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Anton Brokoq-Loga
Frank Eckardt (Hrsg.)
Postwachstumsstadt
Konturen einer solidarischen
Stadtpolitik
Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt (Hrsg.)
Postwachstumsstadt
Konturen einer solidarischen
Stadtpolitik
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Selbstverpichtung zum nachhaltigen Publizieren
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© 2020 oekom verlag München
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Waltherstraße 29, 80337 München
Herausgeber: Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt
Layout und Satz: Karlotta Sperling
Umschlagabbildung: Katharina Scholz, Sandra Bach (sandruschka.de)
unter Mitwirkung von Friederike Landau und Anton Brokow-Loga
Umschlaggestaltung: Mirjam Höschl, oekom verlag
Druck: CPI Books GmbH, Leck
Alle Rechte vorbehalten
ISBN 978-3-96238-199-8
E-ISBN 978-3-96238-696-2
https://doi.org/10.14512/9783962386962
Gefördert durch die Rosa-Luxemburg Stiung, die Fakultät Architektur und
Urbanistik der Bauhaus-Universität Weimar sowie aus Mitteln des Open-Access-
Publikationsfonds‘ der Bauhaus-Universität Weimar und vom üringer
Ministerium für Wirtscha, Wissenscha und Digitale Gesellscha (TMWWDG)
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Nicht kommerziell 4.0 International zugänglich. (CC BY-NC 4.0, https://
creativecommons.org/licenses/by-nc/4.0/)
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Anton Brokow-Loga, Frank Eckardt (Hrsg.)
Postwachstumsstadt
Konturen einer solidarischen Stadtpolitik
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Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis
Anton Brokow-Loga, Friederike Landau
Das Manifest der Postwachstumsstadt
Danksagung
Frank Eckardt, Anton Brokow-Loga
Einleitung: Der sozial-ökologische Wandel der Stadtgesellschaft
I Stadtgesellschaft zwischen Wachstumskrise und -wende
Ulrich Brand
Sozial-ökologische Transfor mation konkret
Die solidarische Postwachstumsstadt als Projekt gegen die imperiale Lebensweise
Matthias Schmelzer, Andrea Vetter
Stadt für alle jenseits des Wachstums
Was kann die Stadtforschung aus der Degrowthdebatte lernen?
Frank Eckardt
Die Postwachstumsstadt – eine politische Stadt
Neuverhandlung städtischer Zugehörigkeit
Anton Brokow-Loga
Eine andere Stadt ist möglich!
Realutopische Transformationen zur Postwachstumsstadt
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Inhaltsverzeichnis
II Transformative Planung im Kontext gesellschaftlicher Debatten
Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
Postwachstum + Planung = Postwachstumsplanung?!
Erfahrungen aus der Konfrontation zweier Diskurse
Julia Gamberini
Postwachstums- versus nachhaltige Stadt? Gemeinsamkeiten, Spannungsfelder und
deren Auswirkungen auf Städte und Stadtforschung
Timmo Krüger
Wider den Innovationsimperativ!
Eine Kritik am Konzept der sozialen Innovation aus Postwachstums-Perspektive
Aylin Yildirim Tschoepe, Susanne Käser
Imagin(eer)ing Basel:
Praktiken, Bilder und Communities in urbanen Partizipationsprozessen
Korbinian Kroiß, Torsten Klafft
Chancen der Polyzentralität –
Wie gestalten wir ein anderes Leben auf dem Land?
Julius Uhlmann, Uwe Plank-Wiedenbeck
Ein Verkehrssystem für die Postwachstumsstadt –
Erste Thesen zur Gestaltung urbaner Mobilität unter Postwachstumsbedingungen
III Stadt durch Bewegung: Konikte um Gestaltungsmacht
Michaela Christ, Jonas Lage
Umkämpfte Räume. Sufzienzpolitik als Lösung
für sozial-ökologische Probleme in der Stadt?
Alexandra Toland, Friederike Landau
Spekulation der Sinne – eine Erkundung künstlerischer Strategien der
Wachstumskritik in Bezug auf urbane Luftverschmutzung
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Inhaltsverzeichnis
Florian Koch, Lea Hampel, Carsten Keller, Floris Bernhardt
StadtTeilen – Öffentlicher Raum und Wohnen als neue Gemeingüter
in sozial gemischten Nachbarschaften
Anton Brokow-Loga, Franziska Felger, Jannis Koch, Anna-Maria Weber
Raus aus der Blase?!
Postwachstumsansätze in Weimar zwischen Selbstbehauptung und
Strategien des Wandels
Evelyn Markoni, Franziska Götze
Anspruch und Wirklichkeit bei der Umsetzung eines nachhaltigen
städtischen Ernährungssystems –
Eine empirische Vorstudie der Berner Ernährungsinitiativen
IV Stadt-Utopien zwischen alten Mustern und neuen Erzählungen
Saskia Hebert
Call me Trimtab: Storytelling, Zeitmaschinen und andere Vehikel
Sanna Frischknecht, Moritz Maurer, Dietmar Wetzel
Formierungsprozesse ›von unten‹ erforschen.
Werkstattbericht einer Spurensuche im Wohnungswesen und der Landwirtschaft
Margarete Over, Lars-Avid Brischke, Leon Leuser
Das selbstverwaltete Wohnheim Collegium Academicum in Heidelberg:
Sufzienz lernen, leben und verbreiten
Kris Kroiß
Zukunften: Sich das Wünschenswerte vorstellen
und es vorleben, um ihm näher zu kommen
Wer hat zu diesem Buch beigetragen?
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320
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II Transformative
Planung im Kontext
gesellschaftlicher
Debatten
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Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
Eine Postwachstumsstadt muss entwickelt, hergestellt und organisiert werden
– sie braucht eine neue Art der Planung. Räumliche Planung und Postwachs-
tum sind bisher aber weitgehend getrennte Diskurse, deren Schnitt-stellen erst
seit etwa 2016 in der Wissenschaft entwickelt werden. Dieser Beitrag gründet
sich auf Erfahrungen aus dem Zeitraum 2016 bis 2019 im Spannungsfeld dieser
Diskurse. Im Jahr 2019 haben unter anderem zwei große Konferenzen der Bau-
haus-Universität Weimar (›Postwachstumsstadt‹) und der Akademie für Raum-
for-schung und Landesplanung in Kassel (›Postwachstum und Transformation‹)
dazu beigetragen, die Suche nach Postwachstum und Transformation in den
Fokus raumwissenschaftlicher Debatten zu setzen. In sechs Thesen eröffnet
sich hier das Feld, in dem sich eine Postwachstumsplanung bewegt und arbeitet
deren Grundlagen sowie die Reaktionen auf diese Thesen aus Planungswissen-
schaft und Planungspraxis auf.
Komplexe räumliche Transformationen
Die gesellschaftliche und wissenschaftliche Debatte wird insbesondere seit der
Finanz- und Wirtschaftskrise geprägt durch komplexe Transformationsprozesse
und durch Konikte um Ressourcen und demokratische Repräsentation. Wirt-
von Christian Lamker und Viola Schulze Dieckhoff
Postwachstum + Planung =
Postwachtumsplanung?!
Erfahrungen aus der Konfrontation zweier Diskurse
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Postwachstum + Planung = Postwachstumsplanung?!
schaft und Gesellschaft verändern sich in einer so tiefgreifenden Art und Weise
und einer Geschwindigkeit, die eine wachsende Anzahl an Menschen ratlos, oft
hilos und sogar mittellos zurücklässt. In strukturschwachen Räumen fehlen
klare Zukunftsaussichten, die Menschen eine Perspektive aufzeigen können, die
sie selbst als lebenswert und erstrebenswert erachten. Politische Diskussionen
nehmen das zwar durchaus auf, liefern aber bisher nur beschränkt tragfähige
Antworten oder scheitern an deren Umsetzung. Ein Mehr an Geld, Investitionen
und Infrastruktur kann diese tief liegende Krise nicht mehr auösen. Der Glau-
be an die Rückkehr zu ›altem Wachstum‹ ist bei vielen Menschen verloren – und
noch mehr der Glaube daran, dass das überhaupt die eigenen Lebensverhältnis-
se positiv betrifft. Alexander Hagelüken, leitender Redakteur Wirtschaftspolitik
der Süddeutschen Zeitung, zeigt im Jahr 2017 in seinem Buch »Das gespaltene
Land: Wie Ungleichheit unsere Gesellschaft zerstört – und was die Politik än-
dern muss« zwei bedenkliche Entwicklungen auf. Erstens durchzieht die Gesell-
schaft eine wachsende Polarisierung in sozialer wie in räumlicher Hinsicht. Er
nutzt hierfür die Unterschiede zwischen Pirmasens und dem Landkreis Starn-
berg, die sich bis auf die Lebenserwartung der Einwohnerinnen und Einwohner
auswirken. Wir müssen uns kritisch fragen, warum in einem reichen Land der
Wohnort über Bildung, Gesundheit und Zukunftschancen entscheidet. Zwei-
tens, viele Menschen fühlen sich zunehmend verlassen von ›der Politik‹, von der
sie repräsentiert werden wollen. Vor allem in peripheren Regionen mit tiefgrei-
fenden strukturellen Veränderungen fühlen sich Menschen nicht respektiert
oder vergessen. Eine riskante Mischung für gesellschaftlichen Zusammenhalt,
Teilhabe und für die kollektive Gestaltung einer positiven Transformation. Ge-
eignete Handlungsmuster zum Umgang mit dieser Polarität für die Deutschland
zunehmend prägenden ›Ungleichheitsräume‹ fehlen noch (Heinrich-Böll-Stif-
tung 2017, S. 262 bis 265).
Der Postwachstumsdiskurs eröffnet gerade hier mit seiner Kraft ein Gele-
genheitsfenster, obwohl er sich bisher nicht zu einem einheitlichen Diskus-
sionsstrang verdichtet hat (siehe beispielsweise Schmelzer & Vetter 2019).
Postwachstum zielt in unterschiedlichen Facetten darauf ab, bestehende syste-
mische Strukturen oder in Institutionen und Denkweisen eingeschriebene Mus-
ter grundlegend zu kritisieren. Angesichts komplexer Transformationsprozesse
ist Postwachstum gerade deshalb wertvoll, weil der Blick ausgeweitet wird auf
ganz andere Möglichkeiten, räumliche Situationen zu erkennen und zu bearbei-
ten. Vor diesem Hintergrund ist Ende 2016 eine kleine Gruppe junger Menschen
aus dem Kontext des Jungen Forums der Akademie für Raumforschung und
Landesplanung (ARL) zusammengekommen, um Postwachstum mit Stadt- und
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Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
Raumplanung zu verknüpfen. Darunter waren vor allem Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler aus der Raum- und Planungswissenschaft sowie Aktive aus
zivilgesellschaftlichen Initiativen in Nordrhein-Westfalen. Die Autoren dieses
Beitrags gehören zu den Initiatoren. Die ersten Ideen zur hoffnungsvollen Ver-
bindung von Postwachstum und Planung sind im Rahmen des Jungen Forums
Nordrhein-Westfalen der ARL von 2017 bis 2019 auf Workshops und Diskussi-
onsveranstaltungen entwickelt und getestet worden (eine Übersicht bieten die
Dokumentationen von Schulze Dieckhoff und Lamker auf dem Blog postwachs-
tum.de). Zeitgleich hat ein Arbeitskreis Postwachstumsökonomien in der ARL
die Arbeit aufgenommen (siehe auch ARL 2019; Schulz 2018).
Postwachstum
Eine Stärke des Postwachstumsbegriffs ist, dass er über verschiedene Bereiche
von Wissenschaft und Praxis zum intensiven und kritischen Nachdenken anregt
(vgl. Beitrag von Ulrich Brand in diesem Band). Die inhaltlichen Zielrichtungen
unterscheiden sich beachtlich, aber es gibt einen gemeinsamen Kern in
vier Punkten. Erstens richten sich alle mit einer Kritik an vorherrschende
Lehrmeinungen oder unhinterfragte Wahrheiten. Am deutlichsten wird das in
der Ökonomie mit der Abkehr vom Modell des homo oeconomicus, in der sich
alle entwickelten Alternativen einig sind. Menschen sind folglich keine rein
rational handelnden Wesen, die nur nach ökonomischer Nutzenmaximierung
agieren. Kate Raworth (2018, S. 40) weist in ihrem Modell der Donut-Ökonomie
darauf hin, dass die menschliche Natur sozial, reich und vielfältig ist. Vor allem
aber setzen verfügbare Ressourcen und gemeinsame Lebensgrundlagen dem
ökonomischen Handeln erkennbare Grenzen. Im deutschsprachigen Raum
gehörte hier Niko Paech zu den Vorreitern (Paech 2012), aber auch Modelle wie
die Gemeinwohlökonomie von Christian Felber (2018) weisen deutlich auf eine
gesellschaftliche Funktion der Ökonomie hin und Forschungsprojekte suchen
nach gesellschaftlichem Wohlergehen innerhalb der planetaren Grenzen
(Petschow et al. 2018). Zweitens gibt es einen großen Wunsch nach entweder
einem Meinungspluralismus oder einer kritischen Debatte. In der Ökonomie
fordert die Plurale Ökonomik die Abkehr von einer dominanten Lehrmeinung
in der Ökonomie sehr aktiv ein. Drittens geht es um die Suche nach alternativen
Systemstrukturen oder alternativen Handlungsweisen, die Gemeinwohl und
das gute Leben für alle Menschen oder auch allgemein Lebewesen in den
Mittelpunkt rücken und sich von herkömmlichen ökonomischen Indikatoren
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Postwachstum + Planung = Postwachstumsplanung?!
und Wachstumszielen verabschieden (Acosta 2017; Haake et al. 2019). Darin
enthalten ist die Grundeinstellung, dass eine (mitunter radikale) Veränderung
möglich ist und erreicht werden muss. Viertens und letztens ist damit ein
starker Appell für eine Systemveränderung (insbesondere in der Ökonomie,
beispielsweise Paech 2012) und/oder alle Handelnden (insbesondere in der
Psychologie, beispielsweise Welzer 2019) verbunden.
Für räumliche Planung gilt noch zu häug, dass mehr kapitalistisches Wirt-
schaftswachstum (gemessen vor allem am Bruttoinlandsprodukt, aber auch rein
quantitativ an der Anzahl an Unternehmen oder Arbeitsplätzen) oder mehr zur
Verfügung gestellte Fläche als wichtigste Erfolgskriterien herangezogen wer-
den. Nicht zuletzt deshalb sind die Erfolge in der Reduzierung der Flächenneu-
inanspruchnahme bis heute weit hinter den gesetzten gesamtdeutschen Zielen
(30 Hektar pro Tag zuerst bis 2020, jetzt bis 2030) zurückgeblieben (siehe auch
Lamker 2019, S. 132). Eine Sättigung der Nachfrage nach Fläche ist bis heu-
te nicht erkennbar. Im Gegenteil tauchen sogar Begriffe wie ›Entfesselungspa-
ket‹ der Landesregierung Nordrhein-Westfalen oder Gesetzesnovellen zum be-
schleunigten Bebauungsplanverfahren im Außenbereich (§ 13b BauGB) auf, um
das Ausweisen neuer Flächen und das Bauen zu erleichtern. Die Ressourcen blei-
ben aber endlich und angesichts zugleich steigender Nachfrage ist ein Gleich-
gewicht nur im weiteren Flächenwachstum möglich. Etwas, was Hartmut Rosa
für die Gesellschaft auch als dynamische Stabilisierung oder rasenden Stillstand
bezeichnet (Rosa 2019, S. 40). Problematisch ist dabei, dass sich Nachfrage und
Bedarf entkoppeln. Einerseits entsteht eine Nachfrage für größere Wohnungen,
Zweitwohnungen oder Kurzzeitvermietungen (beispielsweise über Airbnb oder
andere Plattformen). Andererseits besteht ein Bedarf bei sozialen Gruppen, die
gerade wegen der Nachfrage nanzstarker Akteure Schwierigkeiten bekommen,
ihr Grundbedürfnis nach Wohnen überhaupt zu erfüllen. Auch im Mobilitäts-
sektor konkurrieren die verschiedenen Verkehrsteilnehmerinnen und Verkehrs-
teilnehmer um die knappe Fläche (beispielsweise Gössling et al. 2016) und die
Lage verschärft sich durch die steigende Anzahl an größeren PKW.
Stadt- und Raumplanung innerhalb dieser komplexen und nicht eindeutig
beschreibbaren Umgebung zu positionieren fällt zunehmend schwer. An dieser
Stelle wird Planung vor allem allgemein aufgrund damit verbundener Tätigkei-
ten deniert als »a eld of action and reection with an interest in the organiza-
tion of space« (van Assche et al. 2017, S. 223). In den nachfolgend hergestellten
Bezügen wird dies eingeschränkt in erster Linie auf öffentliche Planungsakteure
und insbesondere Städte und Regionen mit ihren formalen Planungskompeten-
zen. Beschleunigte Dynamiken fordern nicht zum Rückzug auf – das wäre eine
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Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
Entwicklung auch im Sinne neo-liberaler Stadtpolitik, in der Verlierer aus dem
Blickfeld geschoben werden. Stadt- und Raumplanung können (wieder) aktiver
gedacht werden mit angepassten Wegen der Nutzung dieser Kompetenzen und
Erfahrungen.
Traditionelle und zukünftige Planungsaufgaben
Die Grundlagen der heutigen institutionalisierten Stadt- und Raumplanung lie-
gen vor allem im 19. Jahrhundert infolge der radikalen Veränderungen durch
die Industrialisierung. Ein vorher unbekanntes städtisches Wachstum gekop-
pelt mit enormen ökologischen und gesundheitlichen Herausforderungen bil-
deten den Ausgangspunkt für erste baupolizeiliche Regelungen. Negative Aus-
wirkungen des Wachstums wurden mit Fluchtlinienplänen, Bauzonenplänen
und Grünzügen gelindert. In den Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg hat
sich der Anspruch darauf ausgedehnt, die Nachfrage nach begrenzter Fläche zu
koordinieren und bis in die 1970er-Jahre zunehmend umfassend Raum und Ge-
sellschaft zu planen. Der umfassende Planungs- und Steuerungsanspruch wurde
zwar zurückgefahren. Eine Orientierung an Wachstum ist aber darin geblieben,
Perspektiven für Wachstum von kapitalistischer Wirtschaft und Bevölkerung zu
erhalten oder aufzuzeigen. Diese Wachstumsorientierung spiegelt sich in vielen
Leitbildern wider (vgl. Beitrag von Frank Eckardt in diesem Band) und zeigt sich
auch im Fokus der nachhaltigen europäischen Stadt der Leipzig-Charta 2007,
die vor allem Wachstum und Innovation fördern soll (BMU 2007, S. 2). Samuel
Stein fasst seine eigene Perspektive auf Boden als handelbare Ware und den
Immobilienmarkt besonders kritisch zusammen als »growth is good – in fact,
growth is god« (Stein 2019, S. 39).
Viele grundlegende Planungsinstrumente wurden entwickelt, um Land und
Entwicklungsoptionen für eine wachsende kapitalistische Wirtschaft und
Bevölkerung bereitzustellen (Rydin 2013). Das ndet sich bis heute im Vokabular
wieder, wenn beispielsweise die Wirtschaftsförderung Dortmund mit dem
»Heimvorteil: Wachstum in der Fläche« (Stadt Dortmund 2019) wirbt und damit
meint, dass sie über die schnelle Bereitstellung von Flächen für Neuansiedlungen
eine attraktive und innovative Stadt schaffen kann. Einerseits brauchen viele
Städte und Regionen einen Wandel und Postwachstum darf nicht mit Stillstand
oder einem Verzicht auf jede Entwicklung verwechselt werden (vgl. Matthias
Schmelzer und Andrea Vetter in diesem Band). Andererseits fällt es schwer,
echte positive Alternativen zu denken oder sie in einem großräumigeren bis
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Postwachstum + Planung = Postwachstumsplanung?!
zu einem globalen Umfeld tatsächlich umzusetzen. Gute Beispiele sind oft
räumlich oder zeitlich eng begrenzt (siehe beispielsweise Konzeptwerk Neue
Ökonomie & DFG-Kolleg Postwachstumsgesellschaften 2017).
Ökologische Strömungen haben einerseits tiefen Niederschlag in der Stadt-
und Raumplanung gefunden – bis zur Verankerung von Nachhaltigkeit in ROG
und BauGB 1998. Andererseits sind durch reduzierte nanzielle Spielräume bei
Städten und Gemeinden in den 1990er- und 200er-Jahren und eine Reduzie-
rung des Steuerungsanspruchs Handlungsmöglichkeiten verloren gegangen,
die ohne Wachstum funktionieren. Für Planerinnen und Planer bleibt oft nur
die Suche nach Wegen, aus ökonomischem Wachstum positive Effekte auf den
Raum zu generieren (Rydin 2013). Damit bleibt Wachstum der Ausgangspunkt
jeder Veränderung. Stadt- und Raumplanung sind auf der unmöglichen Suche,
in jeder Entscheidung das Positive in Wachstum zu suchen und zu stärken, ohne
die grundlegenden Probleme dieser Wachstumsorientierung anzugehen. Das
Baugesetzbuch (BauGB) fordert Städte und Gemeinden in ihrer Bauleitplanung
zu einer generationenübergreifenden Perspektive, dem Wohl der Allgemeinheit
sowie einer sozialgerechten Bodennutzung auf. Für Planerinnen und Planer in
der Stadtplanung geht es in Bauleitplänen um »eine nachhaltige städtebauliche
Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anfor-
derungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinan-
der in Einklang bringt« (§1 Abs. 5 BauGB). Adressiert wird damit zugleich eine
umfassende und integrierende Perspektive mit einer langfristigen generatio-
nenübergreifenden Ausrichtung. Dabei geht der Auftrag noch weiter und wird
ergänzt darum, »eine dem Wohl der Allgemeinheit dienende sozialgerechte Bo-
dennutzung unter Berücksichtigung der Wohnbedürfnisse der Bevölkerung [zu]
gewährleisten« (§1 Abs. 5 BauGB). Stichworte aus dem Postwachstumsdiskurs
können also durchaus anknüpfungsfähig bis hinein in formalisiere Planungs-
instrumente sein oder werden. Stadt- und Raumplanung sind bereits sehr er-
folgreich bei der Suche nach Mittelwegen und Veränderungen in Richtung von
Verdichtung und Innenentwicklung, kompakter Städte und Nutzungsmischung
– oft allerdings noch mehr auf der strategischen Ebene als im tatsächlich Sicht-
baren. Schwierig ist der Umgang mit dem Bestand und damit eine Veränderung
städtischer Strukturen, die über einzelne neue Projekte hinausgeht. Eine grö-
ßere Veränderung braucht mehr Mut und einen entsprechenden Einsatz von
Personal- und Finanzressourcen.
Die neue gesamtdeutsche Debatte um Daseinsvorsorge und gleichwertige
Lebensverhältnisse (siehe bspw. BBSR 2017) sucht nach einem neuen
nachhaltigen Ausgleich zwischen ökonomischer Leistung und sozial-
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Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
ökologischen Interessen. Strukturwandel und politische Strömungen in
peripheren und ländlichen Räumen haben (wieder) die Notwendigkeit
hervorgebracht, über gesamträumliche Versorgungsstandards zu sprechen.
Zugleich fällt die kollektive Suche nach ›Inseln des Postwachstums‹ auf.
Bewegungen wie Transition Towns (Ehnert et al. 2019), Cittá Slow (Sept 2018)
oder Urban Commons (Helfrich & Bollier 2019) sind zunehmend präsent in
raumwissenschaftlichen Debatten. Neben diesen räumlich begrenzten Inseln
stehen auch zeitlich begrenzte Initiativen wie der Tag des guten Lebens (für
alle) (zum Beispiel in Köln, www.tagdesgutenlebens.de) oder der Park(ing)
Day. Auf kleinem räumlichem oder zeitlichem Maßstab wird hier gezeigt,
wie eine andere Organisation und Nutzung von Raum möglich sind (Brocchi
2019). Als größte Herausforderung zeigt sich die Integration in die Logiken
bestehender Planungsinstrumente und das Handeln öffentlicher Verwaltungen
im Spannungsfeld eines gesetzlichen Auftrags, lobbygetriebenem Kalkül und
politischen Entscheidungen, die gegenwärtig insbesondere dem Wunsch nach
Machterhalt entspringen.
Sechs Thesen einer Postwachstumsplanung in der Debatte
Postwachstum und Planung zusammenzudenken bedeutet konstruktive Kon-
frontation und kreativer Konikt. Stadt- und Raumplanung wird in ihren
Grundannahmen hinterfragt und umgedacht. Zugleich müssen sich aber auch
Aktive im Postwachstumsdiskurs mit einem Feld befassen, das für viele mehr
als monolithischer Block denn als aktive Kraft erscheint. Die folgenden sechs
Thesen sollen die Debatte darüber anreichern, wie die damit umrissene Post-
wachstumsplanung ausgestaltet werden könnte (siehe mit Hintergrund bei
Lamker & Schulze Dieckhoff 2019).
• Postwachstumsplanung braucht neue Erfolgskriterien als
Handlungsgrundlage!
• Postwachstumsplanung bedeutet gerechte und demokratische
Entscheidungen!
• Postwachstumsplanung stößt große Transformationen durch
kleinteiligeVeränderungen an!
• Postwachstumsplanung braucht experimentelles und künstlerisches
Handeln!
• Postwachstumsplanung muss aus Scheitern lernen!
• Postwachstumsplaner*innen sind wir alle!
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Postwachstum + Planung = Postwachstumsplanung?!
Grundlegend für die Verbindung von Postwachstumsgedanken in die Stadt- und
Raumplanung sind neue Erfolgskriterien, die sozial-ökologische Faktoren ab-
bilden können. Klassische Wachstumsindikatoren wie das Bruttoinlandsprodukt
oder ein quantitativer Zuwachs von Arbeitsplätzen sind keine hinreichenden
Kriterien für eine bessere Lebensqualität von Menschen. Dazu gehört zweitens
die Herausforderung, gegen autoritäre Tendenzen, post-politische Entwicklun-
gen oder demokratieferne Räume zu agieren und gerechte und demokratische
Entscheidungen zu ermöglichen. In diesem Kontext sind es drittens oft gerade
kleinteilige Entscheidungen, die unmittelbar getroffen werden können und die
auch aus der Stadt- und Raumplanung heraus als aktiver Treiber einer größe-
ren Transformation wirken können. Vielversprechend sind dafür viertens ex-
perimentelle und künstlerische handlungsbezogene Ansätze, die mit Ideen im
Raum experimentieren – aber auch aktiv mit dem Scheitern umgehen. Post-
wachstum fordert Meinungspluralismus und kritische Debatte heraus, sodass
fünftens das Lernen aus Fehlern und Scheitern viel wichtiger ist als das ängst-
liche Vermeiden im Grunde unvermeidbarer Konikte im begrenzten Raum. Als
sechsten Punkt heißt das auch, dass Postwachstumsplanung nur funktionieren
kann, wenn sie zum Anliegen aller im Raum handelnden wird und wir alle ge-
meinsam aktiv sind.
Diese sechs Thesen sind in ihren ersten Versionen aus drei Workshops zu
Räumen, Akteuren und Prozessen einer Postwachstumsplanung in Nordrhein-
Westfalen im Jahr 2017 hervorgegangen. Sie wurden in der Folgezeit weiterent-
wickelt und in ihrer Wirkung in Wissenschaft und Praxis getestet. Die Reaktio-
nen werden im Folgenden ausgearbeitet. Sie erstrecken sind in einer Bandbreite
von vollständiger Ablehnung bis zur aktiven Mitentwicklung. Die kritischen Re-
aktionen lassen sich vor allem in vier Stichpunkten zusammenfassen: veraltet,
unangemessen, überüssig und exklusiv. Die Debatte ist demnach veraltet, weil
sich Stadt- und Raumplanung damit bereits intensiv in der Folge des Berichts
des Club of Rome 1972 beschäftigt hat und Nachhaltigkeit heute bis zur Leit-
vorstellung im § 1 des ROG und § 1 des BauGB verankert ist. Planung ist dem-
nach an sich in der vorhandenen Form bereits sehr gut ausgereift und es geht
darum, Implementationsdezite zu bearbeiten. Das Argument wurde vor allem
von Personen mit langjähriger planerischer Berufserfahrung und einem Alter ab
ca. 50 Jahren geteilt. Das Thema sei unangemessen, weil es an den Notwendig-
keiten der Praxis vorbeigeht, in der die räumliche Allokation von Wachstum im
Zentrum steht. Postwachstum wird als Denkweise offenbar auch als Schuldzu-
weisung aufgrund von Untätigkeit oder falschen Zielsetzungen und damit An-
griff auf die eigene Person verstanden. Diese Annahme teilen durchaus vehe-
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Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
ment einige Planungswissenschaftler sowie Praktiker aufgrund von Zwängen
ihrer täglichen Arbeit oder der Hierarchie, in die sie eingebettet sind. Sie sehen
sich dann unbegründet im Fokus, weil verändernde Handlung von anderen aus-
gehen muss (typischerweise aus politischen Gremien). So haben sich angefragte
Personen aufgeschlossen den Themen gegenüber gezeigt, durften aber auf Wei-
sung von Vorgesetzten nicht auf einer Veranstaltung zum Titel Postwachstum
auftauchen. Zu diesem Argument ist zugleich eine große Dynamik festzustellen
und die Debatte scheint spätestens ab 2019 in der Breite akzeptierter zu sein.
Zuletzt sprachen auch traditionelle planungsrelevante Institutionen wie ARL
(Hülz 2019) und der Bund Deutscher Architekten (BDA 2019) vom notwendigen
Ende des Wachstumstraums und diskutieren Postwachstum öffentlich als mög-
liche neue Planungsprämisse.
Einige Begründungen für die geäußerten Schwierigkeiten mit der Postwachs-
tumsdebatte waren unerwartet. Begründet wurden diese Kritiken mit dem er-
warteten technischen Fortschritt und dadurch mögliche Efzienzgewinne.
Reaktionen gingen aber auch weiter dahin, dass es außerhalb unserer Erde
beispielsweise auf Mond und Mars genügend Ressourcen gäbe und wir zeitnah
einen Weg nden werden, diese zu nutzen. Ein so weitreichender Optimismus
kam allerdings von kaum einer in der Planungspraxis tätigen Person. Vielen
ist sehr bewusst, dass sie bereits heute an Grenzen stoßen und unter anderen
Stichworten (wie ›Überschwappeffekte‹, stadtregionales Wachstumsmanage-
ment, interkommunales Flächenmanagement) nden sich bereits klare Ansät-
ze, die absolute Grenzen von Wachstum in Kernstädten erkannt oder erreicht
haben. Zuletzt wird das Zusammenführen von Postwachstum und Planung als
exklusiv kritisiert. Die Debatte wird vor allem von jüngeren Personen und in
akademischen Kreisen angestoßen und geführt. Allerdings ist schwer nach-
zuvollziehen, warum aufgrund so einfacher Zuschreibungen eine inhaltliche
Auseinandersetzung selbst in der Wissenschaft unterbleiben sollte und warum
deshalb kein Erkenntnisgewinn zu erwarten sei. Immerhin teilen sich gerade
diese Gruppen maßgeblich beruiche, private und zukunftsorientierte Verant-
wortung und Möglichkeiten für eine sozialgerechte Transformation.
Auf der positiven Seite steht ein großes Interesse an dem Thema, bei dem für
viele Akteure aus Wissenschaft und Praxis noch große Unsicherheit herrscht.
Viele fragen sich, was sie in ihren Handlungsbereichen mit der Debatte tun
können und was sie bedeutet. Es dauert, bis sich die Debatte soweit verdich-
tet, dass sie für Außenstehende einfach zu verstehen ist. Ebenso ist bisher die
Frage noch schwer zu beantworten, wie konkret eine Postwachstumsplanung
im Einzelfall aussehen könnte, wenn sie einerseits Grundfragen neu denkt, an-
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Postwachstum + Planung = Postwachstumsplanung?!
dererseits aber noch im bestehenden Planungssystem eine Verankerung sucht.
Eine letzte Gruppe von Rückmeldungen fühlt sich aktiv angesprochen, moti-
viert oder inspiriert. Rückfragen hierzu beinhalten vor allem den Wunsch, selbst
aktiv zu werden in einer praktischen Tätigkeit oder gemeinsam Ideen weiterzu-
entwickeln. Viele starten deshalb schon heute im eigenen Alltag und privaten
Umfeld, durch einen Verzicht auf Flugreisen und ein eigenes Auto, durch eine
eischarme Ernährung und das Engagement im Sozialraum. Im Sinne der oben
genannten sechs Thesen ist es wichtig, dass alle Menschen aktiver Teil der Ver-
änderung in der Gesellschaft sein können und alle im Raum handelnden Akzfri-
stige Verwertungslogiken von Wissenschaft (oder in ähnlicher Form der Praxis)
passen.
Zukünftige Planungsaufgaben sollten darauf aufbauend darin bestehen, Ziele
und Stimmen jenseits von Wachstum in den Fokus zu nehmen, auch bei der Ab-
wägung. Komplexe gesellschaftliche und räumliche Transformationsprozesse
sind schwer zu überblicken und fordern dazu heraus, auch die Verlierer etab-
lierter Logiken und Verhaltensweisen in den Blick zu nehmen. Dazu brauchen
Planerinnen und Planer geeignete Ansätze, um Prozesse so inklusiv zu führen,
dass ein gutes Leben für alle möglich werden kann. Stadt- und Raumplanung
muss, der oben genannten Denition folgend, die Grenze zwischen öffentlicher
Verwaltung und privater und zivilgesellschaftlicher Initiative neu denken und
öffentlich verhandeln. In der Stadt- und Raumplanung stehen wichtige Inst-
rumente zur Verfügung, die auch eine wachstumsunabhängige Transformation
unterstützen können. Zugleich ist die Herausforderung aber so komplex, dass
es nur eine gemeinsame Aufgabe sein kann, die in geteilter Verantwortung be-
arbeitet wird. Viele Akteure und Organisationsformen (beispielsweise Urban
Commons, Raumunternehmen oder Nachbarschaftsinitiativen) verbinden ihre
intrinsische Motivation mit raumbezogenem Handeln und besetzen ihre Rollen
bei der Veränderung von Städten und Regionen. Es ist wichtig, das Zusammen-
spiel besser zu verstehen, unterschiedliche Rollen zu erkennen und den ge-
meinsamen Prozess aktiv und mutig anzuführen.
Ausblick
Ansätze der Postwachstumsdebatte haben eine unerwartet große Resonanz in
der Stadt- und Raumplanung gefunden. Im Rückblick zeigt sich eine deutliche
Verschiebung der Debatte über einen kurzen Zeitraum von nur etwa zwei Jah-
ren. Noch im Jahr 2017 war Postwachstum ein absolutes Nischenthema in der
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Christian Lamker, Viola Schulze Dieckhoff
Postwachstum und Planung sollten von allen Akteuren in ihrer Kombination
zu einer Postwachstumsplanung für Veränderungen in den Rahmenbedingun-
gen für raumbezogenes Handeln und für jede Aktion selbst genutzt werden. Die
sechs Thesen greifen vor allem die Suche nach veränderten Zielen auf, die sich
von einseitigem Wachstumsdenken lösen. Dazu fokussieren sie sich auf unmit-
telbares Handeln und transformative Aktion, deuten aber auch auf das inhärente
Scheitern von Möglichkeiten und die Verantwortung aller heute und in Zukunft
handelnden Personen, die nicht delegiert werden kann. Postwachstumsplanung
ist damit nicht abschließend deniert, sondern offen für die kritische Interpre-
tation in konkreten Situationen. Sie setzt aber Hoffnung in die Fähigkeiten und
Denkweisen, die bereits erdacht wurden, die heute genutzt werden können und
mit denen kollektiv eine Veränderung angestoßen wird.
Insbesondere seit dem Jahr 2019 werden die Reaktionen nuancierter. Teilwei-
se sind es die gleichen Personen, die von einer Frontalopposition abgerückt sind
und nun nach Schnittstellen suchen. Hier öffnet sich ein positives Fenster für
eine konstruktive Debatte, das jetzt genutzt werden muss. Samuel Stein fasst
das Paradox von räumlicher Planung aus einer US-amerikanischen Pespekti-
ve zusammen: »While planning is surely a tool of the powerful, it is also es-
sential part of any strategy to challenge them« (Stein 2019, S. 199). Stadt- und
Raumplanung kann damit einen bedeutenden Beitrag leisten, Postwachstum in
seinen räumlichen Dimensionen weiterzudenken und mithilfe der sechs The-
sen einer Postwachstumsplanung sowohl Probleme anzusprechen, geeignete
Rollenverständnisse vorzudenken sowie Lösungsmöglichkeiten zu entwickeln.
Postwachstumsstadt und Postwachstumsplanung gehören damit eng zusam-
men und verbinden Gestaltung, Organisation und Entwicklung einer Stadt der
Zukunft.
Für die kommenden Jahre bleibt die Frage danach offen, wie Stadt- und
Raumplanung die Diversität von Stadt und Gesellschaft besser in der eigenen
Disziplin abbilden kann. Postwachstum fordert zwar nach klarem Handeln, aber
auch nach Vielfalt und einem Pluralismus von Meinungen und Perspektiven.
Wachstumskritische Diskussionen sollen institutionelle Grenzen wie Planungs-
systeme und -regeln überwinden helfen, mentale Grenzen reduzieren und ad-
ministrative und staatliche Grenzen durchlässig gestalten. Der Appell einer
Postwachstumsplanung geht damit weit über die Handlungsmöglichkeiten in-
nerhalb der Stadt- und Raumplanung hinaus. Dennoch liegt hier viel Potenzial
für die kollektive Produktion wachstumsunabhängiger lebenswerter Räume in
vielfältigen Rollen und einer gemeinsamen Verantwortung in individueller Ar-
beitsteilung. Wir hoffen, dass mit Postwachstumsplanung ein Nährboden ent-
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steht, mit dem wiederum andere Disziplinen ihre Perspektiven auf räumliche
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Städte ohne Wachstum – eine bislang kaum vorstellbare Vision.
Doch Klimawandel, Ressourcenverschwendung, wachsende soziale
Ungleichheiten und viele andere Zukunftsgefahren stellen das
bisherige Allheilmittel Wachstum grundsätzlich infrage. Wie wollen
wir heute und morgen zusammenleben? Wie gestalten wir ein gutes
Leben für alle in der Stadt? Während in einzelnen Nischen diese
Fragen bereits ansatzweise beantwortet werden, fehlt es noch immer
an umfassenden Entwürfen und Transformationsansätzen, die eine
fundamental andere, solidarische Stadt konturieren. Diesen Versuch
wagt das Projekt Postwachstumsstadt.
In diesem Buch werden konzeptionelle und pragmatische Aspekte
aus verschiedenen Bereichen der Stadtpolitik zusammengebracht,
um so neue Pfade aufzuzeigen und diese miteinander zu verknüpfen.
Die Beiträge diskutieren städtische Wachstumskrisen, transformative
Planung und Konflikte um Gestaltungsmacht. Nicht zuletzt wird dabei
auch die Frage nach der Rolle von Stadtutopien neu gestellt. Dadurch
soll eine längst fällige Debatte darüber angestoßen werden, wie
sich notwendige städtische Wenden durch eine sozialökologische
Neuorientierung vor Ort verwirklichen lassen.
Anton Brokow-Loga ist transdisziplinärer Forscher an
der Schnittstelle von Urbanistik, Politikwissenschaft und
Transformationsforschung. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an
der Professur für Sozialwissenschaftliche Stadtforschung an der
Bauhaus-Universität Weimar und Teil des I.L.A. Kollektivs.
Frank Eckardt hat an der Universität Kassel in Politikwissenschaften
promoviert und hat seit 2008 die Professur für Sozialwissenschaft-
liche Stadtforschung an der Bauhaus-Universität Weimar inne.
www.postwachstumsstadt.de
22,00 Euro [D]
22,70 Euro [A]
www.oekom.de
9783962 381998