Content uploaded by Charlotte Sieber-Gasser
Author content
All content in this area was uploaded by Charlotte Sieber-Gasser on Jan 21, 2020
Content may be subject to copyright.
Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen
Kontext
Charlotte Sieber-Gasser *%
Dass das globale, regelgebundene Handelssystem gegenwärtig unter Druck steht,
wirkt sich auch auf die Handelsbeziehungen der Schweiz aus. Umso wichtiger ist
für die Schweiz die Möglichkeit zur zwischenstaatlichen Streitbeilegung über den
Rechtsweg. Für die Handelsbeziehungen mit der EU, der mit grossem Abstand
wichtigsten Handelspartnerin der Schweiz, steht bisher ein solcher Rechtsweg nicht
zur Verfügung. Dieser Beitrag untersucht, inwiefern das InstA angesichts der ab-
sehbaren globalen Herausforderungen zu einer langfristigen rechtlichen Absiche-
rung der Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU beitragen kann.
Aus schweizerischer Perspektive erscheinen zweifellos die rechtliche Absicherung
der durch das FHA erreichten Liberalisierung und dessen Modernisierung von
grosser Dringlichkeit.
I. Handelsbeziehungen Schweiz – EU im Kontext ..................................................... 2
1. Herausforderungen allgemein ............................................................................ 2
2. Handelspolitische Herausforderungen ............................................................... 3
II. Die WTO, der Handelskrieg und die Schweiz ......................................................... 4
1. Die Handelsbeziehungen der Schweiz und die WTO ......................................... 4
2. Der Handelskrieg und die Schweiz ..................................................................... 6
3. Auswirkungen des Handelskriegs auf die Beziehung Schweiz – EU ................. 8
III. Das InstA und die Handelsbeziehungen Schweiz – EU .......................................... 9
1. InstA: Bedingte Schiedsgerichtsbarkeit in den
Handelsbeziehungen Schweiz – EU ................................................................... 11
2. InstA: Modernisierung des FHA ....................................................................... 12
IV. InstA und die Zukunft europäischer Drittstaaten im EU-Binnenmarkt ............ 15
V. Schlussfolgerungen ................................................................................................ 16
Zitiervorschlag: Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im
globalen Kontext, in: sui-generis 2020, S. 1
URL: sui-generis.ch/116
DOI: https://doi.org/10.21257/sg.116
____________________________
* Dr. iur. Charlotte Sieber-Gasser (Charlotte.Sieber@unilu.ch), MA Development Studies, wissen-
schaftliche Oberassistentin und Lehrbeauftragte im Fachbereich Öffentliches Recht, Universität
Luzern. Herzlichen Dank, Simon Guilliard, für die wertvollen Anregungen und die kritische Durch-
sicht.
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter
gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 2
I. Handelsbeziehungen Schweiz – EU
im Kontext
Über den Entwurf des «Abkommens zur
Erleichterung der bilateralen Beziehun-
gen zwischen der Europäischen Union
und der Schweizerischen Eidgenossen-
schaft in den Bereichen des Binnen-
markts, an denen die Schweiz teilnimmt»
(InstA)
1
zwischen der Schweiz und der
Europäischen Union (EU) wird seit
Dezember 2018 schweizweit intensiv
diskutiert. In die politische Diskussion
über die Vor- und Nachteile des Ver-
tragsentwurfs fliessen Stellungnahmen
der öffentlichen Konsultation
2
sowie Er-
gebnisse diverser Rechtsgutachten
3
und
-expertisen
4
mit ein. Im Fokus der Dis-
____________________________
1
Abkommen zur Erleichterung der Bilateralen
Beziehungen zwischen der Europäischen Union
und der Schweizerischen Eidgenossenschaft in
den Bereichen des Binnenmarkts, an denen die
Schweiz teilnimmt (InstA) vom 23. November
2018 (inoffizielle Übersetzung; der Originaltext
auf Französisch ist massgebend).
2
EDA, Direktion für europäische Angelegenheiten,
Institutionelles Rahmenabkommen: Stellung-
nahmen, 2019.
3
Siehe Philipp Zurkinden, Institutionelles Ab-
kommen – Rechtsgutachten zuhanden der WAK-
N; Fragen zu Staatsbeihilfen und zum Freihan-
delsabkommen CH – EU sowie zu weiteren Fra-
gen, Prager Dreifuss, 19. Februar 2019; Nicolas
Levrat, Avis de droit du Professeur Nicolas Le-
vrat rédigé à la demande de l’Association Suisse
des locataires, 8. März 2019; Carl Baudenbacher,
Rechtsgutachten zur Streitentscheidungsrege-
lung des InstA zu Handen der Kommission des
Nationalrates für Wirtschaft und Abgaben WAK,
6. Februar 2019; Andreas Glaser, Gutachten zur
Unterstellung der Genehmigung des Institutio-
nellen Abkommens zwischen der EU und der
Schweiz unter das obligatorische Referendum,
3. Mai 2019.
4
Siehe auch Aussenpolitische Kommission des
Nationalrates, Öffentliche Anhörungen zum In-
stitutionellen Abkommen zwischen der Schweiz
und der Europäischen Union, Medienmitteilung
18. Dezember 2018; Christa Tobler/Jacques Beg-
linger, Brevier zum institutionellen Abkommen
Schweiz – EU, 12. Oktober 2018; Thomas Cottier,
Der Rechtsschutz im Rahmenabkommen
Schweiz–EU, Die Schweiz in Europa, 8. Januar
2019.
kussion steht dabei insbesondere die Be-
deutung des Abkommens für die staatli-
chen Beihilfen, die flankierenden Mass-
nahmen und die Unionsbürgerrichtlinie.
Der regulatorische und politische Kon-
text des Abkommens stand bisher weni-
ger im Fokus der Diskussionen. Dabei
deutet vieles darauf hin, dass insbeson-
dere die InstA-Bestimmungen betreffend
das Freihandelsabkommen von 1972 mit
der EU (FHA)
5
von zu grosser Dringlich-
keit sind, als dass ein zuletzt vorgeschla-
genes Interimsabkommen – ein sog.
«Memorandum of Understanding», wel-
ches den status quo der bilateralen Be-
ziehungen einfrieren würde, bis die Ver-
handlungen über Brexit konkretere Ge-
stalt angenommen haben
6
– als gangba-
rer Ausweg erschiene.
1. Herausforderungen allgemein
Die EU sieht sich gegenwärtig mit einer
«Polykrise» konfrontiert, in welcher die
verschiedenen Herausforderungen nicht
nur gleichzeitig auftreten, sondern sich
auch gegenseitig befeuern.
7
So droht
nach deren zwischenzeitlicher Bewälti-
gung eine neuerliche Verschärfung der
globalen Finanz- und Flüchtlingskrisen.
8
Aber auch die Auswirkungen der Klima-
____________________________
5
Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidge-
nossenschaft und der Europäischen Wirtschaftsge-
meinschaft vom 22. Juli 1972 (FHA; SR 0.632.401).
6
Michael Ambühl/Daniela Scherer, Ein Interims-
abkommen könnte den Rahmenvertrag mit der
EU retten, Gastkommentar, NZZ, 25. November
2019.
7
Zum von Jean-Claude Juncker geprägten Begriff
der Polykrise, siehe auch: Jean-Claude Juncker,
Speech by President Jean-Claude Juncker at the
Annual General Meeting of the Hellenic Federa-
tion of Enterprises (SEV), 21. Juni 2016.
8
Siehe z.B. Stefan Lehne, The EU Remains Unpre-
pared for the Next Migration Crisis, Carnegie
Europe, 3. April 2018; Wolfgang Münchau, The
Unbreakable, Unsustainable Eurozone, Financial
Times, 28. April 2019.
1
2
3
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 3
erwärmung
9
und der Digitalisierung
10
sind spürbar, hinzu kommen Spannun-
gen im Bereich der globalen Sicherheit.
11
Zusätzlich stellt der Brexit eine immense
politische, wirtschaftliche, aber auch re-
gulatorische Herausforderung dar –
nicht nur für die EU und das Vereinigte
Königreich Grossbritannien und Nordir-
land (nachfolgend: Vereinigtes König-
reich), sondern für ganz Europa, die
Schweiz inbegriffen. Die EU selbst befin-
det sich in einer Verfassungskrise, seit
sich einzelne Mitgliedstaaten über fun-
damentale Prinzipien des EU-Rechts
hinwegsetzen.
12
Gleichzeitig ist die EU
aber spätestens seit den letzten Parla-
mentswahlen politisch gespalten, was
notwendige Reformen erschwert.
13
Stabile politische und wirtschaftliche Be-
ziehungen zwischen der EU und ihren
europäischen Nachbarstaaten sind für
die Bewältigung dieser Herausforderun-
gen von grundlegender Bedeutung und
liegen somit im vitalen Interesse des ge-
samten Kontinents Europa. Nichtsdes-
totrotz gelingt es seit Jahren nicht, die
politischen und wirtschaftlichen Bezie-
hungen zwischen der EU und der
____________________________
9
Siehe z.B. Stephen Pope, Climate Change Divides
Europe, Forbes, 7. Juli 2019.
10
Siehe z.B. Bitten Thorgaard Sørensen, Digitalisa-
tion: An Opportunity or A Risk?, Journal of Eu-
ropean Competition Law & Practice, 2018,
S. 349-350.
11
Siehe z.B. Hans-Joachim Spanger, Ways out of
the Crisis: Recalibrating European Security,
PRIF Blog, 23. April 2019.
12
Siehe z.B. von Armin Bogdandy/Michael Ioanni-
dis, Das systemische Defizit. Merkmale, Instru-
mente und Probleme am Beispiel der Rechts-
staatlichkeit und des neuen Rechtsstaatlichkeits-
aufsichtsverfahrens, Zeitschrift für ausländisches
öffentliches Recht und Völkerrecht, 2014, S. 283-
328.
13
Siehe z.B. Sébastien Platon, European Elections,
European Values, and Brexit, Blog, DCU Brexit
Institute, 5. Juni 2019.
Schweiz auf ein neues rechtliches Fun-
dament zu stellen und damit für Rechts-
sicherheit und politische Stabilität zu
sorgen. Dies soll sich nun mit dem InstA
ändern.
2. Handelspolitische
Herausforderungen
Wie nachfolgend erläutert wird, ist das
drohende Auseinanderbrechen des re-
gelbasierten globalen Handelssystems
für die Einordnung des InstA in den glo-
balen Kontext von besonderer Bedeu-
tung.
14
In diesem Zusammenhang ist die
Schweiz zusammen mit anderen europäi-
schen Drittstaaten direkt davon betrof-
fen, dass die EU die Interessen ihrer
Mitgliedstaaten vor diejenigen des Kon-
tinents stellt. Dabei zeigt sich, dass die
EU bisher die Option nicht vorsieht, eu-
ropäische Drittstaaten ohne implizite Vo-
raussetzung einer (zukünftigen) EU- oder
EWR-Mitgliedschaft weitreichend in den
EU-Rechtsraum zu integrieren.
15
Sie tut
dies mit guten Gründen, denn eine Spal-
tung Europas in EU-Mitglieder und -
Nichtmitglieder würde sich langfristig
sowohl auf den Wohlstand, wie auch auf
das politische Gewicht Europas negativ
auswirken.
16
____________________________
14
Siehe z.B. Die Volkswirtschaft, Schwerpunkt:
Multilateralismus am Wendepunkt, 18. Juli
2019.
15
Benjamin Leruth/Stefan Gänzle/Jarle Trondal,
Exploring Differentiated Disintegration in a Post-
Brexit European Union, Journal of Common
Market Studies, 2019, S 1013-1030. Während As-
soziationsabkommen der EU teilweise über den
Rahmen eines einfachen Freihandelsabkommens
hinausgehen, so bleiben sie doch im Umfang
deutlich hinter dem EWR/den Bilateralen Ab-
kommen zurück.
16
Siehe auch Christina Eckes, Self-Rule in the 21st
Century: How UK Citizens Lose Influence
Through Brexit, Blog, DCU Brexit Institute,
13. August 2019.
4
5
6
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 4
Stabile Wirtschafts- und Rechtsbezie-
hungen zwischen der EU und deren eu-
ropäischen Nachbarstaaten stellen aber
gleichzeitig auch ohne die implizite Vo-
raussetzung einer zukünftigen EU- oder
EWR-Mitgliedschaft eine Chance dar:
Über die Wirtschaftsintegration in den
EU-Rechtsraum können die wirtschaftli-
chen Nachteile der Nichtmitgliedschaft
gemindert und kann die gemeinsame eu-
ropäische Stimme gegen aussen gestärkt
werden.
Der im InstA kodifizierte Ansatz zur Tei-
lintegration in den EU-Rechtsraum
kommt ohne implizite Voraussetzung
einer zukünftigen EU-Mitgliedschaft aus
und unterscheidet sich damit deutlich
vom Verhandlungskontext der Bilatera-
len Abkommen I und II. Sofern dieser
Ansatz auch langfristig und gegenüber
globalen handelspolitischen Herausfor-
derungen Bestand hat, birgt er damit das
Potenzial, Europa insgesamt zu stärken,
indem er europäischen Drittstaaten eine
stabile und zeitlich unbefristete Teilin-
tegration in den EU-Rechtsraum ermög-
licht.
II. Die WTO, der Handelskrieg und die
Schweiz
Aus strukturellen Gründen wirken sich
sowohl die politischen Entwicklungen
innerhalb der WTO wie auch der sog.
Handelskrieg zwischen den USA und
China auf die Handelsbeziehungen zwi-
schen der Schweiz und der EU aus. Bei-
des trägt dazu bei, dass sich die Dring-
lichkeit einer Modernisierung des FHA
zusätzlich erhöht.
1. Die Handelsbeziehungen der
Schweiz und die WTO
In Ergänzung zum FHA und den Bilate-
ralen Abkommen
17
mit der EU verfügt
die Schweiz über Freihandelsabkommen
mit fast allen für die Schweiz wichtigen
Export- und Importmärkten
18
sowie über
den minimalen Marktzugang weltweit,
welchen die WTO-Abkommen
19
sicher-
stellen. Die bi- und plurilateralen Frei-
handelsabkommen der Schweiz orientie-
ren sich in Struktur und Umfang am
multilateralen Rahmen der WTO-
Abkommen.
20
Die Durchsetzung der in den bi- und
plurilateralen Freihandelsabkommen ver-
einbarten Handelsregeln ist bisher we-
sentlich vom Streitbeilegungsverfahren
der WTO geprägt. Der Streitbeilegungs-
mechanismus der WTO ist ein zweistufi-
ges Verfahren, welches im Anschluss an
den Bericht eines ad-hoc eingesetzten
Panels den Parteien die Möglichkeit gibt,
den Entscheid an eine zweite Instanz,
den Appellate Body, weiterzuziehen.
Dessen Entscheidung ist letztinstanzlich
____________________________
17
Die Bilateralen Abkommen I (Personenfreizügig-
keit, Technische Handelshemmnisse, Öffentliches
Beschaffungswesen, Landwirtschaft, Forschung,
Luftverkehr und Landverkehr) traten 2002 in
Kraft. Die Bilateralen Abkommen II (Schen-
gen/Dublin, Automatischer Informationsaus-
tausch AIA, Betrugsbekämpfung, landw. Verar-
beitungsprodukte, MEDIA, Umwelt, Statistik,
Ruhegehälter und Bildung) traten 2005, 2006
und 2008 in Kraft. Siehe auch Matthias Oesch,
Die Europäisierung des schweizerischen Rechts,
NCCR Trade Regulation, Working Paper
No 2011/05, 2012.
18
Koen Berden/Anirudh Shingal/Charlotte Sieber-
Gasser, Verhandlungsposition der Schweiz bei
neuen Freihandelsabkommen nur leicht betrof-
fen, Die Volkswirtschaft, 4/2018.
19
Abkommen zur Errichtung der Welthandelsorga-
nisation vom 15. April 1994 (SR 0.632.20).
20
Siehe Charlotte Sieber-Gasser, Democratic Legit-
imation of Trade Policy Tomorrow, Jusletter,
9. November 2015.
7
8
9
10
11
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 5
und für beide Parteien bindend.
21
Das
Fallrecht in Streitfragen betreffend das
internationale Handelsrecht ist umfang-
reich und reicht mittlerweile über siebzig
Jahre zurück,
22
wodurch eine solide
Grundlage für die Rechtsdurchsetzung in
internationalen Handelsstreitigkeiten ent-
standen ist.
23
Während sich die Schweiz bei der
Anrufung der WTO-Streitbeilegungs-
institutionen bisher sehr zurückhaltend
gezeigt hat,
24
nutzen viele der übrigen
Mitglieder der WTO das Streitbeile-
gungsverfahren rege.
25
Von dieser regen
Nutzung der Streitbeilegungsverfahren
und dem zugrunde liegenden Konsens,
dass die Urteile der WTO-Streitbeilegungs-
instanzen grundsätzlich zu respektieren
sind, profitiert die Schweiz: Das Verfah-
ren der WTO stellt bisher sicher, dass
Handelsstreitigkeiten über den Rechts-
weg gelöst werden und nicht über
Machtpolitik.
26
____________________________
21
Siehe z.B. Werner Schroeder/Pascal Schonard,
Die Effektivität des WTO-Streitbeilegungs-
systems, RIW 9/2001, S. 658 ff.
22
Unter dem GATT-Abkommen von 1947 war das
Streitschlichtungsverfahren zunächst ein Verfah-
ren in einer Arbeitsgruppe, später dann ein ein-
stufiges ad-hoc Schiedsgerichtsverfahren: WTO,
Historic Development of the WTO Dispute Sett-
lement System, 2019. Siehe z.B. auch Andrew
Lang, The Judicial Sensibility of the WTO Appel-
late Body, The European Journal of International
Law, 2017, S. 1095 ff.
23
Nicolas Diebold/Matthias Oesch, Die Durchset-
zung von WTO-Recht durch Schweizer Unter-
nehmen, AJP, S. 1525 ff.
24
Matthias Oesch, Handelspolitische Schutzmass-
nahmen der EU und der Schweiz: Grundlagen,
Praxis, Abhängigkeiten, Swiss Review of Interna-
tional and European Law, 2019a, S. 151 ff.
25
Seit Inkrafttreten wurden über 551 Streitbeile-
gungsverfahren eröffnet. Siehe auch Ujal Singh
Bhatia, «Unprecedented challenges» confront
Appellate Body, chair warns, 22. Juni 2018.
26
Oesch, 2019a (Fn. 21).
Allerdings steht der WTO Appellate Body
bereits seit längerer Zeit in der Kritik.
Beanstandet wird insbesondere, dass das
Gericht seine Kompetenzen überschreite,
indem es 1) nationales Recht auslege, 2)
über die Auslegung der bestehenden Ab-
kommen hinaus neue Verpflichtungen
schaffe, und 3) die Tatsachenfeststellun-
gen in den erstinstanzlichen Urteilen ig-
noriere.
27
Versuche, das Streitbeile-
gungsverfahren entsprechend anzupas-
sen, scheiterten bisher am Einstimmig-
keitsprinzip der WTO.
28
Der Umstand, dass die USA bereits seit
2011 ihr Veto-Recht bei der Ernennung
von Richterinnen und Richtern des Ap-
pellate Body einsetzt, verdeutlicht die
Dringlichkeit einer Revision des WTO-
Streitbeilegungsverfahrens.
29
Spätestens
seit dem Amtsantritt von US-Präsident
Donald J. Trump 2017 verhindern die
USA konsequent die Ernennung von
neuen Richterinnen und Richtern.
30
Dies
hat dazu geführt, dass der Appellate Bo-
dy ab dem 11. Dezember 2019 nur noch
über einen – von eigentlich sieben – am-
tierenden Richter verfügt. Die zweite In-
stanz im WTO-Streitbeilegungsverfahren
____________________________
27
Ernst-Ulrich Petersmann, Between «member-
driven» WTO governance and «constitutional
justice»: Judicial dilemmas in GATT/WTO dis-
pute settlement, EUI Working Papers LAW
2018/04, European University Institute, S. 3-4.
28
Tetyana Payosova/ Gary C. Hufbauer/Jeffrey J.
Schott, The Dispute Settlement Crisis in the
World Trade Organization: Causes and Cures,
2018, Policy Brief 18-5, Peterson Institute for In-
ternational Economics PIIE, S. 3. Siehe auch
Caroline Glöckle/Aike Würdemann, Die Appella-
te Body-Krise der WTO – eine Analyse der US-
Kritikpunkte, EuZW, S. 976-982, 2018.
29
Gregory Shaffer/Manfred Elsig, Manfred/Marc A.
Pollack, US Threats to the WTO Appellate Body,
SSRN, 2017, S. 5.
30
William A. Reinsch/Jack Caporal/Jonas Heering,
Article 25: An Effective Way to Avert the WTO
Crisis?, Center for Strategic and International
Studies CSIS, 24. Januar 2019.
12
13
14
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 6
wurde somit (wenigstens temporär) ab
Dezember 2019 aufgehoben.
31
Weil sich aber gleichzeitig an der Rechts-
grundlage für das WTO-Streitbeilegungs-
verfahren nichts ändert, steht der unter-
liegenden Partei in einem WTO-
Streitbeilegungsverfahren weiterhin das
Recht zu, den Entscheid der Erstinstanz
an den Appellate Body weiterzuziehen.
32
Da dieser aber nicht mehr urteilen kann,
kann die unterliegende Partei damit das
Inkrafttreten des erstinstanzlichen Ent-
scheids auf unbestimmte Zeit verhin-
dern.
33
Dies würde sich auch auf die Rechtsmit-
tel auswirken, welche zur Verfügung ste-
hen, um dem WTO-Recht im Streitfall
zur Durchsetzung zu verhelfen: Ist ein
WTO-Mitglied nicht bereit, die im Streit-
beilegungsverfahren festgestellte Verlet-
zung seiner Verpflichtungen im WTO-
Recht innert angemessener Frist zu
beseitigen, steht es der obsiegenden Par-
tei zu, Retorsionsmassnahmen zu ergrei-
fen.
34
Solche Massnahmen umfassen
typischerweise die Aussetzung von Zuge-
ständnissen und anderen Verpflichtun-
gen, sowie Strafzölle. Die vorgesehenen
Massnahmen der obsiegenden Partei
können wiederum über ein entsprechen-
des WTO-Verfahren auf ihre Eignung
____________________________
31
Payosova et al., 2018 (Fn. 28); Peter Van den
Bossche, Farewell Speech of Appellate Body
Member Peter Van den Bossche, World Trade
Organization, 28. Mai 2019.
32
Art. 16 Abs. 4 der Vereinbarung über Regeln und
Verfahren für die Streitbeilegung (DSU), An-
hang 2 des Abkommens zur Errichtung der Welt-
handelsorganisation (SR 0.632.20).
33
Nicolas Lamp, Three Scenarios for the Future of
the WTO Appellate Body, or: Why WTO Mem-
bers Should Start Negotiating a DSU 2.0, 2019.
34
Art. 22 DSU.
und Verhältnismässigkeit geprüft wer-
den.
35
Allerdings steht den Mitgliedern die
Möglichkeit zur Ergreifung und Überprü-
fung von Retorsionsmassnahmen nur
offen, wenn zuvor ein Entscheid – ent-
weder des Panels oder des Appellate Bo-
dys – formell angenommen worden ist.
36
Solang der Appellate Body funktionsun-
fähig ist, steht deshalb der klagenden
Partei mangels rechtskräftigem Ent-
scheid kein Rechtsmittel zur Verfügung,
um gegen rechtswidrige Massnahmen
vorzugehen. Möglich ist deshalb, dass
WTO-Mitglieder in einem solchen Fall
entweder auf die Streitbeilegungsverfah-
ren in Freihandelsabkommen auswei-
chen, oder – und angesichts der derzeit
vorherrschenden handelskriegsähnlichen
Zustände wahrscheinlicher – in Missach-
tung ihrer DSU-Verpflichtungen den-
noch Retorsionsmassnahmen ergreifen.
37
2. Der Handelskrieg und die Schweiz
Um einen Wechsel hin zu einer zuneh-
mend von Machtpolitik geprägten
Rechtsauslegung und -durchsetzung im
WTO-Recht zu verhindern, bemühen
sich die WTO-Mitglieder um eine tempo-
räre Zwischenlösung. So wird beispiels-
weise Art. 25 DSU herbeigezogen, welcher
die Möglichkeit vorsieht, Handelsstrei-
____________________________
35
Siehe z.B. Diebold/Oesch, 2008 (Fn. 23); Robert
Hennicke, Die Überwachung der Durchführung
von Urteilen und Entscheidungen im Völkerrecht
am Beispiel der EMRK und des DSU der WTO,
MenschenRechtsMagazin, 2016, S. 56 ff. Zu den
Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Rechts-
durchsetzung über das WTO Streitbeilegungsver-
fahren und Retorsionsmassnahmen, siehe z.B.
Bernhard Zangl, Bringing Courts Back In: Norm-
durchsetzung im GATT, in der WTO und der EG,
Swiss Political Science Review, 2001, S. 49 ff.
36
Art. 22 Abs. 2 DSU.
37
Siehe auch Lamp, 2019 (Fn. 33).
15
16
17
18
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 7
tigkeiten über ein Schiedsverfahren zu
klären.
38
Andere Vorschläge gehen in
Richtung eines plurilateralen (also nicht
für alle WTO-Mitglieder bindenden) Ab-
kommens über die WTO-Streitbeilegung
39
,
oder in Richtung eines temporären Ver-
zichts auf die Berufungsinstanz.
40
Allen
vorgebrachten Vorschlägen mangelt es
allerdings an einem Mechanismus, wel-
cher dezidiert machtpolitisch agierende
Mitglieder in die Schranken zu weisen
vermag. Die USA haben sich bisher kei-
ner der verschiedenen Initiativen ange-
schlossen.
41
Auch die Schweiz beteiligt sich an den
Bemühungen um eine Revision des
WTO-Streitbeilegungsverfahrens.
42
Der
von der EU und Kanada beschlossenen
Interimslösung
43
hat sie sich bisher aber
noch nicht angeschlossen. Somit bleibt
unklar, welche Rechtsmittel der Schweiz
ab Januar 2020 auf multilateraler Ebene
offenstehen werden, um ihre Wirtschaft
vor diskriminierenden Massnahmen zu
schützen.
Dies betrifft auch das von der Schweiz
initiierte WTO-Streitbeilegungsverfahren
____________________________
38
Siehe z.B. Reinsch et al., 2019 (Fn. 30); Lamp,
2019 (Fn. 33); James Bacchus, Saving the WTO’s
Appeals Process, CATO At Liberty, 12. Oktober
2018.
39
Siehe z.B Jens H. Pohl, Blueprint for a Plurilat-
eral WTO Arbitration Agreement Under Arti-
cle 25 of the Dispute Settlement Understanding,
2018.
40
Für einen guten Überblick über die verschie-
denen Vorschläge siehe Garima Deepak WTO
Dispute Settlement – The Road Ahead, New York
University Journal of International Law and
Politics, 2019, S. 981 ff.
41
Deepak, 2019 (Fn. 40).
42
Siehe z.B. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO,
Positionen der Schweiz in der WTO.
43
Siehe Joint Statement by the European Union
and Canada on an Interim Appeal Arbitration
Arrangement, Brüssel, 25. Juli 2019.
gegen die von den USA seit März 2018
erhobenen zusätzlichen Zölle auf Stahl-
und Aluminiumprodukte.
44
Seit Februar
2019 berät das dafür eingesetzte Panel
den Fall.
45
Ein für frühestens Mitte 2020
erwartetes erstinstanzliches Urteil könn-
te rechtlich weiterhin an den voraussicht-
lich funktionsunfähigen Appellate Body
weitergezogen werden.
Sowieso ist fraglich, inwiefern Retor-
sions- oder Schutzmassnahmen über-
haupt der Durchsetzung der schweizeri-
schen Wirtschaftsinteressen dienen:
1. Retorsionsmassnahmen stehen recht-
lich erst nach einem endgültigen Ur-
teil zur Verfügung. Damit vergeht
zwischen Inkrafttreten der rechts-
widrigen Massnahmen bis zur Mög-
lichkeit, Gegenmassnahmen zu ergrei-
fen, viel Zeit. Wird die rechtswidrige
Massnahme aufgrund der Verurtei-
lung aufgehoben, kann der geschä-
digte Staat keine Kompensation für
den bereits entstandenen Schaden
fordern.
46
2. Retorsionsmassnahmen dienen dazu,
den durch die rechtswidrige Mass-
nahme entstandenen Schaden über
das Aussetzen von Verpflichtungen
und Zugeständnissen sowie über
Strafzölle zu kompensieren. Dies be-
dingt, dass mit den genannten Mit-
____________________________
44
Bundesrat, US-Importzölle auf Stahl und Alumini-
um: Schweiz leitet WTO-Streitbeilegungsverfahren
ein, Medienmitteilung, 10 Juli 2018; United Sta-
tes – Certain Measures on Steel and Aluminium
Products, DS556.
45
Siehe auch Matthew Kennedy, Why Are WTO
Panels Taking Longer? And What Can Be Done
about It?, Journal of World Trade, 2011, S. 221 ff.
46
Ausführlicher Diebold/Oesch, 2008 (Fn. 23),
S. 1532.
19
20
21
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 8
teln überhaupt eine Kompensation
erreicht werden kann.
47
3. Retorsionsmassnahmen dienen auch
dazu, zusätzlichen wirtschaftlichen
Druck zu schaffen, damit die rechts-
widrige Massnahme aufgehoben
wird. Grosse Wirtschaftsblöcke lie-
gen in dieser Hinsicht klar im Vor-
teil, weil sie über das Aussetzen von
Verpflichtungen und Zugeständnis-
sen rasch einen substanziellen wirt-
schaftlichen Druck aufbauen können,
während dies für kleinere Volkswirt-
schaften regelmässig schwierig bis
unmöglich ist.
4. Schutzmassnahmen sind temporäre
unilaterale und gegenüber allen
WTO-Mitgliedern geltende Mass-
nahmen, die dem unmittelbaren
Schutz der einheimischen Wirtschaft
gegen unfaire oder übermässige
Konkurrenz dienen.
48
Schutzmass-
nahmen bestehen typischerweise aus
Kontingenten oder Ausgleichszöllen
auf den Import der betroffenen Gü-
ter. Ist die einheimische Wirtschaft
als Teil einer globalen Wertschöp-
____________________________
47
So verfügt die Schweiz beispielsweise über einen
Handelsüberschuss auf Gütern von 25.37 Mrd.
CHF im Jahr 2018 mit den USA, aber über ein
Handelsdefizit auf Dienstleistungen von 5.6 Mrd.
CHF im Jahr 2018: Die Schweiz importiert 9%
des US-amerikanischen Exports an Computer-
und Datenverarbeitungs-Dienstleistungen, siehe
United States, International Trade Commission,
Recent Trends in U.S. Services Trade: 2018 An-
nual Report, 2018. Weil Retorsionsmassnahmen
aber grundsätzlich im betroffenen Sektor ergrif-
fen werden müssen, ist somit unklar, mit welchen
konkreten Massnahmen die Schweiz den Schaden
der zusätzlichen Zölle auf Stahl- und Aluminium-
produkten der USA kompensieren könnte. Siehe
auch Direktion für europäische Angelegenheiten
DEA, Schweiz – EU in Zahlen: Statistiken zu
Handel, Bevölkerung und Verkehr, Eidg. Depar-
tement für auswärtige Angelegenheiten, 2019.
48
Oesch, 2019a (Fn. 21), S. 163 ff.; Diebold/Oesch,
2008 (Fn. 23), S. 1532 ff.
fungskette auf den Import von Roh-
stoffen oder Teilprodukten aus dem
Ausland angewiesen, verteuern all-
fällige Schutzmassnahmen auch die
Produktion der einheimischen Wirt-
schaft und werden damit zum Eigen-
tor.
49
Zusammenfassend ist folglich festzuhal-
ten, dass selbst unter der Annahme, dass
WTO-rechtliche Massnahmen zur Verfü-
gung stehen, um die schweizerischen
Wirtschaftsinteressen im Alleingang
durchzusetzen, diese aus Gründen der
Exportabhängigkeit entweder nur be-
schränkte Wirkung entfalten oder der
einheimischen Wirtschaft sogar schaden
können. Für eine verhältnismässig klei-
ne, nicht in einen Staatenverbund à la
EU integrierte Volkswirtschaft wie die
Schweiz bleibt somit ein auf festen Re-
geln beruhendes WTO-System Grundvo-
raussetzung für die Gewährleistung der
Wirtschaftsinteressen. Fehlt der dafür
notwendige globale Konsens, gewinnen
Rechtsbeziehungen zwischen Gleichge-
sinnten, z.B. in Freihandelsabkommen,
an Bedeutung.
3. Auswirkungen des Handelskriegs
auf die Beziehung Schweiz – EU
Dass die gegenwärtige Krise im regelge-
bundenen Handelssystem weitreichende
Auswirkungen für die Schweiz hat, zeigte
____________________________
49
Unilaterale Kontingente oder Ausgleichszölle als
Schutzmassnahmen gegen die zusätzlichen Zölle
auf Stahl- und Aluminiumprodukte der USA
würden beispielsweise die Produktion von Stahl-
und Aluminiumprodukten in der Schweiz verteu-
ern und damit der Wettbewerbsfähigkeit der be-
troffenen schweizerischen Industrien schaden.
Unilaterale Schutzmassnahmen stehen grund-
sätzlich aus wirtschaftlichen Gründen nur dann
sinnvollerweise zur Verfügung, wenn die einhei-
mische Produktion nicht auf den Import aus dem
Ausland angewiesen ist.
22
23
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 9
sich auch Anfang 2019, als die EU in Re-
aktion auf die zusätzlichen Zölle auf
Stahl- und Aluminiumprodukte der USA
unilaterale Schutzmassnahmen in Kraft
setzte. Die Schweiz bemühte sich erfolglos
darum, von den EU-Schutzmassnahmen
ausgenommen zu werden:
50
Ausgenom-
men sind einzig die Mitgliedstaaten des
EWR und Entwicklungsländer.
51
Während die Schutzmassnahmen der EU
mutmasslich im Einklang mit WTO-
Recht erlassen worden sind,
52
sind sich
die EU und die Schweiz uneinig darüber,
ob die Massnahmen auch mit Art. 26
i.V.m. Art. 27 FHA vereinbar sind.
53
Die
Frage wird weiterhin im Gemischten
Ausschuss behandelt; weil das FHA bis-
her kein Streitbeilegungsverfahren vor-
sieht, kann die Schweiz allerdings kein
Rechtsmittel ergreifen, um die Verein-
barkeit der EU-Schutzmassnahmen mit
dem FHA zu klären.
54
Die Frage bleibt
____________________________
50
Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, EU-
Massnahmen auf Stahl- und Aluminiumimpor-
ten, 2019.
51
Durchführungsverordnung (EU) 2019/159 der
Kommission vom 31. Januar 2019 zur Einführung
endgültiger Schutzmaßnahmen gegenüber den
Einfuhren bestimmter Stahlerzeugnisse.
52
Vereinzelt wird auch innerhalb der WTO infrage
gestellt, ob die Voraussetzungen für den Erlass
von Schutzmassnahmen erfüllt sind, siehe WTO,
Members Review Long List of Safeguard Actions
at Committee Meeting, 29. April 2019.
53
Art. 26 FHA besagt: «Bei ernsten Störungen in
einem Wirtschaftszweig oder bei Schwierigkeiten,
die regional zu einer schwerwiegenden Ver-
schlechterung der wirtschaftlichen Lage führen
können, kann die betroffene Vertragspartei ge-
mäss den in Artikel 27 festgelegten Vorausset-
zungen und Verfahren geeignete Massnahmen
treffen.» Siehe auch SECO (Fn. 50) und Durch-
führungsverordnung (EU) 2019/159 (Fn. 51),
E. 196.
54
Ausführlicher dazu Oesch, 2019a (Fn. 21),
S. 168 ff.; Art. 27 FHA sieht die Möglichkeit vor,
Schutzmassnahmen zu ergreifen, wenn sich der
Gemischte Ausschuss nicht innerhalb von
drei Monaten auf ein Vorgehen einigen kann. Aus
den obengenannten wirtschaftlichen Gründen
aktuell, denn weitere Schutzmassnahmen
der EU als Reaktion auf die Handelspoli-
tik der USA sind absehbar.
55
III. Das InstA und die
Handelsbeziehungen Schweiz – EU
Generell ist mit der eingeschränkten –
oder temporär aufgehobenen – Streitbei-
legung in Handelsfragen durch die WTO
absehbar, dass sich der Fokus von der
multilateralen Ebene auf die bi- und
plurilaterale Ebene verschiebt. Damit
gewinnen die Streitbeilegungsmecha-
nismen in Freihandelsabkommen an
Wichtigkeit. Auch die Schweiz sieht in ih-
ren Freihandelsabkommen Streitbeile-
gungsverfahren vor. Wie sich zeigt, ist
das FHA heute das einzige Handelsab-
kommen der Schweiz,
56
das für die
Streitbeilegung keine Schiedsgerichts-
barkeit vorsieht:
bietet diese Rechtsoption der Schweiz allerdings
keine Abhilfe.
55
Handelszeitung, Trump macht «Witz» zu 25-
Prozent-Zöllen auf deutsche Autos, 3. August
2019.
56
Ganz ohne Verweis auf Streitbeilegung: Schweiz
– Färöer, Art. 8.
24
25
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 10
Während die Schweiz mit dem möglichen
Wegfall der WTO-Streitbeilegungsver-
fahren in Bezug auf schätzungsweise 24%
des Handels mit Gütern auf ein Schieds-
verfahren in einem Freihandelsabkom-
men zurückgreifen kann, steht diese Ab-
sicherung für die übrigen 60% des
Schweizer Güterhandels mit der EU, wie
auch für die 12% mit den USA nicht zur
Verfügung.
57
Illustrativ dafür, was das fehlende Streit-
beilegungsverfahren im FHA für die
Schweiz bedeuten kann, ist der sog. Steu-
erstreit: Die EU erachtete 2007 bestimm-
te kantonale Steuererleichterungen für
Holding- und verwandte Gesellschaften
in der Schweiz als Verstoss gegen das
FHA. Ob sich die EU-Auslegung des
FHAs in einem Streitbeilegungsverfahren
durchgesetzt hätte, bleibt bis heute
____________________________
57
Shingal Berden/ Charlotte Sieber-Gasser, 2018,
Abb. 2; Direktion für europäische Angelegenhei-
ten DEA, Schweiz–EU in Zahlen: Statistiken zu
Handel, Bevölkerung und Verkehr, Juni 2019.
höchst fraglich.
58
Dennoch hatte sich die
Schweiz letztendlich aus politischen und
wirtschaftlichen Gründen mit der EU da-
rauf geeinigt, die fraglichen Steuerer-
leichterungen abzuschaffen.
59
Letztere
wurden in einem über mehrere Jahre
dauernden Prozess schliesslich mit der
vom Volk im Mai 2019 angenommenen
STAF-Vorlage abgeschafft.
60
Ein Streit-
beilegungsverfahren hätte der Schweiz
2007 die Möglichkeit eröffnet, sich auf
dem Rechtsweg gegen die fragwürdige
EU-Auslegung des FHAs zur Wehr zu
setzen, womit die rechtliche Seite des
sog. Steuerstreits somit innerhalb weni-
ger Monate hätte geklärt werden können.
____________________________
58
Philipp Roth, Der Steuerstreit zwischen der
Schweiz und der Europäischen Union, Der Treu-
händer 2010, S 721 ff.
59
Insgesamt dauerte der Steuerstreit über 10 Jahre,
siehe z.B. Simon Hirsbrunner, Knnte die
Schweiz ein Verbot staatlicher Beihilfen verkraf-
ten?, Zeitschrift für Europarecht, 2017, S. 60 ff;
Thomas Linder/Cyrill Diefenbacher, Darstellung
der EU-Regionalbeihilferegelungen und Schluss-
folgerungen fr Steuererleichterungen in der
Schweiz, Archiv für Schweizerisches Abgabe-
recht, 2014/15, S. 565 ff.
60
Eidgenössisches Finanzdepartement, Steuerre-
form und AHV-Finanzierung (STAF), 2019.
26
27
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 11
1. InstA: Bedingte Schiedsgerichts-
barkeit in den Handelsbeziehungen
Schweiz – EU
Das InstA kommt damit grundsätzlich
zur richtigen Zeit, denn es soll mit einem
Streitbeilegungsverfahren zu einer höhe-
ren Rechtssicherheit in den bilateralen
Wirtschaftsbeziehungen beitragen. Das
FHA (und damit der Güterhandel) wurde
allerdings auf Wunsch der Schweiz
grundsätzlich vom Anwendungsbereich
des InstA ausgenommen.
61
Der Bundes-
rat ist sich aber der Nachteile des im
FHA fehlenden Streitbeilegungsverfah-
rens bewusst:
62
Fr die Interimsphase ab Inkrafttreten
des InstA bis zur Inkraftsetzung eines
allflligen modernisierten FHA sieht
die Erklrung die Mglichkeit vor, den
Streitbeilegungsmechanismus des Ins-
tA auch im Bereich des FHA [...]
zu nutzen [...]. Voraussetzung ist, dass
beide Parteien im konkreten Streitfall
damit einverstanden sind. Die Nut-
zung des InstA-Streitbeilegungs-
mechanismus unter dem bestehenden
FHA wre grundstzlich auch im Inte-
resse der Schweiz.
Mit der Ratifikation des InstA bestünde
folglich die Option, z.B. ein Streitbeile-
gungsverfahren über die Vereinbarkeit
der EU-Schutzmassnahmen mit dem
FHA zu initiieren, unter der Vorausset-
zung, dass die EU ihr Einverständnis da-
zu gibt. Ob ein solches Verfahren im In-
teresse der EU wäre, ist bisher unklar.
____________________________
61
Erläuterungen des Bundesrates zum Institutio-
nellen Abkommen Schweiz–EU, 16. Januar 2019,
S. 3.
62
Ibid., S. 16.
Ebenso bleibt fraglich, ob sich die
Schweizer Auslegung des FHAs in Bezug
auf die EU-Schutzmassnahmen durch-
setzen würde. Dass die EU-Schutz-
massnahmen grundsätzlich mit dem
WTO-Recht vereinbar sein dürften, deu-
tet jedenfalls darauf hin, dass sie grund-
sätzlich auch mit ihren neueren Freihan-
delsabkommen vereinbar sind, sofern
diese in Bezug auf Schutzmassnahmen
weitgehend mit dem WTO-Recht über-
einstimmen.
63
Die Besonderheit des FHAs liegt darin,
dass das Abkommen 1972 abgeschlossen
worden ist, und damit mehr als 20 Jahre
vor Inkrafttreten des WTO-Abkommens
über Schutzmassnahmen.
64
Demnach
war es den Vertragsparteien zum Zeit-
punkt der Verhandlungen unmöglich, die
entsprechenden Bestimmungen des
WTO-Rechts in das FHA zu inkorporie-
ren.
65
Die Schweiz beruft sich in dieser
Frage also auf eine gewissermassen ver-
altete Bestimmung, welche es in dieser
Form heute so in anderen Freihandels-
abkommen nicht mehr gibt. Somit ist
vorliegend strittig, ob die EU die im FHA
für den Erlass von Schutzmassnahmen
vorgesehenen Verfahrensbestimmungen
____________________________
63
Dies ist beispielsweise der Fall in Art. 3.1, EU-
Singapur; Art. 22, EU-Israel; und in Art. 3.2, EU-
Südkorea.
64
Zu prüfen wäre demnach auch, ob nach den Re-
geln von Art. 30 der Wiener Vertragsrechtskon-
vention nicht sowieso die Bestimmungen des
WTO-Abkommens über Schutzmassnahmen an-
wendbar sind. Siehe Wiener Übereinkommen
über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969
(SR 0.111).
65
Auch die Schweiz inkorporiert in neueren Ab-
kommen üblicherweise die Bestimmungen über
Schutzmassnahmen der WTO-Abkommen, siehe
z.B. Art. 18 Ziff. 3, EFTA-Chile; oder Art. 20,
Schweiz-Japan.
28
29
30
31
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 12
eingehalten hat – und nicht, ob Schutz-
massnahmen per se zulässig sind.
66
Weil es sich beim FHA um ein Freihan-
dels- und nicht um ein Marktintegrati-
onsabkommen handelt, erscheint die im
InstA vorgesehene Möglichkeit zur Anru-
fung des Europäischen Gerichtshofs
(EuGH) unnötig. Die Zuständigkeit des
EuGH entspricht auch nicht dem übli-
chen Streitbeilegungsverfahren in ande-
ren Freihandelsabkommen der EU.
67
Unter diesem Gesichtspunkt ist nachvoll-
ziehbar, weshalb der Bundesrat verlangt
hat, dass das FHA vom InstA ausge-
nommen bleibt.
Dennoch bleibt offen, weshalb der
Bundesrat nicht im Interesse der Rechts-
sicherheit in die – zumindest vorüberge-
hende – Anwendbarkeit des InstA-
Streitschlichtungsverfahrens für das FHA
eingewilligt hat: Der EuGH wird grund-
sätzlich vom InstA-Schiedsgericht nur
beigezogen in Auslegungsfragen zu
Rechtsbegriffen des EU-Rechts.
68
Da das
FHA – anders als etwa das Luftverkehrs-
____________________________
66
Der Bundesrat antwortete auf die Frage, wie die
Ungleichbehandlung der Schweizer Stahlindust-
rie gegenüber den EWR-Staaten mit den Bilatera-
len Abkommen vereinbar sei, wie folgt: «Der Wa-
renverkehr zwischen der Schweiz und der EU
wird durch das Freihandelsabkommen von 1972
geregelt. Dieses Abkommen verbietet (im Gegen-
satz zum EWR-Abkommen) die Anwendung von
handelspolitischen Schutzmassnahmen nicht und
enthält auch keine Sonderbestimmungen über
den Handel mit Stahlprodukten. Massnahmen,
welche Einfuhren beeinträchtigen, müssen ge-
mäss dem Abkommen allerdings gewisse Voraus-
setzungen erfüllen (u.a. Schutz überwiegender öf-
fentlicher Interessen, Verhältnismässigkeit).»
Antwort des Bundesrats vom 17. August 2016, In-
terpellation Sauter (IP 16.3508).
67
Siehe auch Christopher Vajda, The EU and
Beyond: Dispute Resolution in International
Economic Agreements, The European Journal of
International Law, 2018, S. 205 ff.
68
Art. 10 Ziff. 3 InstA.
abkommen von 1999 –bekanntlich keine
Rechtsübernahme von EU-Recht um-
fasst,
69
entspräche das InstA-Schieds-
gericht in Bezug auf das FHA de facto
einem gewöhnlichen Schiedsgericht, wie
es die Schweiz auch in ihren anderen
Freihandelsabkommen vorgesehen hat.
2. InstA: Modernisierung des FHA
Geht es nach dem vorliegenden Entwurf
des InstA, so werden innerhalb von
sechs Monaten nach Unterzeichnung des
InstA Verhandlungen über die Moderni-
sierung des FHAs aufgenommen.
70
Diese
Absichtserklärung findet sich auch in der
Präambel des InstA, in welcher der ge-
meinsamen Überzeugung Ausdruck ver-
liehen wird, dass die Modernisierung des
FHA erforderlich sei.
71
In der das InstA
ergänzenden «Gemeinsamen Erklärung
EU-Schweiz zu den Handelsabkommen»
(Gemeinsame Erklärung) wird die in der
Präambel erwähnte Absichtserklärung
weiter ausgeführt.
So präzisiert Absatz 6 konkret, welche
Bereiche die angestrebte Modernisierung
des FHAs betrifft:
72
____________________________
69
Mit Ausnahme von Protokoll Nr. 3 zum FHA
(Ursprungsprotokoll). Siehe auch Bundesrat, Be-
richt des Bundesrates in Beantwortung des Pos-
tulats Keller-Sutter [13.4022] «Freihandelsab-
kommen mit der EU statt bilaterale Abkom-
men», Juni 2015.
70
InstA, Gemeinsame Erklärung EU-Schweiz zu
den Handelsabkommen, Ziff. 11.
71
InstA, Präambel, para. 4: «In der Überzeugung,
dass der kontinuierliche und ausgewogene Aus-
bau der Wirtschafts- und Handelsbeziehungen
zwischen den Parteien auch eine Modernisierung
der Instrumente erfordert, die der wirtschaftli-
chen Beziehung zwischen der Europäischen Uni-
on und der Schweiz zugrunde liegen, darunter
das 1972 unterzeichnete Freihandelsabkommen
(FHA 1972) […]».
72
InstA, Gemeinsame Erklärung EU-Schweiz zu
den Handelsabkommen, Ziff. 6.
32
33
34
35
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 13
• Marktzugang und Warenverkehr;
• Anwendung von handelspolitischen
Massnahmen zwischen den Parteien,
insbesondere im Bereich von
Schutzmassnahmen;
• Erleichterung des Austauschs und
der Zusammenarbeit im Zollwesen,
einschliesslich des koordinierten
Grenzmanagements;
• Warenursprung: Vereinfachung der
Regeln;
• Bestimmungen zur Liberalisierung
des Handels mit Dienstleistungen
und der Investitionen unter Beibe-
haltung der einschlägigen allgemei-
nen Ausnahmen;
• Schutz des geistigen Eigentums;
• Soziale und ökologische Dimension
der nachhaltigen Entwicklung, Kli-
mawandel;
• Beschaffungswesen;
• Verbesserung der Mechanismen zur
gegenseitigen Anerkennung von
Konformitätsbewertungen;
• Staatliche Beihilfen.
Der damit skizzierte Umfang eines mo-
dernisierten FHAs entspricht demjenigen
von modernen Handelsabkommen der
EU, aber auch der Schweiz und der
EFTA. Er geht allerdings auch in allen
erwähnten Bereichen über den bestehen-
den Umfang des FHA hinaus. Eine Mo-
dernisierung des FHA käme somit – je
nach Verhandlungsverlauf – einem Ab-
kommen im Umfang von CETA oder
EFTA-Ecuador nahe, was nicht zuletzt
auch dem gegenwärtig diskutierten Ent-
wurf für die künftigen Beziehungen zwi-
schen der EU und dem Vereinigten Kö-
nigreich entspricht.
73
Neben der Modernisierung des FHAs
wird auch die Anwendbarkeit der InstA-
Streitbeilegung für Handelsstreitigkeiten
basierend auf dem bestehenden und dem
modernisierten FHA sowohl in der Prä-
ambel des InstA, wie auch in der gemein-
samen Erklärung über Handelsabkommen
explizit genannt.
74
Demnach würden, je
nach Umfang der Marktintegration, wel-
che aus einem modernisierten FHA re-
sultiert, die Mehrzahl der Bereiche des
modernisierten FHAs vollumfänglich
dem InstA unterstellt werden.
Weder das InstA noch die Gemeinsame
Erklärung oder die Erläuterungen des
Bundesrats schaffen Klarheit darüber,
welche Teile des modernisierten FHAs
dies betreffen dürfte und welcher Streit-
beilegungsmechanismus – falls über-
haupt – vorgesehen würde für die nicht
dem InstA unterstellten Bereiche des
modernisierten FHAs.
Auf den ersten Blick ist nicht ersichtlich,
weshalb der EuGH beigezogen werden
müsste in Streitfragen basierend auf ei-
nem Abkommen nach dem Vorbild von
CETA oder von EFTA-Ecuador. Der ent-
sprechende Hinweis sowohl in der Prä-
ambel des InstA, wie auch in der Ge-
meinsamen Erklärung deutet folglich da-
rauf hin, dass der anvisierte Umfang der
Modernisierung wahrscheinlich über den
Rahmen von CETA oder EFTA-Ecuador
hinausgehen und neben zwischenstaatli-
____________________________
73
Siehe beispielsweise Lisa O’Carroll, Can UK get
«super Canada-plus» trade deal with EU by end
of 2020?, The Guardian, 12. November 2019.
74
InstA, Präambel, para. 4; InstA, Gemeinsame
Erklärung EU-Schweiz zu den Handelsabkom-
men, Ziff. 9.
36
37
38
39
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 14
chen Verpflichtungen auch Rechtshar-
monisierung umfassen würde. Andern-
falls würde die Bereitschaft der Schweiz,
die Zuständigkeit des EuGH in einem
modernisierten FHA anzuerkennen, im
Widerspruch zur bisherigen Politik ste-
hen.
Der Bundesrat bezeichnet die Gemein-
same Erklärung allerdings insgesamt als
«rechtlich nicht verbindlich».
75
Die
Rechtsnatur eines internationalen Akts
wird durch den Willen der Parteien be-
stimmt und geht aus dem Text hervor.
76
Neben den Erläuterungen des Bundes-
rats ist deshalb zu beachten, dass Teile
der Gemeinsamen Erklärung so formu-
liert sind, dass sie einen gemeinsamen
Willen zur Verbindlichkeit nahelegen
und der Präzisierung von einzelnen Best-
immungen im – rechtlich verbindlichen
– InstA dienen.
77
Vergleichbar ist die Gemeinsame Erklä-
rung somit mit der «Political Declarati-
on», welche in den Verhandlungen über
den Brexit dem Entwurf des Withdrawal
Agreement angehängt ist. Die Political
Declaration legt dar, wie die zukünftigen
Beziehungen zwischen der EU und dem
Vereinigten Königreich ausgestaltet sein
dürften. Es ist damit ein per se nur poli-
tisch verbindliches Dokument. Da aber
____________________________
75
Erläuterungen des Bundesrats zum Institutionel-
len Abkommen Schweiz-EU, 16. Januar 2019,
S. 15.
76
Exemplarisch dazu Claude Schenker, Praxisleit-
faden Völkerrechtliche Verträge, Direktion für
Völkerrecht, EDA, Ausgabe 2015, Bern, S. 4.
77
So beispielsweise zur Erforderlichkeit der Mo-
dernisierung des FHA in InstA, Präambel, para. 4
i.V.m. InstA, Gemeinsame Erklärung EU-Schweiz
zu den Handelsabkommen Ziff. 6; zur Unterstel-
lung des modernisierten FHA unter das InstA in
InstA, Präambel, para. 4 i.V.m. InstA, Gemein-
same Erklärung EU-Schweiz zu den Handelsab-
kommen Ziff. 9.
Art. 184 des Withdrawal Agreement
(Stand: November 2019) die Parteien zu
Verhandlungen über die künftigen Be-
ziehungen zwischen der EU und dem
Vereinigten Königreich nach Treu und
Glauben («in good faith») verpflichtet,
78
erhält die zunächst nur politisch verbind-
liche Political Declaration indirekt auch
rechtliche Verbindlichkeit.
79
Einen identischen Verweis auf Treu und
Glauben fehlt im InstA. Hingegen tritt
mit Verabschiedung der Gemeinsamen
Erklärung diese an die Stelle eines be-
gründeten Antrags über den Ausbau der
durch das FHA geschaffenen Beziehun-
gen nach Art. 32 FHA. Demnach würde
der Gemischte Ausschuss des FHA beauf-
tragt, den Antrag zu prüfen und Empfeh-
lungen zur Einleitung von Verhandlun-
gen auszuarbeiten.
80
Während sich der
Gemischte Ausschuss folglich immer
noch auf ein konkretes Verhandlungs-
mandat einigen müsste, so würde er sich
aber wenigstens von den verbindlich
formulierten Teilen der Gemeinsamen
Erklrung («… les signataires convien-
nent …» in Ziff. 9 und Ziff. 10) nicht
mehr vollständig lösen können.
81
Über die Präambel im InstA und die
Verwendung der Gemeinsamen Erklä-
rung als begründeten Antrag gemäss
Art. 32 FHA ist der in der Gemeinsamen
Erklärung abgesteckte zeitliche und in-
____________________________
78
Siehe z.B. House of Commons Library, The Politi-
cal Declaration on the Framework for the Future
EU-UK Relations, 30. November 2018; Art. 184
Withdrawal Agreement, Stand Oktober 2019.
79
Siehe z.B. BrexitCentral, The Political Declara-
tion is not a vague wish list, but an attempt to
bind the UK to EU policies, 20. Februar 2019.
80
InstA, Gemeinsame Erklärung EU-Schweiz zu
den Handelsabkommen Ziff. 11 i.V.m. Art. 32
FHA.
81
InstA, Gemeinsame Erklärung EU-Schweiz zu
den Handelsabkommen Ziff. 9 und Ziff. 10.
40
41
42
43
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 15
haltliche Rahmen von Verhandlungen
über eine Modernisierung des FHA für
beide Parteien mindestens politisch ver-
pflichtend. Die Ratifikation des InstA
müsste folglich zu Verhandlungen über
die Modernisierung des FHA führen; und
diese Verhandlungen müssten sich damit
befassen, welche Teile des modernisier-
ten FHAs dem Streitschlichtungsverfah-
ren des InstA unterstellt werden. Über
die Zeit würde das InstA somit dafür sor-
gen, dass die Schweiz auch in Bezug auf
den Handel mit Waren und Dienstleis-
tungen über einen (unbedingten)
Rechtsweg verfügt, um ihre Interessen
gegenüber der EU durchzusetzen.
IV. InstA und die Zukunft
europäischer Drittstaaten
im EU-Binnenmarkt
Parallelen bestehen zwischen den skiz-
zierten zukünftigen Handelsbeziehungen
zwischen der EU und dem Vereinigten
Königreich bzw. der Schweiz. So sehen
sowohl die Gemeinsame Erklärung, wie
auch die Political Declaration vor, dass
die EU künftig je über ein umfassendes
Freihandelsabkommen mit der Schweiz
und mit dem Vereinigten Königreich ver-
fügt, welches neben dem klassischen
Marktzugang auch eine Teilintegration in
den EU-Binnenmarkt inkl. Rechtshar-
monisierung umfasst.
In Bezug auf die Rechtsharmonisierung
bleibt der EuGH zuständig für die Ausle-
gung von EU-Rechtsbegriffen und es
wird grundsätzlich die Übernahme von
EU-Beihilferecht und die Abschaffung
der flankierenden Massnahmen verlangt
in den von der Rechtsharmonisierung er-
fassten Bereichen.
82
Basierend auf dem
____________________________
82
Siehe z.B. Art. 4-5 und Art. 8A-C InstA.
gegenwärtigen Entwurf des InstA und
dem aktuellen Entwurf des Withdrawl
Agreement (bzw. der Political Declarati-
on) würde die Schweiz aber insbesondere
wegen dem Abkommen über die Perso-
nenfreizügigkeit letztendlich umfassen-
der in den EU-Binnenmarkt integriert
sein, als dies für das Vereinigte König-
reich der Fall wäre.
83
Die Behauptung, dass die Schweiz im
InstA weiterhin wie ein Beitrittskandidat
behandelt werde,
84
erscheint dennoch
nicht zutreffend: Während sich die stati-
sche Natur der Mehrzahl der Bilateralen
Abkommen I und II mutmasslich damit
erklären lässt, dass die Verhandlungsfüh-
rung damals von einer zeitlich begrenz-
ten Anwendung der Abkommen ausge-
gangen ist,
85
wird diese Fehleinschätzung
mit dem vorliegenden Entwurf des InstA
korrigiert. Das InstA erlaubt eine dyna-
mische Anpassung an das EU-Recht in
denjenigen Rechtsbereichen, in welchen
sich die Parteien über eine Teilintegrati-
on in den EU-Rechtsraum einig wer-
den.
86
Das langfristige Funktionieren der
Rechtsbeziehungen zwischen der EU und
der Schweiz ist somit nicht mehr länger
____________________________
83
Der vielleicht grösste Unterschied dürfte sein,
dass das Vereinigte Königreich bisher nicht vor-
sieht, die Mitgliedschaft in der Personenfreizü-
gigkeit aufrechtzuerhalten, siehe auch Joe Owen,
Brexit Deal: Political Declaration on future UK-
EU Relationship, Institute for Government, 17.
Oktober 2019.
84
Zurkinden, 2019 (Fn. 3), para. 24. Vgl. wiederum
auch Baudenbacher, NZKart 2019 (Fn. 3), 29.
85
Siehe auch Tobler/Beglinger, 2018 (Fn. 4), S. 7;
Matthias Oesch, Die bilateralen Abkommen
Schweiz – EU und die Übernahme von EU-Recht,
AJP, 2017, S. 638.
86
Art. 4 und 5 InstA; ausführlich dazu Oesch, Mat-
thias, Switzerland – EU Bilateral Agreements, the
Incorporation of EU Law and the Continuous
Erosion of Democratic Rights, Yearbook of Euro-
pean Law, vol. 38, 2019b, S. 28ff.
44
45
46
Charlotte Sieber-Gasser, Handelsbeziehungen Schweiz – EU im globalen Kontext
sui-generis 2020, S. 16
abhängig von einer zukünftigen Mitglied-
schaft der Schweiz in der EU.
Der politische Preis für die damit greif-
bare Rechtssicherheit in den Handelsbe-
ziehungen zwischen der Schweiz und der
EU ist allerdings hoch: Aus wirtschaftli-
chen und – infolge des Handelskriegs
und der Schwächung der WTO – aus
rechtlichen Gründen ist die Schweiz
grundsätzlich auf die Absicherung ihrer
Wirtschaftsinteressen gegenüber der EU
über den Rechtsweg angewiesen. Wegen
ihrer ungleich grösseren Handelsmacht
gilt dies aber nicht in gleichem Masse für
die Handelsinteressen der EU gegenüber
der Schweiz. Die EU kann somit ihre
Vorstellungen einer sinnvollen Handels-
partnerschaft gegenüber der Schweiz
weitgehend durchsetzen, insbesondere
solange kein Rechtsweg offensteht, wel-
cher es der Schweiz erlauben würde, ge-
gen Übertretungen der EU vorzugehen.
Der Preis für Marktzugang, Rechtssi-
cherheit und Teilintegration ist der teil-
weise Beitritt zum EU-Rechtsraum ohne
entsprechende Mitentscheidungsrechte.
87
Während dies aus Sicht der EU den logi-
schen Weg darstellen mag, europäische
Drittstaaten im gegenseitigen wirtschaft-
lichen Interesse teilweise in den EU-
Binnenmarkt zu integrieren, bleibt ge-
genwärtig offen, ob die EU damit im
aktuellen politischen Umfeld den Preis
nicht zu hoch ansetzt.
88
Nichtsdestotrotz
skizziert das InstA – zusammen mit ei-
nem noch zu verhandelnden moderni-
sierten FHA – eine dynamische und
langfristige Rechtsbasis für die Handels-
____________________________
87
Siehe auch Oesch, 2019b (Fn. 86).
88
Siehe z.B. auch Anand Menon, An inflexible
Brussels is damaging ist own interests over
Brexit, Financial Times, 19. November 2019.
beziehungen der EU mit europäischen
Drittstaaten.
V. Schlussfolgerungen
Als globalisierte Volkswirtschaft, welche
bisher nicht in eine Staatengemeinschaft
integriert ist, ist die Schweiz auf die
Durchsetzung ihrer Handelsinteressen
über den Rechtsweg angewiesen. Die Po-
litik der USA führte aber Ende 2019 da-
zu, dass die WTO-Streitbeilegung nicht
mehr vollumfänglich funktionsfähig ist,
wodurch diese wenigstens temporär mit
den in Handelsabkommen vorgesehenen
Streitbeilegungsverfahren ersetzt werden
muss. Die Schweiz verfügt über keine
solchen Streitschlichtungsverfahren in
ihren Handelsbeziehungen mit der EU,
der mit Abstand wichtigsten Handels-
partnerin der Schweiz.
Das InstA schafft immerhin mittelfristig
und nur in Verbindung mit einem umfas-
send modernisierten und erweiterten
FHA die Grundlage für eine stabile, dy-
namische und damit langfristige Rechts-
grundlage für die Handelsbeziehungen
zwischen der Schweiz und der EU. Der
politische Preis für Rechtssicherheit und
Marktzugang ist jedoch der teilweise
Beitritt zum EU-Rechtsraum ohne ent-
sprechende Mitentscheidungsrechte. Es
bleibt gegenwärtig offen, ob die EU damit
den Preis nicht zu hoch ansetzt.
47
48
49
50