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Christoph Kulgemeyer1
Christoph Vogelsang2
Maren Kempin1
1Universität Bremen
2Universität Paderborn
Wirkung von Professionswissen und Praxiserfahrung auf Erklärfähigkeit
Es ist nach wie vor eine offene Forschungsfrage, ob und wie Professionswissen kausal dafür
verantwortlich ist, dass sich Fähigkeiten entwickeln, die zur qualitativ hochwertigen
Durchführung von Unterricht notwendig sind (Cauet et al., 2015; Vogelsang, 2014). Das ist
allerdings eine Kernfrage der Ausbildung von Lehrkräften insgesamt: die universitäre
Ausbildung konzentriert einen erheblichen Teil der Ressourcen darauf, bei angehenden
Lehrkräften Professionswissen in den drei Bereichen Fachwissen (FW), fachdidaktisches
Wissen (FDW) und pädagogisches Wissen (PW) auszubilden. Das ist theoretisch eine gut
zurechtfertigende Ausrichtung, z.B. durch zwei zentrale Modelle.
Das Kontinuumsmodell der Kompetenz von Blömeke, Gustafsson und Shavelsson (2015)
nimmt an, dass Professionswissen eine Disposition für handlungsnahe Fähigkeiten ist, die
wiederum in der Performanz beobachtet werden können. Professionswissen ist nach diesem
Modell eine zentrale Voraussetzung für handlungsnahe Fähigkeiten. Das Refined Consensus
Model (RCM) des Pedagogical Content Knowledge (PCK) (Hume, Cooper & Borowski,
2019) betrachtet Fachwissen und pädagogisches Wissen als wesentliche Einflussgrößen für
u.a. personal PCK (deklaratives PCK, das eine Person besitzt). Dieses personal PCK äußert
sich dem Modell zufolge in enacted PCK, das nur in einer Unterrichtshandlung beobachtbar
ist. Beide Modelle sind also sehr ähnlich in ihrer Annahme, dass Professionswissen für
Unterrichtshandeln leitend ist.
Insbesondere Praxisphasen wird in der Ausbildung von Lehrkräften häufig die Rolle
zugeschrieben, den sogenannten „Theory-Practise-Gap“ zu schließen und dafür zu sorgen,
dass theoretisches Wissen für Handlungen nutzbar wird. Es ist also naheliegen, insbesondere
solche Phasen der Lehramtsausbildung zu untersuchen, wenn die Frage des Zusammenhangs
von Professionswissen und Unterrichtshandlung auch empirisch analysiert werden soll.
Die vorliegende Studie greift zurück auf den Datensatz von ProfiLe-P+. Untersucht werden
soll, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen einer Gesamtskala des
Professionswissen und der Entwicklung von Erklärfähigkeit im Praxissemester von Physik-
Lehramtsstudierenden gibt. Diese Kausalzusammenhänge werden von beiden oben
genannten Modellen impliziert. Die Analyse trägt also dazu bei, beide Modelle in dieser
Hinsicht zu überprüfen.
Anlage der Studie
Um einen Einblick in Kausalzusammenhänge zwischen Variablen zu bekommen, können
Längsschnittstudien unter bestimmten Bedingungen verwendet werden. Zu diesem Zweck
wurde ein sogenanntes Cross-lagged Panel analysiert, also die wiederholte Messung
derselben Variablen über einen Interventionszeitraum hinweg. Im Falle dieser Studie wurden
dazu Professionswissen (fachdidaktisches Wissen, Fachwissen und pädagogisches Wissen)
sowie Erklärfähigkeit vor und nach dem Praxissemester erhoben (zwei Wellen).
Cross-lagged Panels erlauben Rückschlüsse auf Kausalität, indem Argumente für
Kausalzusammenhänge gesammelt werden (Reinders, 2006). In diesem Fall sind dies
insbesondere:
1. Wenn es einen Kausalzusammenhang zwischen Professionswissen und Erklärfähigkeit
gibt, dann lässt der Stand des Professionswissens vor dem Praxissemester eine
Vorhersage der Entwicklung der Erklärfähigkeit im Praxissemester zu. Dies wird
überprüft, indem verglichen wird, ob die partielle Korrelation von Professionswissen
vor dem Praxissemester und Erklärfähigkeit nach dem Praxissemester (unter Kontrolle
der Erklärfähigkeit vor dem Praxissemester) signifikant größer ist als die Korrelation
von Erklärfähigkeit vor dem Praxissemester und Professionswissen nach dem
Praxissemester (unter Kontrolle des Professionswissens vor dem Praxissemester).
2. Aus dem Stand des Professionswissens vor dem Praxissemester muss sich die
Entwicklung der Erklärfähigkeit stärker vorhersagen lassen als aus dem Stand der
Erklärfähigkeit vor dem Praxissemester (Granger, 1969). Dies wird überprüft durch
einem Vergleich der Korrelationen zwischen Erklärfähigkeit vor dem Praxissemester
und nach dem Praxissemester einerseits und andererseits dem Professionswissen vor
dem Praxissemester und der Erklärfähigkeit nach dem Praxissemester unter Kontrolle
der Erklärfähigkeit vor dem Praxissemester.
3. Das Professionswissen sollte der Hauptfaktor sein, der die Entwicklung der
Erklärfähigkeit im Praxissemester erklärt.
Stichprobe
Für diese Studie wurden Studierende aller Lehrämter Physik von vier Universitäten befragt,
die das Praxissemester absolvieren. Insgesamt wurden N = 47 Studierende befragt, die im
Durchschnitt im 8. Semester ihres Lehramtsstudiums Physik waren. Die Stichprobe ist an
der Grenze dazu, große Effekte auflösen zu können. Es handelt sich allerdings um eine
Vollerhebung des achten Semesters an vier Universitäten bezüglich des Physik-
Lehramtsstudiums.
Instrumente
Die Studierenden haben vor und nach dem Praxissemester jeweils Tests absolviert, die in
ProfiLe-P+ entwickelt wurden (Vogelsang et al., 2019). Dazu gehören Tests des
Fachwissens Mechanik, des fachdidaktischen Wissens mit Fokus auf Mechanik sowie des
pädagogischen Wissens (Teilskala von Seifert & Schaper (2012)). Um Erklärfähigkeit zu
erheben, wurde der Test von Kulgemeyer und Tomczyszyn (2015) bzw. Kulgemeyer und
Riese (2018) eingesetzt. Dabei handelt es sich um einen sogenannten Performanztest. Es
wurden also authentische Erklärhandlungen simuliert, indem die Probandinnen und
Probanden Schülerinnen und Schülern jeweils ein vorgegebenes Thema der Physik der
Mittelstufe erklärten (z.B. „Warum gleitet man auf nasser Straße eher aus der Kurve als auf
trockener?“). Die Schülerinnen und Schüler waren allerdings darauf trainiert, standardisierte
Fragen und Impulse in den Erklärdialog einzubringen (z.B. „Das habe ich noch nicht
verstanden, kann man das in anderen Worten sagen?“). Analysiert wurden Videos der
jeweils zehnminütigen Erklärungen danach, ob die Probandinnen und Probanden erkennen,
dass die Erklärversuche adaptiert werden müssen und welche Adaptionen sie in der Folge
vornehmen. Dabei wurde ein Manual der kategorienbasierten Analyse im Anschluss an die
Gütekriterien des Erklärens aus Witter und Renkl (2008) bzw. Kulgemeyer (2018)
entwickelt. Die Summe der auftretenden Gütekriterien in einer Erklärsituation wurde als
Maß für die Instruktionsqualität angenommen und reflektiert die Erklärfähigkeit in dieser
Situation. Verglichen wurde also eine Handlungssituation (das Erklären) mit Wissenstests,
die curricular valide das universitäre Studium repräsentieren. Zur Validität und Reliabilität
aller Instrumente wurden umfangreiche Studien durchgeführt, die im Überblick in
Vogelsang et al. (2019) dargestellt sind.
Was passiert im Praxissemester?
Die Umsetzung des Praxissemesters ist von Universität zu Universität graduell
unterschiedlich. Deswegen wurden Fragebögen eingesetzt, um Einblicke darin zu
bekommen, wie die Studierenden das Praxissemester erleben. Die Studierenden haben im
Schnitt 19,0 (Spannweite zwischen 5 und 50) Stunden Physik unterrichtet, davon im Schnitt
3,3 (Spannweite von 0 bis 15) zum Themengebiet Mechanik. Außerdem haben sie im
Schnitt 64 Stunden Physikunterricht hospitiert (Spannweite von 12 bis 140). Sie wurden im
Schnitt in 2,0 Stunden von Universitätsdozierenden im Unterricht besucht (Spannweite von
1 bis 11) und haben sowohl mit ihren Dozierenden als auch mentorierenden Lehrkräften über
Unterricht reflektiert. Es kann also davon ausgegangen werden, dass sie umfangreiche
Praxiserfahrungen gesammelt haben, die dazu beitragen könnten, dass theoretisches,
universitäres Wissen in praktische Handlungsfähigkeit überführt wird.
Ergebnisse und Diskussion
In Abbildung 1 wird ein Pfadmodell dargestellt, das die Ergebnisse der Analysen
zusammenfasst. Dazu wurde aus den Tests zum Professionswissen eine eigene Skala des
gesamten Professionswissens abgeleitet (ähnlich wie bei Hill, Rowan & Ball (2005)). Die
Stichprobengröße lässt eine feinere Differenzierung nicht zu. Die Gesamtskala wurde
berechnet, indem alle Teilskalen der Tests mit dem gleichen Gewicht (also normiert auf 1) in
die Gesamtskala eingehen.
Abbildung 1: Pfadmodell des Cross-lagged Panels (angegeben sind beta-standardisierte
Pfadkoeffizienten). *p<0.05, **p<0.01, CFI=1.000, RMSEA=0.000
Bezüglich der Argumente für Kausalität lässt sich festhalten, dass der Stand des
Professionswissen vor dem Praxissemester des Zuwachs von Erklärfähigkeit stärker
vorhersagt (β = 0,467) als der Stand der Erklärfähigkeit den Zuwachs an Professionswissen
(β = -0,073). Dies spricht für einen Kausalzusammenhaben zwischen Professionswissen und
Entwicklung von Erklärfähigkeit. Aus dem Stand an Professionswissen vor dem
Praxissemester lässt sich der Stand der Erklärfähigkeit nach dem Praxissemester zudem eher
vorhersagen (β = 0,467) als aus dem Stand der Erklärfähigkeit vor dem Praxissemester (β =
0,242). Einschränkend muss allerdings betont werden, dass die Analyse nur die
zusammengefasste Skala von Professionswissen umfasst und die Stichprobengröße eine stärkere
Differenzierung nicht zulässt. Auch daher ist unklar, ob das Professionswissen wirklich der
Hauptfaktor ist, der die Entwicklung der Erklärfähigkeit vorhersagt. Es zeigt sich allerdings, dass
diese Argumente für Kausalität auch auf Ebene der Teilskalen anwendbar sind: keine der
Teilskalen der Professionswissenstests zeigt andere Zusammenhänge, während die Teilskalen
Instruktionsqualität (fachdidaktisches Wissen) und Schulwissen (Fachwissen) die Zunahme der
Erklärfähigkeit am stärksten vorhersagen. Dies ist theoretisch gut interpretierbar und lässt sich als
Argument für die Validität der Gesamtskala anführen: es kann zudem durchaus sein, dass nur
bestimmte Formen des Professionswissens für Erklärsituationen wichtig sind (Kulgemeyer &
Riesen, 2018) und durch die Gesamtskala, in der die ganze Breite repräsentiert ist, die Stärke der
Zusammenhänge eher unterschätzt wird. Es lässt sich allerdings festhalten, dass der Stand des
Professionswissens essentiell dafür zu sein scheint, dass sich während des Praxissemesters
Erklärfähigkeit entwickelt. Während die besten 50 % Studierenden bezüglich des
Professionswissens signifikante Entwicklungen zeigen (d = 0,63), entwickeln die unteren 50 %
der Studierenden ihre Erklärfähigkeit gar nicht. Ein Grund dafür könnte sein, dass das
Professionswissen die Kategorien bereitstellt, die bei der Reflexion über Unterrichtssituationen
auch ohne explizite Anleitung dafür dienlich sind, die Instruktionsqualität zu verbessern.
Professionskompetenz.im.Lehramtsstudium.Physik.
Ergebnisse: Cross Lagged Panel
§ Basis: Pfadmodell
§ *p<0.05, **p<0.01, standardisierte Koeffizienten
§ CFI=1.000, RMSEA=0.000
17.
Erklärfähigkeit.
Professionswissen.
Erklärfähigkeit.
Professionswissen.
0.242
0.656**
-0.073
0.467**
-0.010 0.200
Literatur
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Reinders, H. (2006). Kausalanalysen in der Längsschnittforschung. Diskurs Kindheits- und Jugendforschung
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von Physiklehrkräften - Zusammenhangsanalysen zwischen Lehrerkompetenz und Lehrerperformanz.
Berlin, Germany: Logos.
Vogelsang, C., Bowoski, A., Buschhüter, D., Enkrott, P., Kempin, M., Kulgemeyer, C., Reinhold, P., Riese,
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im Lehramtsstudium Physik - Analysen zu valider. Zeitschrift für Pädagogik, 65 (4), 473-491.
Wittwer, J. & Renkl, A. (2008). Why Instructional Explanations Often Do Not Work: A Framework for
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