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Wie Koalitionsdisziplin den parlamentarischen Mehrheitswillen blockieren kann

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Abstract

Auch wenn sie das Wort „Mehrheit“ im Namen führen, können Mehrheitskoalitionen den Willen einer Parlamentsmehrheit blockieren und Minderheiten begünstigen. Dies liegt daran, dass Koalitionsfraktionen immer große Kompromisspakete schnüren, darüber einheitlich abstimmen und die Opposition weitgehend ausschließen. Dabei kann in einzelnen Themen politisch Gleichheit verletzt werden. Wechselnde Mehrheiten könnten dieses Problem lindern, würden aber wiederum andere Probleme aufwerfen.
Essay
Gesellschaft Wirtschaft Politik (GWP) 69. Jahrg., Heft 1/2020, S. 71-77 www.budrich-journals.de
https://doi.org/10.3224/gwp.v69i1.08
Wie Koalitionsdisziplin den parlamentarischen
Mehrheitswillen blockieren kann
Christian Stecker
Zusammenfassung
Auch wenn sie das Wort „Mehrheit“ im Namen führen, können Mehrheitskoalitionen den Willen einer
Parlamentsmehrheit blockieren und Minderheiten begünstigen. Dies liegt daran, dass Koalitionsfraktionen
immer große Kompromisspakete schnüren, darüber einheitlich abstimmen und die Opposition weitge-
hend ausschließen. Dabei kann in einzelnen Themen politisch Gleichheit verletzt werden. Wechselnde
Mehrheiten könnten dieses Problem lindern, würden aber wiederum andere Probleme aufwerfen.
Minderheitenherrschaft in Mehrheitskoalitionen?1
Wenn eine Partei bei den Parlamentswahlen eine absolute Mehrheit der Sitze erringt,
kann sie anschließend für die Dauer der Wahlperiode „durchregieren“. Dieses Szena-
rio ist allerdings nur in Mehrheitswahlsystemen, wie etwa in Großbritannien, realis-
tisch. Hierzulande verhindert das Verhältniswahlsystem meist eine absolute Mehrheit
für eine Partei. Nach Wahlen müssen sich daher in Deutschland üblicherweise mehre-
re Parteien zu einer Koalition zusammenschließen. Auf den ersten Blick scheinen die-
se Mehrheitskoalitionen ein demokratisches Kernversprechen einzulösen, denn
schließlich sollte in einer Demokratie die Mehrheit die Richtung der Politik bestimmen.
Tatsächlich genießen Regierungskoalitionen in der Bundesrepublik das Vertrauen ei-
ner Parlamentsmehrheit. Bei der aktuellen Großen Koalition aus CDU/CSU und
SPD im Bund zeigt sich dies z. B. daran, dass die Kanzlerin mit der absoluten Mehr-
PD Dr. Christian Stecker
Research Fellow und Projektdirektor, Universität Mannheim,
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung
72 Christian Stecker
heit der Abgeordneten vom Bundestag gewählt wurde und dass im Alltag die Gesetz-
entwürfe der Regierung von „ihrer“ Parlamentsmehrheit unterstützt werden.
Schaut man genauer hin, stellen sich die Dinge allerdings etwas komplizierter dar.
Bei einer Abstimmung können nämlich prinzipiell auch andere Mehrheiten als die
Koalitionsmehrheit gebildet werden. Diese anderen Mehrheiten können sogar wün-
schenswerter sein, da sie stärker auf gemeinsamen Überzeugungen der Parteien basie-
ren als die oftmals auf komplizierten Kompromissen beruhenden Koalitionsmehrhei-
ten. Der neuseeländische Politikwissenschaftler Jack Nagel (2011, S. 9) hat sogar ar-
gumentiert, dass Mehrheitskoalitionen häufig nur eine Fassade für themenspezifische
Minderheitenherrschaft darstellen und damit das demokratische Mehrheitsprinzip ver-
letzen.
Diese kontroverse Behauptung sollten wir am besten an einigen Beispielen nach-
vollziehen: Dazu versetzen wir uns in die Zeit der schwarz-gelben Koalition auf Bun-
desebene, die zwischen 2009 und 2013 amtierte. Das Beispiel ist in Tabelle 1 zusam-
mengefasst. Die Tabelle zeigt zunächst die Sitzanteile aller damals im Bundestag ver-
tretenen Fraktionen. Grau schattiert sind die Regierungsfraktionen CDU/CSU und
FDP, die zusammen 53,4 Prozent der Sitze im Bundestag (also eine absolute Mehr-
heit) besaßen. Die Linke, Grüne und Sozialdemokraten nahmen auf den Bänken der
Opposition Platz. Unterhalb der Sitzanteile präsentiert die Tabelle die Positionen der
Fraktionen zu vier politischen Streitfragen: die steuerliche Gleichstellung von gleich-
geschlechtlichen Lebenspartnerschaften, die Lockerung des Optionszwangs bei der
doppelten Staatsbürgerschaft2, die Absenkung der Mehrwertsteuer für Hotelüber-
nachtungen und das Betreuungsgeld für Eltern, die auf einen staatlichen Krippenplatz
verzichten.
Nach oben bzw. unten deutende Zeigefinger fassen die Positionen der Parteien zu
diesen Sachthemen vereinfacht zusammen. Diese Positionen können anhand der Lek-
türe von Wahlprogrammen und der Medienberichterstattung recht gut bestimmt wer-
den. Dargestellt sind wohlgemerkt die „echten“ Präferenzen3 – dies bezeichnet die
Meinungen der Parteien bevor sie darüber nachdenken, welche Kompromisspositionen
innerhalb einer Koalition eingenommen werden müssen. Zweifellos gab es innerhalb
der Parteien jeweils auch abweichende Meinungen zu den einzelnen Themen. Abge-
ordnete mit abweichenden Positionen ordnen sich im Rahmen der Fraktionsgeschlos-
senheit aber meist freiwillig der Mehrheit ihrer Kolleginnen und Kollegen unter, damit
die Fraktion immer als durchsetzungsstarkes Team auftreten kann.
Wie Koalitionsdisziplin den parlamentarischen Mehrheitswillen blockieren kann 73
Tabelle 1: Themenspezifische Minderheitenherrschaft während der
CDU/CSU/FDP-Koalition (2009-2013, Kabinett Merkel II)
LIN GRÜ SPD FDP CDU CSU Mehrheit für
Politik
Ergebnis
Sitzanteil im Bundestag (%) 12,2 10,9 23,5 15,0 31,2 7,2
Gleichstellung gleichgeschlecht-
licher Paare (Ehegattensplitting)
61,6%
*
Erleichterungen bei der doppelten
Staatsbürgerschaft
61,6%
Steuernachlass für
Hotelübernachtungen
22,2%
Betreuungsgeld für häusliche
Kindererziehung
7,2%
Anmerkung: * Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paare im Steuerrecht wurde durch die schwarz-
gelbe Koalition umgesetzt, aber erst nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
In der Spalte „Mehrheit für Politik“ ist der Sitzanteil der Fraktionen aufsummiert, die
die jeweilige Maßnahme unterstützten. Dabei zeigen sich für die einzelnen Streitfragen
recht klare Ergebnisse: Die gesellschaftspolitisch eher links positionierten Parteien
(Linke, Grüne, SPD, FDP) favorisierten die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Paa-
re und die Erleichterung der doppelten Staatsbürgerschaft, während dies CDU und
CSU ablehnten. Für beide Politikveränderungen existierte also eine deutliche Mehr-
heit von 61,6 Prozent im Bundestag. Den Steuernachlass für Hotelübernachtungen
befürworteten dagegen ausschließlich FDP und CSU, die gemeinsam nur 22,2% der
Mandate stellten. Im Umkehrschluss lehnte also eine satte Dreiviertelmehrheit
(77,8%) diese Maßnahme ab. Noch geringeren Zuspruch genoss das Betreuungsgeld.
Dies war ein alleiniges Projekt der CSU, das insbesondere bei den gesellschaftspoli-
tisch links positionierten Fraktionen (also auch der FDP) auf harsche Kritik stieß.
Diese Präferenz- und Stimmenverteilung im Bundestag scheint den möglichen
Politikergebnissen also eine recht klare Richtung zu weisen: gleichgeschlechtliche Paa-
re werden steuerlich gleichgestellt und der Optionszwang bei der doppelten Staats-
bürgerschaft wird abgeschafft. Den Minderheitenwünschen zum Steuernachlass für
Hotels und zum Betreuungsgeld bleibt dagegen der Weg ins Bundesgesetzblatt ver-
sperrt. Die Spalte „Ergebnis“ zeigt jedoch, dass die tatsächlichen Politikergebnisse
diese themenspezifischen Mehrheitsverhältnisse auf den Kopf stellten. Der Steuer-
nachlass und das Betreuungsgeld wurden umgesetzt, Gleichstellung und doppelte
Staatsbürgerschaft (zunächst) nicht.
Dass die Mehrheiten auf den Kopf gestellt wurden, lässt sich auf eine gemeinsame
Ursache zurückführen: Koalitionsdisziplin. Das Regieren in Koalitionen auf Bundes-
und Landesebene unterliegt seit Jahrzehnten restriktiven Regeln. Lange waren diese
Regeln nur informell vereinbart, aber nicht weniger handlungsleitend. Seit 1998, als
rot-grün im Bund erstmals umfangreich die „Kooperation der Parteien“ regulierte,
finden sie sich praktisch in jedem Koalitionsvertrag. Beispielhaft sei aus dem schwarz-
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gelben Koalitionsvertrag von 2009 zitiert: „Im Bundestag und in allen von ihm be-
schickten Gremien stimmen die Koalitionsfraktionen einheitlich ab. Wechselnde
Mehrheiten sind ausgeschlossen. […] Im Kabinett wird in Fragen, die für einen Koali-
tionspartner von grundsätzlicher Bedeutung sind, keine Seite überstimmt.” (Koaliti-
onsvertrag von CDU, CSU und FDP 2009, S. 131). Koalitionen unterwerfen sich also
einem umfassenden Zwang zum einigen Handeln.
Dies hat den Nebeneffekt, dass de facto jeder Koalitionspartner ein informelles
Vetorecht besitzt. Es reicht ein „Nein“ eines Koalitionspartners, um einen anderen
Koalitionspartner auszubremsen, der einen Politikwechsel möchte. Dabei ist es ganz
unerheblich, wie viele Abgeordnete der veränderungsunwillige Partner in die gemein-
same Koalition eingebracht hat. Es ist sogar unerheblich, ob alle übrigen Fraktionen
im Parlament diesen Politikwechsel wünschen. Da eben nur die eine Regierungs-
mehrheit, aber keine „wechselnden“ Mehrheiten mit der Opposition erlaubt sind, darf
das Veto eines Koalitionspartners nicht überstimmt werden. In der Tabelle ist der
Raum für Kompromisse also auf den grau schattierten Bereich beschränkt, die Positi-
onen der Oppositionsfraktionen und ihr Stimmenpotential sind praktisch irrelevant.
Dieses Koalitionskorsett kann also dazu führen, dass ein Politikwechsel verhindert
wird, der eigentlich von einer Mehrheit im Parlament unterstützt wird. Dieses „the-
menspezifische Minderheitenveto“ zeigt sich deutlich, wenn wir uns den Entschei-
dungsprozess zur Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften noch einmal
etwas genauer ansehen: Das Thema drängte vor allem auf die Tagesordnung nachdem
sich 13 Unionsabgeordnete im Sommer 2012 für die steuerliche Gleichstellung homo-
sexueller Lebenspartnerschaften (beim Ehegattensplitting) aussprachen. Die FDP un-
terstützte dieses Anliegen seit Langem. Auch vom Bundesverfassungsgericht waren
klare Signale zu vernehmen, dass es die steuerliche Ungleichbehandlung von hetero-
und homosexuellen Paaren für verfassungswidrig erklären könnte. Insbesondere auf
Betreiben der CSU wollte die Mehrheit der Union die Ausdehnung des Ehegatten-
splittings auf homosexuelle Lebenspartnerschaften verhindern. Vor einem Spruch des
Verfassungsgerichts sollte auf keinen Fall ein freiwilliger Schwenk vollzogen und eine
weitere konservative Kernposition aufgegeben werden. Die Mehrheit der Union ent-
sprach im Gesamtgefüge des Parlaments aber nur einer Minderheit von weniger als
40% der Abgeordneten. Weil die FDP an die Koalitionsdisziplin gebunden war, konn-
te sie dieses Minderheitenveto aber nicht übergehen und gemeinsam mit den übrigen
Parteien im Bundestag abstimmen. Der von allen anderen Fraktionen außer der Uni-
on gewünschte und somit mehrheitspräferierte Politikwechsel blieb also durch das
koalitionsinterne Veto der Union blockiert.
Das Koalitionskorsett kann aber auch dazu führen, dass Gesetze verabschiedet
werden, die eigentlich von einer Mehrheit abgelehnt werden. Erst diese „themenspezi-
fische Minderheitenherrschaft“ ermöglichte das Betreuungsgeld. Ein Betreuungsgeld
für Eltern, die ihre Kinder in den ersten drei Lebensjahren zu Hause aufziehen, ent-
wickelte sich für die CSU schnell zum christlich-konservativen Symbolthema. Wäh-
rend der Koalitionsverhandlungen 2009 traf das Vorhaben auf großen Widerstand der
FDP, teils aber auch der Schwesterpartei CDU. Letztlich wurde seine Einführung für
Wie Koalitionsdisziplin den parlamentarischen Mehrheitswillen blockieren kann 75
2013 jedoch im Koalitionsvertrag festgeschrieben. Anders als die Nichteinigung im
Fall der Gleichstellung, lässt sich die Einigung hier nicht so genau rekonstruieren, da
die Koalitionsverhandlungen hinter geschlossenen Türen stattfinden. In diesen Ver-
handlungen bemühen sich die Partner häufig Kompromisse in bestimmten Streitfra-
gen zu finden – sie treffen sich dann oft in der sprichwörtlichen Mitte. Manchmal bil-
ligen sich die Koalitionspartner aber auch gegenseitig zu, dass jeder ein paar eigene
Herzensanliegen unverändert in den Koalitionsvertrag hineinschreiben darf, die dann
jeweils vom Koalitionspartner unterstützt werden. Über dieses Tauschen von Her-
zensangelegenheiten gelangte das Betreuungsgeld in das Papier. Dennoch blieb der
Streit in der Koalition, auch zwischen CSU und CDU, über das Ob und Wie lang und
intensiv. Die CSU erhob das Projekt faktisch zum „Prüfstein für die Handlungsfähig-
keit der Koalition“ und Kanzlerin Merkel fühlte sich an den Koalitionsvertrag gebun-
den. Schließlich erreichten die Parteivorsitzenden im Juni 2012 eine Einigung und
nach mehrfachen Verschiebungen, anhaltenden Diskussionen, einer latenten Koaliti-
onskrise und Änderungen am Gesetzentwurf wurde das Betreuungsgeld Anfang No-
vember 2012 mit der Koalitionsmehrheit im Bundestag beschlossen.
Großes oder kleines Problem? Welche Alternativen gibt es?
Jack Nagel hat also nicht unrecht, wenn er Mehrheitskoalitionen vorwirft, dass sie der
Herrschaft von Minderheiten über bestimmte Themengebiete den Weg bereiten. Die-
ser Aspekt bundesdeutscher Koalitionspolitik ist demokratietheoretisch problematisch
– ganz gleich, was wir inhaltlich über die verschiedenen politischen Vorhaben denken.
Ist die doppelte Staatsbürgerschaft integrationsförderlich oder das Betreuungsgeld ein
sinnvolles familienpolitisches Instrument? Ist es wirklich ein progressiver Schritt, das
Ehegattensplitting auf gleichgeschlechtliche Paare auszudehnen? Über all diese Fra-
gen, darf und sollte in einer pluralistischen Demokratie natürlich offen gestritten wer-
den. Selbst überzeugte Befürworter des Betreuungsgeldes sollte aber leichtes Magen-
grummeln plagen, sobald sie nicht nur auf das Ergebnis der Koalitionspolitik, sondern
auch auf das Verfahren schauen (Swift 2019). Das Betreuungsgeld mag für sie die rich-
tige Politik sein, es haben aber nur (ungefähr) 7,2% der Abgeordneten befürwortet.
Diese Abgeordneten repräsentieren gleichzeitig auch nur eine kleine Minderheit der
Wählerschaft. Die Stimmen der Anhänger des Betreuungsgeldes wurden also viel hö-
her gewichtet, als die der Gegner. Demokratie verlangt aber – abgesehen von einem
geschützten Kern an Bürger- und Menschenrechten – dass die Mehrheit die politische
Richtung vorgibt. Nur so werden unsere Interessen gleich behandelt und nicht einzel-
ne bevorzugt (Ganghof 2005). Als Demokraten sollten wir daher auch Entscheidun-
gen anerkennen, die wir inhaltlich zwar falsch finden, die aber auf demokratischem
Wege zustande gekommen sind.
Minderheitenherrschaft ist also eine unerfreuliche Begleiterscheinung von Koaliti-
onen. Tritt dies im Alltag aber wirklich so häufig auf, dass wir uns darüber weiter den
Kopf zerbrechen müssen? Leider ja – schnell kommen weitere Beispiele in den Sinn,
bei denen Koalitionspolitik dem „echten“ Mehrheitswillen im Parlament im Wege
76 Christian Stecker
stand. Beispielhaft genannt seien die sogenannte Pkw-Maut für Ausländer, die von der
CSU innerhalb der heutigen großen Koalition (seit 2017) durchgesetzt wurde und die
Verhinderung eines branchenweiten Mindestlohnes während der zweiten Großen
Koalition (2005-2009) durch das koalitionsinterne Veto der Union. Auch quantitative
Analysen zeigen für die Landtage und den Bundestag ein beträchtliches Potential für
themenspezifische Minderheitenherrschaft.
Wir müssen sogar davon ausgehen, dass das Problem künftig weiter zunehmen
wird. In den 1990er Jahren wechselten sich in Bund und Ländern häufig Regierungs-
koalitionen ab, die als Wunschverbindungen galten. Diese schwarz-gelben oder rot-
grünen Allianzen waren sich in vielen Themen einig und intra-koalitionäre Vetos oder
davon angestoßene Tauschhandel spielten eine geringere Rolle. Die Parteienlandschaft
in Deutschland ist inzwischen aber deutlich zerklüfteter. Heute müssen sich häufig
sehr gegensätzliche Parteien zusammenraufen, damit eine parlamentarische Mehrheit
erreicht wird. Das Problem dieser ungewöhnlichen Partnerschaften, wie etwa von
Schwarz-Grün oder Kenia-Koalitionen aus CDU, SPD und Grünen ist Folgendes: Sie
weisen besonders viele inhaltliche Gegensätze auf, die wiederum zum innerkoalitionäre
Vetos auslösen und damit zur themenspezifischen Minderheitenherrschaft beitragen
können.
Wechselnde Mehrheiten als Alternative zum Koalitionskorsett
Die in der Bundesrepublik praktizierte Koalitionsdisziplin und die damit verbundenen
Probleme sind keineswegs alternativlos – auch wenn die meisten Journalisten und Po-
litiker diesen Eindruck vermitteln. Prinzipiell ist es möglich, dass Parlamente jede ein-
zelne Sachfrage separat entscheiden und den Gegensatz von Regierung und Oppositi-
on dabei völlig außer Acht lassen. Die Fraktionen würden dann nur entlang ihrer in-
haltlichen Positionen, also den „echten“ Präferenzen, abstimmen. Im obigen Beispiel
hätte die FDP dann mit SPD, Grünen und Linken für die Gleichstellung und die
doppelte Staatsbürgerschaft gestimmt; im Fall der Hotelsteuer wäre die FDP dagegen
von allen anderen Fraktionen überstimmt worden. Es bildet sich dann also nicht im-
mer dieselbe Mehrheit, sondern verschiedene Mehrheiten. Man kann sich dieses alter-
native Szenario ähnlich zu einer direkten Demokratie vorstellen, in der den Bürgern
auch einzelne Sachfragen nacheinander zur Entscheidung vorgelegt werden und in je-
der Sachfrage eine andere Mehrheit bestimmt, wo es lang geht.
In der Realität ist dieses Szenario nirgendwo perfekt verwirklicht. Allerdings nähern
sich Minderheitsregierungen an diese flexible Mehrheitsbildung an. Besonders einschlä-
gig dafür sind Minderheitsregierungen in Skandinavien und Neuseeland. Es findet sich
aber auch in Deutschland ein Beispiel in der jüngeren Geschichte: Von 2010 bis 2012
amtierte in Nordrhein-Westfalen eine rot-grüne Minderheitsregierung unter Minister-
präsidentin Hannelore Kraft. SPD und Grüne verabschiedeten die meisten Gesetze
zwar mit der Linken, es bildeten sich aber auch parlamentarische Mehrheiten ohne die
Linke mit der FDP und/oder der CDU (Ganghof et al. 2012). Unter einer klassischen
Mehrheitskoalition wären diese wechselnden Mehrheiten undenkbar gewesen.
Wie Koalitionsdisziplin den parlamentarischen Mehrheitswillen blockieren kann 77
Wechselnde Mehrheiten können das Problem der themenspezifischen Minderhei-
tenherrschaft lindern, da einzelne Parteien keine so starken Vetomöglichkeiten besit-
zen wie innerhalb einer Mehrheitskoalition. Dies ist allerdings nicht umsonst zu ha-
ben. Wechselnde Mehrheiten machen es den Bürgern schwerer, die Verantwortung
für politische Entscheidungen bestimmten Parteien zuzuordnen. Es zeichnen am En-
de ja verschiedene Parteien für verschiedene Teile des gesamten Politikpakets verant-
wortlich. Bei Mehrheitskoalitionen kann man die Verantwortlichen viel einfacher
ausmachen, da immer eine einzige (Regierungs)mehrheit alle Gesetze verabschiedet
hat.
Leider kann man in der Politik, wie auch sonst im Leben, oftmals eben nicht alle
Wünsche gleichzeitig erfüllen. In diesem Fall stehen eine (flexible) demokratische
Mehrheitsherrschaft und klare Verantwortlichkeiten in einem Zielkonflikt und wir
müssen uns für das kleinere Übel entscheiden. Bisher haben wir uns in Deutschland
konsequent für die Bildung von Mehrheitskoalitionen entschieden und das Problem
themenspezifischer Minderheitenherrschaft in Kauf genommen. Wenn nun die Koali-
tionen immer gegensätzlicher werden, kann dieses Problem jedoch so stark anwach-
sen, dass sich wechselnde Mehrheiten als das kleinere Übel erweisen.
Anmerkungen
1 Ich danke der Baden-Württemberg Stiftung für die finanzielle Unterstützung der Forschungsarbeit
im Rahmen des Eliteprogramms für Postdoktorandinnen und Postdoktoranden. Jana Paasch und
Tobias Weiß danke ich für hilfreiche Kommentare.
2 Das seit 2000 geltende Optionsrecht verlangte, dass in Deutschland geborene Kinder ausländischer
Staatsbürgerinnen und Staatsbürger aus Nicht-EU-Staaten, bis zur Vollendung des 23. Lebensjahres
die Aufgabe oder den Verlust ihrer ausländischen Staatsbürgerschaft nachweisen. Andernfalls verlo-
ren sie die deutsche Staatsbürgerschaft.
3 Der dadurch assoziierte Gegensatz von Kompromisspositionen als „unechte“ Präferenzen ist etwas
unglücklich. Natürlich müssen in einer Demokratie die Parteien Kompromisse schließen. Sie vertre-
ten in Abstimmungen dann aber – legitimerweise – nicht mehr ihre ureigenen „echten“ Positionen.
Literatur
Ganghof, Steffen. 2005. Politische Gleichheit und echte Mehrheitsdemokratie. Über die normativen
Grundlagen institutioneller Arrangements. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 15 (3): 741-763.
Ganghof, Steffen, Christian Stecker, Sebastian Eppner und Katja Heeß. 2012. Flexible und inklusive
Mehrheiten? Eine Analyse der Gesetzgebung der Minderheitsregierung in NRW. Zeitschrift für Parla-
mentsfragen, 43 (4): 887-900, doi: https://doi.org/10.5771/0340-1758-2012-4-887.
Nagel, Jack H. 2011. Evaluating Democracy in New Zeland under MMP. Policy Quarterly, 8 (2): 3-11, doi:
https://doi.org/10.26686/pq.v8i2.4412
Swift, Adam. 2019. Political Philosophy: A Beginners' Guide for Students and Politicians. Cambridge: Polity.
... So gibt es verschiedene Beispiele, in denen Mehrheiten im Deutschen Bundestag nicht realisiert werden konnten, da sie nur außerhalb des Koalitionskorsetts erreichbar waren. Beispielsweise scheiterte eine frühere Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften am innerkoalitionären Veto von CDU/CSU in einer großen und einer schwarz-gelben Koalition (Stecker 2020;Lorenz und Riese 2014). Andererseits wurden Minderheitenprojekte, wie das von der CSU propagierte Betreuungsgeld umgesetzt. ...
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Zusammenfassung Minderheitsregierungen stellen im internationalen Vergleich etwa ein Drittel aller Regierungen in etablierten parlamentarischen Demokratien dar. Insbesondere in den letzten beiden Jahrzehnten lässt sich international ein deutlicher Anstieg von Minderheitsregierungen feststellen. Während Minderheitsregierungen im deutschen Sprachraum oft kritisch betrachtet werden und üblicherweise nur als Notlösung in Ausnahmefällen gelten, sind sie in Skandinavien oder Neuseeland der reguläre Modus des Regierens. Im vorliegenden Literaturbericht wird der aktuelle Forschungsstand zum Regieren von Minderheitskabinetten sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene dargelegt. Zunächst wird erörtert, wie Minderheitsregierungen definiert werden und wo sie häufig anzutreffen sind. Anschließend beleuchtet der Bericht die Handlungskalküle von Parteien und erläutert, warum es für sie eine rationale Strategie sein kann, Minderheitsregierungen zu tolerieren, anstatt an der Regierung teilzunehmen. Weiterhin werden die institutionellen und situativen Bedingungen erläutert, unter denen die Bildung von Minderheitsregierungen wahrscheinlicher wird. Es werden auch die verschiedenen Möglichkeiten aufgezeigt, wie Minderheitsregierungen parlamentarische Mehrheiten für die Durchsetzung ihres Programms organisieren können. Abschließend wird die Performanz von Minderheitsregierungen diskutiert, wobei sowohl die Nachteile als auch die zahlreichen normativen Vorteile beleuchtet werden.
... Im Gegenteil machen es wechselnde Mehrheiten für Bürger schwerer, Parteien politische Verantwortung zuzuweisen. Im Idealfall mildern sie dafür das insbesondere bei lagerübergreifenden Koalitionsregierungen einschlägige demokratietheoretische Problem themenspezifischer Minderheitenherrschaft durch Tauschgeschäfte (Stecker 2020). ...
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Responsiveness to voters is key for democratic rule, yet often fails to occur. We argue that coalition government adds an additional hurdle to responsiveness. Multi-issue policy log-rolls between coalition parties in coalition agreement negotiations, none of which are individually supported by a parliamentary majority, can lead to policy change opposed by a majority, that is: Minority rule. Similarly, coalition agreements can block policy change supported by a parliamentary majority through a veto by one of the government parties, frustrating majority rule. Drawing on data from the Netherlands Bureau of Economic Analysis, we assess how often coalition agreements include policies supported by less than a parliamentary majority, and how often they exclude policies supported by parliamentary majorities. We show that two-thirds of policies included in coalition agreements are not supported by a floor majority, and that 30% of policies supported by a floor majority fail to be included in a coalition agreement.
Article
Full-text available
Wie realistisch wäre ein Bündnis aus CDU und AfD in ostdeutschen Landtagen? Abgewogen werden verschiedene Pro- und Kontra-Argumente, auch mittels Daten einer Parteimitgliederstudie. Eine Vereinnahmungsstrategie von CDU gegenüber AfD wäre hochriskant, weil sie nicht aus einer Position der Stärke geführt werden könnte.
Article
In the debate that culminated in the November 2011 referendum, arguments for and against New Zealand’s mixed member proportional (MMP) electoral system focused on two values: governmental strength and representational fairness.
Über die normativen Grundlagen institutioneller Arrangements
  • Steffen Ganghof
Political Philosophy: A Beginners' Guide for Students and Politicians
  • Adam Swift
Swift, Adam. 2019. Political Philosophy: A Beginners' Guide for Students and Politicians. Cambridge: Polity.
Politische Gleichheit und echte Mehrheitsdemokratie. Über die normativen Grundlagen institutioneller Arrangements
  • Steffen Ganghof
Ganghof, Steffen. 2005. Politische Gleichheit und echte Mehrheitsdemokratie. Über die normativen Grundlagen institutioneller Arrangements. Zeitschrift für Politikwissenschaft, 15 (3): 741-763.