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Fachbereich Mathematik
Bachelorarbeit
Der Satz von Noether und
seine Anwendungen
vorgelegt von:
Mathis Fricke
Betreuer:
Prof. Dr. Karsten Große-Brauckmann
Zweiter Gutachter:
Prof. Dr. Ulrich Reif
Englischer Titel der Arbeit:
Noether’s theorem and its applications
Darmstadt, 09. April 2014
Erkl¨
arung zur Bachelorarbeit: Hiermit versichere ich, die vorliegende Bachelorarbeit
ohne Hilfe Dritter nur mit den angegebenen Quellen und Hilfsmitteln angefertigt zu
haben. Alle Stellen, die aus Quellen entnommen wurden, sind als solche kenntlich ge-
macht. Diese Arbeit hat in gleicher oder ¨
ahnlicher Form noch keiner Pr¨
ufungsbeh¨
orde
vorgelegen.
Darmstadt, den 09. April 2014
Mathis Fricke
Danksagung: Ich m¨
ochte an dieser Stelle meinem Betreuer, Herrn Professor
Große-Brauckmann, f¨
ur die sehr engagierte Betreuung meiner Arbeit danken.
Nat¨
urlich geht auch ein besonderer Dank an meine Frau Magdalene und
meine Familie f¨
ur all die Unterst¨
utzung in den vergangenen Jahren.
Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung und Motivation 4
2. Grundlagen der Variationsrechnung 6
2.1. Das allgemeine Variationsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
2.2. Das Prinzip der kleinsten Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
2.3. Notwendige Bedingungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
3. Erste Erhaltungss¨
atze 10
3.1. Erhaltung der kanonischen Impulse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
3.2. Energieerhaltung ............................... 10
3.3. Beispiele.................................... 11
4. Invarianz und der Satz von Noether 14
4.1. Koordinatentransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
4.2. Familien von Koordinatentransformationen . . . . . . . . . . . . . . . . 15
4.3. Der Satz von Noether im einfachsten Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
5. Innere Variationen und der Satz von Noether 19
6. Allgemeine Variationen und der Satz von Noether 25
7. Geod¨
atische auf Rotations߬
achen 29
7.1. Rotations߬
achen, Fl¨
achenkurven und Geod¨
atische ............ 29
7.2. Der Satz von Clairaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32
7.3. Geod¨
atengleichungen............................. 34
7.4. Allgemeine Klassifikation der Geod¨
atischen ................ 35
7.5. Klassifikation der Geod¨
atischen auf dem Rotationstorus . . . . . . . . . 40
8. Fazit und Ausblick 48
Literaturverzeichnis 50
Stichwortverzeichnis 51
A. Numerische L¨
osung der Geod¨
atengleichungen i
3
1. Einleitung und Motivation
Die vorliegende Bachelorarbeit besch¨
aft sich mit einem mathematischen Satz, den die
deutsche Mathematikerin Emmy Noether im Jahr 1918 ver¨
offentlicht hat [1]. Obwohl
die Arbeit eher der reinen Mathematik zuzuordnen ist, hat der Satz von Noether einen
großen Einfluss auf die (theoretische) Physik und ist ein sch¨
ones Beispiel f¨
ur die enge
Verbindung von Mathematik und Physik. In seiner informellen Form, die vor allem in
Vorlesungen zur theoretischen Physik verbreitet wird, lautet der Satz:
”Zu jeder kontinuierlichen Symmetrie eines physikalischen
Systems geh¨
ort eine Erhaltungsgr¨
oße.“
Diese Formulierung l¨
asst nat¨
urlich noch einige Fragen offen:
•Was ist eine ”kontinuierliche Symmetrie“?
•Kann man die Erhaltungsgr¨
oße konkret angeben?
•Wie kann man die Erhaltungsgr¨
oße aus der Symmetrie gewinnen?
•Geh¨
ort umgekehrt zu jeder Erhaltungsgr¨
oße eine Symmetrie?
•Gilt die Aussage nur f¨
ur ”physikalische“ Systeme oder allgemeiner?
Die meisten der genannten Fragen k¨
onnen in dieser Arbeit beantwortet werden.
Symmetriebegriffe: Im allgemeinen Sprachgebrauch sind viele verschiedene Sym-
metriebegriffe etabliert. F¨
ur den Satz von Noether verstehen wir Symmetrie als In-
varianz unter einer gegebenen Transformation.
”Ein Ding ist symmetrisch, wenn es etwas gibt, was wir darauf anwenden
k¨
onnen, sodass es nach der Anwendung genauso aussieht wie vorher.“
(R. Feynman)
Wir betrachten ein einfaches Beispiel.
Beispiel: (Newtonsche Dynamik)
Wir betrachten ein Teilchen der Masse m, das sich in einem Potential V(x) bewegt.
Die Kraft auf das Teilchen ist der negative Gradient des Potentials.
F=ma =d
dtmv =dp
dt =−dV
dx
4
Der Impuls ist folglich genau dann erhalten, wenn das Potential konstant ist, d.h. wenn
keine Kraft wirkt.
dp
dt = 0 ⇔dV
dx = 0
Wir k¨
onnen die Bedingung dV
dx = 0 als Invarianz des Potentials Vunter Translationen
im Raum auffassen.
TV=Vf¨
ur (Tf)(x) := f(x+)
Man erh¨
alt also aus der Invarianz des Potentials die Erhaltung des Impulses.
Zur Gliederung: Ziel der Arbeit ist es zun¨
achst, einen m¨
oglichst einfachen, aber
vollst¨
andigen Beweis des Noether-Theorems f¨
ur (geometrische) Transformationen der
abh¨
angigen und unabh¨
angigen Parameter anzugeben. Der hier vorgestellte Beweis ori-
entiert sich an [2] und [3]. Gegen¨
uber [2] wurde der Beweis etwas verk¨
urzt, indem auf
gewisse Begriffsbildungen aus der Theorie der Variationsrechnung verzichtet wurde.
Gegen¨
uber dem Beweis [3], der sich eher an Physikerinnen und Physiker richtet, wur-
den einige Dinge mathematisch genauer ausgearbeitet.
Um den Satz von Noether formulieren zu k¨
onnen, werden zun¨
achst einige Grund-
lagen der Variationsrechnung diskutiert (Kapitel 2). Zentrales Element hierbei sind
die Euler-Lagrange-Gleichungen. Der Satz von Noether konstruiert Erhaltungsgr¨
oßen
f¨
ur die L¨
osungen dieser Grundgleichungen der Variationsrechnung.
Das folgende dritte Kapitel diskutiert erste Erhaltungsgr¨
oßen, die man sofort aus den
Euler-Lagrange-Gleichungen ableiten kann. Diese Erhaltungss¨
atze sind einfache Spe-
zialf¨
alle des Noether-Theorems. Anschließend werden zwei Beispiele aus der Physik
diskutiert – die Punktmechanik und die eindimensionale Wellengleichung.
In den Kapiteln 4 bis 6 wird der Satz von Noether schließlich (f¨
ur verschiedene Klassen
von Transformationen) formuliert und bewiesen. Einfache Beispiele werden diskutiert.
Der Anwendungsbereich des Noether-Theorems ist sehr groß und vielf¨
altig. Deshalb
kann im Rahmen dieser Arbeit nur ein kleiner Ausschnitt daraus gezeigt werden. Im
Kapitel 7 wird eine Anwendung auf die Differentialgeometrie relativ ausf¨
uhrlich dis-
kutiert – das Problem der Geod¨
atischen auf Rotations߬
achen. Mithilfe des Noether-
Theorems wird der Satz von Clairaut bewiesen, der eine vollst¨
andige Klassifikation der
Geod¨
atischen nach ihrem qualitativen Verhalten erm¨
oglicht.
Abschließend wird ein kurzer Ausblick auf weiterf¨
uhrende Fragestellungen gegeben.
5
2. Grundlagen der Variationsrechnung
2.1. Das allgemeine Variationsproblem
F¨
ur eine Funktion u∈ C1(Ω,Rn) auf einem beschr¨
ankten Gebiet1Ω⊆Rmmit glattem
Rand betrachten wir das folgende Funktional.
F(u) := ZΩ
L(x, u(x), Du(x)) dx ∈R(2.1)
Dabei sei die sogenannte Lagrange-Funktion L=L({yα},{zi},{vi
α}), oder kurz
L(y, z, v), von der Klasse C2(Ω ×Rn×Rm·n,R). Die Jacobi-Matrix der Funktion uan
der Stelle xwird mit Du(x) bezeichnet.
Problem: Finde (lokale) Minima des Funktionals Fin der Menge
M={f∈ C1(¯
Ω) : f∂¯
Ω=f0}f¨
ur eine vorgegebene, glatte Funktion f0.
Bemerkung: Das Variationsproblem unterscheidet sich vom Optimierungsproblem
im Rndarin, dass der zugrundeliegende Raum im Allgemeinen unendlichdimensional
ist. Man beachte, dass die Existenz eines Minimums in der Menge Ma priori nicht
gesichert ist. Selbst dann nicht wenn das Funktional von unten beschr¨
ankt ist.
Beispiele f¨
ur Variationsprobleme gibt es viele. Die Methode ist so allgemein, dass
sie in vielen Gebieten Anwendung findet. Nicht nur in der reinen und angewandten
Mathematik und theoretischen Physik, sondern auch in anderen quantitativen Wis-
senschaften, wird sie erfolgreich eingesetzt. Da der Satz von Noether Aussagen ¨
uber
L¨
osungen allgemeiner Variationsprobleme macht, ist seine Anwendbarkeit prinzipiell
ebenso groß wie die der Variationsrechnung selbst.
Zur Notation:
•Wir verwenden das Standardskalarprodukt im Rnbzw. Rm.
x·y=
m
X
α=1
xαyα=xαyα, u ·v=
n
X
i=1
uivi=uivi
1
”Gebiet“ bedeutet, dass die Menge Ω offen, zusammenh¨
angend und nichtleer ist.
6
•Es gilt die Summenkonvention nach Einstein, d.h. wir summieren ¨
uber Indizes,
die doppelt auftreten (siehe oben).
•Wir verwenden die, in der Physik gebr¨
auchliche, Notation f¨
ur Gradient und
Divergenz.
∇f:= grad f= (∂f/∂x1, .., ∂f /∂xm)T∈Rm
∇ · g:= div g=X
α
∂gα/∂xα=∂gα/∂xα∈R
•Indizes mit griechischen Buchstaben α, β laufen von eins bis m. Indizes mit
lateinischen Buchstaben i, j, k laufen von eins bis n.
•Lzi:= ∂L
∂zi∈R
•Lz:= ∇zL= (Lz1, .., Lzn)T∈Rn
•Lyα:= ∂L
∂yα∈R
•Ly:= ∇yL= (Ly1, .., Lym)T∈Rm
•Lvi
α:= ∂L
∂vi
α∈R
•Lvi:= Lvi
1, .., Lvi
mT
∈Rm
•Lv:= (Lv1|..|Lvn)∈Rm×n
2.2. Das Prinzip der kleinsten Wirkung
Seit dem 17. Jahrhundert (z.B. Fermat2, 1661) werden Variationsprinzipien in der
Physik sehr erfolgreich angewendet. Der franz¨
osische Mathematiker Maupertius f¨
uhr-
te 1744 mit dem Prinzip der kleinsten Wirkung die Newtonsche Mechanik auf ein
Variationsprinzip zur¨
uck. Es besagt, dass die tats¨
achliche Bahn eines Teilchens stets
die ”Wirkung“ minimiert3. Dieses Prinzip kann man als eine ”¨
Okonomie der Natur“
verstehen.
Diese Idee wurde sp¨
ater von Lagrange, Hamilton und Anderen zur modernen Analyti-
schen Mechanik weiterentwickelt. Die moderne Form des Wirkungsfunktionals ist ein
Integral ¨
uber die Differenz aus kinetischer Energie Tund potentieller Energie V.
W(u) := Zb
a
(T(u0)−V(t, u)) dt
Man erh¨
alt damit, als notwendige Bedingung f¨
ur ein lokales Minimum, die Newton-
schen Bewegungsgleichungen.
2Fermat f¨
uhrte 1661 das Brechungsgesetzt der geometrischen Optik darauf zur¨
uck, dass das Licht
stets den Weg geringster Laufzeit nimmt [5].
3Genauer sind physikalische Bahnen kritische Punkte des Wirkungsfunktionals.
7
2.3. Notwendige Bedingungen
In der Optimierung im Rnist es eine notwendige Bedingung f¨
ur lokale Minima, dass
der Gradient verschwindet.
∇F= 0
Um diese Idee zu verallgemeinern, ben¨
otigen man einen Ableitungsbegriff f¨
ur Funktio-
nale. Man verfolgt dazu das Konzept der Richtungsableitung.
F¨
ur eine Funktion ϕ∈ C1(Ω,Rn) betrachten wir die Abbildung
Φ() := F(u+ϕ).
Definition 2.1. Der Ausdruck
δF(u, ϕ) := d
dΦ()=0 =d
dF(u+ϕ)=0
heißt erste Variation von Fan der Stelle uin Richtung ϕ.
Satz 2.2 (Notwendige Bedingung).Sei u∈ C1(Ω) ein lokales Minimum von Fin M.
Dann gilt
δF(u, ϕ)=0∀ϕ∈ C∞
c(Ω).(2.2)
Beweis. Elementares Resultat der Variationsrechnung, siehe z.B. [2].
Definition 2.3. Eine Funktion u, die die obige notwendige Bedingung (2.2) erf¨
ullt,
heißt schwaches Extremum von F.
Lemma 2.4. F¨
ur L∈ C1(Ω ×Rn×Rmn )und ϕ∈ C1(Ω) gilt
δF(u, ϕ) = ZΩLz(x, u, Du)·ϕ+Lvi(x, u, Du)· ∇ϕidx. (2.3)
Beweis. Da Lzweimal stetig differenzierbar ist, vertauschen Integration und Differen-
tiation und wir erhalten:
δF(u, ϕ) = d
d ZΩ
L(x, u +ϕ, Du +Dϕ)dx =0 =ZΩ
d
dL(..)=0 dx
=ZΩLz(x, u, Du)·ϕ+Lvi
α(x, u, Du)∂ϕi
∂xαdx
=ZΩLz(x, u, Du)·ϕ+Lvi(x, u, Du)· ∇ϕidx
F¨
ur den Beweis des zentralen Satzes dieses Abschnittes ben¨
otigen wir noch ein weiteres
Hilfsmittel, das sogenannte Fundamentallemma.
8
Lemma 2.5 (Fundamentallemma der Variationsrechnung).Sei f∈ C0(Ω,Rn)eine
stetige Funktion auf einer offenen Menge Ω⊆Rmund es gelte
ZΩ
f(x)·ϕ(x)dx = 0
f¨
ur alle ϕ∈ C∞
c(Ω,Rn). Dann folgt f(x)≡0auf Ω.
Beweis. Elementarer Beweis durch Widerspruch, siehe z.B. [2].
Nun k¨
onnen wir die sogenannten Euler-Lagrange-Gleichungen herleiten, die eine not-
wendige Bedingung f¨
ur lokale Minima der Regularit¨
at C2sind. Der Satz von Noether
trifft Aussagen ¨
uber Funktionen u, die diese Bedingung erf¨
ullen.
Satz 2.6 (Euler-Lagrange-Gleichungen).Sei die Lagrange-Funktion Lvon der Klasse
C2(Ω ×Rn×Rmn). Dann l¨
ost jedes schwache Extremum u von der Klasse C2(Ω,Rn)
das System partieller Differentialgleichungen zweiter Ordnung
Lzi(x, u, Du)−∇·Lvi(x, u, Du)=0,1≤i≤n. (ELG)
Beweis. Sei ϕ∈ C∞
c(Ω) eine glatte Funktion mit kompaktem Tr¨
ager in Ω. Da ϕam
Rand verschwindet, liefern Gleichung (2.3) und partielle Integration des zweiten Terms
(mit dem Satz von Gauß)
0 = Z∂¯
Ω
Lviϕi·ν dσ
| {z }
=0
+ZΩLz·ϕ−(∇ · Lvi)ϕidx
=ZΩ
(Lz−(∇ · Lv1, .., ∇ · Lvn)T)·ϕ dx.
Dabei bezeichne ν∈Rmdie ¨
außere Einheitsnormale an ∂¯
Ω und σdas entsprechende
Ober߬
achenmaß. Da Lund uzweimal stetig differenzierbar sind, ist
Lz−(∇ · Lv1, .., ∇ · Lvn)T
stetig und das Fundamentallemma liefert die Behauptung.
Definition 2.7. Eine Funktion u∈ C 2, die die Euler-Lagrange-Gleichungen l¨
ost, heißt
starkes Extremum oder kritischer Punkt von F.
Beobachtung: W¨
ahrend das Lagrangefunktional die Funktion uglobal bewertet, be-
schreiben die Euler-Lagrange-Gleichungen, wie sich die Funktion lokal verhalten muss,
um die globale Eigenschaft zu erf¨
ullen.
9
3. Erste Erhaltungss¨
atze
Der Satz von Noether liefert Erhaltungss¨
atze f¨
ur Funktionen u, die die Euler-Lagrange-
Gleichungen l¨
osen. Wir wollen in diesem Abschnitt einige Erhaltungsgr¨
oßen direkt her-
leiten, ohne auf den Satz von Noether zur¨
uckzugreifen.
Die folgenden Definitionen von ”kanonischem Impuls“ und ”Energie“ sind physika-
lisch motiviert. F¨
ur ein allgemeines Variationsproblem sind sie aber abstrakte Gr¨
oßen
ohne physikalische Bedeutung.
3.1. Erhaltung der kanonischen Impulse
Wir definieren den i-ten kanonischen Impuls als
pi(x) := Lvi(x, u(x), Du(x)) ∈Rm,1≤i≤n.
Mithilfe des kanonischen Impulses kann man die Euler-Lagrange-Gleichungen auch wie
folgt schreiben:
∂L
∂zi=∇ · pif¨
ur i= 1, .., n. (ELG2)
Damit folgt
∇ · pi= 0 ⇔∂L
∂zi
= 0.
3.2. Energieerhaltung
Lemma 3.1. Erf¨
ullt udie Euler-Lagrange-Gleichungen
Lzi=∇ · Lvi,
so gilt
Lyα=∂
∂xα
L(x, u(x), Du(x)) −∇·Lv
∂u
∂xα,(3.1)
bzw. in Vektorschreibweise
∇yL=∇xL−∇ · Lv
∂u
∂x1
, ... , ∇ · Lv
∂u
∂xm.
10
Beweis.
∂
∂xα
L(x, u(x), Du(x)) = Lyα+X
i
Lzi
∂ui
∂xα
+X
i,β
Lvi
β
∂
∂xα
∂ui
∂xβ
Da udie (ELG) l¨
ost, kann man Lzidurch ∇ · Lviersetzen. Da ferner u∈ C2, kann die
Reihenfolge der Differentiation im letzten Summanden vertauscht werden. Man erh¨
alt
damit
∂L
∂xα
=Lyα+X
i
(∇ · Lvi)∂ui
∂xα
+X
i,β
Lvi
β
∂
∂xβ
∂ui
∂xα
=Lyα+X
i
X
β
∂
∂xβ
Lvi
β
∂ui
∂xα
+X
i,β
Lvi
β
∂
∂xβ
∂ui
∂xα
=Lyα+X
i,β ∂
∂xβ
Lvi
β∂ui
∂xα
+Lvi
β
∂
∂xβ
∂ui
∂xα
=Lyα+X
i,β
∂
∂xβLvi
β
∂ui
∂xα=Lyα+∇ · Lv
∂u
∂xα.
Korollar 3.2. Erf¨
ullt udie Euler-Lagrange-Gleichungen, so gilt
∂L
∂yα
= 0 ⇔ ∇ · Eα= 0.
Dabei bezeichnet Eαdie α-te Energie
Eα:= Lv
∂u
∂xα
−Leα,1≤α≤m
und eαden α-ten Einheitsvektor in Rm.
3.3. Beispiele
Wir betrachten nun zwei Beispiele aus der Physik.
3.3.1. Punktmechanik
Das folgende Beispiel motiviert die obige, abstrakte Definition von Impuls und Energie.
Wir betrachten einen Massenpunkt der Masse mpim dreidimensionalen Raum. Wir
fassen u(t) als Ortsvektor des Massenpunktes zur Zeit tauf. Das heißt, wir bezeichnen
die unabh¨
angige Variable mit t. Bewegt sich der Massenpunkt in einem Potential
V(t, u), so ist das Variationsfunktional (nach dem Prinzip der kleinsten Wirkung)
gegeben durch
F(u) = ZL(t, u(t), u0(t)) dt =Z1
2mpu0(t)2−V(t, u(t))dt
11
mit der Lagrangefunktion L(y, z, v) = 1
2mpv2−V(y, z). Man identifiziert den i-ten
kanonischen Impuls als die i-te Komponente des mechanischen Impulses.
pi(t) = Lvi(t, u, u0) = mpu0
i(t)
Dieser ist genau dann erhalten, wenn die Ableitung des Potentials Vnach der i-ten
Koordinatenrichtung verschwindet.
Die Energie E1=Eist gerade die mechanischen Energie des Massenpunktes.
E1=Lvu0−L=∂L
∂vi
u0
i−L=mpu0
iu0
i−mp
2u02
i−V(t, u)=1
2mpu02+V(t, u)
| {z }
=T+V
Nach Korollar 3.2 ist die Energie genau dann erhalten, wenn die Lagrangefunktion
nicht explizit vom Zeitparameter tabh¨
angt. Dies ist genau dann der Fall, wenn das
Potential Vnicht zeitabh¨
angig ist.
3.3.2. Die eindimensionale Wellengleichung
Wir betrachten jetzt ein einfaches Beispiel eines Variationsproblems mit mehr als einer
unabh¨
angigen Variablen. Die zugeh¨
orige Euler-Lagrange-Gleichung ist eine partielle
Differentialgleichung – die eindimensionale Wellengleichung.
Die Funktion
u=u(t, x)
beschreibe die eindimensionale Auslenkung (z.B. einer schwingenden Saite) zum Zeit-
punkt t∈[0, T ] an der Stelle x∈[a, b]. Wir nehmen an, dass die Auslenkung am Rand
verschwindet.
u(t, a) = u(t, b)=0
Wir betrachen das Variationsfunktional1
F(u) = Zb
aZT
0
L(t, x, u(t, x),∇u(t, x)) dt dx
=Zb
aZT
0
1
2 1
c2∂u
∂t 2
−∂u
∂x 2!dt dx.
Dabei sei c > 0 eine Konstante (die Ausbreitungsgeschwindigkeit der Welle). Die
zugeh¨
orige Lagrangefunktion lautet
L(y1, y2, z, v1, v2) = 1
21
c2v2
1−v2
2.
1Auf die Modellierung soll hier nicht n¨
aher eingegangen werden, siehe dazu z.B. [5], S.98.
12
Die zugeh¨
orige Euler-Lagrange-Gleichung ist die eindimensionale Wellengleichung.
Lz
|{z}
=0
−∇ · Lv= 0 ⇔ ∇ · Lv= 0 ⇔∂
∂t
∂L
∂v1
+∂
∂x
∂L
∂v2
= 0
⇔1
c2
∂
∂t
∂u
∂t −∂
∂x
∂u
∂x = 0 ⇔1
c2
∂2u
∂t2=∂2u
∂x2
Die Erhaltung des kanonischen Impulses
p=p1= (Lv1, Lv2) = 1
c2
∂u
∂t ,−∂u
∂x
liefert in diesem Fall die Wellengleichung selbst. Es handelt sich in diesem Sinne um
eine triviale Erhaltungsgr¨
oße.
0 = ∇ · p=1
c2
∂2u
∂t2−∂2u
∂x2
Da die Lagrangefunktion weder von y1noch von y2abh¨
angt, folgt die Erhaltung der
Energien E1und E2. Es gilt
E1=L1
0−Lv
∂u
∂t = −1
2 1
c2∂u
∂t 2
+∂u
∂x 2!,∂u
∂t
∂u
∂x !.
Wir erhalten damit den Erhaltungssatz (oder die Kontinuit¨
atsgleichung)
0 = ∇ · E1=−1
2
∂
∂t 1
c2∂u
∂t 2
+∂u
∂x 2!+∂
∂x ∂u
∂t
∂u
∂x .
Integration dieser Gleichung nach xliefert:
d
dt (Zb
a 1
c2∂u
∂t 2
+∂u
∂x 2!dx)= 2 Zb
a
∂
∂x ∂u
∂t
∂u
∂x dx = 2 ∂u
∂t
∂u
∂x
x=b
x=a
= 0
Dabei haben wir ausgenutzt, dass die Ableitung von unach x am Rand verschwindet
(aufgrund der Randbedingung u(t, a) = u(t, b) = 0). Wir haben damit eine zeitliche
Erhaltungsgr¨
oße gefunden. Physikalisch gesehen, handelt es dabei um die, in der Welle
gespeicherte, mechanische Energie.
Zwischenfazit: Wir haben gesehen, wie f¨
ur L¨
osungen der Euler-Lagrange-Gleichungen
Symmetrie und Erhaltungss¨
atze zusammenh¨
angen (in speziellen F¨
allen). Wir wollen
nun mit dem Satz von Noether diesen Zusammenhang systematisch untersuchen.
13
4. Invarianz und der Satz von Noether
Der Satz von Noether versteht ”Symmetrie“ als Invarianz unter einer Familie von
Koordinatentransformationen. Deshalb besch¨
aftigen wir uns zun¨
achst mit Koordina-
tentransformationen, bevor wir den Satz von Noether in seiner einfachsten Fassung
beweisen.
4.1. Koordinatentransformationen
Definition 4.1. Eine Koordinatentransformation Tist ein C2-Diffeomorphismus
T: Ω ×Rn→e
Ω×Rn.
Das heißt, Tist bijektiv, zweimal stetig differenzierbar und auch die Umkehrabbildug
T−1ist zweimal stetig differenzierbar. Im Folgenden wird die Darstellung
(˜x, ˜z) = T(x, z)=(ψ(x, z), φ(x, z))
verwendet.
Wir definieren nun, wie sich eine Kurve u(x) unter der Transformation Tverh¨
alt. Be-
trachten wir ein Koordinatenpaar (x, z) mit z=u(x), das durch Tauf (˜x, ˜z) abgebildet
wird. Dann soll f¨
ur die transformierte Kurve eugelten
eu(˜x) = ˜z.
Definition 4.2. F¨
ur eine Kurve u∈ C1(Ω,Rn)ist die bzgl. Ttransformierte Kurve
eueine Abbildung
eu:e
Ω→Rn,
sodass f¨
ur alle x∈Ωgilt
eu(ψ(x, u(x)) = φ(x, u(x)).
Notation: Wir definieren f¨
ur festes u:
ψu(x) := ψ(x, u(x)).
Dann ist ψu∈ C1(Ω,e
Ω) und es gilt offensichtlich:
Lemma 4.3. Ist die Abbildung ψuauf einer Teilmenge e
Ω0⊆e
Ωinvertierbar, so ist
die transformierte Kurve euauf e
Ω0eindeutig gegeben als
eu(˜x) = φψ−1
u(˜x), u(ψ−1
u(˜x)).
14
4.2. Familien von Koordinatentransformationen
Der Satz von Noether behandelt sogenannte kontinuierliche Symmetrien. Das sind
Symmetrien, die sich durch eine ”glatte“ Schar oder Familie von Koordinatentransfor-
mationen beschreiben lassen. Sie sind von diskreten Symmetrien zu unterscheiden, wie
z.B. der Symmetrie unter Raumspiegelungen.
Definition 4.4. Eine glatte Familie von Koordinatentransformationen Tist
eine 1-Parameter-Schar von Koordinatentransformationen, die glatt vom Scharparam-
ter abh¨
angt und f¨
ur = 0 in die Identit¨
at ¨
ubergeht.
D.h. es gebe ein 0>0, sodass f¨
ur jedes ∈(−0, 0)die Abbildung
T≡ T (·,·;):Ω×Rn→Ω×Rn
eine Koordinatentransformation ist.
Weiter gelte T0(x, z) = (x, z)∀(x, z)und T ∈ C2(Ω ×Rn×(−0, 0)).
4.3. Der Satz von Noether im einfachsten Fall
Wir betrachten nun eine glatte Familie von Koordinatentransformationen T, die nur
die abh¨
angige Variable ztransformieren.
T(x, z)=(x, φ(x, z;))
Da Tglatt ist, k¨
onnen wir φin eine Taylorreihe bzgl. entwickeln.
φ(x, z;) = φ(x, z; 0) + ∂φ
∂ (x, z ; 0) + O(2)
=z+ η(x, z) + O(2)
Die Funktion η(x, z) := ∂φ
∂ (x, z; 0) ∈ C1(Ω ×Rn,Rn) heißt Generator der Transfor-
mation φ.
Die bzgl. Ttransformierte Kurve zu ukann man nach Lemma 4.3 darstellen als
u(x) = φ(x, u(x); ) = u(x) + η(x, u(x)) + O(2).
Wir definieren f¨
ur festes u
¯η(x) := η(x, u(x)),
sodass wir schreiben k¨
onnen
u(x) = u(x) + ¯η(x) + O(2).
15
Definition 4.5. Das Funktional Fheißt invariant bzgl. der glatten Familie von
Transformation φ, falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2(Ω,Rn), Gebiete Ω0⊆Ωund ∈
(−0, 0)gilt
F(u,Ω0) := ZΩ0
L(x, u(x), Du(x)) dx =F(u, Ω0).
Es stellt sich heraus, dass diese Forderung zu restriktiv ist. Deshalb definiert man eine
schw¨
achere Form der Invarianz.
Definition 4.6. Das Funktional Fheißt infinitesimal invariant bzgl. der glatten
Familie von Transformation φ, falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2(Ω,Rn)und Gebiete Ω0⊆Ω
gilt
d
d F(u,Ω0)=0 =d
d ZΩ0
L(x, u(x), Du(x)) dx=0
= 0.(I1)
Die folgende Proposition gibt eine ¨
aquivalente Bedingung der Invarianz unter Verwen-
dung der Lagrange-Funktion und des Generators η.
Proposition 4.7. Das Funktional Fist genau dann infinitesimal invariant bzgl.
der glatten Familie von Transformation φmit Generator η, falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2
gilt
Lz·¯η+Lvi· ∇¯ηi= 0.(I2)
Beweis. Differenziert man nach , erh¨
alt man1
d
d F(u,Ω0)=0 =ZΩ0
d
dL(x, u +¯η, Du +D ¯η)=0 dx
=ZΩ0Lz·¯η+Lvi
α
∂¯ηi
∂xαdx
=ZΩ0Lz·¯η+Lvi· ∇¯ηidx.
Ist Finfinitesimal invariant, verschwindet das obige Integral f¨
ur alle Gebiete Ω0⊆Ω
und somit der Integrand, da dieser stetig ist. Verschwindet umgekehrt der Integrand,
so verschwindet trivialerweise das Integral f¨
ur alle Gebiete Ω0.
Mit dieser Charakterisierung der infinitesimalen Invarianz k¨
onnen wir nun den Satz
von Noether in der einfachsten Form beweisen.
Theorem 4.8 (Noether, 1918).Das Funktional
F(u) := ZΩ
L(x, u(x), Du(x)) dx
1Die Terme der Ordnung 2werden hier und im Folgenden zur besseren Lesbarkeit weggelassen. Sie
leisten keinen Beitrag zur Ableitung bei = 0.
16
sei infinitesimal invariant bzgl. der glatten Familie von Koordinatentransformationen
φmit Generator η. Dann gilt f¨
ur alle starken Extrema uvon Fder Erhaltungssatz
∇ · Lv¯η= 0.(N1)
Beweis. Wir verwenden die Invarianzbedingung (I2) und addieren zwei Terme.
0 = Lz·¯η+Lvi· ∇¯ηi=Lz·¯η−(∇ · Lvi) ¯ηi+ (∇ · Lvi) ¯ηi+Lvi· ∇¯ηi
= (Lzi−∇·Lvi)
|{z }
= 0
¯ηi+∇ · (Lvi¯ηi) = ∇ · Lv¯η
Da unach Voraussetzung die Euler-Lagrange-Gleichungen l¨
ost, verschwindet der erste
Summand und die Behauptung ist bewiesen.
Beispiel: (Erhaltung der kanonischen Impulse)
Wir betrachten den Generator
η=ei
wobei eiden i-ten Einheitsvektor in Rnbezeichnet. Dann gilt nat¨
urlich ∇¯ηi= 0 und
nach Proposition 4.7 ist das Variationsfunktional genau dann infinitesimal invariant
bzgl. η, falls gilt
Lz¯η=Lzei=∂L
∂zi= 0.
In diesem Fall folgt mit Theorem 4.8 die Erhaltung des i-ten kanonischen Impulses.
0 = ∇ · Lv¯η=∇ · Lvei=∇ · Lvi=∇ · pi.
Wir stellen also fest, dass die Erhaltung der kanonischen Impulse ein einfacher Spezi-
alfall des Noether-Theorems ist.
Beispiel: (Teilchen im Zentralfeld)
Wir betrachten ein Teilchen in einem rotationssymmetrischen Potential in zwei Raum-
dimensionen. Wir beschreiben das System in kartesischen Koordinaten. Die Lagrange-
funktion des Systems lautet
L(t, u, u0) = 1
2m(u0
1
2+u0
2
2)−V(u2
1+u2
2).
Eine Drehung um den Winkel wird durch die folgende Drehmatrix beschrieben.
R=cos −sin
sin cos
Damit liefert eine Taylorentwicklung in
˜z1
˜z2=Rz1
z2=z1cos −z2sin
z1sin +z2cos =z1
z2+−z2
z1+O(2).
17
Die glatte Familie der Drehungen wird also vom Generator
η(t, z1, z2)=(−z2, z1)T
erzeugt. Wir zeigen jetzt, dass das zugeh¨
orige Lagrangefunktional infinitesimal invari-
ant bzgl. ηist. Eine kurze Rechnung liefert
Lz=−2 (V0(u2
1+u2
2)u1, V 0(u2
1+u2
2)u2)T
Lv= (mu0
1, mu0
2).
Mit ¯η(t)=(−u2(t), u1(t))Tfolgen die Identit¨
aten
Lz¯η= 2V0(u2
1+u2
2)u1u2−2(u2
1+u2
2)u2u1= 0
und
Lvi∇¯ηi=mu0
1(−u0
2) + mu0
2u0
1= 0.
Somit ist Fnach Proposition 4.7 infinitesimal invariant und der Satz von Noether
(Theorem 4.8) liefert
I:= Lv¯η=−mu0
1u2+mu0
2u1=m(u0
2u1−u0
1u2) = const.
Bei der Gr¨
oße Ihandelt es sich um den Bahndrehimpuls des Teilchens.
I=u×(mu0) = mdet u1u0
1
u2u0
2
Zwischenfazit: Wir haben den Begriff der (infinitesimalen) Invarianz bzgl. Transfor-
mationen der abh¨
angigen Parameter definiert und gesehen, wie daraus der Satz von
Noether folgt. Wir haben weiter gesehen, dass die Erhaltung der kanonischen Impul-
se ein einfacher Spezialfall des Satzes von Noether ist. Allerdings ben¨
otigen wir, um
Energieerhaltung zu zeigen, auch Variationen der unabh¨
angigen Parameter x.
18
5. Innere Variationen und der Satz von
Noether
Wir betrachten nun eine glatte Familie von Koordinatentransformationen T, die nur
die unabh¨
angige Variable xtransformieren. Die Variationen des Lagrangefunktionals,
die auf diesen Transformationen beruhen, nennt man ”Innere Variationen“.
T(x, z) = (ψ(x, z;), z)
Da Tglatt ist, k¨
onnen wir ψin eine Taylorreihe bzgl. entwickeln.
ψ(x, z;) = ψ(x, z; 0) + ∂ψ
∂ (x, z ; 0) + O(2)
=x+ µ(x, z) + O(2)
Die Funktion µ(x, z) := ∂ ψ
∂ (x, z; 0) ∈ C1(Ω×Rn) heißt Generator der Transformation
ψ.
Notation: F¨
ur eine feste Funktion usetzen wir
¯µ(x) := µ(x, u(x)).
Damit gilt
ψu(x;) := ψ(x, u(x); ) = x+¯µ(x) + O(2).
Lemma 5.1. F¨
ur ||klein genug, ist die Abbildung
ψu(·;) = ψ(·, u(·); ) : Rm⊇Ω→ψu(Ω; )⊆Rm
ein Diffeomorphismus. Also existiert die Inverse und ist stetig differenzierbar.
Beweis. Wir zeigen zun¨
achst, dass ψuf¨
ur kleine regul¨
ar ist.
Dψu=D(x+¯µ(x)) = 1+D ¯µ+O(2)
Die Taylor-Entwicklung der Determinante nach liefert1
det Dψu= 1 + tr(D¯µ) + O(2)
= 1 + ∇ · ¯µ
|{z}
<∞
+O(2).
1Man verwendet dabei die ”Jacobi Formel“: det(1+A) = 1 + tr(A) + O(2).
19
Da die stetige Funktion ∇ · ¯µauf dem Kompaktum ¯
Ω beschr¨
ankt ist, ist die Determi-
nante strikt positiv f¨
ur ||klein genug. Also ist ψuin diesem Fall regul¨
ar. Wir zeigen
jetzt, dass ψuf¨
ur kleine ||injektiv ist.
Da ¯µstetig und ¯
Ω kompakt ist, existiert eine Konstante K > 0, sodass
|¯µ(x1)−¯µ(x2)| ≤ K|x1−x2| ∀x1, x2∈Ω.
Betrachte die Differenz von ψuan zwei Stellen x1und x2.
ψu(x1;)−ψu(x2;) = x1−x2+(¯µ(x1)−¯µ(x2)) + O(2)
Mit der Dreiecksungleichung |x+y| ≥ |x|−|y|folgt f¨
ur alle x1, x2∈Ω
|ψu(x1;)−ψu(x2;)|=x1−x2+(¯µ(x1)−¯µ(x2)) + O(2)
≥ |x1−x2|−|| |¯µ(x1)−¯µ(x2)| − O(2)
≥ |x1−x2|−||K|x1−x2| − c·2
= (1 − ||K)|x1−x2| − c·2
≥1
4|x1−x2|,
falls ||<1/(2K) und 2<1/(4c). Somit folgt die Injektivit¨
at von ψu:
ψu(x1) = ψu(x2)⇒0≥1
4|x1−x2| ⇒ x1=x2
Wir k¨
onnen damit, nach Lemma 4.3, die transformierte Kurve zu u(x) (f¨
ur kleine ||)
angeben.
u(˜x) = u(ψ−1
u(˜x;))
Wir definieren nun, analog zum vorherigen Kapitel, den Begriff der infinitesimalen
Invarianz bzgl. der Familie von Transformationen ψ.
Definition 5.2. Das Funktional Fheißt infinitesimal invariant bzgl. der glatten
Familie von Transformationen ψ, falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2(Ω,Rn)gilt:
F¨
ur alle Gebiete Ω0⊆Ωgilt
d
dF(u,Ω0
)=0 := d
d ZΩ0
e
L(˜x, u(˜x), Du(˜x)) d˜x!=0
= 0,(I3)
wobei Ω0
:= ψu(Ω0;)und e
L∈ C2(Rm×Rn×Rmn ,R)eine beliebige2, zweimal stetig
differenzierbare Fortsetzung von Lsei.
2In der folgenden Proposition wird gezeigt, dass die Wahl der Forsetzung unerheblich ist. Die Existenz
einer solchen Fortsetzung muss im Einzelfall untersucht werden.
20
Wir fordern also wieder, dass sich das Funktional in erster Ordnung nicht ¨
andert,
wenn wir die Transformation anwenden. Wir zeigen nun, analog zum letzten Abschnitt,
eine ¨
aquivalente Bedingung f¨
ur die Invarianz.
Proposition 5.3. Das Funktional Fmit Lagrangefunktion List genau dann infini-
tesimal invariant bzgl. der glatten Familie von Transformation ψmit Generator µ,
falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2gilt
L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
= 0.(I4)
Beweis. Zun¨
achst wenden wir den Transformationssatz f¨
ur die Substitution
˜x=ψu(x) = x+µ(x, u(x)) = x+¯µ(x)
an. Dabei sei ||klein genug, sodass ψuein Diffeomorphismus ist. Dann gilt mit
Ω0
=ψu(Ω0;):
F(u,Ω0
) = ZΩ0
e
L(˜x, u(˜x), Du(˜x)) d˜x
=ZΩ0e
L(x+¯µ, u(ψu(x)), Du(ψu(x))) |det Dψu(x)|dx
Nach Definition von ugilt u(ψu(x)) = u(x). Wir haben in Lemma 5.1 gesehen, dass
sich f¨
ur die Funktionaldeterminante det Dψu(x) = 1+∇ · ¯µergibt. F¨
ur kleine Betr¨
age
von ist dieser Ausdruck positiv und es gilt |det Dψu(x)|= 1 + ∇ · ¯µ.
Betrachten wir die Jacobi Matrix von u. Nach der Kettenregel gilt
Du(˜x) = Du(ψ−1
u(˜x)) ·Dψ−1
u(˜x).
Mit dem Satz ¨
uber die Ableitung der Umkehrfunktion ergibt sich damit
Du(ψu(x)) = Du(x)·(Dψu(x))−1.
Nach Lemma 5.1 existiert die Inverse von Dψu. Ferner gilt
(1−D¯µ+O(2)) ·Dψu= (1−D ¯µ+O(2)) ·(1+D ¯µ+O(2))
=1+D¯µ−D ¯µ−2(D¯µ)2+O(2))
=1+O(2))
=Dψu·(1−D ¯µ+O(2)).
Damit haben wir gezeigt, dass die Inverse von Dψugegeben ist durch
Dψu(x)−1=1−D ¯µ(x) + O(2).
21
Es folgt
Du(ψu(x)) = Du(x)·(1−D ¯µ(x) + O(2)).
Damit erhalten wir insgesamt
F(u,Ω0
) = ZΩ0e
L(x+¯µ, u(x), Du ·(1−D¯µ)) (1 + ∇ · ¯µ)dx.
Differenzieren nach der Produkt- und Kettenregel liefert3
d
dF(u,Ω0
)=0 =ZΩ0d
d e
L(..)=0 ·1 + L∇ · ¯µdx
=ZΩ0∇yL·¯µ−Lvi
α(Du ·D¯µ)i,α +L∇ · ¯µdx
=ZΩ0∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
+L∇ · ¯µdx.
Man rechnet dabei leicht nach, dass (Du ·D¯µ)i,α =∇ui·∂¯µ/∂xα. Ist Finfinitesimal
invariant, so verschwindet das Integral f¨
ur alle Gebiete Ω0⊆Ω und damit der Inte-
grand. Die Umkehrung ist trivial.
Beachte: Man erkennt an der obigen Darstellung von dF/d, dass der Wert der Ab-
leitung von der Wahl der Fortsetzung e
Lunabh¨
angig ist. Damit ist die infinitesimale
Invarianz in Definition 5.2 wohldefiniert.
Nun k¨
onnen wir den Satz von Noether f¨
ur Variationen der unabh¨
angigen Parameter
beweisen.
Theorem 5.4. Das Funktional
F(u) := ZΩ
L(x, u(x), Du(x)) dx
sei infinitesimal invariant bzgl. der glatten Familie von Koordinatentransformationen
ψmit Generator µ. Dann gilt f¨
ur alle starken Extrema uvon Fder Erhaltungssatz
∇ · (L¯µ−LvDu¯µ) = 0.(N2)
Beweis. Nach Proposition 5.3 gilt
0 = L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
.
Ist ueine starke Extremale, so gilt nach Lemma 3.1
∇yL=∇xL−∇ · Lv
∂u
∂x1
, ... , ∇ · Lv
∂u
∂xm.
3Man beachte dabei, dass
e
L(x, u, Du) = L(x, u, Du).
22
Damit folgt
0 = L∇ · ¯µ+ (∇xL)·¯µ−X
α∇ · Lv
∂u
∂xα¯µα−X
i,α
Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
=∇ · (L¯µ)−X
α∇ · Lv
∂u
∂xα¯µα
|{z }
=:K1
−X
i,α
Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
| {z }
=:K2
.
Man rechnet schließlich nach, dass K:= K1+K2=∇ · (LvDu¯µ):
Mit der Definition von Lvergibt sich zun¨
achst
LvDuµ =
∂L
∂v1
1
.. ∂L
∂vn
1
.. .. ..
∂L
∂v1
m.. ∂L
∂vn
m
·
∇u1·¯µ
..
∇un·¯µ
und damit
(LvDu¯µ)α=X
i
Lvi
α(∇ui·¯µ).
Jetzt kann die Divergenz ausgewertet werden.
∇ · (LvDu¯µ) = X
i,α
∂
∂xαLvi
α(∇ui·¯µ)
=X
i,α ∂
∂xα
Lvi
α∇ui·¯µ+Lvi
α
∂
∂xα∇ui·¯µ
=X
i,α ∂
∂xα
Lvi
α∇ui·¯µ+Lvi
α∂
∂xα
∇ui·¯µ+Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
Wir indentifizieren den dritten Term als K2. Es bleibt also zu zeigen, dass die ersten
beiden Terme K1ergeben. Mit
Lv
∂u
∂xαβ
=X
i
Lvi
β
∂ui
∂xα
23
ergibt sich:
K1=X
α∇ · Lv
∂u
∂xα¯µα
=X
α
X
i,β
∂
∂xβLvi
β
∂ui
∂xα
¯µα
=X
i,α,β ∂
∂xβ
Lvi
β∂ui
∂xα
+Lvi
β
∂
∂xβ
∂ui
∂xα¯µα
=X
i,β ∂
∂xβ
Lvi
β∇ui·¯µ+Lvi
β∂
∂xβ
∇ui·¯µ
Ersetzt man den Index αdurch β, erkennt man die ersten beiden Terme von
∇ · LvDu¯µ. Damit gilt K=K1+K2=∇ · LvDu ¯µund die Behauptung ist bewiesen.
Beispiel: (Energieerhaltung)
Wir betrachten den Genrator
µ(x, z) = eα,
wobei eαden α-ten Einheitsvektor in Rmbezeichnet. Dann gilt offensichtlich
¯µ(x) = eα
und nach Proposition 5.3 ist das Variationsfunktional genau dann infinitesimal invari-
ant bzgl. µ, falls
L∇ · ¯µ
|{z}
=0
+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
|{z}
=0
=∇yL·eα=∂L
∂yα
= 0.
Ist dies der Fall, liefert Theorem 5.4 den Erhaltungssatz
∇ · (Leα−LvDu eα) = ∇ · (Leα−Lv
∂u
∂xα
) = −∇ · Eα= 0.
Wir erhalten also Korollar 3.2 als einfachen Spezialfall des Noether-Theorems.
24
6. Allgemeine Variationen und der
Satz von Noether
Nachdem wir in den letzten Kapiteln Variationen der abh¨
angigen und unabh¨
angigen
Variablen separat betrachtet haben, kommen wir nun zu allgemeinen Koordinaten-
transformationen
(˜x, ˜z) = T(x, z)=(ψ(x, z;), φ(x, z;))
mit der Taylor-Entwicklung
˜x=ψ(x, z;) = x+ µ(x, z ) + O(2)
˜z=φ(x, z;) = z+ η(x, z) + O(2).
Ist ||klein genug, sodass ψu(·;) = ψ(·, u(·); ) invertierbar ist, so ergibt sich die zu u
transformierte Kurve nach Lemma 4.3 als
u(˜x) = φ(ψ−1
u(˜x), u(ψ−1
u(˜x)))
=u(ψ−1
u(˜x)) + η(ψ−1
u(˜x), u(ψ−1
u(˜x))) + O(2)
=u(ψ−1
u(˜x)) + ¯η(ψ−1
u(˜x)) + O(2).
Die Definition der Invarianz bleibt dieselbe.
Definition 6.1. Das Funktional Fheißt infinitesimal invariant bzgl. der glatten
Familie von Transformationen (ψ, φ), falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2(Ω,Rn)gilt:
F¨
ur alle Gebiete Ω0⊆Ωgilt
d
dF(u,Ω0
)=0 := d
d ZΩ0
e
L(˜x, u(˜x), Du(˜x)) d˜x!=0
= 0,(I5)
wobei Ω0
:= ψu(Ω0;)und e
L∈ C2(Rm×Rn×Rmn ,R)eine beliebige, zweimal stetig
differenzierbare Fortsetzung von Lsei.
Proposition 6.2. Das Funktional Fmit Lagrangefunktion List genau dann infini-
tesimal invariant bzgl. der glatten Familie von Transformation (ψ, φ)mit Generator
(µ, η), falls f¨
ur alle Kurven u∈ C2gilt
Lz¯η+Lvi· ∇¯ηi+L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
= 0.(I6)
25
Beweis. Der Beweis ist analog zu den vorherigen Kapiteln. Wir wenden den Transfor-
mationssatz f¨
ur die Substitution
˜x=ψu(x) = x+µ(x, u(x)) = x+¯µ(x)
an und erhalten:
F(u,Ω0
) = ZΩ0
e
L(˜x, u(˜x), Du(˜x)) d˜x
=ZΩ0e
L(x+¯µ(x), u(x) + ¯η(x), Du(ψu(x))) (1 + ∇ · ¯µ)dx
F¨
ur die Jacobi-Matrix von ugilt
Du(˜x) = Du(ψ−1
u(˜x)) ·Dψ−1
u(˜x) + D¯η(ψ−1
u(˜x)) ·Dψ−1
u(˜x)
und damit
Du(ψu(x)) = Du(x)·(1−D ¯µ) + D¯η(x)·(1−D ¯µ)
=Du(x)·(1−D ¯µ) + D ¯η(x) + O(2).
Damit folgt f¨
ur das Integral
F(u,Ω0
) = ZΩ0e
L{x+¯µ(x), u(x) + ¯η(x), Du(x)·(1−D ¯µ) + D ¯η(x)}(1 + ∇ · ¯µ)dx.
Differenzieren nach liefert schließlich (analog zu Proposition 4.7 und 5.3):
d
dF(u,Ω0
)=0 =ZΩ0L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ+Lz·¯η−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
+Lvi· ∇¯ηidx
Da das Integral nach Voraussetzung f¨
ur alle Gebiete Ω0⊆Ω verschwindet, folgt die
Behauptung.
Theorem 6.3. Das Funktional
F(u) := ZΩ
L(x, u(x), Du(x)) dx
sei infinitesimal invariant bzgl. der glatten Familie von Koordinatentransformationen
(ψ, φ)mit Generator (µ, η). Dann gilt f¨
ur alle starken Extrema uvon Fder Erhal-
tungssatz
∇ · (Lv¯η+L¯µ−LvDu¯µ) = 0.(N3)
Beweis. Ist das Funktional infinitesimal invariant, so gilt nach Proposition 6.2
Lz¯η+Lvi· ∇¯ηi+L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
= 0.
26
Ist uein starkes Extremum, erf¨
ullt es die Euler-Lagrange-Gleichungen.
Lzi−∇·Lvi= 0
Nach dem Beweis von Theorem 4.8 gilt dann
Lz¯η+Lvi· ∇¯ηi= (Lzi−∇·Lvi)
| {z }
=0
¯ηi+∇ · (Lv¯η) = ∇ · (Lv¯η).
Im Beweis von Theorem 5.4 haben wir gezeigt, dass f¨
ur ein starkes Extremum ugilt:
L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
=∇ · (L¯µ−LvDu¯µ)
Damit erhalten wir in diesem Fall
∇ · (Lv¯η) + ∇ · (L¯µ−LvDu¯µ) = ∇ · (Lv¯η+L¯µ−LvDu¯µ)=0.
Beobachtung: Man kann die Bedingung der infinitesimalen Invarianz noch weiter
abschw¨
achen. Existiert eine Funktion w=w(yα, zi, vi
α)∈ C1(Ω ×Rn×Rnm ,R),
sodass in Gleichung (I5) gilt
d
d F(u,Ω0)=0 =ZΩ0
∇ · w(x, u(x), Du(x)) dx,
so gilt in der Invarianzbedingung (I6)
Lz¯η+Lvi· ∇¯ηi+L∇ · ¯µ+∇yL·¯µ−Lvi
α∇ui·∂¯µ
∂xα
=∇ · w. (I7)
Man nennt diese schw¨
achere Form der infintesimalen Invarianz ”Invarianz bis auf
eine totale Divergenz“ (bezogen auf die Lagrangefunktion L). Man erh¨
alt die fol-
gende, allgemeinere Formulierung des Noether-Theorems:
Theorem 6.4. Das Funktional
F(u) := ZΩ
L(x, u(x), Du(x)) dx
sei, bzgl. der glatten Familie von Koordinatentransformationen (ψ, φ)mit Generator
(µ, η), infinitesimal invariant bis auf eine totale Divergenz. Dann gilt f¨
ur alle starken
Extrema uvon Fder Erhaltungssatz
∇ · (Lv¯η+L¯µ−LvDu¯µ−w)=0.(N4)
27
Bemerkung: Es ist eine triviale Beobachtung, dass aus der Erhaltung zweier Gr¨
oßen
Aund Bdie Erhaltung der Summe A+Bfolgt. Die Umkehrung dieser Aussage gilt
allerdings nicht. Ist A+Beine Erhaltungsgr¨
oße, muss weder Anoch Beine Erhal-
tungsgr¨
oße sein.
Genauso verh¨
alt es sich mit den vorgestellten Varianten des Noether-Theorems. Ist
das Variationsfunktional Finvariant unter einer Transformation der abh¨
angigen Va-
riablen mit Generator ηund gleichzeitig invariant unter einer Transformation der un-
abh¨
angigen Variablen mit Generator µ, so ist es (nach Proposition 6.2) invariant unter
der allgemeinen Transformation mit Generator (µ, η). Der Satz von Noether liefert in
diesem Fall die zusammengesetzte Erhaltungsgr¨
oße
A+B= (Lv¯η)+(L¯µ−LvDu¯µ).
Andererseit ist es durchaus m¨
oglich, dass das Funktional Finvariant unter der allge-
meinen Transformation (µ, η) ist, ohne invariant bzgl. ηoder µzu sein. Theorem 6.3
bzw. Theorem 6.4 stellt also eine echte Verallgemeinerung dar.
28
7. Geod¨
atische auf Rotations߬
achen
Wir wollen nun ein klassisches Resultat der Differentialgeometrie mithilfe des Noether-
Theorems beweisen und verstehen. Der Satz von Clairaut1macht eine Aussage ¨
uber
das Verhalten von Geod¨
atischen auf Rotations߬
achen, d.h. Fl¨
achen, die durch Rotation
einer Kurve um eine Achse entstehen. Diese Fl¨
achen weisen (nach Konstruktion) eine
Rotationssymmetrie auf. Diese Symmetrie kann man nutzen, um eine Erhaltungsgr¨
oße
f¨
ur die Geod¨
atischen zu finden. Geod¨
atische sind eine Verallgemeinerung von Geraden
auf gekr¨
ummte R¨
aume. Wir verwenden hier eine physikalisch motivierte Definition von
geod¨
atischen Kurven, die eine gute Intuition f¨
ur die Situation vermittelt.
7.1. Rotations߬
achen, Fl¨
achenkurven und Geod¨
atische
Parametrisierung von Rotations߬
achen: Gegeben sei eine parametrisierte Kurve in
der x-z-Ebene.
cf(τ) = r(τ)
h(τ), τ ∈If
Dabei sei If⊆Rein Intervall. Wir setzen weiter voraus, dass die Kurve cfregul¨
ar2
und mindestens zweimal stetig differenzierbar ist und die z-Achse nicht schneidet.
r(τ)>0∀τ∈If
Diese Annahme vereinfacht die Analysis an einigen Stellen und sorgt daf¨
ur, dass die
Fl¨
ache ¨
uberall glatt und ”unproblematisch“ ist.
Ohne Einschr¨
ankung der Allgemeinheit3sei cfnach der Bogenl¨
ange parametrisiert,
das heißt, der Betrag der Ableitung von cfsei konstant gleich eins.
1 = c0
f(τ)2=r0(τ)2+h0(τ)2.(7.1)
Mit dieser Annahme vereinfachen sich einige der folgenden Berechnungen. Eine nat¨
urli-
che Parametrisierung der Rotations߬
ache erh¨
alt man durch die Verwendung von Zy-
linderkoordinaten (ρ, ϕ, z). Wir setzen ρ=r(τ), z=h(τ) und variieren ϕ.
f(τ, ϕ) =
r(τ) cos ϕ
r(τ) sin ϕ
h(τ)
,(τ, ϕ)∈If×[0,2π] (7.2)
1Alexis-Claude Clairaut (1713-1765), franz¨
osischer Mathematiker.
2
”Regul¨
ar“ bedeutet, dass die Ableitung der Kurve an keiner Stelle verschwindet.
3Man kann zeigen, dass jede regul¨
are Kurve eine solche Parametrisierung besitzt, siehe z.B. [6] S.32.
29
Fl¨
achenkurven: Betrachte nun eine Kurve γim Definitionsbereich von f.
I∈t7→ γ(t)=(τ(t), ϕ(t)) ∈If×[0,2π]
Dabei sei I= [a, b] ein Intervall und γmindestens zweimal stetig differenzierbar. Man
erh¨
alt eine Fl¨
achenkurve cdurch Komposition der Parametrisierung fmit der Kurve
γim Defintionsbereich von f.
c(t) := (f◦γ)(t) =
r(τ(t)) cos(ϕ(t))
r(τ(t)) sin(ϕ(t))
h(τ(t))
(7.3)
Eine wichtige Klasse von Fl¨
achenkurven bilden die sogenannten Breitenkreise. Sie ent-
stehen, wenn der Parameter τfestgehalten und der Parameter ϕ(linear) variiert wird.
Es ist anschaulich klar, dass durch jeden Punkt f(τ0, ϕ0) auf der Rotationsfl¨
ache genau
ein Breitenkreis verl¨
auft, n¨
amlich
b(φ) =
r(τ0) cos(ϕ0+φ)
r(τ0) sin(ϕ0+φ)
h(τ0)
.
Geod¨
atische und physikalische Bahnen: Die folgenden Definitionen haben eine phy-
sikalische Motivation4. Stellt man sich tals Zeitparameter und die Kurve cals die
Bahn eines Massenpunktes auf der Rotations߬
ache vor, so ist |c0|2proportional zur
kinetischen Energie T=1
2mv2des Massenpunktes5. Nach dem Prinzip der kleinsten
Wirkung6sind die physikalischen Bahnen kritische Punkte des Wirkungsfunktionals.
In der Abwesenheit eines Potentials ist das Wirkungsfunktional gerade das Integral
¨
uber die kinetische Energie. Man definiert daher:
Definition 7.1 (Wirkung einer Kurve).Die Wirkung einer Fl¨
achenkurve c=f◦γ
ist definiert als
W(c) := ZI
|c0(t)|2dt.
Dabei sei |c0(t)|der euklidische Betrag von c0(t)in R3.
Definition 7.2 (Geod¨
atische).Eine Fl¨
achenkurve
c=f◦γ∈ C2([a, b],R3)
heißt Geod¨
atische, wenn sie ein kritischer Punkt des Wirkungsfunktionals Win der
Menge
M:= g=f◦γ∈ C1([a, b]) : g(a) = c(a), g(b) = c(b)
ist.
4In der Mathematik verwendet man ¨
ublicherweise eine andere Definition f¨
ur Geod¨
atische, siehe
z.B. [6] S.192. Die folgende Definition ist aber ¨
aquivalent und erfordert weniger Begriffe aus der
Differentialgeometrie.
5Die Masse mist hier unerheblich und kann formal gleich 1/2 gesetzt werden.
6vgl. Abschnitt 2.2
30
Bemerkung: Es ist intuitiv klar, dass ein kritischer Punkt kein lokales Maximum des
Wirkungsfunktionals sein kann. Man findet immer kleine Variationen, die die Wirkung
gr¨
oßer machen. Insofern sind Geod¨
atische Kurven, die die Wirkung lokal minimieren.
Man kann sich eine Geod¨
atische vorstellen als die Bewegung eines Massenpunktes,
der nur die ”Zwangskr¨
afte“ der Fl¨
ache sp¨
urt. Das sind Kr¨
afte, die den Massenpunkt
daran hindern, die Fl¨
ache zu verlassen. Es handelt sich also um eine ”freie“ Bewegung
auf einer (im Allgemeinen gekr¨
ummten) Fl¨
ache7. Ist die Fl¨
ache lokal nicht gekr¨
ummt,
so wirken keine Zwangskr¨
afte und die Geod¨
atische ist lokal eine Gerade.
Wir bestimmen nun die Lagrangefunktion zum Wirkungsfunktional W.
Lemma 7.3. F¨
ur eine Kurve c=f◦γmit γ(t)=(τ(t), ϕ(t)) auf einer Rotationsfl¨
ache
fmit erzeugender Kurve cf(τ)=(r(τ), h(τ))Tgilt
W(c) = ZI
L(t, τ (t), ϕ(t), τ0(t), ϕ0(t)) dt =ZI
(τ02+r(τ)2ϕ02)dt
mit der Lagrangefunktion
L(t, z1, z2, v1, v2) = v2
1+r(z1)2v2
2.
Merke: Da die Funktion r(τ) durch die Fl¨
ache fvorgegeben ist, verstehen wir Wals
Funktional auf dem Paar (τ, ϕ).
Beweis. Wir suchen zun¨
achst einen Ausdruck f¨
ur den Betrag von c0. Differentiation
der Fl¨
achenkurve (7.3) liefert
c0(t) =
r0(τ(t))τ0(t) cos(ϕ(t)) −r(τ(t)) sin(ϕ(t))ϕ0(t)
r0(τ(t))τ0(t) sin(ϕ(t)) + r(τ(t)) cos(ϕ(t))ϕ0(t)
h0(τ(t))τ0(t)
.(7.4)
Damit folgt (in Kurzschreibweise mit c:= cos(ϕ(t)), s := sin(ϕ(t)))
|c0(t)|2= (r0τ0c−rsϕ0)2+ (r0τ0s+rcϕ0)2+h02τ02
=r02τ02c2−2r0τ0rϕ0cs +r2ϕ02s2+r02τ02s2+ 2r0τ0rϕ0sc +r2ϕ02c2+h02τ02
=r02τ02(c2+s2) + r2ϕ02(c2+s2) + h02τ02
=τ02(r02+h02) + r2ϕ02.
Da die erzeugende Kurve cfnach der Bogenl¨
ange parametrisiert ist, gilt nach (7.1)
1 = r0(τ)2+h0(τ)2
und die obige Beziehung vereinfacht sich zu
L(t, τ (t), ϕ(t), τ0(t), ϕ0(t)) = |c0(t)|2=τ02+r(τ)2ϕ02.
7Diese Idee kann man verallgemeinern auf eine freie Bewegung eines Massenpunktes in einer ge-
kr¨
ummten Raumzeit. Auf diese Weise formulierte Albert Einstein 1915 die Allgemeine Relati-
vit¨
atstheorie.
31
7.2. Der Satz von Clairaut
Proposition 7.4. F¨
ur eine Geod¨
atische c=f◦γmit γ(t)=(τ(t), ϕ(t)) auf einer Ro-
tations߬
ache fmit erzeugender Kurve cf(τ)=(r(τ), h(τ))Tgelten die Erhaltungss¨
atze
r(τ(t))2ϕ0(t) = const (7.5)
und
|c0(t)|=pτ0(t)2+r(τ(t))2ϕ0(t)2=const.(7.6)
Beweis. Die Lagrangefunktion
L(t, z1, z2, v1, v2) = v2
1+x(z1)2v2
2
ist offensichtlich invariant gegen¨
uber Verschiebungen von z2, da dieser Parameter in
Lnicht vorkommt. Dies ist Ausdruck der Rotationssymmetrie der Rotations߬
ache f.
Wir w¨
ahlen demnach die Koordinatentransformation
(τ, ϕ)7→ (τ , ϕ +)=(τ , ϕ) + (0,1)
|{z}
=η=¯η
.
Der Satz von Noether (Theorem 4.8) f¨
ur u=γ= (τ, ϕ) liefert
Lv¯η=∂L
∂v1
·0 + ∂ L
∂v2
·1=2·r(τ(t))2ϕ0(t) = const.
Ferner ist die Lagrangefunktion invariant gegen¨
uber Verschiebungen des unabh¨
angigen
Parameters t, da dieser nicht explizit vorkommt. Wir w¨
ahlen also die Transformation
mit Generator µ= 1:
t7→ t+µ =t+.
Der Satz von Noether f¨
ur innere Variationen (Theorem 5.4) liefert die Erhaltung von
|c0|:
const = L¯µ−LvDu¯µ=L−2τ0
2r(τ)2ϕ0·τ0
ϕ0
=τ02+r(τ)2ϕ02−2(τ02+r(τ)2ϕ02)
=−(τ02+r(τ)2ϕ02) = − |c0(t)|2.
Bemerkung: Die beiden Erhaltungsgr¨
oßen haben wichtige physikalische Interpreta-
tionen. Die Gr¨
oße (7.5) ist gerade die z-Komponente des Drehimpulses bezogen auf
32
den Koordinatenursprung. Es gilt nach (7.3) und (7.4):
Iz:= (c(t)×c0(t))z
=rcos ·(r0τ0sin +rϕ0cos) −rsin ·(r0τ0cos −rϕ0sin)
=rr0τ0sin cos +r2ϕ0cos2−rr0τ0sin cos +r2ϕ0sin2
=r2ϕ0(cos2+ sin2) = r2ϕ0
Der Wert von Izist durch die Anfangsbedingungen festgelegt.
Iz=r(τ0)2ϕ0
0= const
Notation: Zur besseren Lesbarkeit wird die z-Komponente des Drehimpulses im Fol-
genden einfach ”Drehimpuls“ genannt. Man beachte aber, dass der vektorielle Drehim-
puls ~
Iim allgemeinen keine Erhaltungsgr¨
oße ist.
Die Gr¨
oße (7.6) ist die physikalische Geschwindigkeit des Massenpunktes.
|c0(t)|=pτ02+r(τ)2ϕ02=: v= const
Aus physikalischer Sicht ist es nicht ¨
uberraschend, dass die Geschwindigkeit erhalten
ist. Da die Zwangskr¨
afte senkrecht zur Fl¨
ache wirken, leisten sie keine Arbeit an dem
Massenpunkt, der sich tangential zur Fl¨
ache bewegt. Daher ist die kinetische Energie
eine Erhaltungsgr¨
oße und damit auch die Geschwindigkeit v.
Aus diesen beiden Erhaltungsgr¨
oßen erh¨
alt man im folgenden Satz eine weitere, abge-
leitete Erhaltungsgr¨
oße.
Satz 7.5 (Clairaut).F¨
ur eine Geod¨
atische c=f◦γmit γ(t) = (τ(t), ϕ(t)) auf einer
Rotations߬
ache fmit erzeugender Kurve cf(τ) = (r(τ), h(τ))Tgilt der Erhaltungssatz
r(τ(t)) cos(ϑ(t)) = Iz
v=const,(7.7)
wobei ϑ(t)den Winkel zwischen Geod¨
atischer und Breitenkreis im Punkt c(t)bezeich-
net.
Beweis. Sei ceine Geod¨
atische. Betrachte den Punkt p=c(t) = f(γ(t)). Der Breiten-
kreis durch pist gegeben durch
b(φ) =
r(τ(t)) cos(ϕ(t) + φ)
r(τ(t)) sin(ϕ(t) + φ)
h(τ(t))
,
mit b(0) = p. Die Tangente an den Breitenkreis im Punkt perh¨
alt man mittels Diffe-
rentiation.
b0(0) =
−r(τ(t)) sin(ϕ(t))
r(τ(t)) cos(ϕ(t))
0
33
Der Winkel zwischen Geod¨
atischer und Breitenkreis im Punkt pist definiert als der
Winkel zwischen ihren Tangenten im Punkt p. Es gilt somit
cos(ϑ(t)) = c0(t)·b0(0)
|c0(t)| |b0(0)|.
Mit |c0(t)|=pτ02+r2ϕ02und |b0(0)|=pr2(sin(ϕ)2+ cos(ϕ)2) = |r|=r(da r > 0),
folgt
cos(ϑ(t)) = c0(t)·b0(0)
rpτ02+r2ϕ02.
Die Auswertung des Skalarprodukts ergibt c0(t)·b0(0) = r2ϕ0. Somit folgt
rcos(ϑ(t)) = r2ϕ0
pτ02+r2ϕ02=Iz
v.
Nach Proposition 7.4 sind Z¨
ahler und Nenner dieses Ausdrucks Erhaltungsgr¨
oßen.
Damit ist auch der Quotient eine Erhaltungsgr¨
oße.
7.3. Geod¨
atengleichungen
Nach Definition sind die Geod¨
atischen kritische Punkte des Wirkungsfunktionals und
somit L¨
osungen der entsprechenden Euler-Lagrange Gleichungen.
Lz(t, τ, ϕ, τ 0, ϕ0) = d
dt Lv(t, τ, ϕ, τ 0, ϕ0)
In diesem Fall ergibt sich das folgende System gew¨
ohnlicher Differentialgleichungen
zweiter Ordnung f¨
ur (τ(t), ϕ(t)):
d
dt r(τ)2ϕ0= 0
r(τ)r0(τ)ϕ02=τ00
Die zweite Gleichung kann man vereinfachen, indem man die Drehimpulserhaltung
ausnutzt.
τ00 =r(τ)r0(τ)ϕ02=r(τ)2ϕ0
| {z }
=const
·r0(τ)
r(τ)ϕ0=r(τ0)2ϕ0
0
| {z }
=Iz
·r0(τ)
r(τ)ϕ0
Durch Ausdifferenzieren der ersten Gleichung erh¨
alt man ein ¨
aquivalentes System, das
linear in den Ableitungen von τund ϕist.
ϕ00 =−2r0(τ)
r(τ)τ0ϕ0
τ00 =Iz
r0(τ)
r(τ)ϕ0
34
Das zugeh¨
orige Anfangswertproblem
ϕ(t0) = ϕ0, ϕ0(t0) = ϕ0
0, τ(t0) = τ0, τ 0(t0) = τ0
0
ist nach dem Satz von Picard-Lindel¨
of lokal eindeutig l¨
osbar, da die rechte Seite ste-
tig differenzierbar ist. Das bedeutet, es gibt an jedem Punkt der Fl¨
ache (lokal) eine
Geod¨
atische in jede Richtung.
Da die Gr¨
oße ϕnicht explizit vorkommt, ist es sinnvoll ϕ0zu ersetzen.
α(t) := ϕ0(t)
Man erh¨
alt ein vereinfachtes System. Im Allgemeinen ist das System allerdings nicht-
linear in τ.
α0=−2r0(τ)
r(τ)τ0α(7.8)
τ00 =Iz
r0(τ)
r(τ)α(7.9)
Die R¨
ucktransformation auf ϕist gegeben durch
ϕ(t) = ϕ0+Zt
t0
α(s)ds.
Man erkennt an dieser Stelle, dass ϕ0ein freier Parameter ist, der die L¨
osungen α=ϕ0
und τnicht beeinflusst. Der Grund daf¨
ur ist nat¨
urlich die Rotationssymmetrie der
Fl¨
ache.
Setzt man ferner y1(t) := τ(t) und y2(t) := τ0(t), erh¨
alt man ein explizites System
von drei gew¨
ohnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung.
α0=−2r0(y1)
r(y1)y2α
y0
1=y2
y0
2=Iz
r0(y1)
r(y1)α
Da das System nichtlinear ist, kann man h¨
aufig keine explizite L¨
osung angeben. Es
eignet sich aber zur numerischen L¨
osung mit Standardverfahren der Numerik8.
7.4. Allgemeine Klassifikation der Geod¨
atischen
Wir haben gesehen, dass der Drehimpuls Izeine Erhaltungsgr¨
oße f¨
ur Geod¨
atische auf
einer Rotations߬
ache ist. Zur Klassifikation bietet es sich daher an, zun¨
achst zwischen
verschwindendem und nichtverschwindendem Drehimpuls zu unterscheiden.
8Siehe dazu auch Anhang A.
35
7.4.1. Verschwindender Drehimpuls
Wir betrachten Geod¨
atische mit verschwindendem Drehimpuls Iz. Da der Radius r
echt positiv ist, muss die Ableitung von ϕ¨
uberall verschwinden.
0 = Iz=r(τ)2ϕ0⇒α=ϕ0≡0
Die Geod¨
atengleichungen (7.8) und (7.9) liefern in diesem Fall:
0 = α0=−2r0(τ)
r(τ)τ0α= 0
τ00 =Iz
r0(τ)
r(τ)α= 0
Geod¨
atische mit Iz= 0 sind also L¨
osungen der Gleichung τ00 = 0. Die allgemeine
L¨
osung lautet
τ(t) = τ0+τ0
0t. (7.10)
Man kann hier qualitativ zwei F¨
alle unterscheiden: Triviale Geod¨
atische und Meridi-
ankurven.
Trivialer Fall einer Geod¨
atischen (τ0
0= 0): Der triviale Fall einer Geod¨
atischen ist
eine ”Kurve“ , die zu einem Punkt entartet ist. W¨
ahlt man τ0
0= 0, erh¨
alt man eine
L¨
osung der Geod¨
atengleichungen mit |c0| ≡ 0, d.h. zur Wirkung null. Die physikalische
Interpretation ist ein Massenpunkt in Ruhe.
Beobachtung: Schließt man den trivialen Fall aus, haben nach Proposition 7.4 al-
le Geod¨
atischen eine konstante Geschwindigkeit v > 0. Wie der folgende Satz zeigt,
k¨
onnen wir – ohne Einschr¨
ankung der Allgemeinheit – Geod¨
atische mit v= 1 betrach-
ten.
Satz 7.6. Sei c=f◦γeine Geod¨
atische auf einer Rotations߬
ache mit Geschwindigkeit
v > 0. Dann ist f¨
ur jede Konstante kdie Kurve
ec(t) := c(kt) = f(γ(kt))
eine Geod¨
atische mit Geschwindigkeit ev=|k|v. Insbesondere ist
bc(t) := c(t/v)
Geod¨
atische mit Geschwindigkeit eins.
Beweis. Man rechnet leicht nach, dass ecdie Geod¨
atengleichungen (7.8) und (7.9) l¨
ost.
Ferner gilt ˜c0(t) = k·c0(kt) und damit
ev=|˜c0(t)|=|k·c0(kt)|=|k| |c0(kt)|=|k|v.
Man nennt eceine Umparametrisierung von c. Die Bahn der Kurve bleibt dabei un-
ver¨
andert.
36
Meridiane (τ0
06= 0): Eine weitere wichtige Klasse von Kurven auf einer Rotations-
߬
ache bilden die Meridiane. Meridiane sind Kurven mit konstantem Winkel ϕ, das
heißt rotierte ”Kopien“ der erzeugenden Kurve cf. Sie haben ebenfalls den Drehim-
puls Iz= 0.
Lemma 7.7. Die Meridiankurve
mϕ(t) = f◦(τ0±t, ϕ) =
r(τ0±t) cos(ϕ)
r(τ0±t) sin(ϕ)
h(τ0±t)
, τ0±t∈If
ist f¨
ur alle ϕ∈[0,2π]und τ0∈Ifeine Geod¨
atische mit v= 1.
Beweis. Nach (7.10) l¨
ost mϕdie Geod¨
atengleichungen. Ferner ist mϕals rotierte Ver-
sion von cfnach der Bogenl¨
ange parametrisiert.
m0
ϕ(t)2=c0
f(τ0±t)2=r0(τ0±t)2+h0(τ0±t)2= 1
7.4.2. Nichtverschwindender Drehimpuls
Betrachten wir nun Kurven mit nichtverschwindendem Drehimpuls. Da Izerhalten und
recht positiv ist, k¨
onnen wir nun schließen, dass die Ableitung von ϕstrikt positiv
oder strikt negativ ist.
Iz=r(τ(t))2ϕ0(t)>0⇒ϕ0(t)>0∀t
Iz=r(τ(t))2ϕ0(t)<0⇒ϕ0(t)<0∀t
Wir unterscheiden zwischen konstantem Parameter τund nichtkonstantem τ.
Breitenkreise (τ0≡0): Wir betrachten jetzt Geod¨
atische mit konstantem Parameter
τ=τ0.
Lemma 7.8. Geod¨
atische mit v= 1,Iz6= 0 und τ(t) = τ0=const sind Breitenkrei-
se der Form
b(t) = f◦τ0, ϕ0±t
r(τ0)=
r(τ0) cos(ϕ0±t/r(τ0)
r(τ0) sin(ϕ0±t/r(τ0)
h(τ0)
f¨
ur alle τ0mit r0(τ0) = 0. Der zugeh¨
orige Drehimpuls ist durch den Radius gegeben.
Iz=±r(τ0)
37
Beweis. Wir betrachten beliebige Geod¨
atische mit Iz6= 0 und τ(t) = τ0. Die Geod¨
aten-
gleichungen (7.8) und (7.9) liefern:
α0=−2r0(τ0)
r(τ0)τ0α= 0
τ00 = 0 = Iz
r0(τ0)
r(τ0)α
Die erste Gleichung impliziert, dass αkonstant ist. Da aber Iz=r2α6= 0, ist die Kon-
stante αungleich null. Um die zweite Gleichung zu l¨
osen, muss demnach die Ableitung
von ran der Stelle τ0verschwinden.
0 = Lzα
r(τ0)
|{z}
6=0
r0(τ0)⇒r0(τ0) = 0
Es gilt demnach f¨
ur eine Konstante k6= 0:
b(t) = f(τ0, ϕ0+kt) =
r(τ0) cos(ϕ0+kt)
r(τ0) sin(ϕ0+kt)
h(τ0)
Die Forderung |b0(t)|= 1 impliziert k=ϕ0=±1/r(τ0). Damit l¨
asst sich der Drehim-
puls berechnen.
Iz=r2ϕ0=±r(τ0)21
r(τ0)=±r(τ0)
Allgemeiner Fall (τ06≡ 0): Wir betrachten schließlich Geod¨
atische mit nichtver-
schwindendem Drehimpuls Izund nichtkonstanter τ-Komponente. Das heißt, wir be-
trachten Geod¨
atische, die weder Punkte noch Meridiane noch Breitenkreise sind. Dieser
Fall ist naturgem¨
aß komplexer als die bisher diskutierten F¨
alle.
Eine einfache, aber wichtige Beobachtung ist das folgende Lemma.
Lemma 7.9. Der Radius der Bahn einer Geod¨
atischen auf einer Rotations߬
ache mit
Einheitsgeschwindigkeit v= 1 ist nach unten beschr¨
ankt. Es gilt
r(τ(t)) ≥ |Iz|.
Beweis. Nach dem Satz von Clairaut gilt
r(τ(t)) cos(ϑ(t)) = Iz
v=Iz.
Mit −1≤cos(ϑ(t)) ≤1 folgen die Ungleichungen
−r(τ(t)) ≤Iz≤r(τ(t)).
Das heißt, es gilt r≥Izund r≥ −Iz.
38
Das folgende Lemma stellt einen Zusammenhang zwischen dem Schnittwinkel ϑund
τ0her.
Lemma 7.10. F¨
ur eine Geod¨
atische auf einer Rotations߬
ache mit Einheitsgeschwin-
digkeit v= 1 gilt
τ0(t)2= sin2(ϑ(t)) = 1 −|Iz|
r(τ(t))2
.
Beweis. Nach Voraussetzung gilt
1 = v2=τ0(t)2+r(τ(t))2ϕ0(t)2.
Mit dem Satz von Clairaut
Iz=r(τ)2ϕ0=r(τ) cos ϑ
folgt
1 = τ02+Izϕ0=τ02+rcos(ϑ)ϕ0
=τ02+rcos(ϑ)cos ϑ
r
=τ02+ cos2ϑ.
Damit ergibt sich schließlich
τ02= 1 −cos2ϑ= sin2ϑ
bzw.
τ02= 1 −cos2ϑ= 1 −Iz
r2
= 1 −|Iz|
r2
.
Eine wichtige Folgerung aus diesem Lemma ist der folgende Satz.
Satz 7.11. F¨
ur eine Geod¨
atische auf einer Rotations߬
ache mit Einheitsgeschwindig-
keit v= 1 und Drehimpuls Izgilt
τ0(t)=0⇔r(τ(t)) = |Iz|.
Beweis. Nach Lemma 7.10 gilt
τ0= 0 ⇔sin ϑ= 0 ⇔Iz=rcos ϑ=±r⇔r=±Iz.
Da recht gr¨
oßer null ist, folgt die Behauptung.
Das folgende Lemma macht eine Aussage ¨
uber das qualitative Verhaltung der zweiten
Ableitung von τ.
39
Lemma 7.12. F¨
ur eine Geod¨
atische auf einer Rotations߬
ache mit Drehimpuls Iz6= 0
haben τ00(t)und r0(τ(t)) stets das gleiche Vorzeichen. Genauer gilt:
τ00(t)=0⇔r0(τ(t)) = 0
τ00(t)>0⇔r0(τ(t)) >0
τ00(t)<0⇔r0(τ(t)) <0
Beweis. Es gilt nach der zweiten Geod¨
atengleichung (7.9)
τ00 =Iz
r0(τ)
r(τ)ϕ0=r(τ)ϕ02
| {z }
>0
r0(τ).
Da f¨
ur Iz6= 0 die Funktion ϕ0strikt positiv oder strikt negativ ist, gilt r(τ)ϕ02>0
und die Behauptung ist bewiesen.
Wir betrachten f¨
ur die weitere Diskussion eine spezielle Rotations߬
ache.
7.5. Klassifikation der Geod¨
atischen auf dem
Rotationstorus
Wir untersuchen nun den Rotationstorus, der durch einen Kreis mit Radius eins um
den Punkt (2,0)Terzeugt wird. Die zugeh¨
orige Kurve
cf(τ) = r(τ)
h(τ)=2 + cos(τ)
sin(τ), τ ∈[0,2π]
ist offensichtlich nach der Bogenl¨
ange parametrisiert. Wir erhalten die folgende Para-
metrisierung des Rotationstorus.
f(τ, ϕ) =
(2 + cos(τ)) cos(ϕ)
(2 + cos(τ)) sin(ϕ)
sin(τ)
, τ, ϕ ∈[0,2π] (7.11)
Bemerkung: Da die erzeugende Kurve cfgeschlossen ist, l¨
asst sich die Parametrisie-
rung fauf nat¨
urliche Weise periodisch fortsetzen. Wir erhalten formal eine Abbildung
f:R2→R3und f¨
ur jede glatte Kurve γ= (τ, ϕ) : R→R2eine entsprechende
Fl¨
achenkurve c=f◦γ. Wir k¨
onnen damit auch Fl¨
achenkurven behandeln, die den
Torus mehrfach umrunden.
7.5.1. Breitenkreise und Meridiane
Es gibt nach Lemma 7.8 zwei geod¨
atische Breitenkreise, n¨
amlich den inneren und
¨
außeren ¨
Aquator des Torus.
r0(τ) = −sin(τ)=0⇔τ∈ {0, π}
40
Eine Bogenl¨
angenparametrisierung des ¨
außeren ¨
Aquators (in positiver ϕ-Richtung) ist
gegeben durch
ba(t) = f◦(0, t/3) =
(2 + cos(0)) cos(t/3)
(2 + cos(0)) sin(t/3)
sin(0)
= 3
cos(t/3)
sin(t/3)
0
.
Der innere ¨
Aquator wird analog (nach der Bogenl¨
ange) parametrisiert durch
bi(t) = f◦(π, t) =
(2 + cos(π)) cos(t)
(2 + cos(π)) sin(t)
sin(π)
=
cos(t)
sin(t)
0
.
Nach Lemma 7.7 sind (wie bei jeder Rotations߬
ache) die Meridiankurven Geod¨
atische.
Diese sind, als rotierte Versionen der erzeugenden Kurve cf,”automatisch“ nach der
Bogenl¨
ange parametrisiert.
mϕ(t) = f◦(t, ϕ) =
(2 + cos(t)) cos(ϕ)
(2 + cos(t)) sin(ϕ)
sin(t)
Damit haben wir die einfachsten Klassen von Geod¨
atischen identifiziert, Abbildung
7.1 zeigt die Situation.
Abbildung 7.1.: Rotationstorus mit ¨
außerem und innerem ¨
Aquator und vier beispiel-
haften Meridiankurven.
41
7.5.2. Allgemeiner Fall
Lemma 7.13. Sei c=f◦γmit γ(t) = (τ(t), ϕ(t)) eine Geod¨
atische auf dem Rotati-
onstorus (7.11) mit Iz6= 0. Ist Iz>0, so gilt f¨
ur alle t∈I
0<Iz
9≤ϕ0≤Iz.
Ist Iz<0, so gilt f¨
ur alle t∈I
Iz≤ϕ0≤Iz
9<0.
Zusammenfassend gilt
0<|Iz|
9≤ |ϕ0(t)|≤|Iz|.
Beweis. Nach Definition der erzeugenden Kurve cfgilt 1 ≤r(τ)≤3.
Angenommen der Drehimpuls Izist positiv. Dann ist auch ϕ0positiv und es gilt
12ϕ0(t)≤r(τ(t))2ϕ0(t) = Iz≤32ϕ0(t),
sodass wir schließen k¨
onnen
0<Iz
9≤ϕ0(t)≤Iz.
Ist Iznegativ, so ist auch ϕ0negativ und es gilt (analog)
32ϕ0(t)≤r(τ(t))2ϕ0(t) = Iz≤12ϕ0(t).
Wir erhalten damit die Ungleichungen
Iz≤ϕ0≤Iz
9<0.
Die dritte Beziehung folgt unmittelbar aus den beiden ersten.
Folgerung: Wir stellen zun¨
achst fest, dass eine Geod¨
atische mit nichtverschwinden-
dem Drehimpuls den Torus kontinuierlich in ϕ-Richtung umrundet. Sie kann sich nicht
asymptotisch einer Meridiankurve n¨
ahern. Die Geschwindigkeit in ϕ-Richtung ist da-
bei durch den Drehimpuls nach oben und unten beschr¨
ankt.
Eine weitere einfache Beobachtung ist das folgende Lemma.
Lemma 7.14. F¨
ur eine Geod¨
atische auf dem Rotationstorus (7.11) mit v= 1 gilt
−3≤Iz≤3.
Beweis.
|Iz|=|r(τ(t)) cos(ϑ(t))| ≤ 3·1=3
42
7.5.3. Klassifikation nach dem Drehimpuls
Wir werden nun die Geod¨
atischen nach ihrem Drehimpuls klassifizieren. Wir unter-
scheiden dazu die folgenden F¨
alle:
Iz= 0, 0 <|Iz|<1, |Iz|= 1, 1 <|Iz|<3, |Iz|= 3
a) Iz= 0 :Der Fall Iz= 0 ist nach den Vorarbeiten klar. Es handelt sich um triviale
Geod¨
atische oder Meridiankurven.
b) 0<|Iz|<1:Die Geod¨
atischen dieser Klasse sind Kurven, die den Torus in ϕ-
und τ-Richtung kontinuierlich umrunden, wie das folgende Korollar zeigt. Dabei kann
die Bewegung je in positive oder negative ϕ- bzw. τ-Richtung verlaufen. Abbildung
7.2 zeigt ein Beispiel einer Geod¨
atischen mit Drehimpuls Iz= 1/2.
Korollar 7.15. F¨
ur eine Geod¨
atische auf dem Rotationstorus (7.11) mit v= 1 und
Drehimpuls 0≤ |Iz|<1gilt die Absch¨
atzung
|τ0(t)| ≥ q1− |Iz|2>0.
Insbesondere ist die Funktion τstreng monoton steigend oder streng monoton fallend.
Beweis. Nach Lemma 7.10 gilt mit r(τ)≥1:
|c0(t)|2= 1 −|Iz|
r(τ(t))2
≥1− |Iz|2>0.
Da die Funktion τ0stetig ist und keine Nullstelle besitzt, ist sie strikt positiv oder
strikt negativ.
c) |Iz|= 1 :Hier gibt es qualitativ zwei M¨
oglichkeiten. Entweder die Geod¨
atische ist
der innere ¨
Aquator selbst oder eine Asymptote daran. Mathematisch interessant ist
nat¨
urlich vor allem der asymptotische Fall.
Satz 7.16. Eine Geod¨
atische auf dem Rotationstorus (7.11) mit v= 1,|Iz|= 1 und
r(τ0)>1ist eine Asymptote an den inneren ¨
Aquator. Das heißt, τist streng monoton
steigend oder streng monoton fallen mit
r(τ(t)) >1und lim
t→∞ r(τ(t)) = 1.
Beweis. Nach Satz 7.11 gilt
τ0(t) = 0 ⇔r(τ(t)) = |Iz|= 1.(7.12)
Damit gilt insbesondere τ0
06= 0.Wir zeigen zun¨
achst, dass der Radius f¨
ur alle endlichen
Werte von tgr¨
oßer als eins ist.
43
Abbildung 7.2.: Geod¨
atische mit Drehimpuls Iz=1
2.
Angenommen es existiert ein t1∈Rmit r(τ(t1)) = 1. Dann gilt dort wegen (7.12)
τ0(t1) = 0. Ferner gilt
1 = v2=τ0(t1)2+r(τ(t1))2ϕ0(t1)2= 0 + Izϕ0(t1) = ±1·ϕ0(t1).
Das heißt, τist L¨
osung der Geod¨
atengleichungen mit den Anfangsbedingungen τ(t1) =
π,τ0(t1) = 0 und ϕ0(t1) = ±1. Dieses Problem hat als globale L¨
osung den inneren
¨
Aquator. Wegen der Eindeutigkeit der L¨
osung gilt somit r(τ(t)) = 1 ∀t∈R. Das ist
aber ein Widerspruch zur Annahme r(τ0)>1.
Sei ohne Beschr¨
ankung der Allgemeinheit9der Anfangswert τ0
0>0. Die Funktion
τ0ist stetig. Da der Radius echt gr¨
oßer als eins ist, hat τ0nach (7.12) keine Nullstelle.
Also ist τ0strikt positiv und τstreng monoton steigend.
Wir zeigen schließlich limt→∞ r(τ(t)) = 1.
Sei ohne Beschr¨
ankung der Allgemeinheit τ0∈(−π, π). Wegen r(τ)>1 ist die Funk-
tion τdurch πbeschr¨
ankt. Da sie aber streng monoton steigt, muss ein Grenzwert
limt→∞ τ(t) =: l≤πexistieren. Angenommen l < π. Dann schneidet die Geod¨
atische
cden Breitenkreis bei r(l)>1 im Winkel ϑ= 0 oder ϑ=π. Nach dem Satz von
9Der Beweis f¨
ur den Fall τ0
0<0 ist analog.
44
Abbildung 7.3.: Asymptote (schwarz) an den inneren ¨
Aquator (rot) mit Drehimpuls
Iz= 1.
Clairaut gilt dann
r(l) cos ϑ=±r(l) = Iz=±1.
Das ist aber ein Widerspruch zu r(l)>1. Damit ist die Behauptung bewiesen.
Abbildung 7.3 zeigt ein Beispiel f¨
ur eine Asymptote an den inneren ¨
Aquator.
d) 1<|Iz|<3:Liegt der Betrag des Drehimpulses echt zwischen eins und drei,
zeigen die Geod¨
atischen ein oszillierendes Verhalten.
Proposition 7.17. F¨
ur eine Geod¨
atische auf dem Rotationstorus (7.11) mit Drehim-
puls Iz6= 0 gilt:
τ00(t)=0⇔τ(t) = kπ, k ∈Z
τ00(t)<0⇔0< τ (t)−2πk < π, k ∈Z
τ00(t)>0⇔π < τ (t)−2πk < 2π, k ∈Z
Beweis. Es gilt r(τ) = 2 + cos τund damit r0(τ) = −sin τ. Nach Lemma 7.12 haben
τ00 und r0(τ) dasselbe Vorzeichen. Damit folgt die Behauptung.
Satz 7.18. Sei c=f◦(τ , ϕ)eine Geod¨
atische auf dem Rotationstorus (7.11) mit
Geschwindigkeit v= 1 und Drehimpuls 1<|Iz|<3. Dann oszilliert die Geod¨
atische
zwischen den beiden Breitenkreisen zum Radius r=|Iz|, wobei stets r(τ(t)) ≥ |Iz|gilt.
45
Beweis. Nach Lemma 7.9 ist der Radius der Geod¨
atischen immer gr¨
oßer als |Iz|.
r(τ(t)) = 2 + cos(τ(t)) ≥ |Iz| ⇔ cos(τ(t)) ≥ |Iz| − 2∈(−1,1)
Sei ohne Beschr¨
ankung der Allgemeinheit τ(t)∈(−π, π). Sei ferner ˆτ∈(0, π) mit
cos(±ˆτ) = |Iz| − 2. Dann gilt −ˆτ≤τ(t)≤ˆτ. Nach Satz 7.11 gilt
τ0(t)=0⇔r(τ(t)) = |Iz| ⇔ τ(t) = ±ˆτ .
Damit haben wir die kritischen Punkte von τidentifiziert. Weiter gilt nach Proposition
7.17:
τ(t) = ˆτ∈(0, π)⇒τ00 (t)<0
τ(t) = −ˆτ∈(−π, 0) ⇒τ00 (t)>0
Damit liegt an Stellen mit τ(t) = ˆτein lokales Maximum und an Stellen mit τ(t) = −ˆτ
ein lokales Minimum von τvor. Das bedeutet, die Funktion τoszilliert zwischen −ˆτ
und +ˆτ. Damit ist die Behauptung bewiesen.
Abbildung 7.4 zeigt ein typisches Beispiel f¨
ur eine Geod¨
atische mit oszillierendem
Verhalten. Man erkennt deutlich, wie die Kurve zwischen den beiden Breitenkreisen
mit Radius r=Iz= 2.9 oszilliert, die selbst keine Geod¨
atischen sind. Die zugeh¨
orige
τ-Funktion zeigt Abbildung 7.5.
e) |Iz= 3|:Die einzige Geod¨
atische mit |Iz|= 3 ist der ¨
außere ¨
Aquator (in positiver
oder negativer ϕ-Richtung). Man kann leicht zeigen, dass es keine Asymptote an den
¨
außeren ¨
Aquator gibt:
Korollar 7.19. Die Geod¨
atische auf dem Rotationstorus (7.11) mit v= 1 und Dreh-
impuls |Iz|= 3 ist der ¨
außere ¨
Aquator. Insbesondere gibt es keine Asymptote an den
¨
außeren ¨
Aquator.
Beweis. Nach Lemma 7.10 gilt 3 ≥r(τ(t)) ≥ |Iz|= 3. Also ist der Radius konstant
und somit τ0≡0. Damit folgt die Behauptung aus Lemma 7.8.
46
Abbildung 7.4.: Geod¨
atische zum Drehimpuls Iz= 2.9 (schwarz) und Breitenkreise
mit Radius r= 2.9 (rot).
Abbildung 7.5.: Verhalten der Funktion τf¨
ur die Geod¨
atische aus Abbildung 7.4.
47
8. Fazit und Ausblick
Wir haben gesehen, dass der Satz von Noether f¨
ur kontinuierliche Symmetrien kon-
struktiv eine Erhaltungsgr¨
oße liefert. Wir verstehen dabei kontinuierliche Symmetrie
als infinitesimale Invarianz bzgl. einer glatten Familie von Koordinatentransforma-
tionen. Kontinuierliche Symmetrien sind von diskreten Symmetrien zu unterscheiden.
Auf diesen, ebenfalls wichtigen, Typ von Symmetrien ist der Satz nicht ohne weiteres
anwendbar. Klassische Beispiele f¨
ur diskrete Symmetriekonzepte in der Physik sind die
Zeitumkehrsymmetrie
(t, x)7→ (−t, x)
und die ”Parit¨
atssymmetrie“
(t, x)7→ (t, −x).
Diese Symmetrien sind z.B. in der Elementarteilchenphysik wichtig. Es ist eine inter-
essante Frage, ob es ein Analogon zum Satz von Noether f¨
ur diskrete Symmetrien gibt.
Das Noether-Theorem gilt f¨
ur beliebige Variationsprobleme, seine Anwendbarkeit ist
daher bei weitem nicht auf ”physikalische Syteme“ (wie auch immer man diese de-
finiert) beschr¨
ankt. Interessant w¨
are es, Beispiele in den Anwendungswissenschaften
zu finden, die außerhalb der ”Standardanwendungen“ in der Mathemaik und Physik
liegen.
F¨
ur das konzeptionelle Verst¨
andnis des Noether-Theorems ist es wichtig, sich klar
zu machen, dass das Theorem keine ”neuen“ Erhaltungsgr¨
oßen generiert. Prinzipiell
sind die Erhaltungsgr¨
oßen eine Eigenschaft der Differentialgleichung (hier der Euler-
Lagrange-Gleichung) und k¨
onnen daher auch mit anderen Methoden gefunden werden.
Der Satz stellt vielmehr einen systematischen Zugang zu Erhaltungsgr¨
oßen her, indem
die zugrundeliegende Variationsformulierung ausgenutzt wird. Zu beachten ist aller-
dings, dass der Erhaltungssatz
∇ · G:= ∇ · (Lv¯η+L¯µ−LvDu¯µ−w)=0
ein trivialer Erhaltungssatz sein kann, der keine neuen Informationen liefert. Das ist
z.B. dann der Fall, wenn die Gr¨
oße Gkonstant, oder wenn
∇ · G= 0
die Euler-Lagrange-Gleichung selbst ist.
Ferner kann es sein, dass es relativ einfach ist, einen Erhaltungssatz nachzuweisen, aber
relativ schwierig, eine Symmetrie zu finden, die diesen erzeugt. Ein Beispiel daf¨
ur ist
48
das 2-K¨
orper- oder Kepler-Problem. Die Erhaltung des sogenannten ”Laplace-Runge-
Lenz-Vektors“ ist sehr einfach zu zeigen, wohingegen die zugeh¨
orige SO(4)-Symmetrie
sehr schwierig zu finden ist (siehe z.B. [7]). Es stellt sich ferner heraus, dass sich diese
Symmetrie nicht durch rein geometrische Koordinatentransformationen beschreiben
l¨
asst, sondern erst im Kontext von sogenannten Lie-Gruppen.
In dieser allgemeineren Formulierung des Noether-Theorems gibt es sogar – unter
gewissen Voraussetzungen – eine 1:1-Beziehung von Symmetrien und (nichttrivialen)
Erhaltungsgr¨
oßen (siehe dazu [4], S. 334). Damit liefert das Theorem einen funda-
mentalen Beitrag zum ”Verst¨
andnis“ von Symmetrien und Erhaltungsgr¨
oßen. Oft sind
Symmetrien ”nat¨
urlicher“ zu verstehen als die zugeh¨
origen Erhaltungsprinzipien. In
der modernen theoretischen Physik sind Symmetrieprinzipien oft ein Ausgangspunkt
der Modell- und Theoriebildung.
Andererseits haben wir am Beispiel der Geod¨
atischen auf Rotations߬
achen gesehen,
welche praktische Relevanz die Kenntnis von Erhaltungsgr¨
oßen f¨
ur die L¨
osung eines
Problems haben kann. Ohne die Geod¨
atischen auf dem Rotationstorus explizit be-
stimmt zu haben, konnten wir deren qualitatives Verhalten klassifizieren.
49
Literaturverzeichnis
[1] Noether: Invariante Variationsprobleme, G¨
ott. Nachr., 1918
[2] Giaquinta/Hildebrandt: Calculus of Variations I, Springer, Berlin, 1996
[3] Neuenschwander: Emmy Noether’s Wonderful Theorem,
The Johns Hopkins University Press, Baltimore, 2011
[4] Olver: Applications of Lie Groups to Differential Equations,
Springer, New York, 2000
[5] Basdevant: Variational Principles in Physics, Springer, New York, 2007
[6] B¨
ar: Elementare Differentialgeometrie, De Gruyter, Berlin, 2010
[7] Schottenloher: Geometrie und Symmetrie in der Physik,
Vieweg, Braunschweig, 1995
50
Index
Allgemeine Variationen, 25
Asymptote, 43
Breitenkreis, 30, 37
Energieerhaltung, 10, 24
Erste Variation, 8
Euler-Lagrange-Gleichungen, 9, 10
Extremum
schwaches, 8
starkes, 9
Geod¨
atengleichungen, 34
Geod¨
atische, 30
Infinitesimale Invarianz, 16, 20, 25
Innere Variationen, 19
Invarianz bis auf totale Divergenz, 27
Kanonischer Impuls, 10, 17
Koordinatentransformationen, 14
Lagrange-Funktion, 6
Meridiankurve, 37
Notation, 6
Prinzip der kleinsten Wirkung, 7, 11,
30
Rotations߬
ache, 29
Rotationstorus, 40
Satz von Clairaut, 33
Satz von Noether, 16, 22, 26, 27
Symmetrie, 4, 15
Variationsproblem, 6
Wellengleichung, 12
51
A. Numerische L¨
osung der
Geod¨
atengleichungen
Zur Erstellung der Abbildungen wurden die Geod¨
atengleichungen mithilfe der Softwa-
re Matlab numerisch gel¨
ost.
Wie in Kapitel 7.3 gezeigt, lassen sich die Geod¨
atengleichungen auf ein System von
drei gew¨
ohnlichen Differentialgleichungen erster Ordnung transformieren.
α0=−2r0(y1)
r(y1)y2α
y0
1=y2
y0
2=Iz
r0(y1)
r(y1)α
Dabei gilt α(t) = ϕ0(t), y1(t) = τ(t) und y2(t) = τ0(t). Zur numerischen L¨
osung dieses
Systems wurde die Matlab-Funktion ode45 verwendet, die auf einem Runge-Kutta-
Verfahren basiert.
Gesucht ist eine L¨
osung im Intervall [0, T ] mit Startwert y1(0) = τ(0) = τ0, Ge-
schwindigkeit v= 1 und einem Winkel ϑ0zum entsprechenden Breitenkreis. Daf¨
ur
sind korrekte Anfangswerte f¨
ur y2und αfestzulegen. Nach (7.7), dem Satz von Clai-
raut, gilt
r(τ0) cos ϑ0=Iz=r(τ0)2ϕ0(0).
Damit folgt
α(0) = ϕ0(0) = cos ϑ0
r(τ0).
Da die L¨
osung Einheitsgeschwindigkeit haben soll, muss gelten
1 = v2=τ0(0)2+r(τ0)2ϕ0(0)2
=τ0(0)2+r(τ0)2cos2ϑ0
r(τ0)2
=τ0(0)2+ cos2ϑ0.
Damit folgt
τ0(0) = y2(0) = ±p1−cos2ϑ0=± |sin ϑ0|=±sin ϑ0.
Wir setzen ohne Beschr¨
ankung der Allgemeinheit τ0(0) = sin ϑ0.
i
Implementierung in Matlab:
%Eingabeparameter (Beispiel)
T = 40; %L¨ange des Zeitintervalls
tN = 1E5; %Anzahl der Zeitschritte
phi0 = 0; %Startwert f¨ur phi
tau0 = 0.5; %Startwert f¨ur tau
theta0 = 0; %Startwert f¨ur den Winkel theta
%Erzeugende Kurve c_f
r = @(tau) 2+cos(tau); % x-Komponente der erzeugenden Kurve
h = @(tau) sin(tau); %z-Komponente der erzeugenden Kurve
%Parametrisierung der Fl¨ache
f = @(tau,phi) [r(tau)*cos(phi),r(tau)*sin(phi),h(tau)];
%Berechnung der Anfangswerte
alpha0 = cos(theta0)/(r(tau0)); %alpha0 = phi’(0)
y10 = tau0; %y10 = tau(0)
y20 = sin(theta0); %y20 = tau’(0)
%Berechnung des Drehimpulses
I = (2+cos(y10))^2*alpha0; %I = (2+cos(tau0))^2*phi’(0)
%Aufstellen der rechten Seite der Dgl
%Beachte dabei v(1) = alpha, v(2) = y_1, v(3) = y_2
Diff =
@(t,v) [2*sin(v(2))*v(3)*v(1)/(2+cos(v(2))),v(3),-I*v(1)*sin(v(2))/(2+cos(v(2)))]’;
%L¨osen des Anfangswertproblems mit der Matlab-Funktion ode45
[t, sol] = ode45(Diff,linspace(0,T,tN),[alpha0, y10, y20]);
alpha = sol(:,1); %Speichere alpha(t)
tau = sol(:,2); %Speichere tau(t)
dt = t(2)-t(1); %Bestimmung des Zeitschrittes
%Bestimmen der Funktion phi(t) durch Integration
%Es gilt phi(t) = int_0^t alpha(s) ds.
phi = zeros(tN,1);
phi(1) = phi0;
for jj=2:tN
phi(jj) = phi(jj-1) + dt*alpha(jj);
end
Anschließend kann man die Rotationsfl¨
ache fund die Geod¨
atische c=f◦(τ, ϕ)
mithilfe von Plotroutinen sichtbar machen.
ii