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Wozu braucht eine Hochschule eine Strategie?
Auftakt zum Ringseminar «Europa verstehen – Europa
mitgestalten»
Elena Wilhelm | 21. März 2017
Ich begrüsse Sie alle herzlich zu diesem Anlass und freue mich über das Interesse
am Thema «europäisch». Ich heisse vor allem auch Adolf Muschg von Herzen
willkommen. Es ist uns eine Ehre, dass Sie sich die Zeit nehmen, zumal Sie mit
Ihrem neuen Buch «Der weisse Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen»
derzeit von regem öffentlichem Interesse und unterwegs sind. Daneben predigen
Sie auch noch und geben Interviews hier und dort, schreiben Reden und Referate.
Adolf Muschg, Sie haben vergangene Woche den neu geschaffenen Preis der
Internationalen Hermann-Hesse-Gesellschaft erhalten. Herzliche Gratulation. Die
erstmals vergebene Auszeichnung wurde Ihnen verliehen für Ihre Verdienste um
den interkulturellen Dialog und die Auseinandersetzung mit dem Werk Hermann
Hesses. Sie stehen kurz vor Ihrem 83. Geburtstag und beeindrucken mit einer
ungeheuren Schaffenskraft und grossem Tatendrang.
Ich komme auf Sie zurück, Adolf Muschg, nachdem ich ein paar Gedanken zum
Sinn und Zweck einer Hochschulstrategie und über unsere Absichten mit dem
Ziel «europäisch» entfaltet habe.
Wozu braucht eine Hochschule eine Strategie?
Man kann über den Sinn einer Strategie für eine Hochschule streiten. Bis vor
fünfzehn, zwanzig Jahren, gab es diese noch nicht.
Sie sind eine Folge der Ökonomisierung des Bildungssystems, des gesteigerten
Wettbewerbs um Gelder und Anerkennung. Sie sind eine Folge des raschen
Wandels im Umfeld der Hochschulen und der zunehmenden Vereinnahmungen
durch Wirtschaft, Staat und Gesellschaft.
Und sie sind auch eine Konsequenz neuer Führungsstrukturen an Hochschulen,
der sogenannt «geführten» Hochschule. Diesen Begriff kann man nur in seinem
historischen Zusammenhang verstehen. Die geführte Hochschule ist Resultat der
gescheiterten Gruppenhochschule, welche in den 60er Jahren aus der meines
Erachtens berechtigten Kritik an der Ordinarienhochschule entstanden ist.
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Die Gruppenhochschule war in Deutschland am deutlichsten ausgeprägt. Eine
international zusammenberufene Expert/-innengruppe konstatierte 1977 in ihrem
Schlussbericht über die Hochschulen Deutschlands, dass man in keinem anderen
westlichen Industriestaat die Verwaltung von Universitäten Gruppen anvertraut
habe, die nur einen sehr beschränkten Sachverstand besäßen, der sie zur Leitung
einer so großen und komplexen Organisation befähige (vgl. Horst Albert Glaser
in: Die Zeit 1981).
Von der überholten Ordinarien- über die gescheiterte Gruppenhochschule sind
wir heute bei der sogenannt «geführten» Hochschule angelangt. Das sind
Hochschulen, deren Management selber in den meisten Fällen nicht mehr in
Lehre und Forschung tätig ist. Dieses Management hat die knifflige Aufgabe,
eine Expert/-innen-Organisation zu führen. Hochschulen, das ist allen bekannt,
können nicht geführt werden wie ein Unternehmen, denn Bildung und Forschung
widersetzen sich einer Marktlogik, in manchen Bereichen einer gezielten
Steuerung und damit eben auch strategisch erwünschten Entwicklungen. Für
Bildung und Forschung gibt es keine Erfolgsgarantien. Erfolg und Misserfolg
lassen sich zwar im Nachhinein unterscheiden, aber die Bedingungen für ihr
Eintreten können nicht im Voraus bestimmt und nicht unbedingt beeinflusst
werden. Wir haben als Lehrende und Forschende nur sehr bedingt Einfluss auf
den Bildungsprozess der Studierenden oder auf den Erfolg der Forschung.
Eine Hochschulstrategie – so sie denn sein muss und sie muss sein, aus diversen
Gründen – kann daher keine festgeschriebene Programmatik sein. Schon gar
nicht darf sie die Freiheit von Lehre und Forschung in gewissen Hinsichten
einschränken. Der Begriff Strategie an sich, ist für eine Hochschule ja eher
furchterregend. Er bedeutet die Kunst des Heerführers. Stratégos ist die antike
griechische Bezeichnung für ein militärisches Amt.
Was also kann und soll eine Strategie an einer Hochschule bewirken? Sie kann
und soll, so die Prämisse unserer langfristig gedachten Strategie, eine Bewegung
ermöglichen, sie kann eine – zumindest zum Zeitpunkt ihrer Entwicklung – als
sinnvoll und wünschenswerte Richtung des Suchens aufzeigen. Erst eine
Strategie ermöglicht, sich anders als nur reaktiv zu verhalten. Sie kann zum
Nachdenken anregen und sie kann Fragen aufwerfen. Sie kann zum fach- und
disziplinübergreifenden Diskurs ermuntern. Sie kann Stellung beziehen zu
spezifischen Fragen und Problemen unserer Welt. Sie kann eine gewisse
Kohärenz im Verständnis von Bildung und Forschung herstellen. Sie kann Kraft
und Orientierung verleihen. Sie kann zum Dialog, zur Lebendigkeit und zur
Zukunftsfähigkeit einer Hochschule beitragen.
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Unsere Strategie wirft tatsächlich Fragen auf. Wahrscheinlich wirft sie mehr
Fragen auf, als sie Antworten gibt. Niemand weiss ganz genau, was unter den
drei kryptischen Zielen transformativ, wissensbasiert und kompetenzorientiert
und europäisch zu verstehen ist. Auch die Strategieentwickler/-innen selber
wissen es nicht. So genau. Und das ist kein Versehen. Sondern eine bewusste
Entscheidung. Das klingt nach einer Ausrede. Aber die Vagheit ist gewollt und
spiegelt den Versuch, eine Strategie zu haben, die offen ist und dennoch nicht
nichtssagend.
Die Strategie ist bei vielen unserer Mitarbeitenden und Studierenden nicht
bekannt. Das ist nicht ungewöhnlich. Studien zeigen, dass sogar in
Profitunternehmen nur vier bis fünf Prozent der Mitarbeitenden die
Unternehmensstrategie überhaupt kennen.
Andere Mitarbeitende kennen die Strategie und ärgern sich über sie. Sie hätten
lieber eine konkrete Massnahmenplanung und genaue Definitionen dessen, was
mit transformativ oder europäisch gemeint ist. Sie hätten lieber Ziele, die smart
sind. Und smart meint: Spezifisch, messbar, ansprechend, realistisch, terminiert.
Oder sie hätten lieber Ziele, die keine Wertediskussion benötigen, die frei von
normativen Implikationen sind.
Die drei Ziele sind dies genau nicht. Sie sind ungenau und offen. Sie sind nicht
messbar und vielleicht sind sie sogar unrealistisch. Sie werfen zudem normative
Fragen auf. Sie spiegeln zu einem Teil ein nach wie vor humanistisches
Bildungsideal. Entsprechend hart wurde um sie gerungen.
Es gibt aber auch viele Mitarbeitende die genau diese Auslegebedürftigkeit
schätzen und willkommen heissen und sich in diesem offenen Raum neugierig
auf die Suche machen.
Was bedeutet nun unser strategisches Ziel «europäisch»?
Eine europäische Hochschule zu sein – wozu sich die Hochschulleitung übrigens
vor der Abstimmung über die Masseinwanderungsinitiative (9.2.2014)
entschieden hatte – wurde teilweise missverstanden als politisches Statement für
den Beitritt der Schweiz zur EU. Dem liegt die falsche Gleichschaltung von
Europa und der heutigen EU zugrunde. Oder das Ziel wurde missverstanden als
Begrenzung unserer internationalen Beziehungen auf Europa. Dem liegt eine
Verkürzung von europäisch auf einen geografischen Raum, ein spezifisches
Territorium zugrunde. Beides ist mit europäisch nicht gemeint. Aber was denn
dann?
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Die Schweiz ist historisch, kulturell und wirtschaftlich ein Teil von Europa und
in diesen Raum eingebunden. Die Geschichte und viele Institutionen und
Dienstleistungen, aber auch die Landwirtschaft und die Industrie der Schweiz
waren und sind ohne Europa und Europäer nicht denkbar. Es gäbe ohne sie die
Schweiz von heute nicht.
Zentrale künftige Herausforderungen tangieren die Schweiz und Europa
gleichermassen und können nicht mehr im nationalen Alleingang, sondern
müssen supranational gelöst werden. Bei der Bewältigung dieser
Herausforderungen spielen Bildung und Forschung eine wichtige Rolle. Das
betrifft Themen wie beispielsweise den Arbeitsmarkt und die Migration, die
Versorgungssysteme im Sozial- und Gesundheitsbereich, die Alterung der
Gesellschaften, Mobilitäts- und Raumentwicklungsfragen, Fragen des Umgangs
mit der Umwelt und unseren endlichen Ressourcen oder Fragen der sozialen
Kohäsion – eine derzeit höchst virulente und drängende Frage.
Im Hochschulkontext bilden die Entwicklungen der Europäischen Union für die
Schweiz das wichtigste Referenzsystem. Die Europäische Union beschäftigt sich
im Rahmen ihrer Strategie intensiv mit der Bedeutung der Bildung und
Forschung für die gesellschaftliche Zukunft und die Entwicklung der
europäischen Gesellschaften. Über verschiedene europäische Initiativen und
Programme entwickeln europäische Hochschulen Wissen über komplexe
Zukunftsfragen. Es kann nicht sein, dass die Schweizer Hochschulen hierbei nur
Zaungäste sind. Europas Probleme sind auch unsere Probleme und verlangen
auch von uns Lösungswege.
«Europäisch» referiert aber auch auf zentrale Werte Europas. Europa – und dazu
gehört selbstverständlich die Schweiz – versteht sich als ein Raum und eine
Kultur, die sich auf spezifische Werte beruft: Freiheit, Gleichheit, Säkularität und
Individualität. «Europäisch» impliziert die Freiheit des Denkens und Redens,
bedeutet die Gewährleistung von Rechtsstaatlichkeit und Gewaltentrennung, von
Demokratie und Menschenrechten.
Nun ist die konkrete Auslegung der drei Ziele Sache der Lehrenden und
Forschenden, der Departemente und Ressorts. Das Ressort Forschung
beispielsweise hat im letzten Jahr eine europäische Forschungsstrategie
entwickelt. Der Rektor hat erfolgreich die Aufnahme in die European University
Association beantragt. Diese Europäische Hochschulvereinigung hilft uns nicht
nur, unsere Interessen im europäischen Hochschulraum zu vertreten. Sie steht
auch ein für die zentralen Werte Europas und für offene Gesellschaften.
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Zum Ringseminar «Europa verstehen – Europa mitgestalten»
Mit dem Ringseminar «Europa verstehen – Europa mitgestalten», einem weiteren
kleinen Mosaikstein, wollen wir den Dialog und die Suchbewegungen
unterstützen. Ich danke an dieser Stelle allen an der Programmkonzeption
beteiligten Dozierenden und Studierenden. Wir haben Dozierende und
Forschende, die sich unermüdlich und mit viel Verve für die Überschreitung der
disziplinären und institutionellen Grenzen einsetzen. Ihnen sei das Seminar
gewidmet. Ich danke insbesondere auch Julia Oltmer, die den kritischen
externen Blick in das Programmteam eingebracht hat. Ich danke Carole Probst
und Christian Wassmer vom Team der Hochschulentwicklung. Und ich danke
den Künstlerinnen der Installation in der Halle: Karin Mairitsch (die gleichzeitig
unsere Referentin Qualitätsentwicklung ist), Katrin Odermatt und Daniella Tuzzi
fragen mit ihrer Arbeit «Flug des Frühlings» nach dem Zustand Europas und
seines Wertegefüges. Sie re-inszenieren mit ihrer Installation Handlungsmuster,
die in den Medien präsent sind und als Destabilisierungsfaktoren Europas und
europäischer Werte kolportiert werden. Sie sehnen sich nach einem Flug des
Frühlings, nach neuer Kraft, um den anstehenden Herausforderungen zu
begegnen. Die Exponate, deren Begehung und deren Umbau kontextualisieren
die medial dargestellten Ursachen neu: Es sind nicht «Flüchtlinge» oder
«Politiker/innen» oder «Eliten» oder «irgendwer», sondern wir selbst, die Spuren
hinterlassen und damit die Grenzen Europas und seiner Werte neu definieren
(vgl. Mairitsch et al. 2017).
Für das Ringseminar konnten wir interessante Europäer/-innen gewinnen: Ulrike
Guérot, die mit ihrem Entwurf eines neuen Europas der starken Regionen
unentwegt durch eben dieses reist. Philipp Blom, der eine neue Aufklärung für
Europa als unabdingbar hält. Julia Stamm, Peter Maassen und Antonio Loprieno,
die über das Hochschulgefüge Europas und die künftigen Transformationen von
Bildung und Forschung in Europa reden werden. Ilma Rakusa und Yoko Tawada,
die in einem literarischen Intermezzo über «das Europäische» diskutieren
werden.
Und natürlich Adolf Muschg, mit dem wir heute die Reihe eröffnen dürfen.
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Adolf Muschg: Ein Mensch des Fragens
Adolf Muschg, Sie haben sich uns als Referent aufgedrängt. Natürlich nicht
persönlich. Aber durch Ihre Beiträge zum Thema Europa und europäisch. Durch
Ihren Essay «Was ist europäisch?» und Ihre Gegenrede «Vergessen wir
Europa?»
In «Was ist europäisch?» geben Sie uns eine Antwort auf die aufgeworfene
Frage: «Die Schweiz.» Die Schweiz sei im Kern Europa. Die Schweiz sei immer
schon in Europa angekommen. Sie haben in Ihrem Büchlein «Was ist
europäisch?» bereits 2005 konstatiert, dass Europa nicht umhin kommen werde,
den nationalistischen Nachholbedarf einiger Länder zu integrieren (2005:31).
Europa, so schreiben Sie weiter, müsse ein kulturelles Projekt werden, oder es
werde sich auch politisch nicht halten lassen (2005:32). Die marktwirtschaftliche
Globalisierung sei zwar ein starker Motor. Der habe allerdings keine Bremsen
und sei steuerlos in seiner moralischen Neutralität. Das Regulativ dazu seien
Werte, denn das Soziale sei keine automatische Nebenwirkung des
unbeschränkten Wettbewerbs.
Hierfür schreiben Sie der Bildung eine zentrale Rolle zu (2005:33). Allerdings
hätten die Universitäten Ihre geschichtlich überragende und kulturell einmalige
Position preisgegeben, als sie die Humboldtsche Idee der lebensverbindlichen
und kunstgerechten Allgemeinbildung als Ballast über Bord warf, anstatt sie als
einzige Triebkraft eines qualitativen Wachstums zu erkennen und zu fördern
(ebd.). Adolf Muschg, Sie sind ein Kritiker der Bolognareform, wie wir auch
unlängst im Tagesanzeiger erfahren konnten. Sie erkennen in ihr mehr ein
Fitness-Training für den Markt, denn Bewusstwerdung durch Bildung. «Alles,
wofür ich zu leben gelernt habe», sagen Sie, (…) «beruht auf dem
entgegengesetzten Prinzip, auf dem Zweckfreien.» (Tagesanzeiger, 3.3.2017)
Insofern treffen Ihre Überlegungen ins Zentrum unseres Tuns: Bildung und
Europa. Der Titel Ihres heutigen Beitrags lautet: «Europa, was fangen wir damit
an?» Damit haben wir eine Trilogie von Fragen über Europa. Fragen aufwerfen
ist also auch in Ihrem Sinn. Denn ein gebildetes Bewusstsein bedeutet, wie Sie
dies formuliert haben, in einer Antwort bereits die nächste, vielleicht grössere
Frage zu erkennen (Muschg 2013:23). Daher kommt nach jeder Antwort wieder
eine Frage.
Wir freuen uns auf Ihren Beitrag und heissen Sie nochmals herzlich willkommen.
Es liegt mir nur Ihr Abstract vor. Sie werfen mitunter die Frage auf, ob Europa
«lediglich» einer neuen, guten Erzählung bedürfe oder aber ob es nochmals
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gründlich genug untergehen müsse. Wenn ich Ihre Schriften richtig interpretiere,
würde letzteres bedeuten: Teilung, Untergang und Metamorphose (vgl. 2005: 87)
Wir dürfen gespannt sein.
Quellen
Glaser, Horst Albert (1981). Narrenschiff auf dem Reformsee. In: Die Zeit. 1.
Mai 1981.
Muschg, Adolf (2005). Was ist europäisch? München: C. H. Beck Verlag.
Muschg, Adolf (2012). Vergessen wir Europa? Eine Gegenrede. Göttingen:
Wallstein Verlag.
Muschg, Adolf (2017). Der weisse Freitag. Erzählung vom Entgegenkommen.
München: C. H. Beck Verlag.
Mairitsch, Karin, Odermatt, Katrin & Tuzzi, Daniella (2017). Konzept «Flug des
Frühlings». Inszenierung – Rauminstallation – Performance