den verglichenen Dingen: A ist in gewis-
ser Hinsicht wie (oder nicht wie) B. Äquivalenzbeziehungen aber sind konstitutiv
für die paradigmatische Achse jedes Textes, sie definieren genau jene textuelle
Dimension, in der die Alternativen zum syntagmatisch notierten Wortlaut gespei-
chert sind. Die Elemente eines Paradigmas sind dadurch definiert, dass sie einan-
der äquivalent sind – und umgekehrt: Was äquivalent ist, kann ein Paradigma
bilden.
Die Differenz interessant/uninteressant, die die Bochumer Schule der System-
theorie interessanterweise zunächst als Leitdifferenz für das Literatursystem vor-
geschlagen hatte, appliziert Baecker auf Kultur allgemein: „alles“, sagt er, „kann
‚interessant‘ oder ‚uninteressant‘ gemacht werden“, indem man es mit anderem
vergleicht. Für unsere textuelle Formulierung dieser Theorie muss eine weitere
Unterscheidung getroffen werden: Ein syntagmatisch ausgeführter Vergleich
mag Dinge interessant oder uninteressant machen, jeder Teil eines Textes bedeu-
tet aber überhaupt nur etwas als Teil eines – genauer gesagt: mindestens eines –
Paradigmas, also in Bezug auf kulturell verfügbare Vergleichsgrößen. „Alles
erscheint doppelt“ – als Ding und als Repräsentation. Sobald man jedoch einmal
im interpretativen Modus der Kultur ist, sobald man also kontextualisiert,
erscheint es nicht mehr bloß doppelt, sondern vielfach und geradezu „unaus-
schöpfbar“, weil die Paradigmen einer Kultur vielfach und unausschöpfbar sind.
Dem Vergleich im Herzen einer systemtheoretischen Kulturtheorie entspricht
also im Herzen einer textualistischen Kulturtheorie das Paradigma. Die Paradig-
men einer Kultur sind demnach die vorrätig gehaltenen Aufzeichnungen der
„intellektuellen Praxis des Vergleichens“ und bilden zugleich die Folie, vor der
jeder neue Text, jede neue Sequenz, jeder neue Vergleich Bedeutung gewinnt. Sie
haben den Vorteil, dass sie in Objektform archiviert und daher jederzeit, d. h.
zeitunabhängig und synchron, ablesbar sind. Dass dieses Archiv dabei materiali-
ter gedacht wird und nicht als latent verfügbarer Code (langue), markiert den
Unterschied zwischen einem textualistischen Kulturbegriff und dem einer lingu-
istisch-systemisch bestimmten Sprache.
Dadurch bleibt die Interpretation auch „endlich“, wird also nicht beliebig,
denn alles und jedes lässt sich zwar miteinander vergleichen, in einer „konkreten
Kultur“ werden (und vor allem: wurden historisch) aber stets nur bestimmte
Dinge miteinander verglichen und andere nicht – das eben definiert eine kon-
krete Kultur und unterscheidet sie von anderen. Was in einer gegebenen Kultur
miteinander vergleichbar ist, macht den Sinnhorizont für alle ihre Repräsentati-
onen aus. Dieser kulturelle Sinnhorizont ist also überprüfbarer Analyse zugäng-
lich, jedoch nicht – und darauf kommt es an – als Sinnhorizont einer gegebenen
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Handlung oder Kommunikation, sondern in Gestalt der möglichen Paradigmen
zu einem gegebenen Objekt, als Funktion des kulturellen Archivs also.
3
Der hier propagierte Archivbegriff ist ein denkbar schlichter. Anders als Foucault
ist damit nicht irgend ein systemisches, ort- und trägerloses „Gesetz dessen, was
gesagt werden kann“ (Foucault 1990, 186–187), kein historisches oder mediales
Apriori gemeint, sondern zunächst einmal genau jene „Summe aller Texte, die
eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit oder als Zeugnis ihrer
beibehaltenen Identität bewahrt hat“ (die Foucault ausdrücklich nicht meint).
Mit Boris Groys und gegen Foucault wird das Archiv einer Kultur hier also „als
real existierendes verstanden – und in diesem Sinne auch durch die Zerstörung
bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so daß nicht alle möglichen
Aussagen in ihm vorformuliert gefunden werden können“ (Groys 1999, 179).
Dafür aber die wirklichen. Und wenn man statt von Aussagen von Texten
spricht und mitbedenkt, dass Texte eine paradigmatische Achse haben, und
wenn man diese paradigmatische Achse innerhalb des Korpus, des material
gegebenen Archivs selbst ansiedelt als Summe seiner Äquivalenzstrukturen,
dann wird die Pointe dieser Entscheidung sichtbar: Die Diskurse und die Texte
lassen sich auf ein und demselben Tableau analysieren. Damit und erst damit ist
jene von Foucault avisierte Umstellung vollzogen, die „an die Stelle des Themas
der transzendentalen Begründung die Beschreibung der Verhältnisse der Äußer-
lichkeit“ setzt (Foucault 1990, 182). Das Glück des Positivisten liegt in der Textua-
lität.
Im Archiv sind die Dinge in einer Weise gespeichert, dass man auf sie zugrei-
fen kann, und zwar wiederholt. Im konkreten Falle handelt es sich dabei oft
genug um Texte im engeren Sinne, und das nicht zufällig, denn Texte sind ja eben
als Instrumente zur Speicherung von Kontiguitätszusammenhängen mit der Mög-
lichkeit des wiederholten Zugriffs entwickelt worden. Andernfalls handelt es sich
bei den Dingen im Archiv um Texte genau in dem Maße, wie sie zueinander Para-
digmen bilden können. – Dieses Archiv ist die Voraussetzung, die Ausgangsbe-
dingung jeder kulturwissenschaftlichen Arbeit. Was nicht im Archiv ist, kann
kulturwissenschaftlich nicht analysiert werden. Im Unterschied zu anderen
Archiv-Begriffen (etwa dem Derridas), die ein Archiv bereits als Ergebnis einer
Auswahl, als etwas Zustandegekommenes, als Verwaltungs- und Machtinstru-
ment und darüber hinaus als etwas immer schon Geordnetes, Hierarchisiertes,
mit Indices Versehenes beschreiben – was für jedes konkrete Archiv natürlich
ebenso zutrifft wie für jeden konkreten Text –, muss eine textualistische Kultur-
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theorie vom Archiv als einer bloßen Sammlung der gegebenen Untersuchungs-
objekte ausgehen.
„Wo kein Text ist, da ist auch nichts, worüber zu forschen oder zu denken
wäre“ (Bakhtin 1986, 103). Aber etwas wird überhaupt erst zum Text oder als Text
lesbar durch seine Beziehung zu anderen Texten, intertextuell. „Textualität heißt
auch: Praxis des Archivs“ (Ernst 1997, 306), bemerkt Wolfgang Ernst. In kulturpo-
etischer Lesart heißt das: Das Archiv versammelt die für die Kontextualisierung
verfügbaren Texte, es enthält sämtliche Texte, zu denen der Einzeltext in Bezie-
hung gesetzt werden kann, aber noch nicht diese Beziehungen selbst. Das bedeu-
tet, dass es in sich noch nicht indexikalisiert oder strukturiert sein kann. Es ist
nicht nur gekennzeichnet durch die „Gleichzeitigkeit seiner Dokumente, die doch
aus verschiedenen Zeiten stammen“ (Ernst 2002, 49), sondern ganz generell
durch deren strenge Nebenordnung – sans ordre et sans ordre (vgl. Derrida 1997).
Es hat, wenn man so will, die Form einer Volltext-Datenbank noch ohne Indices
und ohne Links.
Ist es nicht naiv, angesichts einer entwickelten Archiv-Forschung, die von der
Handhabung konkreter Archive bis hin zu einer dekonstruktivistischen Archiv-
Theorie reicht, einen derart schlichten Archiv-Begriff vorzuschlagen? Nun, es sei
daran erinnert, was eine kulturwissenschaftlich informierte Literaturwissen-
schaft leisten soll: Sie soll Texte in ihrer Kultur kontextualisieren. Dazu ist es
nötig, in einem ersten Schritt die verfügbaren Dokumente dieser Kultur nebenei-
nander auf den Tisch zu legen. Das, was dann auf diesem Tisch liegt, nenne ich
Archiv. Ohne Zweifel kommen im wirklichen Leben die Texte immer schon irgend-
wie rubriziert, eingeordnet und bewertet auf uns. Jedes konkrete Archiv ist das
Ergebnis entsprechender Prozesse. Aber der erfolgreiche Kunstgriff der New His-
toricists lag ja zunächst einmal darin, die überkommenen Rubriken, Narrative
und Wertungen der Renaissance-Forschung in Frage zu stellen, den Tisch sozusa-
gen wieder frei zu machen für neue Anordnungen. Der vorgeschlagene Archivbe-
griff ist also gar nicht so abstrakt, wie er zunächst erscheinen mag, wenn man
real existierende Archive im Sinn hat. Zu deren Beschreibung taugt er freilich
nicht. Er ist jedoch ausgesprochen konkret im Sinne einer methodologischen
Vorgabe: Die Dokumente einer gegebenen Kultur sind zunächst zu kollationieren
und nebeneinander anzuordnen. Das entsprechende, Archiv genannte Textkor-
pus ist Bedingung, Gegenstand und Grenze aller folgenden kulturwissenschaft-
lichen Operationen.
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Im Zusammenhang eines solchen archivimmanenten Strukturalismus ist das
Archiv vor allem die Antwort auf die Frage nach der Analysierbarkeit von kultu-
rellen Äquivalenz- und Kontiguitätsbeziehungen. Das Archiv einer Kultur als
Korpus der aus ihr überlieferten Texte beantwortet – wenn Sie so wollen – eine
Wo-Frage: Wo sind sie, die Diskurse, die kulturellen Paradigmen, wo ist der semi-
otische Hintergrund einer Kultur, und zwar materialiter, d. h. sofern sie sich ana-
lysieren lassen? Weder Foucaults historisches Apriori mit seinem, wie Groys spottet,
ortlosen und immateriellen Träger noch etwa Ecos Konzept einer Enzyklo pädie
nach dem Quillianschen Modell Q (vgl. Eco 1994, 123–127) beantworten diese
Frage nach der Materialität des Paradigmas zufriedenstellend, geschweige denn
Luhmanns dynamisches System, das niemals als Struktur analysierbar wird, weil
es nicht stillhalten kann. Und Derridas Archiv enthält bereits Propositionen,
sozusagen verstandene Sätze, und setzt damit implizit bereits hermeneutische
Operationen voraus, deren Bedingung das Archiv m. E. allererst wäre.
Das Archiv, wie es hier entworfen wird, enthält dagegen die Sequenzen einer
Kultur ebenso wie deren mögliche Paradigmen. Jeder Einzeltext wird lesbar im
Vergleich mit einem Vorrat äquivalenter Möglichkeiten. Analytisch sind diese
Möglichkeiten nun aber, wie gesagt, nicht in systemisch-regelhafter Form,
sondern allein als Okkurrenzen in positiv vorhandenen Vergleichstexten dessel-
ben Archivs zu fassen. Man ahnt, wozu man hier Computer brauchen wird: zur
bloßen Quantitäts- und Komplexitätsbewältigung.
Und damit komme ich zur Frage der Analysierbarkeit von Selektion als neben
der Kombination wichtigster Operation kultureller Poiesis. In einem strukturalis-
tisch informierten Begriff von Textualität ist Selektion immer schon impliziert.
Jakobson nennt bekanntlich die paradigmatische Achse des Textes auch ‚Achse
der Selektion‘. Das ist freilich immer noch produktionsästhetisch und überdies in
einem langue/parole-Modell gedacht, noch nicht von einer Materialität des Para-
digmas aus, wie sie die Kulturpoetik entwirft. Analytisch gewendet, bezeichnet
die Jakobson’sche Selektion denn auch nichts anderes als die Semantisierung
von Objekten (Sequenzen, Textstellen) qua Vergleich mit äquivalenten Objekten
(Sequenzen, Textstellen). Ein Paradigma ist demnach eine Äquivalenzstruktur im
Archiv, d. h. im Korpus der Texte, die man auf vergleichbare Stellen hin durch-
sucht. Die Sammlung dieser Äquivalenzstellen bezeichnet als eine Art kulturelle
Topik die Möglichkeiten dessen, was in einer Kultur anstelle des im manifesten
Text Vorgefundenen auch noch sagbar war oder gewesen wäre. Und die Grenzen
dieser Operation werden – wie gesagt – definiert durch die materialen Gegeben-
heiten des Archivs.
Die kulturpoetische Funktion des Archivs 35
Was von der Foucault’schen Möglichkeitsstruktur übrig bleibt, wenn man sie
konkret analysieren möchte, ist also kein historisches Apriori, sondern – ganz
positivistisch – eine Sammlung von Vergleichsstellen. Selbstverständlich kann
man dann, in einem zweiten Schritt, in einem Abstraktionsvorgang die Eigen-
schaften dieser Vergleichsstellen als historische Formationsregeln dynamisieren.
Aber erstens sehe ich nicht recht den Erkenntniswert einer solchen Operation,
und zweitens – und das ist das Entscheidende – ergibt sie, analytisch betrachtet,
eben niemals ein Apriori, sondern bleibt gegenüber dem Archiv immer sekundär.
Wenn es ein historisches Apriori der Analyse gibt, dann ist das das Archiv.
Nun behauptet etwa Niklas Luhmann, die Offensichtlichkeit überlieferter
Texte „verdecke, daß es andere Möglichkeiten gegeben hatte“ (Luhmann 1997,
889). Das ist einerseits richtig. Andererseits aber könnte man einen Text ja gar
nicht lesen und schon gar nicht verstehen, wenn man nur seine syntagmatische
Achse vor sich hätte. Das bedeutet aber, dass kein Text ohne seine Alternativen
bestehen kann; er verdeckt nicht nur nicht, dass es andere Möglichkeiten gegeben
hatte, sondern er setzt diese Möglichkeiten zu seinem Verständnis gerade voraus
und legt sie damit jeder späteren kommunikativen Anknüpfung potenziell auch
wieder mit vor. Andernfalls verlöre er geradezu seine Textualität. Selbst der hoch-
kulturstiftende Gesetzestext, an den Luhmann hier mit Jan Assmann zu denken
scheint, etwa das 5. Buch Mose, setzt mit jeder Vorschrift voraus, dass man es
auch anders machen kann (aber nicht soll), und mit jeder Aussage, dass es auch
anders sein könnte (aber nicht ist), und Gesellschaften, die die schriftliche
Version als verpflichtend aufrechterhalten wollen, müssen zusätzlich Kontroll-
und Sanktionsmechanismen entwickeln, z. B. eine Inquisition einsetzen, um die
reine Lehre zu bewahren.
Um ein Beispiel zu geben: Meine Begeisterung über die popliterarischen
Kataloge von Namen aus Popmusik, Marken- und Medienkultur und anderen
Bestandteilen einer Enzyklopädie, die von der deutschen Literatur zuvor allen-
falls mit spitzen Fingern angefasst worden war, bezog sich zunächst einmal
schlicht darauf, dass diese Dinge überhaupt Eingang in die Literatur fanden. Das
Vergleichsarchiv, das Leser von Literatur – auch die professionellen – damit her-
anzuziehen gezwungen sind, um ihren Texten gerecht zu werden, wurde mit dem
Erfolg dieser Popliteratur nach 1995 irreversibel um weite Bereiche unserer globa-
lisierten Gegenwartskultur erweitert. Und zu diesem Vergleichsarchiv gehören
dann eben nicht bloß diejenigen Bands und Marken, die in den Texten explizit
4„Wer darauf verweist, daß für ihn noch die Regel gilt, Whisky nur nach sechs Uhr abends zu
trinken, macht damit darauf aufmerksam, daß man damit auch früher schon beginnen könnte“,
bemerkt auch Dirk Baecker in seiner Fortführung von Luhmanns Kulturtheorie (Baecker 2000, 24).
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genannt werden, sondern auch jene, zu denen sie im popkulturellen Referenzsys-
tem in Äquivalenz- oder Oppositionsbeziehungen stehen. Und nur weil das so ist,
weil einzelne Textstrategien eben ein ganzes Archiv aufzurufen imstande sind,
lassen sich in einem zweiten Schritt dann auch die Selektionskriterien benennen
und kritisieren, die den jeweiligen Popliteraten und seine Texte kennzeichnen.
Damit tut man im Grunde nichts anderes, als diesen Text vor dem von ihm selbst
definierten semiotischen Hintergrund zu semantisieren, also: ihn richtig zu
lesen.
Die Beschreibung von textuellen Selektionsvorgängen ist also, strukturalis-
tisch gefasst, die Definition von Paradigmen. Archivanalytisch gesprochen
bedeutet das die Erfassung von Äquivalenzstrukturen im Archiv. Im Vergleich mit
den entsprechenden Okkurrenzen in anderen Texten wird die manifeste Text-
stelle semantisiert. Das ist genau das, was eine kulturwissenschaftliche Literatur-
wissenschaft tut. Und dabei gilt schlichterdings, wenngleich ernüchternder-
weise: Was nicht im Archiv ist, kann auch nicht gelesen werden, weder als
manifester Text noch als Vergleichstext.
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Hier liegt nun ein Einwand nahe, nämlich der, dass insbesondere historische
Archive ja niemals vollständig sind, dass viele Dinge einer Kultur – wie der Alltag
von Frau Krumhardt und ihren Kindern – niemals aufgezeichnet werden und
dass selbst von den Aufzeichnungen und anderen objektförmigen Zeugnissen die
allermeisten im Verlaufe der Historie zerstört werden. „Archive, digitale zumal“,
behauptet etwa Martin Warnke ganz grundsätzlich, „überdauern nur, wenn sie
ständig benutzt werden, wenn eine erhaltende Instanz sie stets neu kodifiziert,
interpretiert und bewertet“ (Warnke 2002, 280). Das allerdings scheint mir, über
technische Probleme des Erhalts von Datenträgern hinaus, so nicht zutreffend.
Ein Archiv ist etwas anderes als ein Gedächtnis. Was im Archiv ist, kann prinzipi-
ell immer auch gelesen werden, selbst wenn es nie dazu gedacht war oder Codes
und Lesegeräte erst mühsam rekonstruiert werden müssen. Die ägyptischen Hie-
roglyphen-Inschriften und Papyri etwa wurden jahrhundertelang weder gelesen
noch benutzt. Nur aufgrund ihres reinen Objektcharakters, sozusagen als un-
semantisierte Objekte, haben sie überdauert und können heute wieder Teil eines
Archivs, also von Vergleichs- und Semantisierungsoperationen sein. Der Rosetta-
Stein, ohne den wir vermutlich bis heute diese Schrift nicht lesen könnten, hat als
Teil einer Steinmauer überdauert, viele mittelalterliche Texte kennen wir nur,
weil sie zufällig auf ein Material geschrieben wurden, das sich später zum Einbin-
den von Büchern eignete. Archiv und Gedächtnis sind also zu unterscheiden.
Die kulturpoetische Funktion des Archivs 37
Dennoch bleibt das Faktum, dass niemals die Gesamtheit einer Kultur über-
liefert wird, und damit die Frage: Wie komme ich zu Hypothesen darüber, was
nicht im Archiv ist und warum es nicht im Archiv ist? Es versteht sich ja am Rande,
dass Krumhardt seine Erinnerungen an den Vogelsang ebenso wie Stuckrad-
Barre seine Mikroenzyklopädien der Popkultur zugleich sammelt und generiert.
Sie schaffen die Archivdaten zugleich mit ihrer Vertextung. Sie stellen Kultur her,
indem sie sie registrieren. Ebenso klar ist aber etwa seit Nietzsche, dass es aus
diesen Daten keinen Weg zurück zu einem Eigentlichen und Ursprünglichen gibt,
das hier vertextet worden wäre. Il n’ya pas dehors-texte – es gibt kein Draußen des
Archivs; die hermeneutische Figur einer ‚Übersetzung aus einem verlorenen
Urtext‘ (Günter Eich) ist von vornherein falsch konzipiert, und wir können auch
präzise benennen, warum: weil man nicht mit etwas vergleichen kann, was nicht
da ist. Nur im Vergleich mit anderen Sequenzen des Archivs aber lassen sich
Lücken und Leerstellen in seinen Texten benennen – oder im Vergleich mit
anderen Archiven.
Der Verdacht, Archive seien sozusagen in der Regel Werkzeuge aktiver,
machtpolitischer Selektion, scheint mir dagegen so etwas wie ein links-romanti-
scher Topos zu sein. Selbstverständlich gibt es in der Geschichte immer wieder
kulturpolitische Ordres, die den Ausschluss und manchmal sogar die Vernich-
tung bestimmter kultureller Segmente bezwecken. Allein dadurch aber, dass sie,
als aktive inquisitorische Maßnahmen, explizit werden müssen, hinterlassen
solche Eingriffe jedoch in der Regel Spuren: Befehle, Aktenvermerke, Begrün-
dungen, Schwärzungen und andere Palimpseste – denken Sie an jene unheim-
lichen Auren, die die wegretuschierten Personen auf den Gruppenbildern der
Stalin-Ära hinterlassen. Schwarze Listen (also Kataloge) werden angelegt, Gift-
schränke, ja Museen der zu vernichtenden Kultur. Und dabei ist noch gar nicht
von den Dokumenten des Widerstandes die Rede, die solche archivpolitische
Unterdrückung provoziert. Aktive Unterdrückung ist zumindest seit der Moderne
einer der wichtigsten Diskurs- und Vertextungsanlässe überhaupt. Man könnte
geradezu behaupten: Je ausdrücklicher etwas aus dem Archiv einer gegebenen
Kultur verdrängt werden soll, desto nachhaltiger wird es sich in dieses Archiv
einschreiben – gespenstisch vielleicht, aber darum nicht weniger machtvoll.
Nein, die Verlustquote bei der Archivierung der Geschichte scheint mir in der
Regel sehr viel banaleren Ursprungs: Wie in Raabes Vogelsang gehen die Dinge
dabei zuerst ihres Gebrauchswertes, ihrer Kontiguitätsrelationen verlustig, und
dann auch noch ihres Erinnerungswertes, ihrer paradigmatischen Dimension.
Am Ende stehen sie in keinerlei textuellen Zusammenhängen mehr und somit
quasi außerhalb der Kultur und werden folgerichtig als Müll aussortiert. Es über-
lebt nur, was – als Baumaterial oder Buchumschlag – sekundäre Verwendung
findet oder was in Erdschichten oder Dachkammern zu liegen kommt, wo es nie-
38 Moritz Baßler
manden stört, oder Dinge wie die Bunker des Zweiten Weltkriegs, deren Zerstö-
rung einfach zu teuer ist. Selbst in aestheticis scheint mir, eher als Museums-
politik, der Fall der grottenhässlichen Badezimmerkacheln und Deckenlampen
paradigmatisch, die wir beim Einzug in die Altbauwohnung selbstverständlich
als Erstes hinauswerfen. Manchmal beschleicht einen dabei kurzzeitig das
Gefühl, die Enkel oder Urenkel könnten einen einst dafür verdammen.
Ins Archiv gelangt dagegen, was auch jenseits seines Gebrauchswertes mit
Kontiguitäts- und Äquivalenzrelationen versehen bleibt, sprich: was vertextet
wird. Dazu eignet sich insbesondere auch die Literatur, die schon Gadamer defi-
niert als „Texte, die nicht verschwinden“, die vielmehr „im ursprünglichen und
eigentlichen Sinne Texte sind“, weil sie nicht im Verstandenwerden sub specie
communicationis, sondern erst im wiederholten Zurückkommen auf sie „eigent-
lich da“ (Gadamer 1984, 46) sind. Womit diese Überlegungen beinahe mit einer
Tautologie enden: denn als Text hatten wir ja definiert, was erstens als Objekt
(noch) vorhanden und zweitens lesbar ist. Lesbarkeit aber bedeutet Semantisie-
rung im Bezug auf ein Vergleichsarchiv und also – siehe Baecker – die Poiesis von
Kultur. Kulturwissenschaftliche Analyse als literaturwissenschaftliche Praxis
wäre demnach als Archivanalyse im Modus der Textualität zu konzipieren. Einfa-
cher, meine ich, sind kulturelle Kontexte analytisch nicht zu haben.
In Literatur zur Theorie des Archivs stößt man nicht selten auf kritisch-pessi-
mistische, ja apokalyptische Untertöne. Derrida etwa klagt:
selbst in dem, was die Archivierung ermöglicht und bedingt, werden wir niemals etwas
anderes finden als das, was der Destruktion aussetzt und wahrlich mit Destruktion bedroht,
indem es a priori das Vergessen und das Archiviolithische in das Herz (coeur) des Monu-
mentes einführt. (Derrida 1997, 26)
Demgegenüber könnte unser pragmatischer Archivbegriff entdramatisierend
wirken. Auch er betont zwar die Zerstörbarkeit der Archive, aber damit ist höchst
unmetaphorisch die materielle Zerstörbarkeit der Datenträger gemeint. Solange
Texte aber in einem intakten Archiv aufbewahrt sind, können sie jederzeit wieder
zum materiellen Ausgangspunkt der Analyse werden, und sei es einer Analyse
des Vergessens. „Potentielle Aktualität“, sagt Wolfgang Ernst, „ist der Aggregat-
zustand, in dem die Archivdaten verharren – eine Lage radikaler Latenz“ (Ernst
2002, 122). Sie sind prinzipiell verfügbar, selbst wenn sie lange nicht oder über-
haupt noch nie gelesen wurden. Fürchtet euch nicht, könnten sie sagen, wir sind
alle noch hier.
Die kulturpoetische Funktion des Archivs 39
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