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Wien – ein Modell im Zukunstest
Alexander Hamedinger, Leonhard Plank und Andreas Novy
Editorial: „Wien für alle“ – Perspektiven zukunsfähiger Stadtpolitik . . . . . . . . 3
Andreas Novy, Richard Bärnthaler und Basil Stadelmann
Infrastrukturen „für alle“: Das Beispiel Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
Justin Kadi
Wiener Wohnungspolitik: Möglichkeiten und Grenzen aktueller Reformansätze . . 25
Gerald Kössl
Gemeinnützige Bauvereinigungen und Housing Associations als intermediäre
Ankerorganisationen -–Erkenntnisse aus Österreich und England . . . . . . . . 35
Leonhard Plank
Öentliche Dienste weiter denken: Internationale Erfahrungen für Wien . . . . . 45
Anna Majó Crespo, und Marc Pérez Batlle
The „Barcelona Ciutat Digital“ Plan: Transition to technological sovereignty . . . . 53
Klemens Himpele und Alina Pohl
Alternative Wohlstandsmessung:
neue Metriken für eine emanzipatorische Stadtpolitik . . . . . . . . . . . . . 60
Kurswechsel
Zeitschri für gesellschas-, wirtschas- und umweltpolitische Alternativen
He 4/2019
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Wenke Herztsch und Alexander Hamedinger
Partizipative Planung: Stand und Perspektiven in Wien – ein Interview . . . . . . 72
Aktuelle Debatte:
CO2-Steuer – sinnvolle Maßnahme oder unfaire Belastung?
Christa Schlager
Editorial. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
Dominik Bernhofer
Die blinden Flecken der CO2-Steuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Angela Köppl, Stefan Schleicher und Margit Schratzenstaller
Fragen und Fakten zur Bepreisung von Treibhausgasemissionen . . . . . . . . . 96
Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Kurswechsel 4/2019: 3–14 www.kurswechsel.at
3
Editorial
„Wien für alle“ – Perspektiven zukunsfähiger Stadtpolitik
Alexander Hamedinger, Leonhard Plank und Andreas Novy
„,Wien ist anders‘. So lautet ein gern bemühter Slogan. In den 20er Jahren
schien es klar, wie ,anders‘ Wien ist: eine ,rote Insel‘ im ,schwarzen Meer‘.
Doch wie anders ist Wien heute?“
(Becker, Hamedinger & Redak 1999: 1)
widmete sich das zweite He der Zeitschri Kurswechsel dem Thema „Wien:
Möglichkeiten und Grenzen einer alternativen Stadtpolitik“. Dies geschah vor dem
Hintergrund einer sich europaweit durchsetzenden Neoliberalisierung, die durch den
Eintritt der ÖVP in die Stadtregierung (–) auch in Wien spürbar wurde. Be-
schrieben wurde das Wiener Modell im Kurswechsel / als „Abweichung“ von der
damaligen nationalen Politik, aber auch von anderen europäischen Stadtpolitiken: Sein
„lokaler Keynesianismus“ setzte weniger auf Standortpolitik durch Anreize für Betriebs-
ansiedlungen, sondern vor allem auf einen starken öentlichen Sektor und die Ankur-
belung der Nachfrage. Gleichzeitig zeigten sich beginnende Abweichungen von der
Abweichungsgeschichte, allen voran bezogen auf die Veränderung der lokalen Staat-
lichkeit in Richtung unternehmerischer Stadt. Dies verleitete zu – aus heutiger Sicht
voreiligen – Vermutungen, das Rote Wien sei an sein Ende gekommen (Novy et al. ).
Tatsächlich zeigten einzelne Beiträge im Kurswechsel /, wie Konzepte der unter-
nehmerischen Stadt, des New Public Management sowie der Privatisierung in konkre-
te Politik umgesetzt wurden. Doch blieben diese Veränderungen im internationalen
Vergleich und im Rückblick moderat.
Die mit einer absoluten Mehrheit ausgestattete sozialdemokratische Stadtre-
gierung war erneut eine „rote Insel“ und zentrale Referenz einer Alternative zu
„Schwarz-Blau“ auf Bundesebene. Dies stärkte innerhalb der Sozialdemokratie die Posi-
tion der traditionellen Fraktion gegenüber den „Modernisierern“ des Dritten Wegs und
verhinderte weitergehende neoliberale Maßnahmen. Vermutlich „rettete“ somit die
schwarz-blaue Bundesregierung (–) das „Rote Wien“. Als diese im Jänner
durch eine rot-schwarze Bundesregierung abgelöst wurde, begann auf Bundesebene
eine lange Phase eines Interregnums, die im Rückblick durchaus gemischt zu bewerten
ist. Ein politisches Patt verhinderte größere Veränderungen – im Guten und im Schlech-
ten. Zwar konnte die ÖVP mit Hilfe der europäischen Institutionen den Diskurs be-
stimmen und einzelne Schritte weitergehender Liberalisierung umsetzen, doch die SPÖ
verteidigte bis die Grundstruktur des Wohlfahrtsstaats, der Sozialpartnerscha
und des öentlichen Eigentums.
Auch deshalb fanden in Wien anders als in anderen Städten, die sich am Dritten Weg
von Schröder, Blair & Co. orientierten, nur verhaltene Schritte der Liberalisierung und
Privatisierung statt, wie Cross Border Leasing. Mit Ausnahme der durchaus schmerz-
haen Privatisierung der Zentralsparkassa blieb das von Karl Lueger und den Sozial-
www.kurswechsel.at Kurswechsel 4/2019: 3–14
4 Hamedinger, Plank, Novy: Editorial
demokratInnen geschaene öentliche Vermögen bis heute im Eigentum der Stadt,
wiewohl durch sogenannte Korporatisierungen eine formale Privatisierung erfolgte
(Plank in diesem He). Wien ist damit weiterhin einer der größten Vermieter Europas,
die Stadtwerke bestimmen die lokale Wirtscha mehr als in allen anderen vergleich-
baren Weltstädten.
Heute, Jahre nach Erscheinen des Kurswechsel /, finden die Feiern zu
Jahre „Rotes Wien“, statt. Wien ist anders geblieben. Das Wiener Modell gilt nicht mehr
als rückwärtsgewandtes „gallisches Dorf“ inmitten eines neoliberalen Mainstream, son-
dern zunehmend als stadtpolitisches Vorzeigemodell, an welchem sich andere Städte
in Europa in verschiedenen Handlungsfeldern (insbesondere im Bereich des sozialen
Wohnbaus und in der im Vergleich deutlich inklusiveren Smart City-Politik) orientieren.
Doch wie kann und muss das Wiener Modell unter den heutigen Rahmenbedingungen
weiterentwickelt werden, um Vorbild zukunsfähiger Stadtentwicklung zu bleiben?
2019 – neue politische Konstellationen, neue Herausforderungen
„Es scheint, dass linke und alternative Kräe nur dann ein lokales Gegen-
projekt etablieren können, wenn der nationale Block keine Massenakzep-
tanz für sein Projekt erreicht …“
(Becker/Novy 1999: 14).
Noch vor einem Jahr befand sich Wien – ähnlich wie in den er Jahren – in einem
durchaus feindlichen Umfeld. Die türkis-blaue Bundesregierung begann, den fiskali-
schen Spielraum Wiens einzuschränken. Die Maastricht-Kriterien, an denen eine neo-
liberal dominierte Europäische Kommission festhielt, und das deshalb angestrebte
Nulldefizit beschränkten Wiens Investitionsmöglichkeiten ebenso wie eine vom Zen-
tralstaat geformte Sozialpolitik, die Kosten auf die großen Städte abwälzte.
Doch gab es einige unerwartete Veränderungen. Auf europäischer Ebene haben
die Wahlen zum Europäischen Parlament und die danach erfolgten Weichenstellungen
zu diskursiven Veränderungen geführt, die zu größeren lokalen Handlungsspielräumen
führen können. Der „European Green Deal“ und damit einhergehenden Forderungen
nach massiven Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen, weisen den Kommunen eine
wichtige Rolle im Kampf gegen den Klimawandel zu – und rücken das Thema Infra-
strukturen ins Zentrum europäischer Politik. Und der Verweis, dass der Übergang ge-
recht zu organisieren sei („Just Transition“) zeigt die Notwendigkeit, einen gewissen
sozialen und regionalen Ausgleich sicherzustellen, um Massenproteste wie die Gelb-
westen zu verhindern. Ob und inwiefern dies fest verankerte neoliberale Politikmuster,
von Austeritätspolitik bis Marktfundamentalismus, erschüttern kann, wird sich zeigen.
Auf Bundesebene haben die Nationalratswahlen zu einer Schwächung der FPÖ und
einer Stärkung der Grünen geführt. Dies mündete im Jänner in der Bildung einer
türkis-grünen Bundesregierung. Ihr Regierungsübereinkommen „Aus Verantwortung
für Österreich“ lässt für die Kommunalpolitik Vieles oen: So wird gleichzeitig ange-
kündigt, an neoliberalen Politikmustern festzuhalten (z. B. in der Förderung von Woh-
nungseigentum und Steuersenkungen) und neue Schwerpunkte zu setzen (Ausbau
öentlicher Infrastrukturen allen voran des öentlichen Verkehrs und der Pflege). Tür-
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Hamedinger, Plank, Novy: Editorial 5
kis-Blau ist zumindest zur Zeit nicht erwünscht. Doch hat damit das autoritär-neolibe-
rale Modell der Ausgrenzung der Zivilgesellscha, der Marginalisierung von parlamen-
tarischer Opposition und des Zugris auf kommerzielle Medien seine Legitimität
verloren? Gibt es neue Spielräume für ein „lokales Gegenprojekt“ (Becker/Novy :
), das zeigt, wie es zukunsfähiger Stadtpolitik gelingen kann, gleichermaßen Klima-
schutz und soziale Teilhabe zu verwirklichen?
Weltweit steht die Kommunalpolitik heute vor diversen Herausforderungen, wobei
Klimakrise, Digitalisierung und das Bröckeln des sozialen Zusammenhalts von beson-
derer Bedeutung sind. war von der sich verschärfenden Klima- und Umweltkrise
gekennzeichnet. Krisen sind niemals bloß objektive Phänomene, denn die Wissenscha
weist schon lange auf die dramatische Zuspitzung der ökologischen Krise und die damit
einhergehende Überschreitung planetarischer Grenzen hin (Rockström et al. ).
Krisen sind immer auch subjektiv, sie hängen von Deutungen ab, durch Einzelne und
die Gesellscha (Jessop ). kam es zu genau diesem Durchbruch in der Wahr-
nehmung der Klimakrise – Sie gilt nun als persönliche Gefahr und kollektive Heraus-
forderung. Die von Greta Thunberg losgetretene „Fridays For Future“-Bewegung fordert
– unter Verweise auf die Befunde internationaler ExpertInnen – „schnelle, weitreichen-
de und beispiellose Veränderungen in allen Bereichen der Gesellscha“ (IPCC :
). Der „European Green Deal“ ist ebenso eine Reaktion darauf wie die Ausrufung des
Klimanotstands durch das Europäische Parlament und zuvor vieler hunderter Städten,
Regionen und Staaten. Ob die Eindämmung der Erderwärmung gelingt, wird auch in
Städten mitentschieden, denn sie sind für rund % der verbrauchten Energie verant-
wortlich und für etwa bis % der globalen Treibhausgase (van Staden ).
Eine zweite Herausforderung stellt der technologische Wandel dar, der als disruptiv
(völlig neuartig), bedrohlich (Arbeitsplatzverlust), unvermeidlich (Technikdeterminis-
mus), aber auch befreiend (Technooptimismus) gerahmt wird. Tatsächlich finden auch
Digitalisierung, Industrie und Arbeit ., Künstliche Intelligenz, Big Data oder das
Internet der Dinge nicht losgelöst von gesellschalichen Verhältnissen statt, sondern
sind umkämp und gestaltbar (BEIGEWUM ). Es wird zu grundlegenden Verände-
rungen in der Arbeitswelt kommen – keinesfalls nur im schon weitgehend automati-
sierten Industriesektor, sondern vor allem im Dienstleistungssektor (z. B. Einzelhandel,
Post, Banken, Pflege) (Butollo/Nuss ). Die Förderung und Implementierung der
digitalen Transformationen sind „ein umkämpes Terrain von IT-Unternehmen, Stadt-
regierungen und stadtpolitischen Bewegungen“ (Bauriedl/Strüver : ). Auch die
Vielfalt an Smart-City Strategien zeigt, dass Städte keine Opfer global operierender
Technologie-Konzernen sind – auch wenn digitale Plattformen lange Zeit erfolgreich
Arbeits-, Sozial-, Gewerbe- und Steuerrecht umgangen und Schlupflöcher ausgenutzt
haben (Biber et al. ). Barcelona zeigt, wie sich eine Stadtverwaltung gegenüber
BürgerInnen, lokalen Unternehmen und Organisationen önen kann (Exner et al. ;
Majó Crespo/Pérez Batlle in diesem He).
Die dritte Herausforderung für zukunsfähige Stadtentwicklung ergibt sich aus der
Erosion des sozialen Zusammenhalts und der Zunahme sozio-ökonomischer Ungleich-
heiten. Die Aushöhlung der Institutionen liberaler Demokratie – von den Rechten von
Minderheiten, der Opposition und der Zivilgesellscha bis hin zum Zugri auf (kom-
merzielle) Medien und einer systematischen Politik der Sündenböcke – findet heute
auch in unmittelbarer Nachbarscha Wiens statt. Und auch die zunehmende sozioöko-
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6 Hamedinger, Plank, Novy: Editorial
nomische Ungleichheit macht vor den Toren Wiens nicht halt: So sind die nominellen
Markteinkommen des unteren Quartils der unselbständigen Beschäigten im Zeitraum
– um knapp % gesunken, während sie für das oberste Quartil um rund %
gestiegen sind (vgl. Beitrag von Kadi in diesem He). Hinter dieser Entwicklung stehen
unter anderem Struktureekte am Arbeitsmarkt, wie die Zunahme von Teilzeitbeschäf-
tigten oder die steigende Bedeutung des tertiären Sektors (Schmee ).
Nicht zuletzt wird diese Entwicklung von veränderten demographischen Mustern
geprägt. Während Wien bis schrumpe, wuchs die Stadt allein seit Anfang der
er Jahre um mehr als ein Fünel. Dies zeigt die Dynamik der Stadt („Wien wächst“),
stellt die städtische Arbeitsmarkt- und Infrastrukturpolitik aber vor die Herausforderung,
wie in der durch Zuwanderung heterogener gewordenen Stadtgesellscha sozialer Zu-
sammenhalt sichergestellt werden kann. Schließlich steht auch Wien wie viele andere
Städte vor der Herausforderung einer steigenden Zahl von Menschen, die zwar in Wien
ihren Lebensmittelpunkt haben, aber nicht wahlberechtigt sind. Dies tri vor allem
Bevölkerungsgruppen, die auch sozioökonomisch benachteiligt sind (Verlic/Hammer
).
Innovative Ansatzpunkte einer „Stadt für alle“
Es gibt verschiedene international diskutierte Ansätze für eine zukunsfähige Stadt-
politik, die soziale Gerechtigkeit und Solidarität mit der Ökologisierung von Arbei-
ten, Wohnen und Leben verbinden. Im Folgenden werden einige dieser Modelle und
Vorschläge vorgestellt, und mögliche Anregungen für die Wiener Stadtpolitik aus-
gelotet.
Der neue Munizipalismus will die Gemeinwohlorientierung städtischer Institutio-
nen durch eine neue Beziehung zwischen Stadtregierung und sozialen Bewegungen
stärken (Vollmer ). Das „Lokale“ gilt als Möglichkeits- und Experimentierraum für
eine neue Art von Politik. Dies nicht zuletzt, weil das „Lokale“ näher an den Lebens-
welten der Menschen ist und Mobilisierung und Organisation erleichtert (Harvey ).
Der neue Munizipalismus verbindet Institutionenpolitik im Sinne einer Demokratisie-
rung mit der Förderung der Selbstorganisation der BewohnerInnen und deren Inklu-
sion in stadtpolitisches Handeln. Im Widerstand gegen Dominanz und Kontrolle
braucht es die konkrete Wiederaneignung und Selbstorganisierung gesellschalichen
Lebens (Gorz : ). Ähnlich wie im Ansatz der „emancipatory cities“ (vgl. etwa
Lees ) geht es daher um Freiheit und Selbstbestimmung, aber eben auch um so-
ziale Gleichheit.
Es gibt Versuche, diese neu entstehenden selbstorganisierten Innovationen institu-
tionell abzusichern, u. a. durch eine „Feminisierung der Politik“ (Vollmer : )
und die „Beteiligung unabhängigerer AkteurInnen, ihre territoriale Verankerung, ein
starkes Bemühen um Diversität, proportionale Vorwahlsysteme, partizipative Program-
me, die Einführung von verpflichtenden ethischen Codes, ein niedriges Maximalein-
kommen sowie eine strenge Rechenschaspflicht“ (Kubazeck/Raunig : ). Diver-
se Erfahrungen wurden in einem eigenen Bericht zusammengefasst: „Fearless Cities. A
Guide to the Global Municipalist Movement” (Barcelona en Comú ). Es geht um
einen umfassenderen Begri des Öentlichen, der nicht auf staatliches Eigentum redu-
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Hamedinger, Plank, Novy: Editorial 7
ziert ist, sondern auch Räume der Selbstverwaltung umfasst. Qualität und Universalität
der öentlichen Dienste sind politisch umkämp (Brunner et al. ; Asara ). Es
geht also ausdrücklich um eine breitere Demokratisierung von Lebensbereichen. Wei-
ters versucht der neue Munizipalismus, Bündnis der Städte gegen neoliberale, autori-
täre und rassistische Politiken in Europa zu schaen (Kubazeck/Raunig : .;
Rusell ). Fraglich bleibt, wie die Bewegungsdynamik und die Verbindung zu den
Lebenswelten der Menschen dauerha aufrechtzuerhalten sind. Die Kommunalwahlen
in Spanien zum Beispiel führten zu Verlusten der regierenden munizipalistischen
Bewegungen. Madrid wird wieder konservativ regiert, in Barcelona brauchte Bürger-
meisterin Colau die Unterstützung der Liberalen für ihre Wiederwahl.
Die „Solidarity Cities“ sind ein weiteres Netzwerk europäischer Großstädte, das auf
eine koordinierte Vorgehensweise in der Flüchtlingsthematik pocht und gleichzeitig
WissenschalerInnen, AktivistInnen, migrantische Organisationen und soziale Bewe-
gungen vernetzt, die sich für Abschiebestopps und die Aufnahme von Flüchtlingen
einsetzen. Gefordert wird ein Recht auf globale Bewegungs- und Niederlassungsfreiheit
für alle sowie eine Entkoppelung des Zugangs zu Rechten und Ressourcen in der Stadt
von Nationalität und Staatsbürgerscha (Kron/Lebuhn : ). In der damit aufge-
worfenen Debatte über „Urban citizenship“ (Stadtbürgerscha) wird „Staatsbürgerscha“
als Ausgangpunkt des Zugangs zu städtischen Ressourcen und Rechten hinterfragt und
grundsätzlich nach den Möglichkeiten der Förderung der gesellschalichen und poli-
tischen Teilhabe auf städtischer Ebene auch für Nicht-StaatsbürgerInnen gesucht (etwa
über die Ausstellung von „kommunalen Ausweisen“ wie in den „sanctuary cities“ in
den USA oder Kanada). Die Bewegung der „Solidarity Cities“ fordert soziale Rechte in
bestimmten Aspekten (z. B. Wohnen). Recht-auf-Stadt-Ansätze in der Tradition Henri
Lefebvres () streben danach, die Stadt als „sozialistisches Gemeinwesen“ umzu-
bauen, um Armut und soziale Ungleichheit sowie die ökologische Krise zu bekämpfen
(Harvey : ; Kron/Lebuhn : ).
Ein letzter Strang positioniert sich explizit in Opposition zu den dominanten Leit-
bildern lokaler ökonomischer Entwicklungsstrategien der letzten beiden Jahrzehnte.
Die „Foundational Economy“ fokussiert auf die - für Unternehmen wie BürgerInnen -
grundlegenden (foundational) wirtschalichen Aktivitäten, die die Infrastrukturen des
zivilisierten Alltagslebens ausmachen. Sie sind binnenwirtschalich ausgerichtet und
umfassen wesentliche Teile der Daseinsvorsorge und Nahversorgung (Foundational
Economy Collective ). Leitendes Ideal ist dabei die Vorstellung einer „gemischten
Wirtscha“ im Sinne von Polanyi (), die auf Basis von Bestehendem (z. B. Vermö-
genswerten, Institutionen, Governance) entwickelt werden soll. Dem Lokalstaat kommt
hierbei eine zentrale Rolle zu. Dies erfolgt aber nicht zwingend in klassisch-etatistischer
Form, sondern ruht auf breiten Allianzen unter Einbeziehung unterschiedlicher Ak-
teursgruppen vor Ort, was einen Wandel der lokalstaatlichen Steuerung hin zu einer
experimentellen Governance nötig macht (Morgan ). Diese müsse über Fragen
rechtlicher Eigentümerscha hinausgehen und auch die jeweiligen Organisations- und
Geschäsmodelle in den Blick nehmen. Denn wie die weltweite stattfindenden Re-
kommunalisierungen zeigen, folgt die zu beobachtende Rückkehr des Lokalstaats unter-
schiedlichen ideologischen Motiven – von radikal-demokratischen Projekten in Barce-
lona zu autoritären Entwicklungen in Ungarn (Plank ). Auch die Imitation von
Finanzialisierungspraktiken (z. B. Verbriefungen auf Basis kommunaler Vermögens-
www.kurswechsel.at Kurswechsel 4/2019: 3–14
8 Hamedinger, Plank, Novy: Editorial
werte) zeigt die Grenzen eines beschränkten Fokus auf Eigentumsrechte (Thompson
et al. ).
Aus diesen Konzepten und Erfahrungen einer „Stadt für alle“ können wichtige Leh-
ren für eine zukunsfähige Stadtpolitik in Wien gezogen werden – sowohl was die
Stärkung der Alltagsökonomie und die damit verbundene Behauptung des öentlichen
Sektors in der Daseinsvorsorge betri als auch die Ausweitung von politischer und
sozialer Teilhabe im Sinne von „StadtbürgerInnenrechten“ und die weitere Önung
der bürokratisch-etatistischen Governance für soziale Bewegungen und die Zivilgesell-
scha. Städte sind wichtige Akteure, um eine Politik der sozial-ökologischen Transfor-
mation voranzutreiben, die die Forderung nach Freiheit für und Inklusion von allen
mit neuen Regelsetzungen und Grenzziehungen verbindet. Gerade auch den vielfältigen
nicht-nachhaltigen Freiheitsforderungen eines konsum- und kapitalstarken sozialen
Milieus müssen Grenzen gesetzt werden – sowohl beim Schließen von Steuerumge-
hungsschlupflöchern als auch bei SUVs in der Stadt (vgl. dazu Blühdorn ; Reckwitz
; Novy et al. ).
Gutes Leben für alle – ein Wiener Modell zukunsfähiger Stadtentwicklung?
Zukunsfähige Stadtpolitik ist heute wesentlich eine Politik, die den notwendigen
ökologischen Umbau so organisiert, dass Teilhabe ermöglicht wird und der soziale
Zusammenhalt gewährleistet bleibt. Der notwendige Kulturwandel hin zu einem neu-
en Verständnis von gutem Leben erfordert eine neue Balance aus individueller Selbst-
verwirklichung und notwendigen sozialen und ökologischen Grenzsetzungen. Die
vergangenen Jahrzehnte waren charakterisiert durch Dynamisierung und Auflösung
von Grenzen bis hin zu Globalisierung und Digitalisierung. Aktuell gewinnen Gegen-
bewegungen an Bedeutung, die neue Regeln und Grenzen fordern – angefangen von
ökologischen Grenzen im Ressourcenverbrauch bis zur Regulierung von digitalen Platt-
formen (Zubo ; Kallis ).
Was braucht es nun unter diesen konkreten Bedingungen, um eine zukunsfähige
Stadt zu schaen, die allen BewohnerInnen ein gutes Leben ermöglicht? Die Stadt Wien
definiert ihr ambitioniertes Ziel der Stadtentwicklung folgendermaßen: „Hohe Lebens-
qualität für alle Wienerinnen und Wiener bei größtmöglicher Ressourcenschonung
durch umfassende soziale und technische Innovationen“ (vgl. Stadt Wien a). In
diesem abschließenden Teil werden wir zentrale Erkenntnisse dieses Hes zusammen-
fassen, die Wege jenseits autoritärer und ausgrenzende Stadtpolitik aufzeigen. Wir mei-
nen, das Wiener Modell des guten Lebens für alle müsste zwei seiner Säulen weiter-
entwickeln: ein bewohnerzentriertes Konzept von Stadtbürgerscha, das Teilhabe und
Inklusion stärkt sowie die sozialökologische Transformation seiner städtischen Infra-
struktur.
Stadtbewohnerzentriertes Konzept von Stadtbürgerscha (urban citizenship)
Aus unserer Sicht ist ein erweitertes Konzept von Stadtbürgerscha von zentraler Be-
deutung für zukunsfähige Stadtentwicklung. Vor Jahren verankerte die österrei-
chische Bundesverfassung die gleichen Rechte aller StaatsbürgerInnen. Im Laufe des
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Hamedinger, Plank, Novy: Editorial 9
. Jahrhunderts gesellte sich zur formalen Gleichheit vermehrt auch materielle und
soziale Gleichheit (Piketty ). Doch braucht es im . Jahrhundert darüber hinaus
ein stadtbewohnerzentriertes Konzept von Stadtbürgerscha (urban citizenship), denn
für die Teilhabe am städtischen Leben braucht es gleichermaßen bürgerliche, politische
und soziale Rechte (Marshall ). Doch sind fast ein Drittel der BewohnerInnen
Wiens vom vollen Wahlrecht ausgeschlossen. EU-BürgerInnen dürfen ihr Wahlrecht
einzig bei Bezirksvertretungswahlen ausüben. Und untersagte der Verfassungs-
gerichtshof das Ausländerwahlrecht, weshalb rechtliche Besserstellung ausländischer
BewohnerInnen bei politischen Wahlen nicht in Sicht sind.
Unser Vorschlag fokussiert daher neue Räume des Politischen, nämlich eine sozial-
ökonomische Demokratisierung. Darunter verstehen wir die Ausweitung des demo-
kratischen Raumes über bestehende Institutionen parlamentarischer und direktdemo-
kratischer Institutionen hinaus. Konkret umfasst dies auch die Teilhabe an der Gestal-
tung des Lebensumfelds sowie der Qualität und des Preises von öffentlichen
Infrastrukturen und Dienstleistungen.
Partei- und Politikverdrossenheit ist heute weit verbreitet, was die Legitimation von
gemeinwohlorientiertem Handeln schwächt. Deshalb braucht es mittels sozialökono-
mischer Demokratisierung neue Formen der Einbindung der BewohnerInnen, und
zwar nicht nur der artikulationsfähigen Bevölkerung und nicht nur derjenigen mit
einem österreichischen Pass. Partizipationsangeboten sind heute vielfacht selektiv. Des-
halb betont Wencke Hertzsch in ihrem Interview in diesem He, wie wichtig die Wei-
terentwicklung der Partizipationsprozesse in Richtung Ko-Produktion und Ko-Krea-
tion wäre. Sie plädiert dafür, die Oenheit von Gestaltungs- und Entscheidungsprozes-
sen zu fördern. Gleichzeitig müssten zentrale Zielsetzungen der Stadt Wien wie
Gemeinwohlorientierung, Klimapolitik und Stärkung der öentlichen Daseinsvorsor-
ge den Rahmen für konkrete Beteiligungsprozesse setzen. So erfordert die ernsthae
Umsetzung der städtischen Klimastrategie und den damit einhergehenden Dekarboni-
sierungszielen, dass in lokalen Beteiligungsprozessen nur Projekte umgesetzt werden,
die diesen Zielsetzungen entsprechen – konkret bräuchte es also einen klaren Rahmen
für eine städtische Mobilitätswende auch im Grätzel, die Rad fahren, Zu-Fuß-Gehen
und den öentlichen Verkehr fördert. Zudem wäre das Bereitstellen von transparenten
Dialogen und Beteiligungsangeboten, insbesondere auch für sozialen Gruppen ohne
laute Stimme, wichtig für einen gerechten Interessensausgleich.
Die Önung des politisch-administrativen Systems für die Mitwirkung der Bevölke-
rung an der Entscheidung und Gestaltung des Gemeinwesens sowie die Förderung der
zivilgesellschalichen Selbstorganisation ist für eine zukunsfähige Stadtentwicklung
wichtig. Aber auch diese Önung braucht Grenzziehungen und Regelsetzungen, z. B.
in den Zielsetzungen (Welche Ziele sind in einem Stadtteil legitim: mehrheitlich be-
fürwortete Segregation?), in den Themenfeldern (in welchen stadtpolitischen Fragen
macht das Sinn: Stadtteilbefragungen zur Verkehrspolitik?) und in den Kommunika-
tionsprozessen selbst. Nicht zuletzt ergeben sich daraus Herausforderungen für die
Wiener Planungskultur, denn es braucht dringend den Übergang von einer „Kultur des
Einforderns von Mitbestimmungsmöglichkeiten zur einer Kultur des gemeinsamen
Gestaltens (Co-Creation)“ (Stadt Wien b: ).
Wie der Beitrag von Plank in diesem He zeigt, ist auch bei den öentlichen Diensten
eine Önung der bestehenden städtischen Governance möglich, die sich an internatio-
www.kurswechsel.at Kurswechsel 4/2019: 3–14
10 Hamedinger, Plank, Novy: Editorial
nalen Referenzmodellen orientieren könnte. Exemplarisch wäre hier der städtische Was-
serversorger „Eau de Paris“ zu nennen, der im Zuge der Rekommunalisierung der Was-
serversorgung mit einem neuen Aufsichtsgremium ausgestattet wurde, dem neben Be-
schäigten auch VertreterInnen von Umwelt- und KonsumentInnenschutzorganisationen
sowie externe ExpertInnen angehören. Darüber hinaus wurde auch eine eigene Wasser-
beobachtungsstelle eingerichtet, in dem alle relevanten Dokumente über die Pariser
Wasserpolitik eingesehen werden können. Derartige Modelle könnten eine Reform der
Public-Governance-Strukturen der formal ausgelagerten Wiener Stadtwerke inspirieren.
Ein stadtbewohnerzentriertes Konzept von Stadtbürgerscha (urban citizenship), das
individuelle bürgerliche, politische und soziale Rechte gewährt, sieht Teilhabe als uni-
verselles Recht. Es ist ausdrücklich kein Sozialstaatsmodell für die Bedürigen, sondern
für alle. Während es bei fearless cities und solidarity cities stark um eine Kultur der
Oenheit für flüchtende Menschen geht, geht es bei einem stadtbewohnerzentrierten
Modell um Rechte, die im Handlungsbereich der Kommune liegen – dazu zählt das
Fremdenrecht nicht. Konkret kann das Modell unterschiedliche Ansatzpunkte haben:
Rechte könnten an die Meldung eines ordentlichen Wohnsitzes in der Stadt gebunden
werden. Ein strikteres Modell bindet Rechte an den mehrjährigen Aufenthalt in der
Stadt, wie dies aktuell mit dem Wien-Bonus nach fünf Jahren durchgehenden Meldung
zu Bevorzugung beim Zugang zu Gemeindewohnungen führt. Mit einem Meldezettel,
bzw. einer bestimmten Mindestdauer des Wohnsitzes in der Stadt, könnte eine Wien
Card erwerbbar sein, die den StadtbewohnerInnen freien oder ermäßigten Zugang zu
zentralen städtischen Infrastrukturen und Dienstleistungen ermöglicht – vom öent-
lichen Verkehr und City Bikes bis zu Bädern und Museen. Konkret könnte von bestehen-
den Modellen wie „Wien Mobil“ ausgegangen werden und andere Angebote digitalisiert
und/oder erweitert werden (z. B. Kulturpass).
Sozialökologische Infrastrukturen zur Stärkung der Alltagsökonomie
Die Klimakrise ist eine der zentralen Herausforderungen zukunsfähiger Stadtent-
wicklung, die kollektives Handeln erfordern. Die Honung auf individuelle Verhaltens-
änderungen und Bewusstseinsbildung ist ohne radikal geänderte Rahmenbedingungen,
neuen Regeln und Infrastrukturen nicht möglich. So wie es die sozialen Infrastrukturen
des Roten Wiens, insbesondere den Gemeindebau und Freizeiteinrichtungen, brauch-
te, um sozialen Zusammenhalt zu sichern, braucht es sozialökologische Infrastrukturen,
die leistbar und für alle zugänglich sind, um auf ressourcenschonende Weise Bedürf-
nisse zu befriedigen.
Schon lange versucht die Stadt Wien, in Koalition mit anderen Akteuren und Netz-
werken, Widerstand gegen die marktschaende europäische Liberalisierungspolitik in
der Daseinsvorsorge zu organisieren. Deutsche und österreichische Kommunen ver-
bindet hierbei eine lange Tradition der kommunalen Selbstverwaltung, die durch ein
einseitiges Verständnis von Binnenmarkt unterlaufen wird. Dass europäisch vernetzter
Widerstand erfolgsversprechend sein kann, zeigt sich an der aktuellen Auseinander-
setzung um die Neuregelung des EU-Rechtsrahmens für die Plattformökonomie (Hass-
ler et al. ).
Die Digitale Agenda Wien legt in sieben Handlungsfeldern konkrete kurz- und
mittelfristige Maßnahmen fest, um Wien als Digitalisierungshauptstadt in Europa zu
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Hamedinger, Plank, Novy: Editorial 11 11
positionieren. Die programmatische Ausrichtung folgt dem Manifest eines „digitalen
Humanismus“, das festhält, wie Informationstechnologie menschlichen Werten und
Bedürfnissen gerecht werden kann (Wiener Manifest für Digitalen Humanismus ).
Ausdrücklich geht es dabei im Sinne der Aulärung um einen „europäischen“ Weg der
Gestaltung technologischer Entwicklung. Dies erfordert eine bewusste Distanz zum
vorherrschenden Dynamisierungsparadigma und die demokratische, inklusive und
ökologische Gestaltung eines Regulierungsparadigmas (Reckwitz ). Letzteres macht
öentliche Debatten und gesellschaliche Auseinandersetzungen notwendig, um den
digitalen Wandel in den Dienst sozial-ökologischer Transformation zu stellen (WBGU
). Eine derartige „sane Digitalisierung“ wäre durch digitale Suzienz, Datenschutz
und Gemeinwohlorientierung gekennzeichnet (Lange und Santarius ). Europäische
Erfahrungen auf städtischer Ebene liefern konkrete Anknüpfungspunkte und Experi-
mente (Morozov/Bria ; Stadt Wien b; Majó Crespo und Pérez Batlle in diesem
He), wie eine smarte Stadtpolitik sozialökologische Transformationsprozesse unter-
stützen kann, wenn sie Partizipation mit Gemeinwohlorientierung und der Bekämp-
fung sozialer Ungleichheit verbindet (Luque et al. : .)
Clemens Himpele und Alina Pohl diskutieren in ihrem Artikel in diesem He, wie
Wohlstand gemessen werden kann. Dabei stellen sie bisherigen Messkonzepte in Frage,
da diese wichtigen Elemente eines guten Lebens nicht adäquat abbilden, da sie vor-
rangig auf monetäre Ressourcen (Geldeinkommen und Transferleistungen) fokussieren.
Doch ermöglichen steigenden Konsummöglichkeiten aus individuellen Markteinkom-
men nur sehr eingeschränkt ein gutes Leben in der Stadt. Das gute Leben hat in den
Städten des . Jahrhunderts mehr mit nachhaltigen und allen zugänglichen Infra-
strukturen, mit Zeitwohlstand und gleichen Teilhabechancen zu tun. Nicht-monetäre
Angebote, insbesondere öentliche Infrastrukturen, leisten einen wesentlichen Beitrag
zur Erhöhung von Lebensqualität und Wohlstand in der Stadt. Mögliche Anknüpfungs-
punkte für alternative Wohlbefindens-Messungen in Wien reichen von komplexeren
indikatorbasierten Systemen à la „Wie geht’s Österreich?“ (Statistik Austria ) zu
simpleren Messkonzepten grundlegender Lebensqualität wie dem Vorschlag des Resi-
dual-Haushaltseinkommens, das vom verfügbaren Einkommen noch die unvermeid-
lichen Ausgaben für Wohnen und Mobilität abzieht (Froud et al. ).
Und genau dies ist historisch gesehen Wiens große Stärke. Seine städtische Infra-
struktur, die unter Lueger und dem Roten Wien entstanden ist, ermöglichte es im
Wohlfahrtskapitalismus, gleichermaßen wirtschaliche Entwicklung zu fördern und
sozialen Fortschritt zu verwirklichen. Novy et al. zeigen in ihrem Beitrag in diesem He,
wie öentliche Infrastrukturen heute ermöglichen, Gemeinwohlorientierung und De-
Karbonisierung zu verbinden. Sie definieren sozialökologische Infrastrukturen als Inf-
rastrukturen, die ökologisch nachhaltig und „für alle“ zugänglich sind (z. B. im Bereich
Bildung, Alltagsökonomie, Mobilität, Freizeitangebot, öentlicher Raum). Die Förde-
rung von Formen nachhaltiger Mobilität, eine stärkere Sozialraum- und Wohnumfeld-
orientierung in der Standortentscheidung („Zugänglichkeit“) sowie die Gewährleistung
der Leistbarkeit solcher Infrastrukturen sind Ansatzpunkte einer sozialökologischen
Ausrichtung der städtischen Infrastrukturen. Justin Kadi betont in seinem Artikel, dass
die politische Regulierung von Profitinteressen in der Wiener Wohnungspolitik leist-
bares Wohnen fördert. In seiner Beurteilung der aktuellen Maßnahmen zur Bereitstel-
lung von preiswertem Wohnraum (z. B. durch die Einführung der Widmungskategorie
www.kurswechsel.at Kurswechsel 4/2019: 3–14
12 Hamedinger, Plank, Novy: Editorial
„Geförderter Wohnbau“) kommt Kadi zum Schluss, dass dies gute Ansätze sind, um
gegen Vermarktlichung und zunehmende Wohnkostenbelastungen anzukämpfen.
Gleichzeitig bleiben diese Maßnahmen angesichts der sich verschärfenden Probleme
am privaten Wohnungsmarkt bisher noch „stückha“ und ungenügend.
Gemeinwohlorientierung und Leistbarkeit kann sichergestellt werden, indem der
lokale Staat Infrastrukturen (z. B. Wohn-, Wasser- und Energieversorgung) selbst bereit-
stellt. Neben der Weiterentwicklung etablierter lokalstaatlicher Modelle (Stadtwerke,
Interkommunale Kooperation) in Richtung verstärkter Transparenz und Ökologisierung
nehmen intermediäre Organisationen schon lange eine wichtige Rolle bei einer zu-
kunsfähigen Stadtentwicklung ein. Der Beitrag von Gerald Kössl weist auf die Rolle
der gemeinnützigen Wohnungswirtscha in Österreich und England hin und illustriert
beispielha, welchen ökonomischen und gesellschalichen Mehrwert diese gemein-
wirtschalich agierenden Ankerinstitutionen produzieren können. Auch das kürzlich
lancierte Pilotprojket des Wiener Stadtgreißler versucht, einen lokalen Anker im Grät-
zel zu setzen, um damit den sozialen Zusammenhalt vor Ort zu stärken.
Insgesamt ist also für zukunsfähige Stadtentwicklung mehr Kooperation mit und
Partizipation von nicht-staatlichen AkteurInnen notwendig. Die bestehenden Verwal-
tungsstrukturen der Stadt würden an Wirksamkeit gewinnen, wenn intermediäre Ins-
titutionen aufgewertet werden. Es ist daher sinnvoll, mit Modellen der Selbstorganisa-
tion sowie des Commonings, d. h. der Selbstverwaltung von Ressourcen durch Bewohn-
erInnen, zu experimentieren, ohne damit Privatisierung von Raum und soziale
Exklusion voranzutreiben (Stadt Wien b). Besonders interessant erscheinen uns
Modelle von Experimental Governance, die „Ko-Kreation“ und Civic-Public-Partners-
hips in der Stadtentwicklung stärken (Morgan ).
Anmerkung
legte Wien unter diesem Titel ein neues Förderprogramm auf.
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