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Die Gebrochenheit des (ir-)religiösen Subjekts
Glaube, Nichtglaube und Säkularität bei Charles Taylor
Andreas Krebs
1 Vorbem erkung
Es ist vielleicht kühn, dass das O rganisationsteam dieser Tagung – dem ich
angehöre – sich entschlossen hat, das G espräch über »M ission zw ischen Pro-
selytism u s u n d Selb stabsch affu n g« m it ein em D isku rs ü ber C h arles Taylors
Großwerk »Ein säkulares Zeitalter« zu beginnen. Es geht uns, wie Bernd
Oberdorfer schon ausgeführt hat, um eine zeitdiagnostische Reflexion des ei-
genen, durchaus kulturspezifischen O rtes, an dem uns die Frage der M ission
beschäftigt.
Dazu hätte man freilich auch mit empirischen Bestandsaufnahmen zur
Lage aktueller Religiosität und Spiritualität beginnen können. W ährend der
le tz te n Ja h re s in d d a z u b e a c h tlic h e F o rsc h u n g e n g e le iste t w o rd e n , a u c h im
in te rn a tio n a le n u n d g lo b a le n M a ß sta b , u n d d ie B e fu n d e sin d v ie lsc h ic h tig
und aufschlussreich.
1
Dennoch setzen wir ein philosophisch-kulturgeschichtliches W erk an den
Anfang. Das m ag Tem peram ent und Vorlieben der Organisatoren geschuldet
sein . D arü b er h in au s m ein e ich ab er, d ass T aylors W erk zu m »S äku laren Zeit-
alter«2
fu n d am en tale K läru n ge n d arü b e r an b ietet, w e lch er K on tex t h eu te so -
wohl die Option des Glaubens als auch die des Nichtglaubens bestimmt.
1 DETLEF P OLLACK/O LAF M ÜLLER, R e ligio n sm o n ito r. R e lig io sitä t u n d Z u sa m m e n h a lt in
Deutschland, Gütersloh 2013; Gert Pickel, Religionsmonitor. Religiosität im inter-
nationalen Vergleich, G ütersloh 2013;DETLEF P OLLACK/G ERG ELY R OSTA, R e ligio n in
der M oderne. Ein internationaler Vergleich, Frankfurt a. M . 2015. Zur alt-katholi-
sch e n K irch e u n d ih rem U m feld sieh e DIR K K RAN Z/ANDREAS K REBS, R e lig io sitä t in
der Alt-Katholischen K irche D eutschlands. Eine em pirische Studie, Bern: Staem p-
fli 2014
2 CHARLES T AYLO R, E in s ä k u la re s Z e ita lte r, ü b e rs. v o n Jo a c h im S ch u lte , B e rlin 2 0 0 9 .
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2 Säkularität als heutige Bedingung der M öglichkeit von Religiosität
Diesen Kontext, in dem wir uns gegenwärtig alle – Atheistinnen, Agnostiker
und G läubige, G leichgültige, Engagierte, From m e oder U nfrom m e – im m er
sch o n be w eg en , bezeich n et Taylor als »S äku larität«. E r verbin d et m it diesem
Begriff nicht die einfache Form der Säkularisierungstheorie, nach der Religion
in m o d e rn e n G e se llsc h a fte n n o tw e n d ig b e d e u tu n g slo s w ird .3
So w ie er d en
Begriff gebraucht, können auch Gesellschaften mit stark verbreiteter, öffent-
lic h re le v a n te r R e lig io sitä t – w ie d ie V e re in ig te n S ta a te n v o n A m e rik a – a ls
»säkular« bezeichnet w erden. D enn Taylor geht es nicht prim är darum ,was
wir glauben oder nicht glauben; entscheidend ist für ihn,wiewir es tun. W ir
sin d , so sein e T h ese, als G lau b en d e im m er sch o n vo n de r O p tion des N ich t-
glaubens, als N ichtglaubende freilich auch von der O ption des G laubens
heim gesucht. Für die Religion bedeutet das: Sie ist w eder unm öglich gew or-
den, noch w ird sie unverm eidlich zurückgedrängt, sie kann unter U m ständen
sog ar n ach w ie vo r gesellsch aftsprägen d e K raft en tfalten – ab er sie h at, u n d
das ist kennzeichnend für »Säkularität« im Sinne Taylors, ihre N aivität verlo-
ren . M an ka n n au ch im säk u lare n K o n tex t ein e relig iö se Tra d itio n a listin sein,
aber n iem and, auch nicht die Traditionalistin, lebt heute noch in ungebroche-
ner Tradition. Ein Biblizist m ag die Bibel »w örtlich« nehm en, aber niem and,
auch nicht der Biblizist, kann dem Wissen ausweichen, dass ganz andere Les-
arten dieses Bu ches m öglich sind. U nd auch w er seinen G lauben m it exklusi-
ven W ahrheitsansprüchen verbindet, kann nicht ignorieren, dass entgegenge-
setzte W ah rh eitsan sprü ch e m itu n ter eb en falls m it E x k lu sivität vertreten w er-
den. A uch die einst belächelte oder gerühm te »Volksfröm m igkeit« hat in
medial vernetzten und global informierten Gesellschaften das verloren, was
sie ein m al au szeich n ete: ih re u n b efragte Selb stverstän d lich k eit.
Jü rg e n G o ld ste in fasst T a ylo rs T h e se w ie fo lgt z u sa m m e n : » D ie sä k u lare
Moderne ist für Taylor keine Epoche der Abschaffung der Religionen, sondern
der Transform ation ihrer Erscheinungsw eisen«.
4
D och ich m eine, Taylors
These ist w eitaus radikaler: Sie besagt, d a ss sic h R e lig io n im sä k u lare n Z e ita l-
te r eb e n n ich t n u r in ih re n E rsc h e in u n g e n , also a u f phänom enaler E b e n e v e r -
3 Maßstäbe für eine empirisch unterfütterte Kritik an der Säkularisierungstheorie
hatANDREW M . G REELEY, R e lig io n in E u ro p e a t th e e n d o f th e se co n d m ille n n iu m .
A sociological profile, London 2004 gesetzt. Zum Begriff des »Postsäkularen« sie-
heMATTH IAS L UTZ-B ACHM ANN, P o stsä k u la rism u s. Z u r D is k u ssio n e in e s u m stritte n e n
Begriffs, H am burg 2015.
4 JÜRGEN G OLDSTEIN, S äk u la risie ru n g a ls V o rse h u n g . C h a rle s T a y lo rs E rz äh lu n g d e r
Moderne, in:MIC H A E L KÜHNLEIN/M ATTH IAS LUTZ-B ACHM AN , U n e rfü llte M o d e rn e ?
Neue Perspektiven auf das W erk von Charles Taylor, Berlin 2011, 623–649: 631.
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ändert. Säkularität brin gt vielm ehr eine gänzlich neue A rt von religiöser Sub-
je k tiv itä t hervor. U n d ih r, so m ö c h te ic h b e h a u p te n , g ilt T a y lo rs e ig e n tlich e s
In te re sse: E r w ill d ie G e n e se u n d S tru ktu r d e r z e itge n ö ssisc h e n Bedingungen
der M öglichkeit von Religiosität d a rste lle n .
Dabei macht er eine keineswegs triviale Vorannahme: Die Bedingungen
der M öglichkeit von Religiosität sind apriorisch – sofern sie den Erfahrungen
und Ü berzeugungen des religiösen oder irreligiösen Subjektes vorausgehen –,
aber sie sind nicht überzeitlich: Sie können sich je nach historischem »H inter-
grundrahm en«5
fu n d am en tal versch ieb en . E s ist diese A n n ah m e, d ie T aylo rs
historisches Interesse m otiviert. Er w ill, um m it M ichel Foucault zu sprechen,
ein »historisches A priori« beschreiben.6
D abei sind seine Reflexion en – die
sich ex p lizit in der P o sition d es G lau b en d en vero rten – ih rerseits Ausdruck je -
ner säkularen religiösen Subjektivität, die sie darstellen:einer Subjektivität
näm lich, die sich bew usst ist, d a ss M e n s c h e n z u a n d e re n Z e ite n u n d a n a n d e -
ren O rten gan z an d ere W eltzu gän ge v o rge geb en sin d .
3 Zeitdiagnostischee Em pirie und epistem ologische Reflexion
Taylors Projekt ist dam it kein prim är historiographisches; es ist von einem ge-
nuin philosophischen In te re sse an ge trieb e n , d a s h isto risch e u n d z e itd iag n os -
tisch e E m p irie m it e p istem o lo gisch er R efl e x io n v e rk n ü p ft. Z u B egin n se in e s
Werkes unterscheidet Taylor drei unterschiedliche Weisen, wie der Begriff Sä-
kularität zur Beschreibung em pirischer Sachverhalte verw endet w ird:
(1 ) In e in e r e rste n B ed e u tu n g b e sch reib t »S ä k u laritä t« e in e b e stim m te F o rm
gesellschaftlicher A usdifferenzierung, in der sich W irtschaft, Staat, K ultur und
Religion voneinander lösen und als relativ autonom e Bereiche m it eigenen
Normen und Handlungsmustern ausbilden. Dieser soziale Prozess verändert
auch das Individuum : Es spielt seine Rollen in verschiedenen T ätigkeitsberei-
chen – als B erufstätiger, K onsum ent, T heaterfan, H obbysportler, K irchgänger;
doch die G ründe, nach denen es dabei sein Tun und D enken ausrichtet, ha-
ben auch dann, w enn es glaubt, größtenteils w eder m it G ott noch m it Religi-
on zu tun. »D ie Erw ägungen, die unserem H andeln vorausgehen«, schreibt
Taylor, »bew egen sich innerhalb der ›Rationalität‹ jedes einzelnen Bereichs:
Im W irtsc h aftsleb e n ge h t e s u m m ax im a le n P ro fi t, au f p o litisch em G e b iet u m
5 TAY LO R, E in s ä k u la re s Z e ita lte r, 3 3 .
6 MIC H E L F OUCAULT, A rc h ä o lo g ie d e s W isse n s, ü b e rs. v o n U lric h K ö p p e n , F ra n k fu rt a .
M. 1973, 184f. Auf die Parallele zu Foucault komme ich in Abschnitt 5 dieses
Textes noch einm al zurück.
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den größtm öglichen N utzen für m öglichst viele Personen und so w eiter. D as
steh t in au ffälligem G egen satz zu frü h eren Z eiten , in d en en das C hristen tum
maßgebliche Vorschriften erließ, die – wie etwa das Verbot des Wuchers oder
die Pflicht zur D urchsetzung des rechten G laubens – oft von G eistlichen ver-
kündet w urden und in keinem dieser Bereiche ohne w eiteres außer acht ge-
la sse n w e rd e n k o n n te n « .7
– E in w ich tig er S tran g m od ern e r Sä k u larisieru n gs-
th e o rie n h at sic h se it M ax W eb e r m it » S äk u la ritä t« in d iese r e rste n B e d eu -
tu n g b e sc h ä ftigt.8
M it B lick au f d e n m issio n a risc h en A sp ek t d e s C h riste n tu m s
wirft »Säkularität-1«, wie Taylor sie auch nennt, sowohl die Frage nach der
Bedeutung von Kirche im öffentlichen Raum als auch die Frage nach dem au-
th e n tisc h e n p e rsö n lic h e n Z eu g n is a u f. W elch e R o lle k a n n K irch e in e in e r G e -
sellsch aft sp ielen , die sich in ein e V ielzah l au ton o m er Su bsystem e au fglied ert,
in d e n e n G la u b e je w e ils » P riv a tsa c h e « ist, a lso keine in tersu b jek tive G e ltu n g
behaupten kann? U nd w ie kann die Einzelne, die sich in einer V ielzahl sol-
cher Subsystem e bew egt und dabei zw ischen ganz unterschiedlich norm ier-
te n R o llen w e c h se lt, ih re n G la u b e n je a u th e n tisc h le b e n u n d b e zeu ge n ?
(2 ) In ein e r zw eiten B e d e u tu n g b e z e ich n e t » S ä k u larität« d en R ü c k g a n g in sti-
tu tion e lle r u n d so z ialer F rö m m igk e itsfo rm e n . S ä k u larität-2 b e steh t n a c h T a y -
lo r d a rin , d a ss » d e r re lig iö se G la u b e u n d d a s P ra k tiz ie re n d e r R e lig io n d a h in -
sch w in d en ; daß sich die M en sch e n v o n G ott ab w en d en u n d n ich t m eh r in
die Kirche gehen. In diesem Sinn sind die Länder W esteuropas größtenteils
säku lar g ew o rd en – au ch diejen igen , in den e n n o ch Sp u ren ein er ö ffen tlich en
Bezugnahm e auf Gott zu finden sind«.
9
A u ch bei Säku larität-2 geh t es also,
wie bei Säkularität-1, um die öffentliche Rolle von Kirchen oder Religionsge-
meinschaften. Allerdings ist Säkularität-1 – das Existieren von Religionsgemei-
sch aften in m itten ein er P lu ralität w eiterer Subsystem e – nicht notw endig m it
Säkularität-2 verbunden. D ie U SA sind dafür ein prom inentes Beispiel. D ie
Vereinigten Staaten gehören zu den ersten G esellschaften, in denen Kirche
und Staat konsequent voneinander getrennt w urden, und trotzdem spielen
Glaube und religiöse Praxis dort eine weitaus größere Rolle als in vielen ande-
ren w e stlich en G esellsch aften . F ü r M ittele u ro p a h in ge ge n trifft z u , d ass Sä -
kularität-1 w eithin m it Säkularität-2 zusam m enkom m t. »M ission« sieht sich
hier nicht nur durch ausdifferenzierte Gesellschaften herausgefordert; sie
7 TAY LO R, E in s ä k u la re s Z e ita lte r, 1 3 .
8 Zu aktuellen Fortschreibungen des W eberschen Ansatzes siehe u.a.AGATHE
BIE N F A IT , R e lig io n e n v erste h e n : Z u r A k tu a litä t v o n M a x W e b e rs R e lig io n sso z io lo -
gie, W iesbaden 2011.
9 TAY LO R, E in s ä k u la re s Z e ita lte r, 1 3 .
28
muss sich zusätzlich damit beschäftigen, dass ihr Anliegen nicht länger für
wichtig gehalten, ja häufig nicht einmal verstanden wird.
10
(3 ) H ierv o n w ied eru m ist e in e d ritte B ed e u tu n g v o n » S ä k u larität« z u u n ter-
sch eid en . Säku larität-3 b ezieh t sich au f ein e n W an d e l, der v on ein er G esell-
sch aft w egfüh rt, in w elch er d er G lau be an G ott u n an gefoch ten ist, un d sie zu
einer G esellschaft übergehen lässt, in der dieser G laube eine Optionen neben
zahllosen anderen darstellt. In diesem Sinn w iederum m üssen auch die U SA
als säkular bezeichnet w erden. A ktuelle K ontrastbeispiele findet m an in eini-
gen m uslim ischen G esellschaften. Insofern w äre der N achw eis, dass der Kir-
chenbesuch in den U SA ähnlich häufig sei w ie der M oscheebesuch in Jordani-
en, in diesem Zusam m enhang ohne Belang; er w ürde nur zeigen, dass sich
beide G esellschaften bezüglich Säkularität-2 auf ähnlichen N iveau befinden.
Gleichwohl liegt es nach Taylor auf der Hand, dass »im Hinblick darauf,was
es heißt, gläubig zu sein, z w isc h e n d ie se n G e se llsc h a fte n g ro ß e U n te rsc h ie d e
bestehen, die zum Teil daher rühren, daß der G laube in der christlichen (oder
›p o stch ristlich e n ‹) G e sellsc h a ft eine Option und in gewissem Sinn eine um -
käm pfte O ption ist, w ährend er dies in den m oslem ischen G esellschaften
nicht (oder noch nicht) ist«.
11
4 D as Ende der N aivität
Was Taylor als Säkularität-3 bezeichnet, ist von Peter Berger mit dem Schlag-
wort des »häretischen Imperativs« verbunden worden: In pluralistischen Ge-
sellsch aften h ab en w ir in Sach e n R eligio n k ein e an d ere W ah l als d ie W ah l
(g rie c h isc h hairesis); d e r je w e ilig e G la u b e ist im m e r ein e O p tio n u n ter m eh -
10 Die These, dass »M odernisierung« und der Bedeutungsverlust von Religion sehr
wohl miteinander zusammenhängen, wird von Detlef Pollack vehement vertei-
digt: »Auch w enn das C hristentum für die Entbindung der M oderne aus dem
Schoß des M ittelalters w ichtige H ebam m endienste geleistet hat, sind Religion
und Kirche von den Folgen der M odernisierung insgesam t doch eher negativ be-
tro ffen . B e i d er B eh au ptu n g , d a ss R elig io n u n d M o d e rn e k o m p a tib e l seien , h a n -
delt es sich um eine neue M eisterzählung der Sozial- und G eistesw issenschaften,
die ihre Faszination vor allem aus der U m kehrung klassischer soziologischer und
historischer Annahm en bezieht, in den em pirischen D aten jedoch nur eine
sch w ach e A b stützu n g b esitzt.« DETLEF POLLACK, R e lig io n u n d M o d e rn e : T h e o re -
tisch e Ü b e rle g u n g e n u n d em p irisch e B e o b a c h tu n g e n , in : ULRIC H W IL L E M S /D ETLEF
POLLACK/H ELEN E B ASU/THOM AS G UTM ANN,/ U LRIKE S PO H N (H g .), M o d e rn e u n d R e lig io n .
Kontroversen um M odernität und Säkularisierung, Bielefeld 2013, 293–330.
11 TAYLO R, E in s ä k u lare s Z e ita lte r, 1 5 .
29
rere n .12 E s ist vor allem d iese S äku larität-3 , d ie Taylor zu r G ru n d lage sein es
epistem ologischen Begriffs von »Säkularität« m acht. W ichtig ist dabei, dass er
»G lauben und U nglauben nicht als konkurrierende Theorien behandeln« w ill,
also nicht als bloß intellektuelle An gelegenheiten, sondern existenzieller als
»Form en des E rlebens«.
In d ie se m Z u sam m en h a n g b rin g t T ay lo r d e n B e g riff d e r »F ü lle « in S p iel.
Er bezieht sich dam it auf einen »O rt«, an dem jeder M ensch so etw as w ie
eine gesteigerte Lebendigkeit erfährt. »Soll heißen: A n diesem O rt (in dieser
Tätigkeit oder in diesem Zustand) ist das Leben voller, reicher, tiefer, lohnen-
der, bew undernsw erter und in höherem M aße das, w as es sein sollte«.
13
Nichtgläubige erleben diesen Ort der Fülle vielleicht als inneren, jedenfalls
diesseitigen O rt, w ährend G läubige ihn m it einer Instanz jenseits ihrer selbst
verbinden. Entscheidend ist nun, dass im säkularen Zeitalter die D ifferenz
zw ischen beiden Erlebnisw eisen als U nterschied der Lebens- und W eltdeu -
tu n g e rsc h e in t. D a s ist k e in e sw e g s se lb stv e rstän d lich . In so g e n an n te n »p rim i-
tiv e n « G e sellsc h a ften , ab e r a u c h im m ittelalterlic h e n E u ro p a , ga b es Z u stän d e
des Erlebens von Fülle, in denen das, w as wireine D eutung des M oralisch-
Spirituellen nennen w ürden, nicht als Deutungerfahren w urde, sondern als
unm ittelbare Wirklichkeit – als e tw a s, d a s e b e n so » re a l« ist w ie S te in e , F lü sse
oder Berge. W as uns alle, G läubige w ie U ngläubige, als »Säkulare« kenn -
zeichnet, ist die Tatsache, dass w ir zu dieser fraglosen U nm ittelbarkeit keinen
Zugang m ehr haben. »Jeder von uns lernt, zw ischen zw ei Standpunkten zu
manövrieren: zwischen dem ›engagierten‹ Standpunkt dessen, der sich nach
besten K räften an die durch den eigenen Standpunkt erm öglichte Realitätser-
fa h ru n g h ä lt, u n d d e m ›d ista n z ie rte n ‹ S ta n d p u n k t d e sse n , d e r sic h a ls V e rtre -
te r e in e s S tan d p u n kte s u n te r m e h re re n se h e n k an n , m it d e n e n m a n sich a u f
diese oder jene W eise arrangieren m uss«.
14
Das ist der Grund, weshalb sich im säkularen Zeitalter »die Bedingungen
der Erfahrung des Spirituellen selbst« verändert haben.Religion kann nicht
lä n g e r b e d e u te n , sic h in e in e O rd n u n g e in z u g lie d e rn , d ie d a s G a n z e v o n
Gott, W elt, M enschheit und Natur umfasst. W as man glaubt oder nicht
glaubt, hat nur begrenzten Bereichen Folgen, und niem and kann verm eiden,
sich de r M ö glich k eit an d erer Z u gän ge bew u sst zu w erd en . D as gilt so gar fü r
12 PETER L. B ERG ER, D e r Z w a n g z u r H ä re sie . R e lig io n in d e r p lu ra listisc h e n G e se ll-
sch aft, üb ers. von W illi K ö h ler, F reibu rg i. B r. 1 9 9 2 ; zu r kritisch en F o rtsch reibu n g
der Säkularisierungstheorie durch Berger siehe PETER L . B ERGER, A ltä re d e r M o d e r-
ne. Religion in pluralistischen G esellschaften, übers. von Ruth Pauli, Frankfurt a.
M. 2015.
13 TAYLO R, E in s ä k u lare s Z e ita lte r, 1 8 .
14 Ebd., 31.
30
die religiöse Fundam entalistin, die in ihrer W eise auf diese Situation rea giert.
Der W eltzugang eines jeden tritt a ls D e u tu n g in E rsch ein u n g , u n d se lb st d ie
in te n siv ste S p iritu a litä t w ird u n a b w e islic h v o n d e r ra d ik a le n R e fl e x iv itä t
heim gesucht, von der eigenen Standpunktgebundenheit zu wissen. »N aivi-
tät« , sch re ib t T ay lo r, » steh t h eu te n ie m a n d e m m e h r z u G e b o te – d em R eligi-
ösen genauso w enig w ie dem Irreligiösen«.
15
5 Parteinahm e für das Kontingente
Welche Konsequenzen sind nun aus dieser fundamentalen Einsicht für die
christliche »M ission« zu ziehen ? M acht m an sich Taylors B egriff von Säkulari-
tät z u e ige n , k a n n m an je d e n falls n ich t m eh r vo n e in e r » S e n d u n g in d ie sä -
kulare W elt« sprechen; denn w ir alle, G läubige w ie U ngläubige, sind im m er
sch o n »säk u lar«! E in Z u rü ck zu r N aiv ität zu p rop agieren , w äre au ssich tslo s.
In so fern h alte ic h e s fü r a b w eg ig, d ass m an Taylor hier und da eine »unver-
blüm t offene N ostalgie« zuschreibt, »die den Verlust der ›verzauberten W elt‹
betrauert«.
16 D er rü c kw ä rtsgew a n d ten Se h n su ch t n ac h u rsp rü n glich er N aiv i-
tät erte ilt T ay lo r ein e klare A b sa g e, u n d a u c h d ie ro m an tisc h e F igu r d er
»zw eiten N aivität« hat in seiner K onzeption keinen Platz. D ie G ebrochenheit
des religiösen Subjekts im säkularen Zeitalter ist unhintergehbar.
Dass Taylor kein Reaktionär ist und nach den eigenen Denkvoraussetzun-
gen auch gar nicht sein kann, ergibt sich auch aus einer w ichtigen G rundent-
sch eid u n g, d ie sein h istorisch es N arrativ stru k turiert: T aylors P rojek t w en d et
sich ko n seq u en t gegen jed e Fo rm von »Su b strak tio n sgesch ich te« , ein B egriff,
mit dem Taylor Versuche bezeichnet, Säkularität dadurch zu erklären, dass
»der M ensch sich von bestim m ten früheren H orizonten, Täuschungen oder
15 Ebd., 46.
16 GÜNTER T HOM AS, D ie V e rsu c h u n g re lig iö se r N o sta lgie . E in e p ro te sta n tisc h e L e k tü re
von C harles Taylors »Ein säkulares Zeitalter«, in: Evangelische Theologie 73
(2 0 1 3 ), 4 2 1 – 4 3 6 : 4 3 4 . D as M issv e rstä n d n is k o m m t h äu fig e r v o r. S o sc h re ibt
etw a auch Volker G erhard: »Im Interesse der W iederbelebung eines in m enschli-
chen gelebten G laubens w ill Taylor, w enn ich ihn richtig verstehe, auf ein e vor-
em anzipative Verfassung des M enschen zurück.« VOLKER G ERH A RD , S äk u la risie ru n g :
Eine historische C hance für den G lauben, in:ULRIC H W IL L E M S ET AL. (H g .), U n e rfü ll-
te M o d e rn e ? , 5 4 7 – 5 7 2 : 5 5 2 . D ie S o rge , T a ylo r w o lle h in te r d ie » p h ilo so ph isc h -
th e o log isch e e u ro p ä isc h e V e rn u n fttrad ition a u f d e m N iv e a u d er G e g e n w a rtsd is-
kussion« zurück, prägt auch die K ritik von THOM AS R EN TSCH , W ie ist T ra n sz e n d e n z
zu denken? K ritische Thesen zu C harles Taylors Säkularisierungsthese, in:ULR IC H
WIL L E M S ET AL. (H g.), U n e rfü llte M o d e rn e? , 5 7 3 – 5 9 8 : 5 9 8 .
31
Erkenntnisgrenzen getrennt, gelöst oder befreit« habe17 – ga n z g le ic h , o b m a n
diese Abschiede nun begrüßt oder betrauert. Im U nterschied zu Erzählw eisen
also, die sich von K ategorien des Verlu sts oder der E m anzipation leiten lassen,
zielt Taylors D arstellung darauf ab, Säkularität als Folge qualitativ neuer Erfin-
dungen, qualitativ neuerForm en des Selbstverständnisses auszuw eisen. D a-
mit ist seine Geschichtsdeutung ebenso weit von Narrativen des Verfalls wie
von solchen des Fortschritts entfernt.
Nicht zuletzt deshalb scheint es mir fragwürdig, dass auch Bernd Ober-
dorfer – freilich in differenzierender Absicht – den Fortschrittsbegriff an Tay-
lo r h e ra n tr ä g t.18 E s m ag sein , d ass e tw a T ay lors D a rstellu n g d es P ro testan tis-
mus, wie Oberdorfer sagt, wenig einfühlsam und einseitig ist, wobei ich aller-
dings an dieser Stelle nicht unbedingt einen anti-protestantischen A ffekt ver-
muten würde;
19 d en n d ie v o n T ay lor als h ö ch st am b iva le n t b e sc h rieb en e D y -
nam ik der REFO RM ist älter als die Reform ation, durchdringt das gesam te
Christentum und prägt selbstverständlich auch den konfessionellen Katholi-
zism us.
20 V or allem aber bestreite ich , dass es Taylor ü berhau pt um d erglei-
chen w ie »Rückschritt« oder »Fortschritt« geht, w eil diese B egriffe ein allge-
meines großes »Ziel« voraussetzen, von dem aus eine konkrete Entwicklung
dann als ein »Zurück« oder »Voran« eingestuft w erden kann. Eine w esentli-
che Provokation des Taylorschen N arrativs liegt dem gegenüber darin, dass es
sich m it verallgem ein ern den W ertu ngen zurückh ält und au ch konkrete E r-
ru n g en sch aften u n d E rw eiteru n ge n m en sch lich er M ö glich k e iten stets m it ih -
ren L ich t- u n d Sch atten seiten d arstellt, oh n e je n ah e zu leg en , fü r d e n »F o rt -
sch ritt« hätten sich d ie »u n verm eid lich en Verlu ste« au sgezah lt.
17 TAYLO R, E in s ä k u lare s Z e ita lte r, 4 8 .
18 BERN D O BERD O RFER, E x k a rn a tio n u n d g e a h n te F ü lle . Z u C h a rle s T a y lo rs D ia gn o se
des G laubens im »säkularen Zeitalter«, in diesem Band, 14.
19 Ebd., 16.
20 Taylor legt die H erkunft seines »REFO RM «-Begriffs nicht offen. Ich verm ute, dass
er von Ivan Illich inspiriert und über diesen auf G erhard Ladner zurückzuführen
ist. V g l. GERH A RD L ADNER, T h e id e a o f re fo rm . Its im p ac t o n C h ristia n th o u g h t a n d
action in the age of the Fath ers, C am bridge M ass. 19 5 9; IVA N ILLIC H , In d e n F lü s-
sen n ö rdlich d er Z u k u n ft. L etzte G esp räch e ü b er R elig ion u n d G esellsch aft m it
David Cayley, M ünchen 2006, 76f.; zu Taylors Illich-Rezeption sieheKARL
KARDINAL L EH M A N N , E n ts te h t a u s d e m v e rfä lsc h te n C h riste n tu m d ie M o d e rn e ? Z u r
Begegnung von Charles Taylor und Ivan Illich, in:ULR IC H W IL L E M S ET AL.(H g .), U n -
erfüllte M oderne?, 327–349;ERIC G REGO RY/LEAH H UNT-H EN D RIX, E n fl e sh m e n t a n d
th e T im e o f E th ics. T a y lo r a n Illich o n th e P ara b le o f th e G o o d S a m a ritan , in :
CARLOS D . C OLORAD/JUSTIN D . K LA SSEN (H g.), A sp irin g to F u lln e ss in a S e c u lar A ge.
Essays on Religion and Theology in the W ork of Charles Taylor, N otre D am e
2014, 217–239.
32
Das heißt: Taylor lässt Ambivalenzen als Am bivalenzen stehen und verm eidet
deren A uflösung in großen teleologischen Verläufen. Stattdessen spricht er im -
mer wieder auffällig vage von »Entwicklungen«, »Effekten«, »Tendenzen«,
die sich »durchgesetzt« hätten.
21 Zu R echt bem erkt U lf Bohm ann: »[D ]iese
Vagheiten [sind] offenbar Teil der Strategie«.
22 M it stu pender Kenntnis ver-
weist Taylor auf historische und ideengeschichtliche Konstellationen, die Sä-
kularität begünstigt oder vorangetrieben haben. A ber es gibt nichtdie eine
Ursache, und der Epochenumbruch, der die Zeit um 1500 von der Gegen-
wart trennt, ist nach Taylor weder logisch-begrifflich oder aus historischer Ge-
setzm äß igkeit h erzu leiten , n och ist er als A u fstiegs- o d er A b stiegsge sch ich te
konstruierbar.
23 V ielm eh r kam es dazu , w eil zah llose k on tin gen te U m stän d e
zusam m entrafen. »Taylors stance on secularisation«, so kom m entiert John
Milbank, »is basically that it is not inevitable but that it has occured«.
24
Das bedeutet freilich nicht, dass Taylor eine wertfreie Darstellung anstre-
ben w ürde, im G egenteil. U lf Bohm ann hat für Taylors M ethode, w ie ich fin -
de, einen treffenden Begriff gefunden: Er bezeichnet sie als »w eiße G enealo-
gie«. A nders als die »schw arzen«, das heißt: dekonstruktionistisch-subversi-
ven G enealogien N ietzsches oder Foucaults verfolgt sie eine konstruktive A b -
sich t: E s geh t ih r u m d as gesellsch aftlich G u te u n d E rstreb en sw erte. D ieses
Gute ist allerdings, und das ist entscheidend, stets konkret und kontextuell.
Mit Blick auf das so verstandene Gute dient dann Taylors genealogische Me-
th o d e d a z u , S im p lifi z ieru n g e n , falsch e A llg e m ein h eiten u n d v e rm e in tlic h e
Undenkbarkeiten aufzubrechen.
21 Ein m öglicher Beleg unter vielen: TAYLO R, E in sä k u lare s Z e ita lte r, 7 2 8 .
22 ULF B OHM ANN, C h a rle s T a y lo rs M e n ta litä tsg e s c h ic h te a ls k ritisc h e G e n e a lo g ie , in :
ANDREAS BUSEN/ALE XA N D ER W EISS (H g.), Ansätze und M ethoden zur Erforschung
politischer Ideen, Baden-Baden 2013, 185–214, 203.
23 In so fern sch e in t e s m ir au ch te n d e n ziell irrefü h re n d , T ay lor m it B e rn d O b e rd orfer
als »H egelianer« (w en n auch als einen »historisch geläuterten«) zu klassifizieren
(BERN D O BERD O RFER, E x k a rn a tio n u n d g ea h n te F ü lle , 18). E s stim m t z w ar, d a ss T a y -
lo r v o r Ja h rz e h n te n e in v ie l b e a c h te te s B u c h ü b e r H e g e l g e sc h rie b e n h a t (CHARLES
TAY LO R, H e g e l. F ra n k fu rt a . M . 1 9 8 3 ). D a rin w ird H e ge ls P h ilo so p h ie a b e r g e ra d e
nicht »hegelianisch« erschlossen, sondern vielm ehr als w ichtigesSym ptom e in e s
Umbruchs in der europäischen Subjektivitätsgeschichte dargestellt,dessen größe-
rem Z u sam m en h an g T aylo r sp äter u n ter an d e rem in CHARLES T AYLO R, Q u e lle n d e s
Selbst, Frankfurt a. M . 1996 nachgegangen ist; die Kontinuitäten zu »Ein säkula-
res Z eitalter« lieg en , sch e in t m ir, au f d er H an d .
24 JOHN M IL B A N K , A C loser W alk on the W ild Side, in:MIC H A E L W ARNER, JONATHAN
VANANTW ERPEN, C RAIG C ALHOUN (H g .), V arie ties o f S e cu la rism in a S ec u lar A g e , C a m -
bridge M ass. 2010, 54–82: 55.
33
So tritt Taylors G eschichtserzählung für das N ichtlineare ein und durchkreuzt
darum im m e r w ied er lin e a re K o n stru ktio n en ; sie tritt e in fü r d a s, w a s re d u k -
tiv e V erein fac h u n ge n n oto risch u n te r d en T isc h falle n lasse n u n d ist darum
über w eite Strecken so faszinierend detailverliebt; sie tritt schließlich auch ein
fü r d ie k o n k re te S itu ie rth e it d e s g en e a lo g isc h e n E rz ä h le rs s e lb st u n d v e rsu c h t
darum gar nicht erst den Eindruck »um fassender« Vollständigkeit zu w e-
cken.
25 Bohm ann bem erkt dazu: »Taylor erzählt besonders m annigfaltige,
große G eschichten. Es geht ihm stets um das ›breitere‹, ›reichhaltigere‹ B ild,
nicht um den isolierten Eigenw ert von D etailstudien. D ie Bem ühungen rich-
te n sich so m it a u f e in k o m p lex e s G an ze s, d a s n u r als so lch es d en ›e ige n tli-
chen‹ Sinn entfaltet; sie fungieren typischerw eise als A nnäherun g an ein
kaum erfassbares Phänom en«.
26
Der Hang zum Unterkomplexen, Universal-Regelhaften, Linearen, Re-
duktiven, den Taylor unterlaufen m öchte, ist seinerseits ein Produkt der D y-
nam ik der REFO RM , die nach Taylor im Christentum und aus ihm heraus das
»Säkulare Zeitalter« hat entstehen lassen. O berdorfer beschreibt Taylors Sicht
dieser D ynam ik als »Verlust der Kontingenz«: »Das Ethos der Regelung hat
den Einzelfall elim iniert. D er Egalitarism us hat den Sinn für D ifferenzen, Viel-
fa lt, B e s o n d erh e ite n n iv ellie rt. D ie R e d u k tio n a u f d as K o gn itiv e h at d ie v ielfä l-
tig e n D im e n sio n e n d e r S in n lic h k e it en tw e rtet. D ie B e d e u tu n g k o n k re ter G e -
meinschaft für die Selbstbildung wird ausgeblendet; das ›poröse‹, umweltsen-
sib le, reso n an zo ffen e Selbst ist d em herm etisch en , se lb streferen ziellen , ›abg e -
pufferten‹ Subjekt gewichen. […]Selbst der Ü bergang zum M onotheism us
war […] erkauft […] durch eine Abstraktion des Gottesverständnisses, gleich-
sam ein e E n tw eltlich u n g G ottes, d ie d en K eim d es D eism u s sch on in sich
tru g .« 27
Wie schon gesagt: Das Problem dieser Lesart Taylors scheint mir darin zu
lie g e n , d a ss sie a u s d e ss e n G e n e a lo g ie d o c h w ie d e r e in e S u b s tra k tio n s -, g e -
nauer: eine Verlustgeschichte m acht. Eine solche w äre aber als bloßes G egen-
bild der Forschrittsgeschichte ebenso regelhaft, linear und reduktiv. Richtig
sch ein t m ir h in g egen , d ass T aylo r tatsäch lich für d as K on tin gen te P artei er-
greift. E r tut dies, ohne das U niversale und R eguläre gänzlich abzulehnen und
gerade deshalb hauptsächlich indirekt – näm lich durch die Form sein er G e-
sch ich tserzäh lu n g. Sein e A bsich t d abei ist n ich t, zu alten W elterfah ru n ge n zu -
rü c k zu k eh re n – ein so lch es U n terfan gen w ä re o h n eh in ve rge b lich . E s ge h t
25 Die »blinden Flecken« der Taylorschen Ideengeschichte insbesondere im Bereich
th e o log isch er L itera tu r sin d vo n v ielen K ritik e rin n en u n d K ritik e rn m it R e c h t be -
nannt w orden.
26 ULF B OHM ANN, C h a rle s T a y lo rs M e n ta litä tsg e sc h ich te , 2 0 2 .
27 BERN D O BERD O RFER, E x k a rn a tio n u n d g e a h n te F ü lle , 19.
34
Taylor vielm ehr darum , im H orizont unserer W elterfahrung zu einer neuen
Sensibilität fürs K onkrete, Leibhaftige, N ichtlineare beizutragen.
6 M issionare der Beunruhigung
Wie kann man nun vor diesem Hintergrund »Mission« im Säkularen Zeitalter
verstehen? H ierzu lohnt ein kurzer Blick auf den vorhin erw ähnten John M il-
bank. Er gilt als Begründer der postm odern-rom antischen, anglokatholisch ge-
prägten, in sich durchaus heterogenen Bew egung »Radical O rthodoxy«. Vor
dem H intergrund einer kritischen, bisw eilen äußerst zugespitzten und zuneh-
mend apokalyptischen Gegenwartsdiagnose tendiert Milbank tatsächlich zu
etw as, das m an als »unverblüm te N ostalgie« bezeichnen kann. Ähnlich w ie
Taylor hat er schon zw ei Jahrzehnte zuvor eine Ideengeschichte vorgelegt,
welche die Kontingenz der Übergangs zur Säkularität herausstellt.
28 M ilb an k
fre ilic h z ie h t a u s d ie se r K o n tin g e n z e in e n v o lu n ta ristisc h e n S c h lu ss: E r m e in t,
fro m m e G ru p p e n u n d K irc h e n k ö n n te n a ls g e ge n sä k u lare W id e rsta n d sg e -
meinschaften eine neue Ungebrochenheit erlangen. Nur so sei dem selbstzer-
störerisch en N ih ilism u s lib eral-säku larer G esellsch aften en tgegen zu treten .
Dieser Voluntarismus ist jedoch hochproblematisch. Auch wenn Säkularität
keine N otw endigkeit ist, folgt daraus nicht, dass ihre D ynam ik nach Belieben
aufzuhalten w äre. Zudem ist auch dem gegensäkularen W iderstand der sä-
kulare Kontext bereits vorgegeben . »D a s R e lig iöse « , sc h re ib t T a y lo r, » v e rh arrt
unauslöschlich am H orizont des Areligiösen – und um gekehrt«.
29
Charles Taylor seinerseits würdigt M ilbanks Ideengeschichte als komple-
mentären Versuch, »die seltsamen und komplexen Bedingungen des Glau-
bens in unserer Zeit« nachzuzeichnen.
30 Taylors Sich t d er G egenw art ist je-
doch w eit w eniger apokalyptisch, und ungleich vorsichtiger fallen auch seine
Überlegungen zu dem aus, was er »W iederherstellung der Sprache«31 n e n n t.
Zunächst erinnert Taylor daran, dass ein »goldenes Zeitalter« des C hristen-
tu m s w o h l k a u m je ex istiert h a b e n d ü rfte.32 Je d e G e n e ra tio n vo n G la u b en d e n
begegnetih re n Herausforderungen je auf neue W eise. Gerade dasverbind et
sie m itein an d er: Taylor bestim m t die Z eit u n d R au m ü b ergreifen d e »G em e in -
sch aft d er H eiligen « als »G em einsch aft gan z er Le ben sw e ge, gan ze r R o u ten
hin zu G ott«. Zu meinerRoute gehört dabei »ganz w esentlich m ein in eine
28 JOHN M IL B A N K , T h e o lo g y a n d so cia l th e o ry (1 9 9 0 ), 2 . A u fl . L o n d o n 2 0 0 6
29 TAYLO R, E in s ä k u lare s Z e ita lte r, 9 8 6 .
30 TAYLO R, E in s ä k u lare s Z e ita lte r, 1 2 0 4 ; 1 2 8 0 – 1 2 8 4 .
31 Ebd., 1257.
32 Ebd., 1232.
35
bestim m te historische O rdnung eingebettetes D asein m it seinen guten und
sein en sch le ch ten Seiten , in d eren R ah m en ich ein erseits verh arren u n d au s
dem ich m ich andererseits herausarbeiten m uß, um m ich auf die O rdnung
Gottes zuzubewegen. Das Eschaton m uß alle diese Routen mit ihren völlig
verschiedenen Landschaften und G efahren zusam m enbringen«. In diesem
Vertrauen , so Taylor w eiter, w ird das christliche Leben der G egenw art »nach
neuen und beispiellosen Routen suchen« m üssen.
33
Suchbew egungen dieser A rt schildert Taylor dann im letzten Abschnitt
sein es B u ch es als » B ek eh ru n gen «. D ass d ie P e rson en , d ie er darin vo rstellt,
durchw eg Katholiken sind, scheint m ir nicht sehr relevant; denn konfessio-
nelle Alleinstellungsm erkm ale w ie Kirche, Am t und Liturgie spielen für Taylor
keine Rolle. Ihm geht es um das persönliche Zeugnis. – Was ab er be zeu ge n
diese M enschen, w as ist ihre »M ission«? Ich habe m it Taylor darauf hin-
gew iesen, dass im säkularen Zeitalter jede Religiosität vom Irreligiösen heim -
gesucht ist. A ber w ahr ist auch das U m gekehrte: D as Irreligiöse bleibt vom
Religiösen heim gesucht. N icht nur das religiöse Subjekt ist ein gebrochenes,
son d ern au ch d as irreligiöse. Taylo r sprich t vo n ein er n ich t verd rän gb aren
»Beunruhigung«, die vom E rleben der Fülle ausgehen und M enschen beharr-
lic h d a ra n hindern kann, sich im »geschlossenen Rahm en« des D iesseits
einzurichten.
34 D ie M ensch en, d ie Taylor in sein em Sch lu sskapitel vorstellt,
sin d , w en n m an so w ill, » M issio n are« dieser B eu n ru h igu n g. V on ih r lässt sich
ergreifen, w er zur Suche nach neuen W egen des G laubens aufbricht. D ie A uf-
gabe von M ission im säkularen Zeitalter w äre dann: diese offene, nicht festzu -
le g e n d e , m it k e in e m H ie r u n d Je tz t z u frie d e n e B e u n ru h ig u n g – k o n k re t, k o n -
te x tu ell, leibh aftig – zu le b e n und w eiterzugeben.
33 Ebd., 1248.
34 TAYLO R, E in s ä k u lare s Z e ita lte r, 1 1 7 9 ff.
36