Content uploaded by Marion Linska
Author content
All content in this area was uploaded by Marion Linska on Mar 03, 2020
Content may be subject to copyright.
1
Essay:
Zwei unterschiedliche „Vorstellungen“ von Kultur.
Keesing und Goody im Vergleich
2001
Marion Linska
Der heute inflationär verwendete Begriff „Kultur“, vor allem als ein journalistisches
Modewort auf Basis einer Alltagssprachlichkeit, erfordert schon aufgrund dessen, auf
wissenschaftlicher Basis eine umso sensiblere und differenziertere Herangehensweise. Schnell
kann die Verwendung des Begriffes „Kultur“ zur Ein- und Ausgrenzung, zur Etikettierung
von Menschen führen und aus einem Abgrenzungs- und Typisierungsbedürfnis in einer Statik
erstarren. Aber auch unter dem Vorwand gesellschaftliche Probleme und Veränderungen, zum
Beispiel im Zusammenhang mit Migration, Mobilität, globaler Medialität und
Wirtschaftssysteme, die zu einer kaum mehr überblickbaren Heterogenität und Komplexität
führen, und dem Wunsch diese Entwicklung durch vereinfachende begriffliche
Determinierungen wieder in den „Griff“ und damit handhabbar werden zu lassen, laufen wir
Gefahr nationalistisches, rassistisches oder von fundamentalistischem Gedankengut gefärbte
Reaktionen zu fördern. In diesem Spannungsfeld fällt der Ethnologie als einer Wissenschaft,
deren Gegenstand Kultur und Kulturen im Zentrum ihrer Betrachtung und Forschung steht,
eine bedeutsame Rolle zu. Ihr wird in einem wissenschaftlichen wie gesellschaftlichen
Diskurs das Bedürfnis nach Lösungsansätzen und die Beantwortung der Fragen um ein
Verständnis des spezifisch „kulturellen“ abverlangt.
Die intradisziplinäre Entwicklung dieser Wissenschaft zeigt, dass sie sich diesem Prozess um
ein Verständnis und um eine fundierte Methodik nicht gescheut hat. Auch um die allzu
schnelle und um eine immer wieder aufkeimenden Gefahr der Instrumentalisierung des
Begriffs „Kultur“ wissend, hat sie sich bemüht auch in unserer heutigen Welt mit einem sehr
widersprüchlichen Bild von Kultur und Gesellschaft, in der es sich zurechtzufinden gilt,
weder den statischen noch den dynamischen Aspekt von „Kultur“ aus den Augen zu verlieren.
Es wäre aber abwegig zu behaupten, es gäbe ein einzig wirksames Rezept oder eine perfekte
Lösungsstrategie. Eine Definition von Kultur, die dem Wunsch nach einem klaren
2
handhabbaren Bild gerecht werden könnte. Es wäre irreführend und auch nicht Ziel einer
ethnologisch wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die sich in einer differenzierten und
kritisch-sensiblen Herangehensweise dem Phänomen „Kultur“ zu nähern versucht und sich
für ein Verständnis um die Komplexität in seinen verschiedenen Ausprägungen darzulegen,
offen hält .
Heute werden, im Zuge einer neuen Globalisierungswelle, Konzepte der Ethnologie, die sich
paradoxerweise gegen einen Evolutionismus und Rassismus wendeten, und in ihrer
Argumentation aus kulturrelativistischen Theorien stammen, für einen neuen Neorassismus,
einem soziokulturellen Rassismus, eingesetzt. Es wird nicht mehr so sehr mit physiologischen
und genetischen Merkmalen einer kulturellen Differenz, sondern mit dem Erhalt einer
kulturellen Vielfalt, die nur durch eine Vermeidung einer kulturellen Durchmischung erzielt
werden könne, auch unter dem Vorwand einer ohnehin bestehenden Inkompatibilität, welches
ohnehin nur zu Konflikten und Zurückweisung führen könne, argumentiert. Diesem
Missbrauch an ethnologischen Konzepten zur Untermauerung gesellschaftspolitischer
Strukturierungs- und Umstrukturierungsbestrebungen gilt es nicht nur Kritik, sondern auch
eine nach wie vor intensive, sensible und differenzierte Auseinandersetzung mit dem Begriff
der „Kultur“ entgegenzusetzen.
„Kultur“ ist ein theoretisches Konstrukt und als ein Begriff kann sie daher auch nie
Gegenstand von Untersuchungen sein. Dies impliziert, dass dieser Begriff nie unabhängig
vom Menschen als Teil der Gesellschaft, konzipiert und untersucht werden kann. Kultur wird
durch sein Denken und Handeln verwirklicht und damit hervorgebracht.
Schon 1952 füllten die beiden Ethnologen Alfred Kroeber und Clyde Kluckhohn bei ihrem
Versuch den Begriff von Kultur zusammenzufassen mit 175 Definitionen ein ganzes Buch.
Inzwischen dürfte die Zahl der Definitionen um ein Vielfaches gestiegen sein. Dies zeigt nicht
nur, dass dieser Begriff niemals absolut und allgemeingültig festgelegt werden kann, sondern
es geradezu auch zum Konzept der Kultur gehört, sich immer wieder neu zu definieren.
Lineare Zuordnungen, die eine Differenzierung im evolutionistischem Sinne und klare
Abgrenzung zwischen den Kulturen ermöglichte, konnte den späteren Forschungsergebnissen
nicht standhalten. So floss die Kritik alsbald in einer neuen kulturrelativistischen Sichtweise,
mit dem Schwerpunkt einer Miteinbeziehung von vertikalen Dynamiken innerhalb einer
Gesellschaft, in das Definitionsbemühen von „Kultur“ mit ein.
3
Durch das getrennt bestehende Denken von „Kultur“ und „Völker“ kam es zu einer Art
wissenschaftlicher Metaphorik, die es ermöglichte, dass Völker als „Träger“ von Kulturen
verstanden wurden, die sich nicht nur temporär sondern auch räumlich ausdehnen konnten.
Jedoch schließt der ethnologische Kulturbegriff zwingend beide Seiten ein:
das gegebene System einerseits, tradiert von Mechanismen, die in allen Kulturen zu seiner
Perpetuierung vorgesehen sind (nachahmendes Lernen, mündliche Unterweisung, rituelle
Übermittlung zentraler Inhalte wie zum Beispiel in der Initiation);
und die aktuelle Interpretation dieses Systems durch eine bestimmte Gruppe gerade lebender
Menschen andererseits.
Die Spannung zwischen beiden Seiten ist nicht nur unaufhebbar, sondern für den
ethnologischen Kulturbegriff - und nicht nur für diesen - konstitutiv; aus ihr erwächst auch ein
wichtiger Impuls für kulturellen Wandel und damit für Kulturgeschichte. (Schuster 1994:
22/3).
Dass dieser fachliche Diskurs in der Ethnologie, wie in der Kultur- und Sozialanthropologie
weltweit und auch durchaus kontrovers geführt wird, und damit wohl auch lebendig gehalten
wird, zeigen unter anderem auch die hier behandelten Beiträge von Roger M. Keesing und
Jack Goody. Ihre Beiträge sollen hier exemplarisch, als ein Versuch die Differenziertheit und
Komplexität des Begriffs „Kultur“ aufzuzeigen, gegenübergestellt werden.
Für Keesing gibt es die von manchen AnthropologInnen so gesuchte Exotik und radikale
Andersheit, überbetont durch deren Unterschiedlichkeiten, nicht. Ein Konzept vom
Kulturellen, dass adäquat sowohl komplexe moderne Lebensstile als auch die von
vergangenen wie gegenwärtige „small-scale communities“ erklärt, wären eigentlich
zeitgemäß.
Radikale Andersheiten erfordern Grenzen, Grenzen die es wahrscheinlich nie gegeben hat und
wenn, so verschwinden diese immer mehr. Scheinbar fixe Strukturen werden mit frei
fließenden Ideen von Weltsystemen konfrontiert.
Kultur ist nicht unabhängig von Zeit, Raum und Einfluss. Keesing spricht auch davon, dass
unser Sprachgebrauch von Kultur dahin verleitet, Kultur als ein Ding das etwas tun könnte,
oder als ob Kultur ein Kollektiv von Menschen sei, zu verstehen. Auch wenn wir es nicht
wirklich glauben, dass Kultur an sich etwas glauben oder tun könne oder dass es an einem
4
bestimmten Ort lebe, so führt uns unsere Sprache doch gedanklich in diese Richtung (Keesing
1994: 302). Von den Eliten der Peripherie wurde diese verdinglichte Konzeption von „Kultur“
als geeignetes rhetorisches Instrument für Ansprüche auf Identität genutzt, als Abgrenzung zu
einer Modernisierung im westlichen Stile oder eines Neokolonialismus. Auch die steigende
Beschäftigung mit der Sprache als Erweiterung des alten Konzepts von „Kultur“ als eine hohe
Kunst brachte symbolische Systeme mit Klasse und Macht zusammen.
Und währenddessen AnthropologInnen bereits über die Nützlichkeit dieses Konzepts von
„Kultur“ nachdachten und Alternativen suchten, drang dieses Konzept weit ins Alltagsdenken
ein.
So kritisiert Roger M. Keesing, dass disziplinäre Interessen weit stärker hervorgehoben
wurden, als Feldforschungen dies überhaupt ergeben würden. In Bezug auf den übertriebenen
Relativismus sieht Keesing zwei wichtige Entwicklungen. Zum Einen die riesige Bedeutung
von Metaphern in einer Sprache, die obwohl nicht genau erforscht, der Gefahr unterliegen
konventionelle Metaphern zu kosmologischen Strukturen und religiösen Philosophien zu
erheben. Und zum Anderen wird der Grad der Verkörperung kultureller Erlebnisse, in
Ausklammerung von Fortschritten in anderen Bereichen, immer wichtiger.
So entsteht ein verzerrtes Bild von Kultur und kultureller Konstruktion von Persönlichkeit
und Emotion. Einflüsse von globaler Massenkultur, Konsumhaltung und kapitalistischen
Arbeitsverhältnissen bleiben unberücksichtigt, Klassen- und Geschlechtsunterschiede bleiben
unreflektiert versteckt, zugunsten einer hermetisch abgeriegelten „Kultur“, fernab von
aktuellen globalen Einflüssen. Und die Vermarktung von kulturellem Erbe in staatspolitischen
wie touristischen Auftritten verschleiert in der dritten Welt die Einflüsse und Folgen des
kolonialen und neokolonialen Strukturwandels.
Erst durch die Poststrukturalisten, Post-Marxisten und Feministinnen konnten diese
Verschleierungen und die Spaltungen innerhalb der Gesellschaften, also der vertikalen
Beeinflussung aufgedeckt und thematisiert werden.
Für Roger M. Keesing muss daher untersucht werden, wie symbolische Produktion mit Macht
verbunden ist. Es muss angenommen werden, dass zumindest ein großer Teil kultureller
Traditionen mit ideologischen Kräften operiert. Und es muss angenommen werden, dass es in
5
jeder Gesellschaft wie Gemeinschaft vielfache subdominante und teilweise untergetauchte
kulturelle Traditionen gibt, genauso wie hegemoniale Kräfte der dominanten Tradition.
Also eine Verlagerung hin zu einer komplexeren Ansicht von gegenseitiger Beeinflussung
und Überlagerung von Bedeutungen.
Jack Goody, wohl der bedeutendste Vertreter der Spätphase des modifizierten
anthropologischen Funktionalismus, sieht drei wesentlich zu berücksichtigende
Grenzziehungen verschiedener kultureller Komponenten, nicht jedoch eine Trennung
zwischen Kultur und Gesellschaft, da sich beides wechselseitig beeinflusst und nie solitär
betrachtet werden kann.
So hat erstens ein soziokulturelles System interne voneinander unterschiedliche Bereiche, den
religiösen, den politischen und den interpersonellen. Zweitens sind auch die lokalen Grenzen
zwischen benachbarten sozialen Gruppen sowie die Grenzen von Individuen, die in jeder Art
von sozialer Aktion unterschiedlich sind, zu berücksichtigen. Aber auch die hierarchischen
Grenzen von Status oder Klassen als drittes, hängen vom Sozialsystem ab.
Wobei Goody davon ausgeht, dass einfachere Gesellschaften nicht nur hierarchisch sondern
auch in ihrer Vermischung von religiösem und politischem Verständnis relativ undifferenziert
sind. Gemeinsamkeiten von kulturellen Bedeutungen sind schwer zu finden, und selbst diese
würden noch nicht auf geographische, temporäre und hierarchische Unterschiede hin
differenziert worden sein. Ein Beispiel dafür ist die Ausdehnung von Gesellschaften mit
Schrift, welche sich von Eliten zu Eliten horizontal ausbreiten, unberücksichtigt des
temporären Faktors.
Jack Goodys Schwerpunkt liegt vor allem in der Erforschung von Hierarchieverhältnissen.
Für ihn kann eine Kultur verschiedene Weltbilder tragen, die sich auch verschieden
weitertradieren. Im Unterschied zu Keesing geht Goody viel weniger auf die Unterschiede
zwischen Kultur und Gesellschaft ein. In der Trennung zwischen materiellen und
nichtmateriellen Aspekten des Begriffs Kultur sieht Goody mehr eine Problematisierung und
eine Ablenkung von viel wichtiger zu stellenden Fragen.
Während Keesing sich vielmehr auf ein Verschwimmen von Grenzen bezieht, die bei
genauerem Hinsehen ohnehin nie wirklich vorhandenen gewesen sein dürften, kann en und
6
von einer so sehr gesuchten Andersartigkeit als Definition von Kultur nicht mehr
ausgegangen werden. Eine Kultur ist viel stärker aus ihrer Innendynamik zu verstehen. Sie
wird durch innerdynamische Kräfte genauso wie durch globale Wirkkräfte verändert, und
unterliegt somit einer ständigen Wechselwirkung. Goody richtet seinen Blickwinkel in der
Definierung von Kultur verstärkt auf einzelne kulturelle Komponenten, wodurch sich für ihn
unterschiedliche Grenzen ziehen lassen. Ja gerade fehlende oder vorhandene
Differenzierungen sind als Indikator für den Entwicklungsstand einer Gesellschaft zu sehen.
Wobei diese Aussage schon fast evolutionistischer Prägung zu sein scheint.
Kultur ist also nicht etwas von innen bzw. außen her abgrenzbares. Darin stimmen Keesing
wie Goody überein. Kultur ist auch nicht als etwas einmal hervorgebrachtes, und ein in sich
statisch geschlossenes und abgegrenztes System zu sehen. Menschen sind nicht nur dazu da,
um sich dieser Kultur entsprechend zu verhalten. Es ist auch nicht zulässig direkte
Rückschlüsse zu ziehen und Vorhersagen auf das Verhalten von einzelnen Menschen,
aufgrund von Kenntnissen einer Kultur, zu treffen. Kultur wird von Menschen gelebt und von
diesen auch verändert. Kultur ist eben nicht statisch, auch nicht homogen und weder von
innen noch von außen abgeschlossen oder nur von außen veränderbar.
Damit findet auch die Vorstellung, Konflikte zwischen Menschen auf rein kulturelle Ebene
reduzieren zu können, um diese dann zu einem Kulturkonflikt aufgrund einer
Kulturenunverträglichkeit eben unterschiedlicher Kulturen zu propagieren und damit auch
nur dort lösbar wären, keinen Boden.
Vielmehr weitet die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Begriff „Kultur“ den
Blick für die Vielfalt der Betrachtungsweisen, über einer Vielfalt an Dingen und
Daseinsformen.
Literatur:
Jack Goody: Assessing cultural Anthropology: Culture and its boundaries: A European View.
Robert Borofsky 1994
Roger M. Keesing: Assessing cultural Anthropology: Theories of Culture Revisited. Robert
Borofsky 1994
Schuster, Meinhard: Kultur als System und Konstrukt. Uni Nova. Mitteilungen aus der
Universität Basel. Nr. 70. Basel. Pp. 22-25. 1994