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LITERATURBESPRECHUNGEN
https://doi.org/10.1007/s11577-020-00657-4
Köln Z Soziol
Methoden
Thomas Scheffer · Ronja Trischler
© Der/die Autor(en) 2020
Akremi, Leila, Nina Baur, Hubert Knoblauch und Boris Traue (Hrsg.): Handbuch.
Interpretativ forschen. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2018. 961 Seiten. ISBN:
978-3-7799-3126-3. Preis: C 49,95.
Wer wäre in Zeiten der Polarisierungen nicht dafür zu haben: ein Wurf, der über-
brückt, statt trennt, der versöhnt, statt spaltet? Die Soziologie scheint hiervon mehr
denn je zu benötigen, um ihre Fliehkräfte zu bändigen. Entsprechend begrüßen auch
wir dieses Verständigungsangebot aus dem Hause der deutschen Wissenssoziologie
und im Geiste des weberianischen Programms einer verstehend-erklärenden So-
ziologie. Der „Wurf“ in dem hier von uns besprochenen, 961 Seiten umfassenden
Handbuch fasst „das Interpretative“ als überwölbendes Programm der Soziologie.
Unter diesem Dach der Deutung versammeln sich so namhafte „qualitativ“ For-
schende wie Hubert Knoblauch, Gesa Lindemann, Jo Reichertz, Gabriele Rosenthal
oder Jörg Strübing ebenso wie „quantitativ“ Forschende wie Eva Barlösius, Nina
Baur oder Leila Akremi.
Doch was genau wird hier mit „interpretativ“ bezeichnet? Einleitung sowie Bei-
träge der ersten beiden Kapitel zur „Theorie und Empirie der Interpretativität“ lassen
in wissenssoziologischer Tradition sowohl ein starkes (enges) als auch ein schwa-
ches (weites) Programm interpretativer Forschung erkennen. Die Klammer des „In-
terpretativen“ ist in ersterem auf Max Webers Vorstellung des Nachvollzugs und
der Erklärung des subjektiv-gemeinten, auf andere gerichteten Sinns individueller
Handlungen bezogen (S. 9f.). Hinzu tritt Alfred Schütz’ fundamentaler Ansatz einer
T. Sc he ffer ( ) · R. Trischler
Institut für Soziologie, Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Theodor-W.-Adorno-Platz 6, 60629 Frankfurt a. M., Deutschland
E-Mail: scheffer@soz.uni-frankfurt.de
R. Trischler
E-Mail: trischler@soz.uni-frankfurt.de
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T. Scheffer, R. Trischler
phänomenologischen Soziologie, der die Deutungsnotwendigkeit und -arbeit jedwe-
der Praxis betont. Diesem engen Programm des Sozialen als interpretativ steht ein
weites oder schwaches Programm gegenüber. Letzteres bezieht sich nicht mehr auf
das Soziale selbst, sondern auf die Forschungspraxis. Es ist nicht die Handlung, die
es für jedwede Soziologie zu interpretieren gilt; es sind die Forschenden, die immer
auch – indem sie forschen – irgendwie interpretieren. Die subjektive Aneignung von
Forschungsgegenständen, Daten und Resultaten sei demnach unvermeidbar.
Noch entlang des starken Programms macht Andrea Ploder gleich im ersten Bei-
trag nach der Einleitung geltend, dass der Begriff der „interpretativen Forschung“
aktuell eine neue „Distinktionsfunktion“ (S. 61) erhalten habe, da der Begriff der
„qualitativen Forschung“, der seit der Verknüpfung von qualitativer und interpretati-
ver Forschung am Ende der 1970er-Jahre wissenschaftspolitisch „ein großer Erfolg
war“ (S. 58), heute an Trennschärfe verloren habe. Dass diese Abgrenzungsfragen
nicht abgeschlossen sind, wird im Querschnitt des ersten Kapitels des Handbuchs
deutlich, wenn beispielsweise in verschiedenen Beiträgen „qualitativ“ und „inter-
pretativ“ teils synonym (Lindemann, Barth und Tübel, z.B. S. 208) und teils ge-
gensätzlich als Überbegriff verwendet werden: Wird einmal im Sinne der Einleitung
von „methodologischen Ansätze[n]“ gesprochen, „die der qualitativen Forschung
im interpretativen Paradigma zugeordnet werden können“ (von Unger, S. 172), wird
woanders „qualitative Forschung als der generische (Über-)Begriff verwendet, der
Ansätze interpretativer Forschung als Teilmenge einschließt“ (Flick, S. 183). Diese
eigenständigen programmatischen Würfe schaffen so in ihrem Nebeneinander teils
mehr Verwirrung denn Klärung bezüglich der Bestimmung und des Status des „Inter-
pretativen“. Das Nebeneinander von starkem und schwachem Programm, so unsere
Skepsis, mag keine stabile Basis bereiten, um die Vielzahl der Forschungsansätze –
von der Biografieforschung über die Variablensoziologie bis hin zur Diskursanalyse
– einzufangen.
Das Wechselspiel zwischen starkem und schwachem Programm und die gleichzei-
tige Bindung an subjektive Handlungen (mal der Beforschten, mal der Forschenden)
unternimmt eine Doppelbewegung: mal verengt es den Begriff interpretativer For-
schung auf die Diagnose von Einzelfällen und schließt damit Ansätze als lediglich
qualitativ aus, wie die Ethnomethodologie, die das Interpretieren der „Members“ fo-
kussiert, oder die Grounded Theory, die die verstreuten interpretativen Konzepte in
Handlungsfelder einordnet; mal verbreitert es den Begriff interpretativer Forschung
und schließt qualitative und quantitative Ansätze ein, weil diese alle auch interpretie-
ren müssen. Am deutlichsten bringen die ersten beiden Beiträge des Einstiegskapitels
dieses Wechselspiel zum Ausdruck: zur „Theorie und Empirie der Interpretativität
in der qualitativen Sozialforschung“ (Abschn. 1.1) mit einem überwiegend (unnötig)
starken Programm einerseits und zur „Theorie und Empirie der Interpretativität in
der quantitativen Sozialforschung“ (Abschn. 1.2) mit einem (unnötig) schwachen
Programm andererseits. Das Handbuch suggeriert auch im Aufbau, dass die vor-
gestellten Methoden jenseits der Unterscheidung qualitativ/quantitativ operieren, ja
dass der (wissenssoziologische) Fokus auf das Interpretative diese „unproduktive“
Unterscheidung unterlaufen könnte. Die Kapitelüberschriften „Analyse kultureller
und struktureller Ordnungen“ (Kapitel 3), „Rekonstruktion von Handlungsprozessen
und -produkten“ (Kapitel 4), „Analyse der Medialität und Materialität von Gesell-
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schaften“ (Kapitel 5) und „Methoden zur Erfassung langfristigen sozialen Wandels“
(Kapitel 6) ordnen die methodischen Ansätze entlang von Bezugsmaterialien, Da-
tentypen und Untersuchungsgegenständen. „Kulturelle und strukturelle Ordnungen“
werden beispielsweise per „Objektiver Hermeneutik“ (Maiwald), „Dokumentari-
scher Methode“ (Kanter), „Qualitativer Inhaltsanalyse“ (Kuckertz) sowie „Neuen
Synthesen von Handlungs- und Strukturanalyse“ (Diaz-Bone) untersucht. Es tauchen
hier standardisierte Verfahren neben nichtstandardisierten, quantitative neben qua-
litativen, methodologisch-individualistische neben holistischen Ansätzen auf. Zwi-
schen den Beiträgen mäandert der Begriff des Interpretativen weiter zwischen einem
starken und einem schwachen „wissenssoziologischen“ Programm, ohne dies anzu-
zeigen oder gar zu reflektieren.
Das starke Programm ist prominent vertreten. In seinem Beitrag zum „Interpre-
tieren in Interpretationsgruppen“ beschreibt Jo Reichertz den Prozess des soziolo-
gischen Deutens in Interpretationsgruppen. Angepeilt wird hier die „Übersetzung
von Sinn“ (S. 73) in Form eines „komplexen kognitiven, instrumentellen [...] kom-
munikativen Prozesses“ (ebd.) anhand von „textförmigen“ (S. 88) Daten. Reichertz
grenzt soziologisches Interpretieren ab von „induktivem Schlussfolgern“ (S. 76)
oder „Kodieren“ (S. 77), von „fiktionaler Erzählung“ (S. 77) und „Alltagsinter-
pretationen“ (S. 77) sowie von anderen „beliebigen“ Interpretationen (S. 79) wie
„Geniestreichen“ (S. 79). Beim „gemeinsamen Deuten“ (S. 94) der soziologischen
Hermeneutiker und Hermeneutikerinnen ließen sich „bessere Produkte bzw. Ergeb-
nisse erzeugen“ (S. 82), da diese „aktiv in Auseinandersetzung mit Team-Kolleg/
innen, der Scientific Community und der Gesellschaft produziert“ (S. 89) würden.
Die Deutungen bewegten sich zeitgleich in der „Welt des Wissens“ (S. 89) und „der
Macht“ (S. 89). Die Untersuchten nähmen an dieser Produktion „Konstruktionen
zweiter [oder] dritter Ordnung“ (S. 103) nicht teil. Hier wird, jenseits der unter-
schiedlichen Ausprägungen der interpretativen Verfahren, das starke Programm der
Interpretation bezogen auf subjektive soziale Handlungen und deren (inter-)subjek-
tive Ausdeutung als Kunstfertigkeit qualifiziert: „Jeder Interpretation“ gehe hier „ein
,aktiver Sprung‘ voraus, der von den Interpretinnen erbracht werden muss. Aller-
dings variiert der Aktivitätsgrad mit den jeweiligen Verfahren der Interpretation: Bei
Paraphrasen ist der Sprung eher gering, bei Inhaltsanalysen (vgl. Kuckartz in die-
sem Band) schon größer und bei hermeneutischen Interpretationen (vgl. Maibaum
und Herbrik in diesem Band) eher sehr groß“ (Reichertz, S. 77). Entlang dieser
provisorischen Graduierung hätte unserer Meinung nach die Möglichkeit bestan-
den, die Ansätze im Handbuch systematisch zu unterscheiden. Maßgebend wäre
dann die Sprungweite zwischen Datum und Deutung, zwischen Material und der
Bedeutungszuschreibung.
Ein anders fundiertes Programm der Interpretation jenseits der engeren Wissens-
soziologie findet sich im Beitrag von Lindemann, Barth und Tübel. Sie bestimmen in
ihrem Beitrag „[m]ethodologisch kontrolliertes Verstehen als Kernstrategie der qua-
litativen Forschung“, dessen Prinzip einer „vermittelte[n] Unmittelbarkeit“ (nach
Helmuth Plessner) dort „implizit wirksam“ (S. 204) ist: „Die interpretierende So-
zialforschung stellt den Sachverhalt zentral, dass ihre Forschungsobjekte Subjekte
sind, die ihre Lebenswelt interpretieren und ihren sinnhaften Bezug auf Dinge und
andere Subjekte eigenständig gestalten“ (S. 205). Lindemann et al. nehmen dafür
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auf verschiedene „theoretisch-methodologische Schulen“ (S. 211) oder „Ansätze
qualitativer Sozialforschung“ (S. 212) Bezug, insbesondere auf die Diskursanaly-
se „als Teil des Mainstreams der qualitativen Forschung“ (S. 211) oder auf die
„Grounded Theory“ (S. 213). „Beide methodologischen Ansätze verschreiben sich
klar dem Prinzip der offenen Frage [...]. Die methodologischen Kontroversen über
das Verständnis des Prinzips der vermittelten Unmittelbarkeit beziehen sich [jedoch]
zum einen auf die Strukturmerkmale des Gegenstandes (Diskursanalyse) bzw. zum
anderen auf die Reflexion der Forschungsbeziehung (Grounded Theory)“ (S. 213).
Unmittelbarkeit tritt hier in verschiedensten Kontaktzonen auf: in der interaktiven
Datenerhebung, in der geteilten kulturellen Erfahrung, in der Rückspeisung der Re-
sultate an die Betroffenen. Entlang der Unterscheidungen des starken Programms
ist der Status dieses qualitativen Beitrags von Lindemann et al. allerdings unsicher;
fällt diese Unmittelbarkeit noch in den vom Handbuch ausgelegten interpretativen
Rahmen?
Einen Übergang vom starken zum schwachen Programm markiert (wenn auch im-
plizit) der Beitrag von Hubert Knoblauch mittels des Begriffs der Reflexion. Er argu-
mentiert für eine „reflexive Methodologie“, mit der „die Sozialwissenschaft ihre Me-
thoden und damit auch ihre Befunde begründen kann, ohne auf absolute Prinzipien
der Letztbegründung, substanzielle oder naive unausgesprochene Wahrheitsbegriffe
zurückgreifen zu müssen. Sie wendet sich vielmehr reflexiv ihren eigenen Praktiken
so zu, dass sie ihr eigenes Handeln daran ausrichten kann“ (S. 226). Zentral ist da-
für das Konzept der „kommunikativen Reflexivität“, das „[i]m Unterschied [einer]
im Selbst verankerten Reflexivität [...] eine Sozialtheorie voraus[setzt], die soziales
Handeln als wesentlich relational versteht, das sich körperlich vollzieht, deswegen
grundsätzlich mit Objektivierungen verbunden, also kommunikatives Handeln ist“
(S. 231). Forschungsdaten dienen dabei der Unterbrechung des „indefiniten Regress“
(S. 237) einer Reflexion des eigenen Vorgehens. „Zentrales Merkmal der reflexiven
Methodologie ist also die auf Daten gestützte empirische Beobachtung der realzeit-
lichen Anwendung einer Forschungsmethode, die ihrerseits mit empirischen Daten
arbeitet“ (S. 237). Knoblauch grenzt sich durch seinen Rückgriff aufs interpretieren-
de Subjekt von ethnomethodologischen und praxistheoretischen Betrachtungen ab
(S. 240): „Auch wenn man bezweifeln will, dass gerade die Differenz des Subjekts
zu den gesellschaftlichen Vorgaben an Methoden, wissenschaftlichem Wissen und
Praktiken die Hauptquelle von Innovationen darstellt, so ist ihre Bedeutung doch so
groß, dass es selbst in den standardisierten Wissenschaften fast immer einen Un-
terschied macht, wer die ,Praktiken‘ durchführt“ (S. 240). Knoblauch unterscheidet
hier nicht Arten der Interpretation, sondern „verteidigt“ die zentrale Setzung des (re-
flexiven wie handelnden) Subjekts in der Wissenssoziologie. Es ist diese Setzung,
die nun einen breiten Begriff der interpretativen Sozialforschung trägt.
Diese Stippvisiten mögen genügen, um das Mäandern des Handbuchs zwischen
starkem und schwachem Programm zu illustrieren. Dabei verdankt das Handbuch
seine eigentliche Pointe einer übergreifenden interpretativen Grundlegung verschie-
denster Forschungsprogramme doch allein letzterem. Rainer Keller (Keller 2012,
S. 1–19) etwa unterscheidet folgende Kernausprägungen des interpretativen Para-
digmas: die Chicago Schule, den symbolischen Interaktionismus, die sozialkon-
struktivistische Wissenssoziologie, die Ethnomethodologie und die Soziologie der
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Interaktionsordnung. Wo nun derart verschiedene Ansätze des Interpretativen im
Spiel gehalten werden, riskiert der Band seine begriffliche Konsistenz. Was genau
wäre nun eine interpretative Forschung: eine Forschung, die jeden soziologischen
Gegenstand letztlich auf ein soziales Handeln zurückführt, das interpretationsbe-
dürftig ist; eine Forschung, die bezogen auf jedweden soziologischen Gegenstand
immer auch auf Mittel der Interpretation vonseiten des oder der Forschenden zu-
rückgreifen muss? Das starke Programm zeigt Ansätze an, in denen die Subjektivität
der Handlung mit verschiedenen Interpretationsverfahren zusammengebracht wird.
Dies schließt etwa Interpretationsgruppenein (im Band bei Hering, Reichertz, Traue,
Schürmann und Pfahl, Tuma und Knoblauch) und gilt auch für Sekundäranalysen,
die „unterstellt, dass Daten auch außerhalb ihres unmittelbaren Erhebungskontextes
ausgewertet und interpretiert werden können“ (Medjedovi´
c, S. 119). Hier kann der
Datenkorpus jenseits der „Primärforscherinnen“ (S. 119) erneut interpretiert wer-
den – und so womöglich den Zeitkern von „damaligen“ Deutungen herausarbeiten.
Im schwachen Programm wird die Subjektivität des klassischen Handlungsbegriffs
auf die Forschung als Handeln rückgespiegelt: auch eine objektivierende Forschung
muss (immer auch) „subjektiv“ handeln bzw. interpretieren.
Das schwache Programm begnügt sich damit, die Forschung als „gelegentlich“
subjektivierend darzustellen; so etwa, wenn in der Statistik verschiedene Metho-
den des weitläufigen Erklärens bemüht werden, die an verschiedenen Zeitpunkten
im Forschungsverfahren nach begrifflichen Einordnungen von Daten und Kategori-
en verlangen und wiederholt das Verhältnis von Fallauswahl und Fallzuschnitt zu
bestimmen haben. Die Forschenden sind hier auch „subjektiv“ gefragt, weil der
Gegenstand selbst nicht die Unschärfe zwischen analytischer Tiefe und Breite in-
klusive des Verstehens und der Generalisierbarkeit der Erklärung „objektiv“ diktiert.
Weitaus mehr „Subjektivität“ ist allerdings gefordert, wo, wie in der partizipativen
Forschung, eine „unkonventionelle Grenzgängerin“ (von Unger, S. 172) involviert
wird, die sich „rein wissenschaftlichen Standards und Gütekriterien verwehrt (und
damit bestimmte methodologische Anforderungen der interpretativen Forschung ver-
nachlässigt)“ (S. 172). Diese Forschungssubjekte sind gerade in solchen Feldern
gefordert, „in denen ein dringender Handlungsbedarf besteht und ethische Gründe
dafür sprechen, eine Forschungsstrategie zu wählen, bei dem auch die Beteiligten
von der Forschungszusammenarbeit profitieren“ (S. 178). Das Forschen wird hier
verteilt, das heißt, die Forschungsteilhabe auf Nichtsoziologen und -soziologinnen
„an allen Phasen des Forschungsprozesses“ (S. 165) ausgedehnt. Die Subjektivität
der Forschenden ist herausgefordert, wo es nicht mehr nur darum geht, „soziale
Wirklichkeit nicht nur zu verstehen, sondern auch zu verändern“ (S. 168). Verfahren
für die gemeinsame Auswertung von Forschenden und Co-Forschenden, in denen
„implizite Wissensbestände expliziert, gemeinsam interpretiert und transformiert“
(S. 170) werden, müssen „unter Beteiligung der Partner/innen durchgeführt wer-
den können“ (S. 170), sodass „Auswertungsverfahren, die schwer nachvollziehbar
sind und ein spezielles Fachwissen oder ein bestimmtes theoretisch-begriffliches
Vorwissen voraussetzen, das nur mit einem unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand
vermittelt werden kann, weniger geeignet“ (S. 171) sind und „begründete Abwei-
chungen von akademischen Maximalforderungen an methodische Genauigkeit und
Vollständigkeit“ (S. 171) stattfinden. Was das wiederum für die Interpretation von
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Handlungen bedeutet, d.h. welche andere Form von Wissen durch „Co-Interpreta-
tion“ erzeugt wird, bleibt hier offen. Im schwachen Programm der Interpretation
genügt es, eine Subjektivität der Forschenden anzunehmen und diese mitlaufend zu
reflektieren.
Starkes wie schwaches Programm werden in den Beiträgen der folgenden Kapitel
(Kapitel 3–6) des Handbuchs anhand verschiedener Datentypen und Erhebungssi-
tuationen verschiedentlich mobilisiert, ohne diese wiederum als solche explizit zu
unterscheiden und abzugrenzen. Das starke interpretative Programm führt Forschun-
gen auf Kulminationspunkte zu, in denen ein komplexer Handlungszusammenhang
am Einzelfall erfasst wird. Die verschiedenen Daten machen je eigene Sinneinheiten
zugänglich, die entlang von Beweggründen ausgedeutet werden (sollen). Die Beiträ-
ge zur „Analyse der Medialität und Materialität von Gesellschaften“ befassen sich
etwa mit der „[v]isuelle[n] Diskursanalyse“ (Traue und Blanc), der „Film- und Fern-
sehanalyse“ (Keppler und Peltzer), der „Artefaktanalyse“ (Lueger und Froschauer)
sowie der „Big Data“ (Reichert). Zur Aufstellung der interpretativen, fallrekonstruk-
tiven Situation entnehmen die vorgestellten Verfahren ihre jeweiligen Daten (Bilder,
Filme, Artefakte, Grafiken) aus einem laufenden gesellschaftlichen Geschehen, in
denen diese eine relative Relevanz entfalten. Der von den Beiträgen angestrebte
Nachvollzug der Deutung dieser „Dokumente“ erfordert nun die Explikation des
Umgangs mit dieser (Ab-)Trennung oder der Explikation der Trias Forschende-
Forschungsdaten-Forschungskontext. Die Beiträge gehen also von einer Datensorte
aus, deren Analyse die Autoren und Autorinnen systematisch vorführen. Die ver-
schiedenen Forschungsdaten – namentlich veröffentlichte Bilder (Traue und Blanc),
eine Fernsehserie (Keppler und Peltzer), eine Unternehmensbroschüre (Lueger und
Froschauer) sowie Datenvisualisierungen (Reichert) – zeigen an: Soziologische In-
terpretation operiert mit sprachlichen Dokumenten und schöpft diese aus den ver-
schiedenen Datentypen per Überführung oder -setzung. So finden sich unter den in
den Beiträgen vorgeschlagenen methodischen Schritten die „Transkription“ (Kepp-
ler und Peltzer, S. 757) sowie die „Schilderung“ (Traue und Blanc, S. 724) oder
„Deskriptive Analyse“ (Lueger und Froschauer, S. 788): „Wichtig ist, dass bei der
Transkription der visuellen und auditiven Dimensionen nichts interpretiert, sondern
lediglich die denotative Ebene des Gezeigten genau und mit Blick für das Detail
beschrieben wird“ (Keppler und Peltzer, S. 757). Das zu interpretierende Dokument
soll selbst nicht schon die Interpretation vorwegnehmen. Das untersuchte „Ding“
oder „Medium“ wird damit freigestellt, da es im Zentrum der Analyse stehen soll
– ganz entsprechend eines „New Materialism“, in dem dessen Eigensinn zentral für
die Theoriebildung wird. Dabei sollte jedoch die formale Ähnlichkeit der metho-
dischen „Schritte“ (Keppler und Peltzer, S. 746; Traue und Blanc, S. 720; Lueger
und Froschauer, S. 782), die die Autoren und Autorinnen vorschlagen, nicht von
den Unterschieden in den präsentierten Verständnissen des Interpretativen ablenken.
Während die Artefakt- und Filmanalysen die Kontexte von Broschüren, Filmen, etc.
zeitweise bewusst ausblenden und die visuelle Diskursanalyse einen Kontext erst
konstruiert – in Form von Verbindungen zwischen Bildern, die als Folie zur Inter-
pretation eines Ausgangsbilds selbst ausgewählt werden –, belässt etwa Reichert
die untersuchten Daten im Kontext ihrer wissenschaftlichen Visualisierungen („heat
mapping“, „trending topics“) und damit in ihrer interpretativen Verwendung. Hier
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zeigt sich wiederum ein Spektrum an „Sprungweiten“ (Reichertz), in denen sozio-
logische Interpreten und Interpretinnen unterschiedlich „frei“ assoziieren. Sie tun
dies mehr oder weniger unabhängig von den lokalen Praktiken, in denen die Bilder,
Filme, Artefakte und Daten ihren Sinn erfahren.
Doch es sind nicht nur diese unterschiedlich weiten Sprünge zwischen Datum und
seiner deutenden Übersetzung mit den dabei ins Spiel gebrachten Subjektivitäten; es
sind – dies dokumentieren die verschiedenen Methodenkapitel des Handbuchs ein-
drücklich – auch die unterschiedlich komplexen soziologischen Forschungsweisen
mit ihren präferierten Gegenständen, in denen sich „interpretativ forschen“ unter-
scheidet. Nur die Forschungsverfahren als Ganze, also als umfassende Herangehens-
weisen und nicht nur forschende Subjekte, sind überhaupt in der Lage, die vorgestell-
ten Datenerhebungen und -analysen zu leisten. Die reduktionistischen (quantitative)
bis verdichtenden (qualitative) Forschungsweisen als soziomaterielle und program-
mierte Praxen betreiben als Ganze das Geschäft des Interpretierens. In diese ist das
jeweilige (theoretisch, analytisch, normativ, etc.) gestimmte Personal eingelassen.
Die im starken Programm unterstellte, unmittelbare interpretative Situation, in der
das zu deutende Handeln und die Deutung der Forschungssubjekte zusammentreffen
sollen, erscheint im Lichte des Spektrums der konkreten Forschungsweisen als zu
stark verengt. Wo es die eigene weberianische Version des Sozialen derart auf die
soziologische Forschung als Praxis selbst anwendet, erweist sich der Band in sei-
ner Anlage als wissenssoziologisch allzu beschränkt. Hier wären Anleihen bei den
Science and Technology Studies, den Laborstudien, der Akteur-Netzwerk-Theorie
oder der Praxisforschung angemessen gewesen, um dem Interpretieren seinen jewei-
ligen Sitz im Forschungsverfahren zuzuweisen.
Ob der im Handbuch vorgeschlagene Begriff des „interpretativ Forschens“ genügt,
die Disziplin zu einen, kann derart stark bezweifelt werden; auch, ob es überhaupt
erstrebenswert ist, das interpretative Paradigma derart zu veruneindeutigen, um eine
geteilte Fundierung vorzunehmen, muss hier bezweifelt werden. Wir meinen: Eine
Betonung der Vielfalt und Verschiedenheit „auf einer Linie“ oder innerhalb eines
Spektrums wäre durchaus möglich, lehrreich und produktiv gewesen. Handbücher,
so ließe sich entgegenhalten, sind keine Orte weitreichender Analysen. Allerdings
sollten Handbücher auch Studierenden dabei helfen, begründet zu ordnen und so
ein Unterscheidungsvermögen auszubilden, etwa indem die für eine Forschung zur
Verfügung stehenden Varianten des Interpretierens programmatisch wie pragmatisch
markiert werden. Derart ließe sich anzeigen, wo ein jeweiliger Ansatz als eine Wahl
unter anderen mit eigenen Kapazitäten wie Beschränkungen erscheint. Hierzu ge-
hört, dass Ansätze durchgängig als interpretativ erkennbar sind; dass für sie das
Interpretieren mal mehr und mal weniger zentral und aufwendig ist; dass es vor
diesem Hintergrund stark-interpretierende bis hin zu teils anti-interpretativen For-
schungsstrategien gibt.
Demgegenüber geraten dem Handbuch die komplexen Forschungsverfahren mit
ihren Instrumenten, Begriffsapparaten, Gegenstandsformaten und Techniken aus
dem ordnenden Blick. Der mangelnde analytische Zugriff rächt sich dort, wo Subjek-
te durchgängig und per se als ausschlaggebende, gleichermaßen relevante Bezugs-
größen gelten (müssen). Dies verstört insbesondere dort, wo, wie in statistischen
Verfahren, raumzeitlich verteilte, technisch vermittelte Interpretationen in Anschlag
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gebracht werden. Der interpretative Bezugspunkt ist mit Blick auf die verschiedenen
Verfahren (der Diskursanalyse, Inhaltsanalyse, Big Data, Videoanalysen, etc.) um
ein weites vielgestaltiger; sie sind dabei unterschiedlich eingelassen in ihren Un-
tersuchungsgegenstand, dessen Teil sie auf verschiedene Weise werden. Solch ein
Programm verteilten Interpretierens ist mit der hier verteidigten Rückfallposition
konventioneller Handlungstheorie verstellt – und damit auch der eigentliche Gehalt
der Deutungen in den Kultur- und Sozialwissenschaft als rekursive Bestände der von
ihnen untersuchten Totalitäten. Dann sind es nicht zuerst Subjektivitäten, sondern
Sozialitäten inklusive ihrer Infrastrukturen und Ressourcen, die Forschungsprozesse
unhintergehbar interpretativ machen: die natürliche Sprache, die Anleihen an Begrif-
fen und Kategorien der beforschten Kultur, die Symbole und Normen der geteilten
Praxiszusammenhänge, die vorgefundenen zeitgenössischen Problematisierungen,
die politischen Aufladungen, etc. Sozialforschungen sind verteilte Deutungen einer
sozialen Situation und allgemeinen Lage, deren Teil sie immer schon sind und ana-
lytisch werden müssen. „An und für sich“ interpretativ sind diese Forschungen dann
und nur dann, so unser Vorschlag, wenn sie sich selbst als Teil des Gegenstands
begreifen und entwerfen, an dem und in dem sie forschen. Dieses Begreifen und
Entwerfen erschließt sich nicht schon in subjektiven Reflexionen, sondern in jeder
Beziehung zwischen apparativ angelegten Forschungsverfahren einerseits und ihrem
zugeschnittenen Gegenstand andererseits. Aus unserer Sicht wäre es dieses erwei-
terte, nicht mehr unmittelbar an den Weberianischen Handlungsbegriff angelehnte
Programm einer Sozialforschung, das die heutigen vielfältigen Sozialforschungen
mit ihren je eigenen bedingten Kapazitäten adäquat zu differenzieren und zu ver-
mitteln vermag.
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Thomas Scheffer Prof. Dr., Professor am Institut für Soziologie der Goethe-Universität Frankfurt. For-
schungsschwerpunkte: Methoden der interpretativen Sozialforschung, Mikrofundierungen von Staatlich-
keit, ethnografische und diskursanalytische Forschung. Aktuelle Publikationen: Kritische Ethnomethodo-
logie. In: Zeitschrift für Soziologie 2020; Constitutive Invisibility. Exploring the Invisible Work of Staff
Advisers (mit J. Schank und S. Laube). In: Political Position Making Social Studies of Science (SSS) 2019;
Micro-Politics by hesitation. How combat soldiers work for and against an order to kill. Ethnographic Stu-
dies 15, 2018.
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Methoden
Ronja Trischler M.A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Goethe-Universität
Frankfurt. Forschungsschwerpunkte: Methoden qualitativer Sozialforschung, Arbeit, Visualität, Materiali-
tät/Technik. Aktuelle Publikationen: Körper/Technik im Standby. Zur Bedeutung kooperativen Wartens für
digitale Arbeit. In: Materialität der Kooperation. Wiesbaden 2019 (als Hrsg. mit S. Gießmann und T. Röhl);
Face to Screen. Eine techniksoziologische Betrachtung videographischer Forschungspraxis in bildschirm-
basierten Situationen (mit J. Motowidlo). In: Handbuch Qualitative Videoanalyse. Wiesbaden 2018 (Hrsg.
C. Moritz und M. Corsten).
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